05/2017
Fritz + Fränzi Fritz + Fränzi
Elterncoaching Kinder unter Druck Fast täglich hören wir Berichte über Druck, Stress und Burnout – und immer öfter scheinen bereits Kinder darunter zu leiden. Warum ist das so? Und was hilft gegen zu viel Druck? Fabian Grolimund ist Psychologe und Autor («Mit Kindern lernen»). In der Rubrik «Elterncoaching» beantwortet er Fragen aus dem Familienalltag. Der 37-Jährige ist verheiratet und Vater eines Sohnes, 4, und einer Tochter, 1. Er lebt mit seiner Familie in Freiburg. www.mit-kindern-lernen.ch www.biber-blog.com Bis heute fällt es mir schwer, nachzuvollziehen, warum Stress und Burnout die grossen Themen unserer Zeit zu sein scheinen. Hatten unsere Vorfahren nicht mit Problemen ganz anderen Kalibers zu kämpfen? Wenn unsere Grosseltern von früher erzählen, dann tauchen Themen auf wie Armut oder die Anforderung, sechs Kinder durchzubringen. Es wird vom Krieg erzählt und von Krankheiten, gegen die wir uns heute impfen können, die früher aber zum Tode führten. Auch unsere Eltern hatten es oft nicht leicht. Mein Vater erzählt von der Zeit im Internat mit Geistlichen, die beim kleinsten Vergehen zum Rohrstock griffen. Von Strafen, Härte und Gefühlskälte. Wie schön scheinen es im Vergleich dazu wir und unsere Kinder zu haben. Wir müssen nicht um unser Leben bangen. Unsere Kinder werden in der Schule nicht geschlagen, wenn sie die Hausaufgaben vergessen. Die realen Bedrohungen von früher haben für die meisten von uns hier in der Schweiz abgenommen. Bei einigen Menschen ist die Angst, etwas zu verpassen, so gross, dass sie sich auf nichts mehr einlassen können. Was zugenommen hat, ist ein Gefühl des ständigen, diffusen Bedrohtseins, das wir nicht recht einordnen können. Herausgreifen möchte ich nur zwei Aspekte, die zeigen: Es sind manchmal genau die Dinge, die wir am meisten schätzen, die uns unter Druck setzen. Freiheit Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatten wir so viel Freiheit und Wahlmöglichkeiten. Wir könnten und dürfen fast alles mit unserem Leben anfangen. Welchen Beruf möchten wir ergreifen? Die Auswahl ist so gross geworden, dass selbst die Berufsberater den Überblick verlieren. Wollen wir heiraten? Eltern werden? Wie organisieren wir uns als Paar? Wer arbeitet wie viel? Wer übernimmt welche Aufgaben? Kinderkrippe oder nicht? Welchen Platz wollen wir Religion oder Spiritualität in unserem Leben geben? Wo wollen wir wohnen? Wenn wir diese Fragen lesen, merken wir gleich: Freiheit bedeutet Stress! Denn wir müssen uns entscheiden. Die Angst, die falsche Option zu wählen, wächst mit den verfügbaren Möglichkeiten. Oft fühlen wir uns blockiert, weil wir nicht in der Lage sind, eine Entscheidung zu treffen. Bei einigen Menschen ist die Angst, etwas zu verpassen, so gross, dass sie sich auf nichts mehr einlassen können. Sie sind immer latent auf der Suche. Sie sind zufrieden mit ihrem Job, aber halten Ausschau nach etwas Besserem. Sie beschrei- Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren 42 Mai 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
en die Beziehung als gut, fragen sich aber ständig, ob es nicht noch jemand gäbe, der oder die besser passen würde. Früher war für viele Kinder der Weg vorgezeichnet – sie sind in die Fussstapfen der Eltern getreten. Sie haben den Hof, den Betrieb, das Handwerk übernommen. Heute haben wir als Eltern nicht die leiseste Ahnung, was aus unseren Kindern einmal werden wird. Vielleicht werden sie einen Beruf ergreifen, der heute nicht einmal existiert. Wie also sollen wir sie auf die Zukunft vorbereiten? Dieser Unsicherheit begegnen wir mit der Losung: Ich muss meinem Kind alle Wege offenhalten. Zu gross ist die Angst, dass das Kind sonst in einer Sackgasse landet und uns später Vorwürfe machen wird. Möglichst viel Bildung, ein möglichst hoher Abschluss scheint das Ticket zu sein, das wir unseren Kindern mit auf den Weg geben wollen. Daneben sollen die Kinder ein möglichst breites Repertoire an Fähigkeiten und Interessen aufbauen. Nach einem Vortrag fragte mich eine Mutter: «Meine Tochter ist in der ersten Klasse und möchte nach der Schule einfach nur spielen, in den Garten gehen, sich um die Tiere kümmern und ihre Freundinnen treffen. Ich habe mich so erschrocken, als ich gehört habe, was die anderen Kinder in ihrer Klasse alles machen. Die anderen Eltern meinten, es sei doch wichtig, dass ein Kind ein Instrument lernt und Sport macht. Ich habe Angst, dass ich meine Tochter zu wenig fördere.» Potenzialentfaltung Neben Freiheiten und Wahlmöglichkeiten steht auch die Entfaltung unseres Potenzials hoch im Kurs. Kinder sollen ihre Stärken entdecken, individuell gefördert werden. Wir hören immer wieder, dass unsere Kinder viel mehr könnten, wenn sie nur die richtige Lernumgebung erhielten – bis hin zur Aus- sage, dass angeblich 98 Prozent der Kinder hochbegabt seien. Berichte von Menschen mit Downsyndrom, die es an die Uni geschafft haben, sollen uns zeigen: Alles wäre möglich mit den richtigen pädagogischen Ansätzen. Sehnsüchtig suchen wir auf der ganzen Welt nach Musterbeispielen. Nach Finnlands Pisa-Sieg im Jahr 2000 tingelten ganze Expertenscharen dorthin und berichteten von einer besseren Welt. Experten, Eltern und Lehrer waren und sind sich einig: Dort gelingt es. Andere Länder wie Deutschland und die Schweiz haben dagegen «Nachholbedarf». Solche Berichte haben etwas Bewegendes. Sie berühren und beflügeln uns. Manchmal sind sie ein Trost in schwierigen Zeiten. Sie geben uns das Gefühl: In meinem Kind könnte noch ganz vieles stecken – wir müssen es nur finden und zur Entfaltung bringen. Misstöne werden dabei gerne zur Seite ge - wischt. Wie beispielsweise die Schülerbefragung im Rahmen einer gross angelegten Studie der Unicef aus dem Jahr 2007, die zeigte: In keinem anderen Land geben weniger Schülerinnen und Schüler an, gerne zur Schule zu gehen, als in Finnland. Ständiges Suchen nach besseren Lösungen, Hinterfragen des Bestehenden und Optimieren setzt Schulen und Familien unter Druck. Der Glaube, dass jedes Kind im Grunde hochbegabt ist und in ihm ein Genie schlummert, das geweckt werden will, bedeutet im Umkehrschluss: Wenn ein Kind nichts Aussergewöhnliches wird, haben wir versagt. Wir haben es versäumt, die ungeahnten Kräfte und Talente in ihm zum Vorschein zu bringen. Es scheint gar keine Option zu sein, sich mit weniger als dem Maximum zufrieden zu geben. Auf dem Weg zum Bahnhof mit zwei Teilnehmerinnen einer Weiterbildung erzählte eine Lehrerin, dass ihr Sohn nun endlich eine Lehrstelle in sei- Zumindest im einen oder anderen Bereich weniger zu wollen, ist vielleicht gar kein schlechtes Mittel gegen Druck. nem Traumberuf gefunden habe. Darauf sagte die andere Teilnehmerin: «Ja – und heute mit dem dualen Bildungssystem kann er dann ja immer noch die Berufsmatura machen und sich weiterqualifizieren.» Ich nickte und sagte in ge - wohnter Manier: «Ja, da haben wir in der Schweiz wirklich Glück.» Die Mutter sah uns genervt an und erwiderte: «Er macht jetzt einfach diese Lehre! Ihm gefällt’s. Das reicht. Jedes Mal, wenn ich davon erzähle, kommen mir die Leute gleich mit ‹Er kann ja dann immer noch…›.» Wer am Wochenende und in den Ferien lieber zu Hause bleibt, als seinen Horizont zu erweitern, wer seinen Job gut und gern genug macht, anstatt sich permanent nach dem nächsten Karrieresprungbrett um - zusehen, wer dankbar ist, dass die Kinder gesund und zufrieden sind, ohne etwas Aussergewöhnliches zu sein, wer zugibt, dass man als Paar ein gutes Team ist, aber nicht jeden Tag von Leidenschaft gepackt wird, wirkt auf andere rasch etwas armselig. Und dennoch: Zumindest in manchen Bereichen weniger zu wollen und sich und seinen Kindern zu erlauben, durchschnittlich, gewöhnlich, langweilig oder einfach «gut genug» zu sein, ist vielleicht gar kein schlechtes Mittel gegen zu viel Druck. In der nächsten Ausgabe: Belohnungen – gut gemeint ist nicht immer gut Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Mai 201743
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en die Beziehung als gut, fragen<br />
sich aber ständig, ob es nicht noch<br />
jemand gäbe, der oder die besser<br />
passen würde.<br />
Früher war für viele Kinder der<br />
Weg vorgezeichnet – sie sind in die<br />
Fussstapfen der Eltern getreten. Sie<br />
haben den Hof, den Betrieb, das<br />
Handwerk übernommen. Heute<br />
haben wir als Eltern nicht die leiseste<br />
Ahnung, was aus unseren Kindern<br />
einmal werden wird. Vielleicht<br />
werden sie einen Beruf ergreifen,<br />
der heute nicht einmal existiert. Wie<br />
also sollen wir sie auf die Zukunft<br />
vorbereiten?<br />
Dieser Unsicherheit begegnen<br />
wir mit der Losung: Ich muss meinem<br />
Kind alle Wege offenhalten. Zu<br />
gross ist die Angst, dass das Kind<br />
sonst in einer Sackgasse landet und<br />
uns später Vorwürfe machen wird.<br />
Möglichst viel Bildung, ein möglichst<br />
hoher Abschluss scheint das<br />
Ticket zu sein, das wir unseren Kindern<br />
mit auf den Weg geben wollen.<br />
Daneben sollen die Kinder ein möglichst<br />
breites Repertoire an Fähigkeiten<br />
und Interessen aufbauen.<br />
Nach einem Vortrag fragte mich<br />
eine Mutter: «Meine Tochter ist in<br />
der ersten Klasse und möchte nach<br />
der Schule einfach nur spielen, in<br />
den Garten gehen, sich um die Tiere<br />
kümmern und ihre Freundinnen<br />
treffen. Ich habe mich so erschrocken,<br />
als ich gehört habe, was die<br />
anderen Kinder in ihrer Klasse alles<br />
machen. Die anderen Eltern meinten,<br />
es sei doch wichtig, dass ein<br />
Kind ein Instrument lernt und Sport<br />
macht. Ich habe Angst, dass ich meine<br />
Tochter zu wenig fördere.»<br />
Potenzialentfaltung<br />
Neben Freiheiten und Wahlmöglichkeiten<br />
steht auch die Entfaltung<br />
unseres Potenzials hoch im Kurs.<br />
Kinder sollen ihre Stärken entdecken,<br />
individuell gefördert werden.<br />
Wir hören immer wieder, dass<br />
unsere Kinder viel mehr könnten,<br />
wenn sie nur die richtige Lernumgebung<br />
erhielten – bis hin zur Aus-<br />
sage, dass angeblich 98 Prozent der<br />
Kinder hochbegabt seien. Berichte<br />
von Menschen mit Downsyndrom,<br />
die es an die Uni geschafft haben,<br />
sollen uns zeigen: Alles wäre möglich<br />
mit den richtigen pädagogischen<br />
Ansätzen.<br />
Sehnsüchtig suchen wir auf der<br />
ganzen Welt nach Musterbeispielen.<br />
Nach Finnlands Pisa-Sieg im Jahr<br />
2000 tingelten ganze Expertenscharen<br />
dorthin und berichteten von<br />
einer besseren Welt. Experten,<br />
Eltern und Lehrer waren und sind<br />
sich einig: Dort gelingt es. Andere<br />
Länder wie Deutschland und die<br />
Schweiz haben dagegen «Nachholbedarf».<br />
Solche Berichte haben etwas<br />
Bewegendes. Sie berühren und<br />
beflügeln uns. Manchmal sind sie<br />
ein Trost in schwierigen Zeiten. Sie<br />
geben uns das Gefühl: In meinem<br />
Kind könnte noch ganz vieles stecken<br />
– wir müssen es nur finden und<br />
zur Entfaltung bringen. Misstöne<br />
werden dabei gerne zur Seite ge -<br />
wischt. Wie beispielsweise die Schülerbefragung<br />
im Rahmen einer gross<br />
angelegten Studie der Unicef aus<br />
dem Jahr 2007, die zeigte: In keinem<br />
anderen Land geben weniger Schülerinnen<br />
und Schüler an, gerne zur<br />
Schule zu gehen, als in Finnland.<br />
Ständiges Suchen nach besseren<br />
Lösungen, Hinterfragen des Bestehenden<br />
und Optimieren setzt Schulen<br />
und Familien unter Druck. Der<br />
Glaube, dass jedes Kind im Grunde<br />
hochbegabt ist und in ihm ein Genie<br />
schlummert, das geweckt werden<br />
will, bedeutet im Umkehrschluss:<br />
Wenn ein Kind nichts Aussergewöhnliches<br />
wird, haben wir versagt.<br />
Wir haben es versäumt, die ungeahnten<br />
Kräfte und Talente in ihm<br />
zum Vorschein zu bringen.<br />
Es scheint gar keine Option zu<br />
sein, sich mit weniger als dem Maximum<br />
zufrieden zu geben. Auf dem<br />
Weg zum Bahnhof mit zwei Teilnehmerinnen<br />
einer Weiterbildung<br />
erzählte eine Lehrerin, dass ihr Sohn<br />
nun endlich eine Lehrstelle in sei-<br />
Zumindest im einen oder<br />
anderen Bereich weniger zu<br />
wollen, ist vielleicht gar kein<br />
schlechtes Mittel gegen Druck.<br />
nem Traumberuf gefunden habe.<br />
Darauf sagte die andere Teilnehmerin:<br />
«Ja – und heute mit dem dualen<br />
Bildungssystem kann er dann ja<br />
immer noch die Berufsmatura<br />
machen und sich weiterqualifizieren.»<br />
Ich nickte und sagte in ge -<br />
wohnter Manier: «Ja, da haben wir<br />
in der Schweiz wirklich Glück.» Die<br />
Mutter sah uns genervt an und erwiderte:<br />
«Er macht jetzt einfach diese<br />
Lehre! Ihm gefällt’s. Das reicht. Jedes<br />
Mal, wenn ich davon erzähle, kommen<br />
mir die Leute gleich mit ‹Er<br />
kann ja dann immer noch…›.»<br />
Wer am Wochenende und in den<br />
Ferien lieber zu Hause bleibt, als seinen<br />
Horizont zu erweitern, wer seinen<br />
Job gut und gern genug macht,<br />
anstatt sich permanent nach dem<br />
nächsten Karrieresprungbrett um -<br />
zusehen, wer dankbar ist, dass die<br />
Kinder gesund und zufrieden sind,<br />
ohne etwas Aussergewöhnliches zu<br />
sein, wer zugibt, dass man als Paar<br />
ein gutes Team ist, aber nicht jeden<br />
Tag von Leidenschaft gepackt wird,<br />
wirkt auf andere rasch etwas armselig.<br />
Und dennoch: Zumindest in<br />
manchen Bereichen weniger zu wollen<br />
und sich und seinen Kindern zu<br />
erlauben, durchschnittlich, gewöhnlich,<br />
langweilig oder einfach «gut<br />
genug» zu sein, ist vielleicht gar kein<br />
schlechtes Mittel gegen zu viel<br />
Druck.<br />
In der nächsten Ausgabe:<br />
Belohnungen – gut gemeint ist nicht immer gut<br />
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