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COMPACT SPEZIAL 9 "Zensur in der BRD"

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<strong>COMPACT</strong>Spezial<br />

_ Editorial<br />

Die Freiheit stirbt <strong>in</strong> Bad Dürrheim<br />

Die <strong>Zensur</strong> ist schleichend, die meisten merken<br />

gar nichts davon. Es geht nicht nur um e<strong>in</strong>zelne<br />

Autoren. Es geht um unser ganzes kulturelles Erbe<br />

– das, was uns Ältere noch geprägt hat, aber jetzt<br />

unseren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n vorenthalten wird.<br />

Nehmen wir Mark Twa<strong>in</strong> und se<strong>in</strong>e Abenteuer<br />

des Huckleberry F<strong>in</strong>n. Wer hat das nicht mit<br />

brennenden Augen unter <strong>der</strong> Bettdecke gelesen?<br />

Für Ernest Hem<strong>in</strong>gway war klar: «Die ganze mo<strong>der</strong>ne<br />

amerikanische Literatur hat ihren Ursprung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Buch», und er me<strong>in</strong>te damit genau jene<br />

Lausbubengeschichte. Wer den Bestseller heute<br />

se<strong>in</strong>en Enkeln zum Geburtstag schenken will, wird<br />

nur noch kastrierte Ausgaben bekommen: Das<br />

Wort «Nigger», das Huck und se<strong>in</strong> Kumpel Tom Sawyer<br />

glatte 160 Mal aussprechen, ist überall durch<br />

«Sklave» ersetzt. Die schärfste Kritik an dieser<br />

Verstümmelung kommt von Ishmael Reed, e<strong>in</strong>em<br />

afroamerikanischen Bürgerrechtler. Statt e<strong>in</strong>zelne<br />

Wörter zu zensieren, empörte er sich zu Recht,<br />

sollten die Verantwortlichen die Bücher besser lesen,<br />

um sie überhaupt zu verstehen. Dann würden<br />

sie schnell merken, dass <strong>der</strong> «Nigger» Jim – <strong>der</strong><br />

Dritte im Bösen-Buben-Trio – «mehr Tiefgang und<br />

Profil hat als die Schwarzen, die man heute <strong>in</strong> Film,<br />

Theater und Literatur f<strong>in</strong>det». Und weiß eigentlich<br />

ke<strong>in</strong>er mehr, dass es ursprünglich weiße Evangelikale<br />

waren, die den Schelmenroman auf den Index<br />

stellten – gerade weil er e<strong>in</strong> gemischtrassiges Trio<br />

so herrlich anarchistisch <strong>in</strong> Szene setzte?<br />

Das Beispiel eröffnet E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die kle<strong>in</strong>en Hirne<br />

<strong>der</strong> Zensoren: Sie s<strong>in</strong>d auf <strong>der</strong> Jagd nach Wörtern<br />

und kapieren die Inhalte gar nicht. Was vermutlich<br />

bei den Inquisitoren des Mittelalters nicht<br />

an<strong>der</strong>s war, hat durch die postmo<strong>der</strong>nen Schwurbelwissenschaften<br />

neue Weihen erhalten: Die<br />

«neuen Philosophen» <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tradition von Michel<br />

Foucault gehen ganz im Ernst davon aus, dass die<br />

Realität erst durch Begriffe entstünde. Rassismus<br />

käme auf, wenn man – wie Mark Twa<strong>in</strong> – zu oft<br />

«Nigger» sage; e<strong>in</strong> neuer Adolf stünde vor <strong>der</strong> Tür,<br />

wenn man – wie Eva Herman – das magische Wort<br />

«Autobahn» ausspreche; und wer alle<strong>in</strong> «Konzentrationslager»<br />

<strong>in</strong> den Mund nehme, bereite bereits<br />

<strong>der</strong>en Errichtung für Auslän<strong>der</strong> vor – obwohl Akif<br />

Pir<strong>in</strong>çci, dem diese irre Assoziation se<strong>in</strong>er Gegner<br />

zum Verhängnis wurde, damit vor <strong>der</strong> Internierung<br />

<strong>der</strong> Inlän<strong>der</strong> gewarnt hatte.<br />

Mittlerweile s<strong>in</strong>d die Tugendwächter h<strong>in</strong>ter<br />

so ziemlich allen Büchern her, die uns die Jugend<br />

versüßten. «Unsere braune Biene Maja» titelte<br />

die Süddeutsche Zeitung 2011, weil sie <strong>in</strong> <strong>der</strong>en<br />

Kampf gegen die bösen Hornissen NS-Ideologeme<br />

erschnüffelt haben wollte. Otfried Preußlers Die<br />

kle<strong>in</strong>e Hexe missfällt, weil sich dar<strong>in</strong> die K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

als «Neger, Ch<strong>in</strong>esenmädchen und Türken» verkleiden<br />

– Hilfe, das ist Diskrim<strong>in</strong>ierung pur! Pippi<br />

Langstrumpf darf natürlich ke<strong>in</strong>e «Negerpr<strong>in</strong>zess<strong>in</strong>»<br />

mehr se<strong>in</strong> – dabei hat Astrid L<strong>in</strong>dgren ihre<br />

Trilogie <strong>in</strong> den 1940er Jahren im sozialdemokratischen<br />

Musterland Schweden veröffentlicht, das<br />

damals vielen Asylanten aus Nazi-Deutschland<br />

Zuflucht bot. Dass e<strong>in</strong>e sommersprossige Rothaarige,<br />

die als Negerpr<strong>in</strong>zess<strong>in</strong> geht, eigentlich jeden<br />

Rassendünkel verspottet, käme den Zensoren nie<br />

<strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n.<br />

Wie tief die E<strong>in</strong>schnitte s<strong>in</strong>d, beweist das Beispiel<br />

Bad Dürrheim: In <strong>der</strong> süddeutschen Kle<strong>in</strong>stadt<br />

wurden im August 2015 über 3.200 Bücher<br />

aus <strong>der</strong> städtischen Bibliothek ausgemustert und<br />

vernichtet, 40 Prozent des Bestands, darunter auch<br />

Werke von Erich Kästner. Den <strong>Zensur</strong>auftrag hatte<br />

das Regierungspräsidium erteilt. Die von <strong>der</strong> Behörde<br />

geschickte Bibliothekar<strong>in</strong> nannte als Grund<br />

unter an<strong>der</strong>em das «word<strong>in</strong>g» – manche Autoren<br />

hätten das Wort «Neger» benutzt. Der öffentliche<br />

Aufschrei hielt sich <strong>in</strong> engen Grenzen. Als die antifaschistische<br />

Bewegung noch ihren Namen verdiente,<br />

warnte sie mit He<strong>in</strong>rich He<strong>in</strong>e: «Wo man<br />

Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende<br />

Menschen.» Und heute?<br />

Chefredakteur Jürgen Elsässer.<br />

Foto: Jörg Gründler<br />

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