26.04.2017 Aufrufe

COMPACT-Magazin 05-2017

Der Osten leuchtet. Was der Westen lernen kann

Der Osten leuchtet. Was der Westen lernen kann

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>COMPACT</strong> Leben<br />

58<br />

Bild links: Münzer-Ehrung in der<br />

DDR. Foto: picture-alliance / dpa<br />

Bild rechts: Das Thomas-Münzer-<br />

Denkmal an der Stadtmauer von<br />

Mühlhausen in Thüringen entstand<br />

1957. Foto: Michael Sander, CC-BY-<br />

SA-3.0, Wikimedia Commons<br />

Dutschke, Bloch,<br />

Münzer<br />

«Zwar geht es Bloch in seinen<br />

Werken um den Durchbruch<br />

der ,Freiheit der Kinder Gottes‘,<br />

ganz atheistisch, ohne Zweifel.<br />

Aber ist die Basis für den Durchbruch<br />

der Träume, die jeweilige<br />

Produktions- und Lebensweise,<br />

nicht jeweils eine ganz andere<br />

– bei Spartacus, Jesus, Münzer<br />

und bei uns? Zweifellos gibt<br />

es eine Kontinuität, Bloch hat<br />

sie philosophisch rekonstruiert:<br />

Das Herr-Knecht-Verhältnis wollten<br />

alle abschaffen. Nur waren<br />

die urkommunistischen Ansätze<br />

der Qual der Arbeit ausgeliefert,<br />

eine systematische Relativierung<br />

der Arbeitszeit, eine befreiende<br />

Entfaltung der Lebenszeit<br />

standen noch außerhalb ihrer<br />

Dimensionen.» (Rudi Dutschke,<br />

«Im gleichen Gang und Feldzugsplan<br />

– zum Neunzigsten von<br />

Ernst Bloch», 1975)<br />

zwingen, aber versuchen. Der Mensch solle sich von<br />

seinen Trieben abwenden, sich ganz der «Langeweile»<br />

und der «Gelassenheit» hingeben (zwei Begriffe,<br />

die Heidegger 1929 und 1955 übernehmen sollte) –<br />

dann würde Gott, wenn dessen Gnade es vorsieht,<br />

ihn durchströmen und erfüllen. Dieser biblische Gott<br />

aber hasst Ungerechtigkeit, die Reichen sind ihm ein<br />

Gräuel. Er führte die Hebräer aus der ägyptischen<br />

Sklaverei. Auch als Christus steht er auf Seiten der<br />

Armen, ruft er zum Kampf auf: «Ich bin nicht gekommen,<br />

Frieden zu bringen, sondern das Schwert»<br />

(Matthäus, 10,34). Kurzum, dieser Gott, so wie Thomas<br />

Münzer ihn verstand, inspiriert zum Aufstand.<br />

Luther distanzierte sich von seinem wilden Anhänger.<br />

Schließlich hatte er zahlreiche Adelige als<br />

Protektoren und Sponsoren im Rücken. Die durfte<br />

man nicht verschrecken… Schon bald befeuerte<br />

Münzer die Bauern zur Revolte. Er predigte die Errichtung<br />

eines Gottesreiches auf Erden durch Freiheit<br />

und Umverteilung der Reichtümer. Leider erwiesen<br />

sich die Herrschenden als stärker. Nach Niederschlagung<br />

des Bauernaufstandes in der Entscheidungsschlacht<br />

von Frankenhausen (1525) wurde Münzer<br />

gefangen, eingekerkert, gefoltert und exekutiert.<br />

Körper und Kopf des 35-Jährigen spießte man separat<br />

auf – als Schocktherapie für potentielle Aufrührer.<br />

Materialismus und Spiritualität<br />

Warum aber blieb Münzer 400 Jahre später, für<br />

Bloch, von solcher Bedeutung? Weil der klassenkämpferische<br />

Reformator eine Lücke im dogmatischen<br />

Marxismus füllte. Der erklärt Revolutionen<br />

nämlich allein aus ökonomischen Gründen. Damit<br />

gab sich Bloch aber nicht zufrieden: «Das ökonomische<br />

Begehren ist zwar das nüchternste und stetigste,<br />

aber nicht das einzige, nicht das andauernd<br />

stärkste, auch nicht das eigentümlichste der Seele,<br />

vor allem nicht in religiös erregten Zeiten.» Nein,<br />

der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Gesättigt,<br />

aber ohne Lebenssinn, geht er ebenfalls zu Grunde.<br />

Bloch verwies in seiner Münzer-Monographie sogar<br />

auf Marx, der die Bedeutung «weltgeschichtlicher<br />

Totenbeschwörungen» als revolutionären Treibstoff<br />

bereits anerkannt habe. Mag Münzer auch gescheitert<br />

sein, der göttliche Geist, der Chiliasmus (die Erwartung<br />

des Reiches Christi), der Geist der Utopie<br />

kann die Menschen jederzeit wieder durchdringen,<br />

inspirieren, befeuern.<br />

Was bringt es, jemanden vor Gott<br />

frei zu machen, aber zugleich zu<br />

einem Sklaven vor dem Fürsten?<br />

Seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Elf Jahre später,<br />

1931, war die Weimarer Republik durch Inflation<br />

und Weltwirtschaftskrise politisch erstarrt. Arbeitslosenzahl<br />

zum Jahresende: fünf Millionen. Die Reallöhne<br />

sanken in den Keller. In diesem Jahr brütete<br />

ein Ostberliner Kassenarzt und Schriftsteller<br />

über die Möglichkeit eines herrschaftsfreien Sozialismus.<br />

Das Elend der Zeit war ihm allzu gut bekannt:<br />

Seine Praxis befand sich auf der Frankfurter Allee,<br />

im proletarischen Friedrichshain. Zu ihm kamen ermattete<br />

Arbeiter und deren Frauen mit unterernährten<br />

Kindern. Bei Krankschreibungen galt er als besonders<br />

großzügig. Der Anlass, weshalb Dr. Alfred<br />

Döblin seine politischen Reflexionen niederschrieb,<br />

war der Brief eines verzweifelten Studenten. Der<br />

bat um Orientierungshilfe in wirrer Zeit, und Döblin<br />

– bis heute durch seinen Roman Berlin, Alexanderplatz<br />

(1927) weltbekannt – erschien dem Ratsuchenden<br />

als idealer Mentor.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!