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COMPACT-Magazin | ERSTAUSGABE | 12-2010

Sog. 'Nullnummer' des erfolgreichen gesellschaftspolitischen Nachrichten-Magazins

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Leben<br />

<strong>COMPACT</strong><br />

Goethe, beispielsweise, der nach eigenen Worten<br />

immerhin den Verdacht nicht ablehnte, «selbst ein Muselmann<br />

zu sein», hatte trotz des extrem negativen Islambilds<br />

zu seiner Zeit seine Seelenverwandtschaft zum Islam und<br />

seinem Propheten entdeckt. Der aus seiner Sympathie<br />

resultierende gesellschaftliche Skandal bekümmerte den<br />

Dichterfürsten wenig. Amüsiert beobachtete Goethe das<br />

Getu schel am Hofe, wenn er versuchte, den Koran zu entziffern.<br />

Auch in Sachen Islam blieb der Dichter letztlich<br />

seiner wissenschaftlichen Maxime treu, dass man eine Sache<br />

lieben muss, um sie ganz zu verstehen. Goethe verfügte<br />

übri gens schon zu Lebzeiten – in seinen Verfügungen be -<br />

züg lich seiner Grabstätte – die Verbannung aller christlichen<br />

Symbolik. Die christliche Trinitätslehre vertrug sich<br />

nicht mit dem ganzheitlichen Denkansatz des Meisters<br />

.<br />

Zu den Kennern dieser spannenden Ost-West<br />

Materie gehört neben der Autorin des bekannten Buches<br />

Goethe und der Islam, Katharina Mommsen, auch Manfred<br />

Weimar: Blick auf das so genannte Gauforum<br />

Osten, ehemaliger Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung.<br />

Osten referiert im mer wieder über Goethes<br />

West-Östlicher Divan und sein ungewöhnlich offenes<br />

Islambild.<br />

Osten bedauert dabei den vergeblichen Ver such Goethes,<br />

«die euro zentristische Beleh rungsgesellschaft wieder in<br />

Rich tung der Lerngesellschaft zu transformieren». Diese<br />

Lern gesellschaft habe es, so Osten, leider nur um das <strong>12</strong>.<br />

Jahrhundert in Europa gegeben, als viele Grundlagen der<br />

Wissenschaft und Philo sophie aus der islamischen Welt<br />

nach Europa gelangten und muslimische Gelehrsamkeit<br />

als Quelle der Inspiration galt.<br />

Der West-Östliche Divan ist im Grunde eine<br />

fesselnde Dialog strategie, um auch künftig zwischen Ost<br />

und West auf dem eurasischen Kontinent zu vermitteln.<br />

Osten wies darauf hin, dass das persische Wort Divan eine<br />

«Versamm lung weiser Männer» bezeichne und für Menschen<br />

in der islamischen Welt positiver besetzt sei als der<br />

als «Streit ge spräch» verstandene Begriff «Dialog». Die kalte<br />

Aus übung von Toleranz war für Goethe sowieso nicht gut<br />

genug. Den Toleranzbegriff habe er vielmehr mit den Worten<br />

«dul den heißt beleidigen» kritisiert, da echte Toleranz<br />

in Aner kennung und Respekt übergehen müsse. Im Divan<br />

habe Goethe jedenfalls, so Osten resümierend, die Summe<br />

seiner tiefen Beschäftigung mit dem Islam gezogen.<br />

In Goethes Konservativismus<br />

wird heute eine Art<br />

visionäre Zeitkritik gesehen,<br />

die durchaus bis in das<br />

heutige Internetzeitalter<br />

nachklingt. Goethe hatte<br />

sich, angesichts der neuen<br />

bahnbrechenden Tech nologien,<br />

für eine Entschleunigung<br />

interessiert, die im<br />

Gegensatz zur «ve lo zife ri -<br />

schen Kultur» des Wes tens<br />

stehen könne, in der Goethe<br />

eine «Geschwin dig keit, die<br />

des Teufels ist» sieht. Goethe<br />

fürchtete an der sich im<br />

rastlosen Aufbruch befindenden<br />

west lichen Welt, sie könnte eine «gedächtnislose<br />

Gesellschaft» werden, die durch Aufklärung, Reformation<br />

und französische Revolution ihre Wurzeln vergisst und am<br />

Ende sogar zerstört.<br />

Im zweiten Teil des Faust verknüpft der<br />

Wirtschaftsminister Goethe bekanntermaßen seine Zweifel<br />

an den Möglichkeiten ewigen Fortschritts mit einer harschen,<br />

ökonomischen Kritik an der illusionären Natur des<br />

Papier geldes. Hier eröffnet sich der zweite große Beitrag<br />

Goethes für die aktuelle Debatte, den das deutsche Bil dungsbürgertum<br />

im Grunde jahrzehntelang übersehen hat. In<br />

seinem Hauptwerk geht es um nichts Anderes, als das<br />

Dogma der Moderne – das ökonomische Wachstum als<br />

Maßstab für die dauerhafte Entwicklung der Menschheit –<br />

zu entschlüsseln.<br />

Die Loslösung des Geldes von eigentlichen<br />

Werten eröffnet eine atemberaubende Dynamik, die schon<br />

den alten Goethe tief beunruhigt. Der St. Galler Ökonom<br />

Hans Christoph Binswanger widmet diesem Thema ein<br />

brillantes Buch mit dem bezeichnenden Titel Geld und Magie.<br />

Für den Wirtschaftsphilosophen Binswanger ist der Faust<br />

mit seinen Beschreibungen über die Erfindungen der Notenbankpresse<br />

sogar ein Lehrbuch der Volkswirtschaft und<br />

«von einer kaum fassbaren» Aktualität. Spätestens bei diesen<br />

Fragen blitzt das Genie Goethes wieder auf und damit<br />

die alte Faszination Weimars.<br />

Andreas Rieger ist Rechtsanwalt, Publizist und<br />

Herausgeber der monatlich erscheinenden<br />

Islamischen Zeitung. Er ist Autor des im Spohr<br />

Verlag erschienenden Buches Islam in Deutschland<br />

– Politische Notizen. Ein Tagebuch.<br />

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