COMPACT-Magazin | ERSTAUSGABE | 12-2010
Sog. 'Nullnummer' des erfolgreichen gesellschaftspolitischen Nachrichten-Magazins
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<strong>COMPACT</strong><br />
Leben<br />
rismus oder nach der Bewahrung der persönlichen Freiheit<br />
des Individuums.<br />
Kurios mutet dagegen der brachiale Versuch der moder -<br />
nen Ideologen an, die beiden deutschen Vorzeigedichter<br />
für sich zu vereinnahmen. Insbesondere die National sozialisten<br />
pflegten einen schäbigen Kult um die Dichterstadt,<br />
oft genug im eklatanten Widerspruch mit den<br />
eigentlichen Überzeugungen der «Klassik». Im Jahre 1932<br />
hielt Thomas Mann in Weimar einen Vortrag, der anschließend<br />
im Völkischen Beobachter verrissen wurde. Mann lobte<br />
ausdrücklich den deutschen Weltbürger Goethe, der sich<br />
gegenüber jedem Nationalismus, so Mann, «kalt bis zur<br />
Verachtung verhalten habe».<br />
Einige Jahre später wurden Goethe und Schiller dennoch<br />
von den Nazis skrupellos als «geistige Führer» vereinnahmt<br />
und reduziert.<br />
Die Narben dieser Zeit sind bis heute sichtbar.<br />
Bei einem Rundgang durch die Stadt ist es das so genannte<br />
Gauforum, zwischen Bahnhof und Innenstadt gelegen, das<br />
«Als der berühmte Schriftsteller und Naturforscher<br />
Johann Wolfgang von Goethe am 22.<br />
März 1832 im Sterben lag, malte er ‘mit dem<br />
Zeigefinger Zeichen in die Luft’, wie ein Biograf<br />
festhält. Die Umstehenden deuteten sie als ein<br />
‘W’, den Anfangsbuchstaben seines zweiten<br />
Vornamens. Doch manche Muslime glauben,<br />
dass Goethe – dahindämmernd und zu schwach<br />
zum Sprechen – das arabische Zeichen für<br />
Allah schrieb. Die Wahrheit ist wohl nicht mehr<br />
zu ermitteln. Aber 175 Jahre nach Goethes<br />
Tod wird allmählich klar, wie eng sich Deutschlands<br />
größter Dichter dem Orient und dem<br />
Islam verbunden fühlte.»<br />
(von der Webseite des<br />
deutschen Außenministeriums)<br />
wie ein unheimlicher Fremdkörper das eigentliche Maß<br />
der Stadt zerstört und neben dem Hotel Elephant am Marktplatz,<br />
in dem Hitler ein und aus ging, das zweite Symbol<br />
des politischen Einflusses der Nazi-Schergen in Weimar<br />
ist. Im Angesicht der Machenschaften im Weimar jener Tage<br />
liest sich Goethes geschichtliche Einsicht vielsagend, dass<br />
«alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen<br />
Epochen subjektiv sind, dagegen alle fortschreitenden<br />
Epochen eine objektive Richtung haben».<br />
Eignet sich aber das Weimar Goethes und Schillers, neben<br />
der Tatsache, ein beliebtes und klassisches Ausflugsziel für<br />
Schulklassen zu sein, auch heute noch als Bezugspunkt<br />
unserer aktuellen Debatten? Zweifellos finden sich in<br />
Weimar für jeden nachdenklichen Menschen zahllose<br />
Anknüpfungspunkte. Denkt man an die zwei großen<br />
Diskus sionen dieses Jahres, den Streit um die Ursachen der<br />
Finanzkrise und die Mängel der Integration im Lande, dann<br />
stiften die Weimarer Dichter durchaus noch «heißen»<br />
Gesprächsstoff.<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>