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COMPACT-Magazin | ERSTAUSGABE | 12-2010

Sog. 'Nullnummer' des erfolgreichen gesellschaftspolitischen Nachrichten-Magazins

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<strong>COMPACT</strong><br />

Leben<br />

nen Segelboote nutzten, mit denen sie selbst den Aralsee<br />

erreichen konnten.<br />

Als wir eintreffen, hat die Fähre gerade in Tadschi -<br />

kistan festgemacht, zwischen ein paar glanzlosen Industriehallen<br />

und Containern, in denen sich der Geist der<br />

afghanischen Seite fortsetzt: posthume Landschaft, Landschaft<br />

nach dem Abzug allen Geschehens, zurückgeblieben<br />

als Statthalter einer abwesenden Geschichte. Doch<br />

kaum schwenkt der Blick ostwärts, ist die Steppe wieder<br />

da, die gelbgrüne, sich in schmuckloser Weite verlaufende<br />

Steppe.<br />

Es bräuchte nichts, um diesen Wirrwarr aus<br />

Dreck, Ruinen und Kriegsschrott zu beleben. Als wüsste<br />

er das, kommt plötzlich ein Alter auf Krücken über die Hafenmauer.<br />

Sein Kartoffelgesicht blökt witternd in den staubgrauen<br />

Himmel. Sofort fliegen Vögel schreiend auf, schreien<br />

Kinder gleichzeitig in der Ferne. Dann ist nichts: Nur das<br />

Klappern eines Metallteils im Wind. Ein Luftzug trägt Stimmen<br />

herüber, auch die Vögel, die im Kran nisten, geben<br />

ein paar lustlose Geräusche von sich, so kratzig, dass sie<br />

kaum mehr nach Vögeln klingen. Schritte entfernen sich<br />

im Kies. Einer unserer Begleiter hat auf dem Schlick seinen<br />

Gebetsteppich ausgebreitet und absolviert seine Andacht<br />

mit nach innen gewandten Augen. Eine Feiertagsstille liegt<br />

plötzlich über dem Ort, unwirklich, wie das Ausatmen der<br />

Zeit zwischen zwei Kriegen.<br />

Jetzt wandert unsere kleine Gruppe vorsich -<br />

tig zum Wasser. Der Platz ist so verlassen und ohne Spuren,<br />

als habe das seit Jahren niemand mehr getan. Nichts ist<br />

schön hier, aber alles so verdichtet, als seien Steinplatten<br />

und rostiges Gerät, Büsche und Wildkräuter, Abfall und<br />

Hinterlassenschaften in diese ausgetüftelte Konstellation<br />

getreten, um so vollendet fahl zu wirken.<br />

Unter den anziehenden Unorten, die ich gese<br />

hen habe, besitzt dieser besondere Wirkung. Geh weg,<br />

sagt er, hier ist nichts, kehr um, sieh mich nicht, halte nichts<br />

fest, sei nicht hier, löse dich auf. Ich tauche meine Hände<br />

in das gelbgrau und milchig schimmernde Wasser des Flusses.<br />

Sie greifen wie in kalt fließendes Opal, und einer wird<br />

mir erklären, dass auf dem Grund des Flusses hellenische<br />

und buddhistische Skulpturen liegen, die von Taliban dort<br />

versenkt wurden, und dass Leichen hier schwammen, weshalb<br />

das Wasser noch heute Infektionskrankheiten auslösen<br />

könne.<br />

Die Kaimauer ist von gelben Flechten üppig bewachsen.<br />

Ein Ponton liegt im Wasser, aber angesteuert wurde er vielleicht<br />

seit Jahren nicht. Nur ein blauer Plastikstuhl ist stehen<br />

geblieben, mit Blickrichtung zur jenseitigen Steppe.<br />

Man dreht sich um, und gleich darauf will man schon sagen:<br />

Ich habe mir diesen Ort nur eingebildet.<br />

Eine spitzwinklige Formation Zugvögel wechselt in<br />

diesem Augenblick ihre Ordnung über dem Fluss. Demnächst<br />

soll hier eine Brücke gebaut werden. Nur afgha nische<br />

und russische Soldaten haben sich vehement<br />

dagegen aufgelehnt, der alten Feindschaft wegen, aber<br />

auch weil sie so gut wie die Ordnungskräfte wissen, dass<br />

diese Brücke niemandem so gelegen kommt wie den<br />

Drogenschmugglern.<br />

Und wer blickt nicht nach dort, wo flussabwärts<br />

noch karge Goldvorkommen die Wäscher anziehen<br />

oder wo das Rohopium verarbeitet wird, das allein durch<br />

die Überquerung des Flusses ein Mehrfaches seines Wertes<br />

gewinnt? Dreitausend Dollar kostet ein Kilo auf dieser, der<br />

afghanischen Seite des Amu-Darja, zehntausend auf der<br />

dort drüben, die kaum fünfhundert Meter entfernt liegt,<br />

und niemand soll glauben, Tadschiken und Afghanen<br />

machten diesen Handel unter sich aus.<br />

Einer der Einflussreichsten hier ist amerikanischer Staatsbürger.<br />

Genaueres will keiner wissen oder sagen. Nur seinen<br />

Spitznamen geben zwei Einheimische preis: «der weiße<br />

Ibrahim». Einer der Afghanen, die sich uns angeschlossen<br />

haben, erzählt mir von einem deutschen Diplomaten, der<br />

in seinem Gepäck unentdeckt siebzehn Kilogramm Opium<br />

schmuggelte, besprüht mit einem bestimmten, den Drogenhunden<br />

unerträglichen Parfüm.<br />

«Woher wissen Sie das?»<br />

«Weil ich der Verkäufer war.»<br />

Auf der Rückseite der Landschaft angekommen,<br />

folgen wir ihrem Imperativ und wenden uns ab,<br />

drehen uns um, machen kehrt. Es ist ein vielfaches Wegwenden<br />

von einer Landschaft, die endet, die einen Strich<br />

zieht mit dem Namen Amu-Darja. Es empfängt uns die<br />

Steppe in all ihrer Pracht der Verödung.<br />

Die Nacht macht sich breit. Ist das jetzt die stillste Stille?<br />

Sie wirkt, als habe jemand eine Glasglocke von der Steppe<br />

genommen und eine Sphäre eingelassen, die von oben<br />

kommt und noch viel weiträumiger und feierlicher still ist.<br />

Reine Atmosphäre mischt sich in das Schweigen. Etwas<br />

schwingt hinein wie atemlose Erwartung. In den nach oben<br />

geöffneten Schweigeraum dringt nun von unten ein einzelnes,<br />

sehr fernes Hundebellen, das nur angestimmt wird,<br />

um das Schweigen fühlbarer zu machen.<br />

Das Schweigen der Steppe: Wenn man in der<br />

Ferne ein Geräusch hört, ist man bei diesem Geräusch, also<br />

in der Ferne. Steht die Steppe aber still, ist man nur noch<br />

beim eigenen Atem, bei den eigenen Schritten. Also ist man<br />

ganz bei sich. Dort ist man selten.<br />

aus: Die Enden der Welt, Der Amu-Darja. An der<br />

Grenze zu Transoxanien, Fischer Verlag,<br />

gebundene Ausgabe und Hörbuch<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>

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