COMPACT-Magazin | ERSTAUSGABE | 12-2010
Sog. 'Nullnummer' des erfolgreichen gesellschaftspolitischen Nachrichten-Magazins
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Leben<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Wie das Ausatmen der Zeit zwischen zwei Kriegen<br />
Unterwegs im afghanischen Oxanien. Die Sonne hat jetzt am Horizont nur noch<br />
einen orangegrauen Schimmer hinter lassen. Die Kamele traben in den nachtschwarzen<br />
Winkel des Himmels, der Hirte hält sich an die lichteren Zonen.<br />
Von Roger Willemsen<br />
Der Autor mit Kindern in Afghanistan<br />
Jetzt kommt die Nacht mit einem Schweigen nieder, das<br />
auch die Hunde dämpft und das Blöken der Kamele wattiert,<br />
deren Hufe auf dem federnden Boden keinen Abdruck<br />
und keinen Laut hinterlassen. Der Neumond kommt<br />
heraus, und Nadia sagt:<br />
«Am ersten Tag des Neumonds in der Steppe, da küsst<br />
man sich die Fingerspitzen und wünscht sich was.»<br />
Wir tun es.<br />
Am nächsten Tag erreichen wir nicht weit vor<br />
dem Ende der Straße einen heruntergekommenen Posten,<br />
wo ein Grenzsoldat bei einer Hütte wartet. Es ist ein Lädchen<br />
dabei, am Geländer lehnt ein langbärtiger Verwahrloster,<br />
vielleicht ein hängengebliebener Hippie, vielleicht<br />
ein Sufi, oder ein Gestörter. Ringsum Kriegsschrott zwischen<br />
den Hütten, rostiges Gerät auf den Feldern, ein blinder,<br />
perspektivloser Flecken rund um einen Schlagbaum<br />
mit ein paar Gestrandeten, Vergessenen.<br />
Die Straße endet vor einem Gatter, das wir<br />
passieren dürfen, um die Hafenanlage zu betreten, besser,<br />
den Schrottfriedhof, der sich da ausdehnt, wo ehemals<br />
ein aktiver Hafen gewesen sein muss. Was die Zerstörungen<br />
des Krieges zurückgelassen haben, was aus der Gegend<br />
an rostigem Metall eingesammelt wurde, türmt sich zwischen<br />
Lagerhäusern, Laderampen und einer monströsen<br />
Kran-Anlage. Über dem Brackwasser des trägen Flusses<br />
erhebt sie sich mit der opernhaften Dramatik, die frühere<br />
Zeiten in den ersten großen Maschinen der Industriellen<br />
Revolution erkannten. Wie ein Bühnenbild von Visconti,<br />
übertragen in die Welt der Maschinenpoesie, wirkt das,<br />
wie ein erhaben seinem Verfall entgegenrostendes Sinnbild<br />
hundertjähriger Technik. Und der Arm dieses Krans<br />
gestikuliert so blind über den Fluss, hinüber nach Tad schikistan,<br />
als sei er in dieser Pose erstarrt.<br />
Der Amu-Darja ist grau von der Tonerde,<br />
die er mitschwemmt. Er scheint sich seiner Umgebung angepasst<br />
zu haben. Versandet sind seine Ufer, das Wasser<br />
kommt oberflächlich behäbig, aber mit reißender Unterströmung<br />
daher, die sich nur manchmal durch Schlieren<br />
verrät. Vor nicht langer Zeit wollte ein Reiter auf seinem<br />
Pferd das rettende Ufer von Tadschikistan erreichen. Sie<br />
kämpften heroisch, sagen die Einheimischen, und ertranken<br />
beide.<br />
Breite Schlickstreifen bleiben liegen, wo<br />
sich das Wasser zurückgezogen hat, durchschossen von<br />
Prielen und brüchigen Gräben. Stromaufwärts liegt die<br />
kleine Behelfs fähre, die nach Bedarf die Ufer wechselt.<br />
Drüben in Transoxanien, so die Reisenden, beginne eine<br />
andere Welt, erkennbar am Grün der Landschaft, an den<br />
aufragenden Schornsteinen. Von russischer Seite betrieb<br />
man hier sogar einen Raddampfer, während die Afgha-<br />
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