COMPACT-Magazin | ERSTAUSGABE | 12-2010
Sog. 'Nullnummer' des erfolgreichen gesellschaftspolitischen Nachrichten-Magazins
Sog. 'Nullnummer' des erfolgreichen gesellschaftspolitischen Nachrichten-Magazins
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Titelthema<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Hier herrscht die Art von Ignoranz, die<br />
Sarrazin auch behaupten lässt, kora nische<br />
Suren rechtfertigten den Terrorismus<br />
– natürlich in völliger Unkennt -<br />
nis tausender Schriften muslimischer<br />
Juristen aller Epochen zu diesem<br />
Thema.<br />
Intellektuell schwach aufgestellt<br />
ist das Buch insbesondere bei der Analy<br />
se der größten muslimischen Min -<br />
der heit in Deutschland, den Türken.<br />
Dies mag auch daran liegen, dass der<br />
Autor beinahe ausschließlich eine<br />
einzige Autorin als Quelle für seine<br />
Türkei expertise heranzieht. So unterschlägt<br />
Sarrazin, dass der Vorwurf der<br />
Bildungsferne vieler Türken natürlich<br />
auch für ihre islamische Bildung gilt!<br />
Das ist kein großes Wunder, ist doch<br />
der größte Teil des geistig-muslimischen<br />
Erbes der Türkei, in Form hunderttausender<br />
Bücher, in einer Sprache<br />
– der osmanischen – geschrieben, welche<br />
die Türken heute gar nicht mehr<br />
beherrschen. Die Türkei ist in den letzten<br />
Jahrzehnten geistig nicht nur durch<br />
den Islam, sondern auch durch einen<br />
bürgerlichen Säkularismus in der Tra -<br />
dition Atatürks, der übrigens auch ide -<br />
ologische und militante Formen an -<br />
nimmt, durch Nationalismus und<br />
Ka pi talismus geprägt worden.<br />
Eine große Zahl türkischer Immigranten<br />
und auch türkischer Verbände<br />
spiegeln heute diese Mischformen wieder.<br />
Wie kommt Sarrazin nur darauf,<br />
dass einzig und per se der Islam an<br />
allen nega tiven Phänomenen muslimischer<br />
Einwanderung schuld sein<br />
soll? Eine inte ressante Nebenfrage<br />
wäre in diesem Zusammenhang, warum<br />
eigentlich unser Wertebündnis<br />
NATO mit einer Mitgliedschaft der<br />
Türkei nie das geringste Problem hatte.<br />
Wie konnte das sein, wenn die Werte<br />
in jenem Land so unver einbar mit<br />
denen des Westens sind, wie Sarrazin<br />
behauptet?<br />
Große Debatten und Ereignisse<br />
sollte man auch unter dem Blickwinkel<br />
der Bedeutung und einer nötigen<br />
Selbstkritik sehen. Natürlich haben<br />
Mus lime – und damit sind nicht nur<br />
die orientierungslosen Ghettokinder<br />
Neu köllns gemeint – selbst auch beige<br />
tragen zu der heute so verbreiteten<br />
mangelnden Unterscheidung zwischen<br />
der Alltagsrealität der Muslime und<br />
dem Islam. Die türkischen Verbände,<br />
nicht wirklich multikulturell verfasst,<br />
hin- und hergerissen zwischen Beflaggung,<br />
ethnischen Trennlinien und re -<br />
li giöser Verantwortung, müssen sich<br />
zum Beispiel schon innerislamisch un -<br />
be queme Fragen gefallen lassen.<br />
Warum verweigern sie selbst den<br />
«Will kommensgruß», den sie von der<br />
Mehrheitsgesellschaft fordern, den<br />
nicht- türkischen Muslimen? Welcher<br />
türkische Verband hat – wie es der Islam<br />
eigentlich fordert – aktiv andere Ethni<br />
en im Lande zur Mitgliedschaft ein -<br />
ge laden? Will man an diesen Trenn linien<br />
allen Ernstes dauerhaft fest halten?<br />
Fürchtet man ohne die ethnische Differenzierung,<br />
vielleicht auch mangels<br />
eines gemeinnützigen, offenen Pro -<br />
gramms, eine Identitätskrise?<br />
Es hilft kein Schwarz-Weiß<br />
bei der Integrationspolitik. Wir stimmen,<br />
schon als Macher einer deutschsprachigen<br />
Zeitung, Sarrazin zu, dass<br />
in muslimischen Kreisen, um mal das<br />
Klavier anders anzufassen, tatsächlich<br />
zu wenig gelesen und zu viel fern gesehen<br />
wird. Wir finden auch, dass man<br />
an dem Ort, an dem man ehrlich lebt,<br />
auch kulturell ankommen muss. Wir<br />
denken nicht, dass eine einheimische<br />
muslimische Identität in abgeschot teten<br />
Gewerbegebieten angesiedelt werden<br />
kann.<br />
Irrationale Finanzmärkte: Hier erwiesen sich Deutschlands Eliten als bildungsfern<br />
Wir würden auch gerne sehen,<br />
dass mehr Deutsche den Islam als<br />
alter native Inspiration zu dem ökonomisch-technischen<br />
Weltbild Herrn<br />
Sarrazins und seinem Ideal, bis hin zur<br />
Züchtung ökonomisch nutzbaren<br />
Lebens, begrei fen würden. Bekennen,<br />
Fasten, Pilgern, Beten und die Zakat –<br />
die religiös verpflichtende Reichensteuer<br />
für die Bedürftigen – sind faszi<br />
nierende Stolpersteine jenseits einer<br />
allein öko nomisch durchplanten Zukunft.<br />
Die Zweifel an diesem ökonomischen<br />
Modell wachsen ohnehin bei<br />
allen denkenden Menschen. Warum<br />
nicht zu hören, was der Islam dazu zu<br />
sagen hat?<br />
Andreas Rieger ist Herausgeber, Sulaiman Wilms<br />
Chefredakteur der Islamischen Zeitung.<br />
18<br />
19