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COMPACT-Magazin | ERSTAUSGABE | 12-2010

Sog. 'Nullnummer' des erfolgreichen gesellschaftspolitischen Nachrichten-Magazins

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<strong>COMPACT</strong><br />

Titelthema<br />

Gewünschtes Endziel «Integration»? Deutschunterricht in den Räumlichkeiten der Zentrale des türkischen Verbandes DITIB in Köln<br />

E i n z w e i t e r E i n w a n d gegen<br />

die Sarrazin-Abfertiger ist auch strategischer<br />

Natur: Ein Sarrazin in der<br />

SPD ist allemal besser, als ein Volkstribun<br />

ausserhalb der SPD, der gar<br />

den rechten Mob anzieht. Deswegen<br />

sind Forderungen nach einer Verurteilung<br />

Sarrazins oder seinem Ausschluss<br />

aus der Debatte tatsächlich<br />

wenig hilfreich.<br />

Darüber hinaus, bei allen berechtigten<br />

Vorbehalten: Sarrazin mag mit dem<br />

Feuer spielen – ein Rassist oder Rechtsradikaler<br />

ist das langjährige SPD-<br />

Mitglied allerdings beileibe nicht. In<br />

seiner öffentlichen Buchpräsentation<br />

in Potsdam bemerkte denn auch Sarra -<br />

zin selbst verwundert, dass die<br />

hunderte von Seiten, in der er die Deutschen<br />

selbst kritisiert habe, kaum polarisierten,<br />

seine Passagen über die Integration<br />

aber inzwischen eine heftige<br />

Kulturdebatte ausgelöst haben.<br />

Bevor man sich dem eigentlichen<br />

Buch annähert, sollte man also ruhig<br />

durchatmen und vielleicht den eigenen<br />

Blickwinkel auf das Werk kurz fest legen.<br />

Man wird nämlich als betroffene<br />

muslimische Minderheit deutlich weniger<br />

Probleme mit den Unterstellungen<br />

und auch den Binsen weis heiten<br />

des Buches (wer ist denn auch schon<br />

für Ali, den Schläger?) haben, wenn<br />

man sich kurz, sozusagen vor dem<br />

Einstieg in die Debatte, klar macht, was<br />

der Islam ist. Nur zur Erinnerung: Der<br />

Islam ist keine Kultur. Der Islam<br />

befördert keinen Nationalismus. Der<br />

Islam ist keine Ideologie. Der Islam ist<br />

kein System. Worauf man gegen<br />

ungerechtfertigte Pauschalisierungen<br />

aus der Sicht eines deutschen Muslim<br />

entschieden verweisen muss, ist die<br />

Plura lität unseres Glaubens. Angesichts<br />

weit über einer Milliarde Menschen<br />

weltweit findet man eine breite<br />

Auswahl von Überzeugungen und<br />

Lebens stilen: Es gibt zum Beispiel muslimische<br />

Heilige, muslimische Ausländer,<br />

muslimische Otto-Normal-Verbraucher<br />

und muslimische Kriminelle.<br />

Dieser Ansatz ist deswegen wichtig,<br />

um nicht in die Falle zu laufen, man<br />

mü sse nun als Muslim in einer Art<br />

«Soli da ri tätsverpflichtung» jeden aberwitzigen<br />

Irrweg irgendeiner muslimischen<br />

Grup pe vertreten oder gar ver -<br />

teidigen. Ergo, es mag muslimische<br />

Bankräuber geben, aber keinen islamischen<br />

Bankraub. Das ist die Linie,<br />

um die es zunächst geht.<br />

Sarrazin steht an diesem Punkt auf<br />

der anderen Seite. In den 76 Seiten, in<br />

denen er über Integration nachdenkt<br />

und insbesondere die Muslime ins Visier<br />

nimmt, behauptet er ja unter Anderem,<br />

dass der Islam selbst kulturell<br />

vom «Westen», seinem «Westen», verschieden<br />

sei, dass er Ideologie befördere<br />

und der Gewalt nahe stehe. Sätze<br />

wie «Millio nen muslimischer Frauen<br />

in unserer Mitte werden zur Beachtung<br />

von Kleidervorschriften gezwungen»<br />

artikulieren billige Polemik. So schreibt<br />

Sarrazin über die Muslime: «Tatsache<br />

ist, dass es sich um eine abgeschlossene<br />

Religion und Kultur handelt,<br />

deren Anhänger sich für das umgebende<br />

westliche Abendland kaum<br />

interessieren – es sei denn als Quelle<br />

materieller Leistungen.»<br />

Bevor wir einige konkrete<br />

Aussagen näher unter die Lupe nehmen,<br />

muss leider festgehalten werden:<br />

Wie alle Finanztechniker ist Thilo Sarra<br />

zin grundsätzlich blind gegenüber<br />

dem abgründigen Beitrag des ent fesselten<br />

Kapitalismus, der ganzheitliche<br />

und religiöse Maßstäbe annimmt und<br />

heute im globalen Maßstab zur Entwick<br />

lung, besser gesagt zur Degenerierung<br />

von Kultur, Familie und all den<br />

Werten, die er vorgibt zu verteidigen,<br />

beiträgt. Ernst Jünger hat dies einmal<br />

die «große Weißung» genannt. Sarrazin<br />

selbst wird nicht zufällig zur Ikone<br />

in einem bekannten deutschen Leitmedium,<br />

das sich aus Verkaufsgründen<br />

neben Politik in aller Kürze und<br />

(dem natürlich besten) Sportteil eben<br />

auch alltäglich der «Ausbildung», also<br />

Verblödung und Verrohung einer ganzen<br />

Unterschicht, widmet.<br />

Damit Sarrazin die unsinnige<br />

These von der kulturellen Unvereinbar<br />

keit des Islams mit dem «Westen»<br />

grundsätzlich durchhalten kann, muss<br />

er, wie viele Autoren vor ihm, die euro -<br />

päisch-bosnischen Muslime (die friedfertigen<br />

Opfer des letzten Religionskrieges<br />

Europas) genauso ver schweigen<br />

wie die neuen Generationen deutscher<br />

Muslime (die er polemisch nur als<br />

potenzielle Gewalttäter fassen kann).<br />

<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>

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