COMPACT-Magazin | ERSTAUSGABE | 12-2010
Sog. 'Nullnummer' des erfolgreichen gesellschaftspolitischen Nachrichten-Magazins
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Titelthema<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
In der<br />
Sarrazin-Falle<br />
Der ehemalige Finanz<br />
senator blendet<br />
sein eigenes<br />
Fach gebiet – den<br />
Finanzsektor –<br />
aus. Dafür glaubt<br />
er, alles über den<br />
Islam zu wissen.<br />
Von A. Rieger und S. Wilms<br />
Deutschland schafft sich ab – schon der<br />
Titel ist eine gelungene Mar ketingmaß<br />
nahme. Auf beinahe 400 Seiten<br />
beschäftigt sich Thilo Sarrazin mit der<br />
Angst des «weißen Mannes» vor dem<br />
Untergang des Abendlandes. Die<br />
Fakten sind schnell erzählt: Unser<br />
Gemein wesen wird, nach Sicht des<br />
ehemaligen Berliner Finanzsenators,<br />
von bildungsfernen Schichten bedroht,<br />
eine Bevölkerungsgruppe die, so sein<br />
biopolitisches Bedrohungsszenario,<br />
zudem stetig wachse und eines Tages<br />
aus der bequemen «Sozialschaukel»<br />
aufstehen und das Land ins Chaos<br />
stürzen könnten. Neben der deutschen<br />
Unterschicht wird, so Sarrazin weiter,<br />
die Republik auch von revoltierenden<br />
Immigranten unterwandert. Schuld an<br />
dieser Misere habe «eine unhistorische,<br />
naive und opportunistische staatliche<br />
Migrationspolitik». Der europäische<br />
Nationalstaat, so könnte man<br />
die Lage zusammenfassen, stehe vor<br />
der Selbstauflösung.<br />
Seit Erscheinen dieses Buches<br />
wird in der Berliner Republik wenigstens<br />
mal wieder richtig gestritten. Das<br />
Buch, Carl Schmitt hätte seine Freude<br />
daran, gibt einige Steilvorlagen für<br />
neue Freund-Feind-Unterscheidungen,<br />
etabliert aber auch gleichzeitig eine<br />
machtvolle Dialektik zu Füßen des<br />
Establishments. Das funktioniert umso<br />
besser, als Sarrazin, wie noch zu zeigen<br />
ist, statt der Etikette «Ausländer» lieber<br />
den Begriff «Muslime» wählt. Der<br />
Volkszorn, auch dazu verhilft die<br />
Sarrazin-Debatte, wendet sich von den<br />
«bildungsfernen» Finanzjongleuren<br />
und Profiteuren und ihren Parallel gesellschaften<br />
ab und damit von den<br />
Eliten, die ja für den eigentlichen Abgrund<br />
dieses Jahrhunderts, die Folgen<br />
der aktuellen Finanzkrise, Mitverantwortung<br />
tragen. Die nicht gerade unwichtige<br />
Frage «Was ist ein Derivat?»<br />
können folglich bis heute nur ein paar<br />
Promille unserer Mitbürger beantworten,<br />
während fast jeder zu wissen<br />
glaubt, was im Koran steht. Dazu passt,<br />
dass Sarrazin bei seiner Selbstdarstellung<br />
einer deutschen «Beamtenkar ri -<br />
ere» seine ungeklärte Rolle bei den Berliner<br />
Finanzskandalen der letzten Jahre<br />
vergisst.<br />
Natürlich gibt die Person Sarrazins<br />
Vorlagen für einige Polemik. Gerade<br />
aus muslimischer Sicht liegen einige<br />
Vor aussetzungen vor, auf den vermeint<br />
lichen «Feind» und seine Truppen<br />
einzuschlagen. Peinlich wird es<br />
jedoch, wenn in Talkshows die meisten<br />
Muslime zugeben müssen, dass<br />
sie das Buch selbst nicht gelesen haben.<br />
Nur: Was, wenn gerade in dieser<br />
Ignoranz gegenüber den Inhalten<br />
die eigentliche Sarrazin-Falle für die<br />
Muslime liegt?<br />
Erlauben wir uns also für<br />
einen Moment den Luxus der Differenzierung<br />
(Das Motto: Wir Muslime<br />
sind nicht schon deswegen gut, weil er<br />
böse ist!). Zunächst muss man sportlich<br />
fair feststellen, dass Sarrazin natürlich<br />
ein unglaublicher Bestseller gelungen<br />
ist. Ob es uns gefällt oder nicht<br />
– seit dem Zweiten Weltkrieg hat kein<br />
anderes politisches Buch so einen Verkaufserfolg<br />
hingelegt. Punkt. Man wird<br />
einwenden dürfen, dass dies ohne die<br />
tatkräftige Unterstützung der Massen -<br />
medien kaum gelungen wäre, aber als<br />
Erklärungsmodell greift dies ein deutig<br />
zu kurz. Die Frage, «wie wir unser<br />
Land aufs Spiel setzen», scheint immer<br />
hin hunderttausende Leser zu<br />
beschäftigen. Deswegen muss man<br />
natür lich die Fragen, die dieser Ver -<br />
kaufs schlager aufwirft, durchaus ernst<br />
nehmen – nur so können auch Chancen<br />
genutzt werden.<br />
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