COMPACT-Magazin | ERSTAUSGABE | 12-2010
Sog. 'Nullnummer' des erfolgreichen gesellschaftspolitischen Nachrichten-Magazins
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<strong>COMPACT</strong><br />
Titelthema<br />
Die Immigrationsproblematik wurde<br />
durch die von Brüs sel erzwunge nen<br />
Grenzöffnungen innerhalb der EU dra -<br />
ma tisch verschärft. Wenn Sarra zin die<br />
Ein wan derung sozialverträg lich re gu -<br />
lie ren, also sehr weit gehend eindämmen<br />
will, müsste er nicht nur den Lis sa -<br />
bonner, sondern auch den Maas trichter<br />
Vertrag kündigen – also die Mitgliedschaft<br />
in der EU, jedenfalls in ihrer bisherigen<br />
Form, zur Disposition stellen.<br />
Dass man mit diesem Thema<br />
punkten könnte, zeigt das Beispiel der<br />
br itischen Unabhängigkeitspartei UKIP:<br />
Unter ihrem rhetorischen Sturmgeschütz<br />
Nigel Farage gelang ihr bei den<br />
Europa-Wahlen 2009 auf breiter Ebene<br />
ein Einbruch in bürgerliche Wählerschichten.<br />
Mit 16,5 Prozent wurde UKIP<br />
hinter den Konservativen die zweitstärkste<br />
Kraft auf der Insel. Die Souve -<br />
ränität Großbritanniens bildet bei UKIP<br />
den programmatischen Rahmen, der<br />
unterschiedliche Strömungen zusammenhält.<br />
Im Rahmen dieses Souveränismus<br />
werden auch die Probleme der<br />
Immigration angesprochen und, als<br />
wichtiger Unterpunkt, die der Immigra<br />
tion aus islamischen Ländern. Hier<br />
fordert UKIP eine klare Begrenzung.<br />
Aber nicht «Ausländer raus aus unsrem<br />
Land», sondern «Unser Land raus<br />
aus der EU!» ist das Panier, mit dem<br />
Farage seine Wahlsiege erficht. Der<br />
Kampf gegen die Brüsseler Kommissare<br />
steht im Vordergrund, nicht der<br />
Kampf gegen den Islam.<br />
Sarrazin setzt die Akzente<br />
leider anders. Anstatt über die für<br />
Deutschland zerstörerischen Einflüsse<br />
von EU und USA schreibt er in seinem<br />
Buch lieber über die Gefahren, die uns<br />
vom Islam drohen. Auch mit diesem<br />
Fokus kann man eine Protestpartei<br />
stark machen, wie das Beispiel der<br />
niederländischen Partij voor de Vrijheid<br />
von Geert Wilders zeigt. Doch man<br />
muss sich über die Konsequenzen<br />
dieser Schwerpunktsetzung im Klaren<br />
sein: Wer «den» Islam als unser Problem<br />
oder gar als das Hauptproblem<br />
sieht, wird sich nicht auf die Wiederaneignung<br />
nationaler Souveränitätsrechte<br />
etwa zur Steuerung der Immigration<br />
beschränken können. Vielmehr<br />
wird er auf einer glitschigen Rutschbahn<br />
Platz nehmen, die ihn in die weltweite<br />
Front gegen den Islam führt –<br />
wofür dann schnurstracks weitere Souveränitätsrechte<br />
an die Kommandeure<br />
dieser Front abgegeben werden müssen.<br />
Nicht die Verteidigung Deutschlands,<br />
sondern die Verteidigung USame<br />
rikanischer Ölinteressen in Nahund<br />
Mittelost ist der Fluchtpunkt dieser<br />
Politik, und ihr Lackmustest wird<br />
die deutsche Unterstützung für is ra e-<br />
lische Bomben auf Teheran sein.<br />
Die Alternative, ob eine neue<br />
poli tische Kraft eher nach dem Farage-<br />
Modell als Unabhängigkeitspartei oder<br />
eher nach dem Wilders-Modell als Anti-<br />
Islam-Partei ausgerichtet werden müss -<br />
te, ist noch kaum herausgearbeitet.<br />
Manche sehen das auch gar nicht als<br />
Entweder-Oder. Nehmen wir die Vorgänge<br />
in Berlin im Spätherbst <strong>2010</strong>, die<br />
im weiteren Verlauf der Geschichte<br />
zwar nur eine Fussnote bilden werden,<br />
aber doch als Momentaufnahme der<br />
Riffe unter der von Sarrazin ausgelösten<br />
Dis kurs-Welle taugen. So mag man<br />
dem CDU-Dissidenten René Stadtkewitz<br />
ger ne zubilligen, dass er sich von<br />
Wilders bei der Taufe seiner Freiheits-<br />
Partei nur deswegen helfen ließ, weil<br />
er nicht früher von Farage kontaktiert<br />
wurde. Israel-Liebesbekundungen erscheinen<br />
Moderaten wie ihm vielleicht<br />
nur als probater Schutzschild, um Unterwanderer<br />
aus DVU und NPD abzuschrecken<br />
– auf hartge sottene Antisemiten<br />
wirkt Wilders Davidstern wie<br />
das Kruzifix auf Vampire.<br />
Das Problem bei diesem allzu trickreichen<br />
Kalkül ist, dass man durch das<br />
Schwenken israelischer Fahne zwar die<br />
eine Sorte Extremisten abschreckt, aber<br />
eine andere anzieht, die im Hier und<br />
Heute – wir leben ja nicht mehr in den<br />
dreißiger Jahren! – noch gefährlicher<br />
ist: die eliminatorischen Zionisten und<br />
weltkriegsgeilen Neokonservativen.<br />
Der vergleichsweise harmloseste<br />
Rekrut dieser Truppe ist Aaron König,<br />
anfänglich Stadtkewitz’ Nummer zwei,<br />
der seine Karriere bei der Piratenpartei<br />
beenden musste, nachdem er die Bombardierung<br />
des Iran gefordert hatte.<br />
Gefährlicher ist schon Eliezer Cohen, der<br />
von Stadtkewitz als Co-Referent bei Wilders’<br />
Auftritt in Berlin eingeladen worden<br />
war. Nichts hätte dagegen gesprochen,<br />
durch einen Redner aus<br />
Israel historische Verantwortung zu demonstrieren.<br />
Doch Cohen ist kein Vertreter<br />
der israelischen Friedensbewegung,<br />
noch nicht einmal der durchaus<br />
zionistischen Arbeitspartei – sondern<br />
er gehört zur Partei von Aussenminister<br />
Avigdor Lieberman. Diese Partei<br />
träumt offen von der Depor tation nicht<br />
nur der Palästinenser, sondern auch<br />
der arabischen Staatsbürger Israels,<br />
und wird auch in der dortigen Presse<br />
als «rassistisch» oder «fa schistisch»<br />
bezeichnet.<br />
Das Maß voll macht die Anwesenheit<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>