COMPACT-Magazin | ERSTAUSGABE | 12-2010
Sog. 'Nullnummer' des erfolgreichen gesellschaftspolitischen Nachrichten-Magazins
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Dezember <strong>2010</strong> / Nullnummer / Preis 4.-<br />
www.compact-magazin.com<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Unabhängiges<br />
Monatsmagazin<br />
Geert Wilders<br />
Israels Mann<br />
in Europa<br />
Kirsten Heisig<br />
Die Richterin<br />
und ihre Henker<br />
Love Parade – Death Parade<br />
Die Nackten, die Toten<br />
und die Schuldigen<br />
Peter Scholl-Latour<br />
Interview mit einem<br />
alten Europäer<br />
Martin Lohmann<br />
Von der Lust,<br />
katholisch zu sein<br />
Lungenküsse<br />
Ver botenes<br />
Vergnügen<br />
DER NÄCHSTE BUNDESKANZLER?<br />
Was eine neue Volkspartei erreichen kann
Dezember<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
und Fritz Kuhn, von Anfang an ihr<br />
Projekt. Durchgesetzt hat sich dieses<br />
Gender Mainstreaming, weil<br />
auch Staat und Groß kapital die Ab -<br />
schaf fung der teuren Familie wünschen.<br />
Die aus allen Bindungen<br />
gelöste Konsummonade ist der<br />
ideale Sklave der Schönen Neuen<br />
Welt.<br />
EDITORIAL<br />
DIE VERSUCHUNG <strong>COMPACT</strong><br />
«Manch einer, der vor der Ver suchung<br />
flieht, hofft doch heimlich,<br />
dass sie ihn einholt», schreibt Giovanni<br />
Guareschi, der Autor von Don<br />
Camillo und Peppone. Das könnte das<br />
Motto dieser Zeitschrift sein. Sie<br />
will ihre Leser in Versuchung<br />
führen und weiß, dass viele gerade<br />
in diesem Land darauf warten.<br />
Die Macht der Tugendwächter<br />
wankt.<br />
Mit Sarrazin haben wir die süßeste<br />
Versuchung für die alternde BRD<br />
ins Zentrum dieses Heftes gestellt.<br />
Was von den Hohepriestern der<br />
ver öffentlichten Meinung verboten<br />
wird, macht offensichtlich viele<br />
scharf. Dabei wollen wir die Schrift,<br />
die er an die Wand geschrieben hat,<br />
nur als Anstoß nehmen, nicht als<br />
neues Dogma. Die Zeit der Dogmen<br />
ist näm lich prinzipiell vorbei. Es<br />
geht um die Lust an der Debatte,<br />
am Pro und Contra.<br />
Ganz generell muss die Verführung<br />
wechselseitig sein. Der Linke<br />
muss anfangen, mit dem Rechten<br />
zu diskutieren. Der Konservative<br />
soll die Argumente des Sozial demokraten<br />
– auch Sarrazin ist einer!<br />
– schätzen lernen. «Von der Lust,<br />
katholisch zu sein», schreibt der<br />
Papst-Biograph Martin Lohmann in<br />
dieser Ausgabe – das soll noto rische<br />
Atheisten herausfordern. Der<br />
badische Muslim Andreas Rieger<br />
rühmt die deutsche Klassik in<br />
Weimar – das mag die geschichtsver<br />
gessene Guido Knopp-Gemeinde<br />
provozieren.<br />
Wichtig ist nur: Die Tabus müssen<br />
fallen. Sonst stirbt dieses Land<br />
an intellektueller Austrocknung.<br />
Also schreiben wir über die Sehnsucht<br />
nach (und das Leiden an)<br />
Deutschland. Über die Suche nach<br />
Gott. Über Ehe und Familie als<br />
Inseln in den Feuchtgebieten des<br />
kalten Mammon. Wer Facebook zum<br />
Opium des Volkes und Goog le zum<br />
Kompass einer offenen Ge sell -<br />
schaft machen will, wird daran<br />
freilich keinen Spaß haben. Pech<br />
gehabt. Es gibt kein richtiges Leben<br />
im virtuellen.<br />
Als Chefredakteur will ich nicht<br />
verhehlen, dass mein Herz immer<br />
noch links schlägt. Dass ich mir mit<br />
dieser Zeitschrift bei meinen Genos<br />
sen wenig Freunde machen<br />
werde, nehme ich allerdings nicht<br />
nur in Kauf – das ist regelrecht beabsichtigt.<br />
Denn die Achtundsechziger<br />
sind längst nicht nur Teil des<br />
Systems geworden – sie bilden<br />
mittler weile seine Avantgarde. So<br />
war et wa die Umerziehung von<br />
Männern und Frauen zu androgynen<br />
Androiden, die sich am Ende<br />
so ähnlich sehen wie Renate Künast<br />
Zurück zu Don Camillo und Peppo<br />
ne: Die Filme aus den fünfziger<br />
Jahren zeigen, dass konservative<br />
Christen und orthodoxe Marxisten<br />
mehr gemeinsam haben, als sich die<br />
heutige Latte Macchiato-Linke vor -<br />
stellen kann. In einer Folge lässt sich<br />
der Bürgermeister durch sein kom -<br />
munistisches Parteibuch nicht davon<br />
abhalten, sein Neugeborenes<br />
zu Don Camillo in die Kirche zu<br />
bringen – zur Taufe. Allerdings be -<br />
steht er drauf, dass das Söhnchen<br />
Lenin heißen müsse. Der Priester ist<br />
empört, die beiden prügeln sich im<br />
Glockenturm. Danach einigt man<br />
sich: Peppone will auf Lenin ver zich -<br />
ten und bietet großzügig Camil lo an.<br />
Nach Zwiesprache mit dem Jesus<br />
am Kreuz schlägt der Gottesmann<br />
listig vor, Lenin immerhin hinzuzufügen<br />
– neben seinem Namen<br />
verblasse der andere ohnedies.<br />
Der Streit war ebenso leidenschaft<br />
lich wie die Versöhnung herzlich.<br />
Die beiden wussten bei aller<br />
Unterschiedlichkeit um die gemein -<br />
same Verantwortung, die sie für ihr<br />
Dorf trugen. Katholik und Kommunist<br />
hatten als Partisanen für die<br />
Freiheit ihres Landes gekämpft –<br />
das hatte sie jenseits der Ideologien<br />
zusammengebracht.<br />
Bedrohung und Besatzer sind<br />
heu te andere als damals, die<br />
Heraus for derung bleibt dieselbe.<br />
<strong>COMPACT</strong> soll deshalb eine Zeitschrift<br />
sein, in der sich Don Camillo<br />
und Peppone gleichermaßen zu<br />
Hause fühlen.<br />
3
<strong>COMPACT</strong><br />
Dezember<br />
+ + + Ed i torial. Vo n J ü rgen Elsässer: S . 3 + + + Fo to des Monat s : S . 5 + + + R u b r i k : Z i t ate des Monat s : S . 6 + + +<br />
Foto: AP Images/Kai-Uwe Knoth<br />
Rechtspartei oder Volkspartei? S. 7 Terrorpäckchen aus Jemen? S. 39 Lungenküsse S. 48<br />
Foto: Simone von Maiwald<br />
TITELTHEMA<br />
POLITIK<br />
LEBEN<br />
7<br />
<strong>12</strong><br />
17<br />
20<br />
22<br />
25<br />
28<br />
Rechtspartei oder Volkspartei?<br />
Von Jürgen Elsässer<br />
Tit for Tat. Von André F.<br />
Lichtschlag<br />
In der Sarrazin-Falle. Von A.<br />
Rieger & S. Wilms<br />
Die Sarrazin-Linke. Von<br />
Hans-Ulrich Wehler u.a.<br />
Israels Mann in Europa. Von<br />
Andrea Ricci<br />
«Warum keine Extratouren mit<br />
China?» Interview mit Peter<br />
Scholl-Latour<br />
Die Richterin und ihre Henker.<br />
Von Josephine Barthel<br />
31<br />
34<br />
37<br />
39<br />
42<br />
43<br />
44<br />
Luftpostterror aus Sanaa? Von<br />
Utz Anhalt<br />
Uncle Sams schmutzige A-<br />
Bombe. Von Frieder Wagner<br />
Love Parade – Death Parade.<br />
Von Johannes Heckmann<br />
Die Dinar-Revolution von<br />
Kelantan. Von Stefan Breuer<br />
Gold und Silber bieten Schutz.<br />
Von Walter K. Eichelburg<br />
Hayek contra Merkel. Von<br />
Oliver Janich<br />
O-Ton «Das Undenkbare<br />
denken». Quelle: UBS research<br />
45<br />
47<br />
48<br />
51<br />
54<br />
57<br />
59<br />
Wie das Ausatmen der Zeit<br />
zwischen zwei Kriegen. Von<br />
Roger Willemsen<br />
Gefährliche 8. Von Gerd<br />
Schulze-Meyer<br />
Lungenküsse. Von Walter<br />
Wippersberg (Text) & Simone<br />
von Maiwald (Fotos)<br />
Der Klassiker auf dem Divan.<br />
Von Andreas Rieger<br />
Von der Lust, katholisch zu<br />
sein. Von Martin Lohmann<br />
Für die Statistik. Von Christian<br />
von Aster<br />
Comic: Affe mit Waffe. Von<br />
animue<br />
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Utz Anhalt, Christian von Aster, Johannes Heckmann,<br />
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Wagner, Hans Ulrich Wehler, Roger Willemsen, Sulaiman<br />
Wilms und Walter Wippersberg<br />
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<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Dezember<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Foto des Monats<br />
Am 15. Oktober fraßen die Monster-Bohrer die letzten Granitschichten zwischen den Stollen weg. Seither ist unter dem Gotthard-Massiv der<br />
Weg frei für den Bau des größten Eisenbahntunnels der Welt – 37 Kilometer lang, unter Alpengipfeln von bis zu 3.000 Metern Höhe. Typisch<br />
Schweiz: Das Megaprojekt wurde dem Volk zur Entscheidung vorgelegt. Beim Referendum 1992 stimmten zwei Drittel dafür. Schweiz-21 ist die<br />
Alternative zu Stuttgart-21.<br />
Foto: ALP Transit Gotthard AG<br />
4<br />
5
<strong>COMPACT</strong><br />
Dezember<br />
+++ Zitate des Monats +++<br />
«In diesem Jahr ist es<br />
mit der Krise wie mit<br />
Lena Meyer-Landrut.<br />
Man fragt sich: Wo ist<br />
sie denn plötzlich hin?»<br />
(Daimler-Chef Dieter Zetsche,<br />
Pfälzischer Merkur, 5.11.<strong>2010</strong>)<br />
Foto: Daniel Kruczynski<br />
Christlich-Jüdisches (I)<br />
«Nein, es gab keine jüdisch-christliche<br />
Tradition, sie ist eine Erfindung der<br />
europäischen Moderne und ein Lieblingskind<br />
der traumatisierten Deutschen.<br />
Jüdisch-christlich ist eine Kons<br />
truktion, geprägt von einer Genese<br />
des Fortschritts, die in der Reformation<br />
und in der Französischen Revolution<br />
gipfelt. Erst nach der Schoah hat<br />
in Deutschland ein jüdisch-christlicher<br />
Dialog begonnen.» (A.S. Brockstein Coruh,<br />
Professorin für jüdische Philosophie,<br />
Tagesspiegel, <strong>12</strong>.10.<strong>2010</strong>)<br />
Al CIAda (I)<br />
«Es klingt bizarr. Kriegspartei eins<br />
(NATO) fliegt angeblich ranghohe<br />
Vertre ter von Kriegspartei zwei (Taliban)<br />
zu Treffen mit Kriegspartei drei<br />
(afgha nische Regierung). Die kooperiert<br />
mit Kriegspartei eins und ist noch<br />
viel zu schwach, um ohne Unterstützung<br />
zu agieren. So schreibt es die New<br />
York Times, und ein echtes Dementi gibt<br />
es von Kriegspartei eins, also von der<br />
NATO, dazu nicht.» (Süddeutsche Zeitung,<br />
21.10.<strong>2010</strong>)<br />
Al CIAda (II)<br />
«Am Mittwoch wurde die Verhaftung<br />
eines 34jährigen Mannes aus Ashburn,<br />
Virginia, einem Vorort der Hauptstadt<br />
Washington, gemeldet. Farooque Ahmed<br />
ist US-Bürger pakistanischer Abstammung,<br />
verheiratet und hat einen<br />
kleinen Sohn. Aus der Anklageschrift<br />
geht hervor, daß sich Agenten des FBI<br />
und möglicherweise auch anderer<br />
Dienststellen im April gezielt an Ahmed<br />
heran gemacht und ihn seither zu einer<br />
Reihe von ‘konspirativen’ Treffen<br />
überredet hatten. Angeblich gaben die<br />
staatlichen Provokateure vor, Verbindung<br />
zu Al-Qai da zu haben.» (Junge<br />
Welt, 29.10.<strong>2010</strong>)<br />
Euro-Diktatur<br />
«Im Grunde agieren jene, die den permanenten<br />
Krisenmechanismus jedenfalls<br />
ohne Referendum, wenn möglich<br />
sogar ohne Vertragsänderung durchsetzen<br />
wollen, wie jeder durchschnittliche<br />
südamerikanische Diktator, der<br />
sich mit Notstandsverordnungen an<br />
der Macht hält.» (Die Presse, Wien, am<br />
1.11.<strong>2010</strong> zum EU-Gipfel und den dort<br />
beschlossenen Sanktionsmechanismen<br />
gegen Defizitstaaten)<br />
Alles Rechtsradikale<br />
«Wenn das, was ich sage, rechtsradikal<br />
ist, sind zwei Drittel in der Bevölkerung<br />
rechtsradikal.» (Horst Seehofer<br />
auf dem CSU-Parteitag, 31.10.<strong>2010</strong>)<br />
Abzocker<br />
«Eine falsche Bilanz ist keine gefälschte<br />
Bilanz.» (Dirk Jens Nonnenmacher, Chef<br />
der HSH Nordbank, über Unregelmäßigkeiten<br />
in der Buchhaltung, Frankfurter<br />
Allgemeine Zeitung, 1.11.<strong>2010</strong>)<br />
AKW plus Minarett<br />
«Diejenigen, die gestern gegen Kernenergie,<br />
heute gegen Stuttgart-21 demonstrieren,<br />
agitieren, die müssen sich<br />
dann auch nicht wundern, wenn sie<br />
übermorgen irgendwann ein Minarett<br />
im Garten stehen haben.» (CSU-Ge neralsekretär<br />
Alexander Dobrindt auf einer<br />
CSU-Veranstaltung, 7.11.<strong>2010</strong> / youtube-Mitschnitt)<br />
Al CIAda (III)<br />
«Die Enthüllungen über den US-Agenten<br />
David Headley gehen weiter. Am<br />
Wochenende war es die New York Times,<br />
die bisher nicht öffentlich bekannte<br />
Einzelheiten berichtete. Headley,<br />
ein V-Mann der Drogenbehörde<br />
DEA, hatte zwei Jahre lang potentielle<br />
Ziele für die Terrorangriffe im indischen<br />
Mumbai ausgekundschaftet, bei<br />
denen im November 2008 etwa 170<br />
Menschen getötet wurden.» (Junge<br />
Welt, 11.10.<strong>2010</strong>)<br />
Christlich-Jüdisches (II)<br />
«Beim Reden von der christlich-jüdischen<br />
Tradition handelt es sich aber um<br />
eine gewaltige Heuchelei. Die deutsche<br />
Politik drückt die alte, früher stigmatisierte<br />
Minderheit der Juden an die<br />
Brust, um die neue Minderheit, die<br />
Muslime, zu stigmatisieren. Die Juden<br />
werden missbraucht, um die Muslime<br />
als unverträglich zu kennzeichnen.»<br />
(Heribert Prantl, Süddeutschen Zeitung,<br />
9.11.10)<br />
Die Russen sind zurück<br />
«Moskau liefert Kabul kostenlos<br />
Waffen. (…) Mit der NATO verhandelt<br />
Moskau auch über die Lieferung<br />
russischer Hubschrauber an die afghanische<br />
Armee.» (Frankfurter Allgemeine<br />
Zeitung, 13.11.<strong>2010</strong>)<br />
«Die Bankenkrise ist<br />
mitnichten ausge standen,<br />
die Schuldenkrise<br />
einiger Euro- Staaten<br />
noch lange nicht über -<br />
wunden. Droht der Währungsunion<br />
der nächste<br />
Belas tungstest?»<br />
(Frankfurter Allgemeine<br />
Zeitung, 13.11.<strong>2010</strong>)<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Titelthema<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Foto: dpa/picture-alliance.de<br />
Angestoßen durch den Sarrazin-Impuls formiert sich jenseits des<br />
etablierten Machtkartells eine neue explosive Kraft. Doch die<br />
Mischung ist so instabil, dass sie auch vorzeitig verpuffen könnte.<br />
Rechtspartei oder Volkspartei?<br />
Von Jürgen Elsässer<br />
So viel Aufbruchsstimmung war seit<br />
der Gründungsphase der Grünen noch<br />
nie in der Bundesrepublik. Damit sind<br />
nicht die Proteste gegen Stuttgart-21<br />
und das neue Atomprogramm gemeint:<br />
Bürgerwut und Massendemons -<br />
trationen gab es bekanntlich auch bei<br />
der Startbahn-West, und die aktuellen<br />
Auseinandersetzungen in Gor leben<br />
haben ebenfalls einen Vorlauf von dreißig<br />
Jahren. Zum ersten Mal seit den<br />
Tagen von Petra Kelly und Herbert Gruhl<br />
ist jedoch der ernsthafte Versuch zu beobachten,<br />
eine neue Kraft zu formieren.<br />
«Nicht links, nicht rechts, sondern<br />
vorn» lautete das Motto, unter dem die<br />
Sonnenblumenpartei damals ihre ersten<br />
Wahlkämpfe gewann. Man wollte<br />
sich nicht einsortieren in die überkommenen<br />
Kategorien, in die verrunzelte<br />
ideologische Gesäßgeografie, sondern<br />
einen Ausbruch wagen.<br />
«Nicht links, nicht<br />
rechts, sondern<br />
vorn» lautete das<br />
Motto, unter dem<br />
die Sonnenblumenpartei<br />
damals ihre<br />
ersten Wahlkämpfe<br />
gewann.<br />
Der aktuelle Ausbruchsversuch<br />
findet unter der Fahne von Thilo Sarra<br />
zin statt. Mit seinem Buch hat er das<br />
Unbehagen am ancien régime gebün -<br />
delt und, jenseits der Ein-Punkt-Bewegungen,<br />
die Debatte um das gro ße<br />
Ganze aufgemacht: um die Zukunft<br />
unseres Landes und der deutschen<br />
Nation. Das Ensemble an Fakten, die<br />
der langjährige Berliner Finanzsenator<br />
vorgelegt hat, bildet die Basis für jede<br />
weitere Strategiedebatte. Es ist unmög -<br />
lich, davon abzusehen oder dahinter<br />
zurück zu fallen. Der Titel Deutsch land<br />
schafft sich ab ist dabei kein Ausdruck<br />
intellektueller Larmoyanz oder alters -<br />
schwacher Apathie von wegen «Da<br />
kann man sowieso nix mehr machen».<br />
Vielmehr legt Sarrazin eine self des tro -<br />
ying prophecey vor: Durch das Aus -<br />
ma len der möglichen Katastrophe sollen<br />
alle Kräfte zur Verhinderung der<br />
selben mobilisiert werden.<br />
Das ist geglückt: Weit über eine<br />
Million Deutsche haben das Buch gekauft<br />
– das ist Nachkriegs rekord für<br />
ein politisches Werk. Damit ist offensichtlich,<br />
was das Establishment durch<br />
Euro-Denglish und globa listisches Ab -<br />
ra kadabra immer weghexen wollte:<br />
Es gibt die nationale Frage noch. Ein<br />
rele vanter Teil der Bevölkerung will<br />
«deutsches Volk» bleiben und das<br />
Abwracken unseres Nationalstaates<br />
6<br />
7
<strong>COMPACT</strong><br />
Titelthema<br />
verhindern. Das ist das Movens einer<br />
neu en Partei – so wie die Ökologie das<br />
Mo vens der Grünen war.<br />
Dass diese Debatte durch politischko<br />
r rekte Tugendwächter so lange ge de -<br />
c kelt oder in braune Schmud del ecken<br />
abgedrängt werden konnte, hat freilich<br />
seinen Preis: Der lange auf gestau te<br />
National-Frust explodiert im diskursiven<br />
Chaos. Da die etablierten Medien<br />
an einer konstruktiven Diskussion der<br />
Sarrazin-Fragen kein Interesse haben<br />
(mit Ausnahme der Bild-Zeitung, die<br />
trickreich zumindest das Gegenteil<br />
vorgibt), müssen selbst minimale Kom -<br />
munikationsstrukturen zur Selbstverständigung<br />
der «Sarraziner» erst aufgebaut<br />
werden.<br />
Bis dahin rennet, rettet,<br />
flüchtet jeder Vernünftige aus dem<br />
Mei nungs käfig der «Schland»-Parteien<br />
– aber keiner weiß genau, wohin. Bei<br />
einer Emnid-Umfrage von Anfang Sep -<br />
tember entfielen 18 Prozent auf eine<br />
fiktive Sarrazin-Partei, eine vom CDU-<br />
Dissidenten Friedrich Merz geführ te<br />
Formation hätte 20 Prozent bekom men,<br />
Ost-Pfarrer Joachim Gauck könn te sogar<br />
25 Prozent abräumen. Offensichtlich<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Titelthema<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
ist den Leuten egal, wer sie aus dem<br />
Jammertal führt, solange derjenige für<br />
eine gewisse Respektabilität und<br />
Professionalität steht.<br />
Rechte Extremisten jedenfalls, das<br />
zeigen die demoskopischen Werte für<br />
die entsprechenden Splitterparteien,<br />
können von «Volksheld Sarrazin»<br />
(Spiegel) nicht profitieren. Dazu passt,<br />
wie stark seine Anstöße nach links ausstrahlen:<br />
Bei der erwähnten Umfrage<br />
hatten 29 Prozent der Linke-Wähler ihr<br />
Kreuzchen bei der imaginären Sarrazin-<br />
Partei gemacht – das waren mehr<br />
als bei den Anhängern aller anderen.<br />
Das Ergebnis muss die Nomenklatura<br />
um Gregor Gysi schockieren – die war,<br />
ihrem Verständnis von Antifaschismus<br />
folgend, beim Verbellen des angeblichen<br />
Rechtspopulisten besonders lautstark<br />
gewesen. Die von Sarrazin befürchtete<br />
Abschaffung Deutschlands<br />
wurde im Zentralorgan frech bejubelt:<br />
«Muss das etwas Schlechtes sein? (…)<br />
Vielleicht muss es wirklich so geschehen,<br />
wie es in einem Punk-Klassiker<br />
besungen wird: »<br />
Dass dieser antideutsche Hass in einer<br />
Zeitung versprüht werden kann, die<br />
immer noch den patriotischen SED-<br />
Titel Neues Deutschland trägt, zeigt, wie<br />
sehr sich die neue und allerneueste Lin -<br />
ke von ihren Traditionen entfernt hat<br />
– und von einem Gutteil ihrer Wähler.<br />
Dass Sarrazin im Kern ein sozial<br />
reformerisches und keineswegs ein<br />
rechtsradikales Manifest vorgelegt hat,<br />
hat Hans-Ulrich Wehler, einer der linken<br />
Gegner von Ernst Nolte im so genannten<br />
Historikerstreit, herausgearbeitet<br />
(vg. S. 20). Dass dieser Kern nicht<br />
immer sichtbar ist, muss sich Sarrazin<br />
zwar auch selbst zuschreiben – seine<br />
Ausflüge in die Erbbiologie hätte er<br />
besser unterlassen, und auch zu seinen<br />
Angriffen auf den Islam wird unten<br />
noch Kritisches vermerkt werden. Die<br />
Unschärfe dieses Kerns erklärt sich<br />
jedoch weniger durch seine Darstellungsschwächen,<br />
als durch den politisch-korrekten<br />
Knick in der Optik seiner<br />
linken Kritiker. Diese können nicht<br />
erkennen, dass die im Buch zentrale<br />
Forderung nach einer Umkehr in der<br />
Einwanderungspolitik ganz im Interes<br />
se der arbeitenden Menschen in diesem<br />
Land – im marxistischen Duktus:<br />
im Klasseninteresse des Proletariats –<br />
liegt. Die Zuwanderung ist seit ihrem<br />
Beginn in den sechziger Jahren ein<br />
Projekt der Großkonzerne, die durch<br />
den Import billiger «Gastarbeiter» die<br />
Lohn quote immer mehr absenken<br />
konn ten. Das ist ökonomisch gewollte<br />
Inländerfeindlichkeit – wobei man den<br />
Begriff durchaus weit fassen sollte: So,<br />
wie schwäbische Betongießer in der<br />
Altbundesrepublik anatolischen Zuzüg<br />
lern weichen mussten, werden<br />
deren Jobs heute von polnischen oder<br />
baltischen Dienstleistern übernommen.<br />
Mit anderen Worten: Auch die Türken<br />
in Deutschland müssten in ihrem eige -<br />
nen Interesse mit Sarrazin dafür sein,<br />
dass vor der großen Flut die Schleusen<br />
geschlossen werden.<br />
Auch die Türken in<br />
Deutschland müssten<br />
in ihrem eige nen<br />
Interesse für Sarrazin<br />
sein.<br />
Sarrazin selbst hat ganz richtig<br />
erkannt, dass die notwendige Sammlung<br />
der Kräfte auf einer breiten Basis,<br />
also in der Mitte der Gesellschaft, erfolgen<br />
muss. «Eine Partei, die sich ausschließlich<br />
dem Thema Zuwanderung<br />
und Integration widmen würde, wäre<br />
eine Rechtspartei. Und ich möchte<br />
keine Rechtspartei in Deutschland (…)<br />
Ich lasse mich nicht in die rechte Ecke<br />
drängen», sagte er Ende Oktober der<br />
Bild am Sonntag. Bei den Themen, die<br />
hinzu kommen müssten, hat er in<br />
seinem Buch noch Ausarbeitungen zu<br />
Demographie und zur Familien- sowie<br />
Bildungspolitik vorgelegt.<br />
Zwei große Themenkreise fehlen: Die<br />
Zerstörung Deutschlands durch die<br />
undemokratischen Eingriffe der EU in<br />
alle Lebens bereiche sowie durch die<br />
US-amerikanische Finanz- und Kriegspolitik.<br />
Letzteres ist eine déformation<br />
professionelle bei einem Politiker,<br />
der in seiner Zeit als Berliner Senator<br />
die Priva tisierung von kommu na lem -<br />
Ei gen tum – eines der schlimmsten<br />
Ele men te des angelsächsischen Wirtschafts<br />
modells – immer voran ge trieben<br />
und sich mit Außenpolitik nie<br />
beschäftigt hat. Sein blinder Fleck in Bezug<br />
auf die EU verwundert hin gegen:<br />
8<br />
9
<strong>COMPACT</strong><br />
Titelthema<br />
Die Immigrationsproblematik wurde<br />
durch die von Brüs sel erzwunge nen<br />
Grenzöffnungen innerhalb der EU dra -<br />
ma tisch verschärft. Wenn Sarra zin die<br />
Ein wan derung sozialverträg lich re gu -<br />
lie ren, also sehr weit gehend eindämmen<br />
will, müsste er nicht nur den Lis sa -<br />
bonner, sondern auch den Maas trichter<br />
Vertrag kündigen – also die Mitgliedschaft<br />
in der EU, jedenfalls in ihrer bisherigen<br />
Form, zur Disposition stellen.<br />
Dass man mit diesem Thema<br />
punkten könnte, zeigt das Beispiel der<br />
br itischen Unabhängigkeitspartei UKIP:<br />
Unter ihrem rhetorischen Sturmgeschütz<br />
Nigel Farage gelang ihr bei den<br />
Europa-Wahlen 2009 auf breiter Ebene<br />
ein Einbruch in bürgerliche Wählerschichten.<br />
Mit 16,5 Prozent wurde UKIP<br />
hinter den Konservativen die zweitstärkste<br />
Kraft auf der Insel. Die Souve -<br />
ränität Großbritanniens bildet bei UKIP<br />
den programmatischen Rahmen, der<br />
unterschiedliche Strömungen zusammenhält.<br />
Im Rahmen dieses Souveränismus<br />
werden auch die Probleme der<br />
Immigration angesprochen und, als<br />
wichtiger Unterpunkt, die der Immigra<br />
tion aus islamischen Ländern. Hier<br />
fordert UKIP eine klare Begrenzung.<br />
Aber nicht «Ausländer raus aus unsrem<br />
Land», sondern «Unser Land raus<br />
aus der EU!» ist das Panier, mit dem<br />
Farage seine Wahlsiege erficht. Der<br />
Kampf gegen die Brüsseler Kommissare<br />
steht im Vordergrund, nicht der<br />
Kampf gegen den Islam.<br />
Sarrazin setzt die Akzente<br />
leider anders. Anstatt über die für<br />
Deutschland zerstörerischen Einflüsse<br />
von EU und USA schreibt er in seinem<br />
Buch lieber über die Gefahren, die uns<br />
vom Islam drohen. Auch mit diesem<br />
Fokus kann man eine Protestpartei<br />
stark machen, wie das Beispiel der<br />
niederländischen Partij voor de Vrijheid<br />
von Geert Wilders zeigt. Doch man<br />
muss sich über die Konsequenzen<br />
dieser Schwerpunktsetzung im Klaren<br />
sein: Wer «den» Islam als unser Problem<br />
oder gar als das Hauptproblem<br />
sieht, wird sich nicht auf die Wiederaneignung<br />
nationaler Souveränitätsrechte<br />
etwa zur Steuerung der Immigration<br />
beschränken können. Vielmehr<br />
wird er auf einer glitschigen Rutschbahn<br />
Platz nehmen, die ihn in die weltweite<br />
Front gegen den Islam führt –<br />
wofür dann schnurstracks weitere Souveränitätsrechte<br />
an die Kommandeure<br />
dieser Front abgegeben werden müssen.<br />
Nicht die Verteidigung Deutschlands,<br />
sondern die Verteidigung USame<br />
rikanischer Ölinteressen in Nahund<br />
Mittelost ist der Fluchtpunkt dieser<br />
Politik, und ihr Lackmustest wird<br />
die deutsche Unterstützung für is ra e-<br />
lische Bomben auf Teheran sein.<br />
Die Alternative, ob eine neue<br />
poli tische Kraft eher nach dem Farage-<br />
Modell als Unabhängigkeitspartei oder<br />
eher nach dem Wilders-Modell als Anti-<br />
Islam-Partei ausgerichtet werden müss -<br />
te, ist noch kaum herausgearbeitet.<br />
Manche sehen das auch gar nicht als<br />
Entweder-Oder. Nehmen wir die Vorgänge<br />
in Berlin im Spätherbst <strong>2010</strong>, die<br />
im weiteren Verlauf der Geschichte<br />
zwar nur eine Fussnote bilden werden,<br />
aber doch als Momentaufnahme der<br />
Riffe unter der von Sarrazin ausgelösten<br />
Dis kurs-Welle taugen. So mag man<br />
dem CDU-Dissidenten René Stadtkewitz<br />
ger ne zubilligen, dass er sich von<br />
Wilders bei der Taufe seiner Freiheits-<br />
Partei nur deswegen helfen ließ, weil<br />
er nicht früher von Farage kontaktiert<br />
wurde. Israel-Liebesbekundungen erscheinen<br />
Moderaten wie ihm vielleicht<br />
nur als probater Schutzschild, um Unterwanderer<br />
aus DVU und NPD abzuschrecken<br />
– auf hartge sottene Antisemiten<br />
wirkt Wilders Davidstern wie<br />
das Kruzifix auf Vampire.<br />
Das Problem bei diesem allzu trickreichen<br />
Kalkül ist, dass man durch das<br />
Schwenken israelischer Fahne zwar die<br />
eine Sorte Extremisten abschreckt, aber<br />
eine andere anzieht, die im Hier und<br />
Heute – wir leben ja nicht mehr in den<br />
dreißiger Jahren! – noch gefährlicher<br />
ist: die eliminatorischen Zionisten und<br />
weltkriegsgeilen Neokonservativen.<br />
Der vergleichsweise harmloseste<br />
Rekrut dieser Truppe ist Aaron König,<br />
anfänglich Stadtkewitz’ Nummer zwei,<br />
der seine Karriere bei der Piratenpartei<br />
beenden musste, nachdem er die Bombardierung<br />
des Iran gefordert hatte.<br />
Gefährlicher ist schon Eliezer Cohen, der<br />
von Stadtkewitz als Co-Referent bei Wilders’<br />
Auftritt in Berlin eingeladen worden<br />
war. Nichts hätte dagegen gesprochen,<br />
durch einen Redner aus<br />
Israel historische Verantwortung zu demonstrieren.<br />
Doch Cohen ist kein Vertreter<br />
der israelischen Friedensbewegung,<br />
noch nicht einmal der durchaus<br />
zionistischen Arbeitspartei – sondern<br />
er gehört zur Partei von Aussenminister<br />
Avigdor Lieberman. Diese Partei<br />
träumt offen von der Depor tation nicht<br />
nur der Palästinenser, sondern auch<br />
der arabischen Staatsbürger Israels,<br />
und wird auch in der dortigen Presse<br />
als «rassistisch» oder «fa schistisch»<br />
bezeichnet.<br />
Das Maß voll macht die Anwesenheit<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Titelthema<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
von Daniel Pipes auf dem im engsten<br />
Kreis angesetz ten Gründungstreff der<br />
Stadtkewitz-Partei. Pipes gehört zu den<br />
härtesten Fal ken der Bush-Ära, die jeden<br />
Krieg ge gen islamische Staaten<br />
propagandistisch rechtfertigten. Im<br />
Frühjahr forderte er Präsident Obama<br />
auf, den Iran anzu greifen. Er unterstützte<br />
die Wilders-Partei angeblich mit<br />
fünfstel ligen Beträgen. Nun hat er bei<br />
der Berliner Freiheit angedockt. Aber<br />
wohin wird deren Reise gehen, wenn<br />
sie einen Steuermann hat, der nicht<br />
deutsche, son dern US-amerikanische<br />
und zionis tische Interessen verfolgt –<br />
und zwar in deren extremster Variante?<br />
Entsteht auf diese Weise nicht statt einer<br />
Volkspartei doch eine Rechtsaussenpartei?<br />
Die Stoßtruppen für die Auflösung<br />
Deutschlands sind jedenfalls<br />
nicht die Muslime, sondern die Achtundsechziger.<br />
Das ist oft schwer zu er -<br />
kennen, weil sich Claudia Roth und Co.<br />
als Sachwalter der Muslime ausgeben,<br />
freilich ohne sie groß gefragt zu haben.<br />
Aber bei einem Kernthema der Sarrazin-Untersuchung<br />
wird der Unter -<br />
schied zwischen beiden Gruppen deut -<br />
lich – beim dramatischen Sinken der<br />
Geburtenrate. Dafür sind der Femi nismus<br />
und dessen karzinogene Mu tation,<br />
die Gender Mainstream-Ideologie,<br />
verantwortlich, die bös artigs ten<br />
Früchte der 68er Revolte und mit die<br />
Hauptanliegen der grünen Bewegung<br />
(samt ihrer Ausläufer in den alten<br />
Volksparteien).<br />
Sie wollen die Hetero sexualität und<br />
die Familie in den Zoo der Minderheiten<br />
und ins Muse um verbannen.<br />
Frau und Mann sind ihnen zufolge<br />
keine biologische Reali tät, sondern<br />
ein soziales Konstrukt – wo doch ein<br />
Blick in den eigenen Slip jeden und<br />
jede vom Gegen teil überzeu gen kann.<br />
Schwule, Lesben und Transen sollen<br />
heiraten und Kinder adoptieren dürfen,<br />
den Famili en wird über die Abschaffung<br />
des Ehegatten-Splittings<br />
die Finanzierungs grundlage entzogen,<br />
in Berlin hisst der Polizeipräsident<br />
zum Christopher Street Day die<br />
Regenbogenfahne.<br />
Was in diesem Land abläuft,<br />
ist der Krieg einer familienfeindlichen<br />
68er-Minderheit unter Führung ide o-<br />
logisch verbohrter Feministinnen gegen<br />
die Mehrheit der Normalos, die<br />
zum Aussterben überredet werden<br />
sollen. Nota bene: An diesem Krieg<br />
sind die Muslime nicht beteiligt. Im<br />
Gegen teil: Ihre Ideale von Liebe und<br />
Partnerschaft, von Familie und Respekt<br />
stehen den ursprünglichen deutschen<br />
sehr nahe.<br />
Dass junge Türken Deutschland ablehnen<br />
und sich einer Integration verweigern,<br />
hat zumindest zum Teil damit<br />
zu tun, dass unser Land seine eigenen<br />
Traditionen verraten hat. Das Kopftuch<br />
junger Türkinnen in Kreuz berg ist<br />
nicht nur, aber auch ein Protest gegen<br />
die Pornographisierung der gleichaltrigen<br />
Deutschen. Wenn Cindy und<br />
Wo die nationale<br />
Leitkultur stark ist,<br />
können Minderheiten<br />
integriert werden.<br />
Ein Beispiel dafür ist<br />
Preußen.<br />
Mandy sich von der Oberlippe bis zum<br />
Arschgeweih tätowieren und piercen<br />
lassen, flüchten Fatima und Ayse unter<br />
das Kopftuch, was immerhin ein Ausdruck<br />
ihrer Kultur und ihrer Religion<br />
ist.<br />
Dass auch wir unsere kulturellen<br />
und religiösen Wurzeln wieder frei legen<br />
und stärken, müsste – neben der<br />
Wiedergewinnung der äußeren Souve -<br />
r änität – ein wichti ges Element einer<br />
Partei sein, die Deutschland vor dem<br />
Un tergang in einer to tali tären One<br />
World bewahren will. Musli me wie<br />
Andreas Rieger, die die Weimarer Klassik<br />
verstehen und schätzen (vgl. S. 51),<br />
werden diesen Weg sicherlich eher mitgehen<br />
als die Anhänger von Lady Gaga<br />
und Renate Künast.<br />
Wo die nationale Leitkultur<br />
stark ist, können Minderheiten integriert<br />
werden. Ein Beispiel ist Preußen,<br />
in dem die zugewanderten Huge notten<br />
zeitweise 20 Prozent der Bevölkerung<br />
ausmachten – und trotzdem keine<br />
Parallelgesellschaft bildeten. Das wird<br />
mit Türken und Arabern zweifellos<br />
schwieriger werden. Nur wenn der Zuzug<br />
gestoppt wird, werden die bisher<br />
Gekommenen sich gut einfinden kön-<br />
nen. Der alte Preuße Sarrazin hat immerhin<br />
die Melodie aufgeschrieben,<br />
die man unseren Mitbürgern vorsingen<br />
müsste:<br />
«Wer da ist und einen legalen Aufent<br />
haltsstatus hat, ist willkommen.<br />
Aber wir erwarten von euch, dass ihr<br />
die Sprache lernt, dass ihr euren Lebens<br />
unterhalt mit Arbeit verdient, dass<br />
ihr Bildungsehrgeiz für eure Kinder<br />
habt, dass ihr euch an die Sitten und<br />
Gebräuche Deutschlands anpasst und<br />
dass ihr mit der Zeit Deutsche werdet<br />
– wenn nicht ihr, dann spätestens eure<br />
Kinder. Wenn ihr muslimischen Glaubens<br />
seid, OK. Damit habt ihr dieselben<br />
Rechte und Pflichten wie heid nische,<br />
evangelische oder katholische<br />
Deutsche. Aber wir wollen keine nati -<br />
o nalen Minderheiten. Wer Türke oder<br />
Araber bleiben will und dies auch für<br />
seine Kinder möchte, der ist in seinem<br />
Herkunftsland besser aufgehoben.<br />
Und wer vor allem an den Segnungen<br />
des deutschen Sozialstaats interessiert<br />
ist, der ist bei uns schon gar nicht<br />
willkommen.»<br />
10<br />
11
<strong>COMPACT</strong><br />
Titelthema<br />
Das Feindbild als Spiegelbild. Über<br />
Henryk M. Broders Vorstöße in der<br />
deutschen Islam-Debatte.<br />
Foto: Florian Siebeck<br />
Tit for Tat<br />
Dubai City im Jahre <strong>2010</strong>: Bedroht der Islam die Moderne – oder die Moderne den Islam?<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Titelthema<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Von André F. Lichtschlag<br />
Der Journalist Henryk M. Broder betrach -<br />
tete das Gestammel der Gut menschen-<br />
Kollegen nach dem Schweizer Minarettvotum<br />
als «luschtig». Die Schweizer,<br />
so Broder, seien «die erste europäische<br />
Nation, die sich in einer freien Abstimmung<br />
gegen die Isla misie rung ihres<br />
Landes entschieden» habe. Es sei<br />
tatsächlich eine Abstimmung gegen<br />
eine bisherige «Asy mmetrie», denn<br />
«Moslems dürfen in Europa Gebetshäuser<br />
bauen, Christen in den arabischislamischen<br />
Ländern dürfen es nicht.<br />
In Afghanistan und Pakistan droht<br />
Konvertiten die Todesstrafe, Touristen<br />
dürfen nach Saudi-Arabien nicht einmal<br />
Bibeln im Gepäck mitführen.» Das,<br />
so Broder, «sind Zustände, die nicht<br />
toleriert werden können.» Nun sei die<br />
Zeit für das alte jüdische «Tit-for-tat-<br />
Prin zip» gekommen: «So wie zwischen<br />
den Regierungen Slots für die Flug -<br />
gesellschaften ausgehandelt werden,<br />
werden jetzt auch Landerechte für den<br />
Bau von religiösen Einrichtungen<br />
vereinbart. Wenn es in Bonn eine König-Fahd-Aka<br />
demie geben kann, die<br />
nicht der Schulaufsicht untersteht,<br />
muss es in Riad oder Jedda eine Evangelische,<br />
eine Ka tholische oder eine<br />
Akademie für Theorie und Praxis des<br />
Atheismus geben können. Wenn iranische<br />
Frauen in Voll verschleierung<br />
durch München flanieren können,<br />
müssen europäische Frauen in der<br />
Kleidung ihrer Wahl durch Teheran<br />
oder Isfahan gehen dür fen, ohne von den<br />
notgeilen Greifern der Sittenpolizei belästigt<br />
zu werden.»<br />
«Gut gebrüllt», antwortet ihm<br />
Kollege Hermann L. Gremliza: Schade<br />
nur, «dass der Rat zu spät kommt für<br />
die USA, um dem deutschen Emigran -<br />
ten Brecht zu sagen, er dürfe in Amerika<br />
erst schreiben, wenn im Deutschen<br />
Reich wieder Pressefreiheit herrscht.»<br />
Claudius Seidl fügt mit Voltaire hinzu:<br />
«Ich mag Ihr Kopftuch nicht. Aber ich<br />
werde mein Leben dafür einsetzen,<br />
dass Sie sich kleiden dürfen, wie Sie<br />
wollen.»<br />
Dabei spricht durchaus auch viel für<br />
Broders Provokation. Zweifellos ist die<br />
genannte «islamische Asymmetrie»<br />
bezüglich Religionsfreiheit gegeben,<br />
und dass sie bislang von den Kol legen<br />
der Mainstream-Presse nicht thematisiert<br />
wurde, ist ein Skandal. Es bleibt<br />
nur die alte Frage: Was unterscheidet<br />
den nach eigenem Bekunden Toleranten<br />
vom Intoleranten, wenn er dessen<br />
Intoleranz gegen ihn selbst wendet?<br />
Sollten wir dann nicht besser gleich<br />
alle zum Islam konvertieren und<br />
umgekehrt?<br />
Wäre es nicht entschieden<br />
aufrichtiger, das Abendland bliebe seinen<br />
Werten treu, statt sie zu verraten?<br />
Daher ein anderer Vorschlag: Broders<br />
einflussreiche Arbeitgeber Spiegel und<br />
Welt könnten zur Abwechslung mit<br />
den Berichten über Christenver folgungen<br />
in arabischen Ländern beginnen.<br />
Oder ARD und ZDF könnten themati<br />
sieren, dass seit dem 1. Januar 2000<br />
nahezu alle Kinder türkischer Eltern<br />
von Geburt an Deutsche sind.<br />
Ein Faktum über viele momentan<br />
heranwachsende und statistisch bereits<br />
deutsche Mitbürger, das vielen Abstam<br />
mungsdeutschen kaum bewusst<br />
ist, wurde das Gesetz doch in etwa so<br />
heimlich eingeführt wie die Einwanderungspolitik<br />
von Beginn an systema<br />
tisch geplant und betrieben wurde.<br />
Das gar nicht mehr so neue Staatsbürgerschaftsrecht<br />
jedenfalls könnte sich<br />
in ein paar Jahren als Meilenstein auf<br />
dem Weg zum Bürgerkrieg erweisen,<br />
dann nämlich, wenn der Sozialstaat<br />
endgültig zusammenbricht, der all das<br />
Prekariat angezogen, herausgebildet<br />
und zielgerichtet vermehrt hat, das<br />
nicht nur den Schweizern langsam zu<br />
teuer wird.<br />
Oder wie wäre es, wenn die em -<br />
pörten Deutschen und Schweizer Urlaubslän<br />
der wie Ägypten mieden oder<br />
begännen, Waren aus entsprechenden<br />
Ländern zu boykottieren? Das wäre<br />
zwar für jeden einzelnen unbequemer,<br />
aber es würde auch nicht den eigenen<br />
Anspruch verraten. Und die Methode<br />
könnte erfolgversprechender sein, als<br />
auch hierzulande die Religionsfreiheit<br />
zu beschneiden.<br />
Und wenn schon Broders rabiates po -<br />
li tisches Mittel, dann bitte auch konse -<br />
quent: Irakische und afghanische Truppen<br />
dürfen nach kleineren dor tigen<br />
Gefechten und Bombardements in<br />
Berlin und Washington stationiert werden,<br />
und auch der Iran darf natür lich<br />
Atomwaffen bauen. Abschreckung ist<br />
machbar, Herr Nachbar. Oder auch:<br />
«Tit-for-tat».<br />
Broder erklärt die neue Angst<br />
des Westens vor dem Islam allein mit<br />
dessen Fehlern. Die andere Seite der<br />
Me daille verschweigt er, jene diffuse<br />
Grundangst, die aus eigener Schwäche<br />
herrührt. Deutschland und darüber<br />
hinaus das, was gemeinhin als «der<br />
Wes ten» bezeichnet wird, «haben fertig».<br />
Viele wissen das. Noch mehr ahnen<br />
es. Demographisch, demokratisch,<br />
kulturell, moralisch und ökonomisch<br />
zehren wir von der Vergangenheit und<br />
leben auf Kosten der Zukunft. So ist<br />
das im Sozialismus, immer. Große<br />
Gelehrte wie Ludwig von Mises oder<br />
Friedrich August von Hayek haben dicke<br />
Bücher zur Erklärung des Phänomens<br />
verfaßt. Roland Baader in Deutschland<br />
oder Igor Schafarewitsch in Russland<br />
haben erklärt, warum jeder neue so zi -<br />
a lis ti sche Menschenversuch – und es<br />
gab im Laufe der Jahrhunderte viele –<br />
immer wieder aus vier Komponenten<br />
besteht: Eigentumszerstörung, Religions<br />
zerstörung, Familienzerstörung,<br />
gekop pelt mit der Utopie der sozialen<br />
Gleichheit. Jetzt steht auch unsere neoso<br />
zialistische Gesellschaft wie vor<br />
mehr als zwanzig Jahren der Real sozi -<br />
a lismus vor dem Offenbarungseid.<br />
Wie damals suchen Kapital und Menschen<br />
das Weite. Wer kann, haut ab. Die<br />
Auswandererziffern nähern sich bereits<br />
den Zahlen der Einwanderer.<br />
Leistungsfähige und -willige ziehen in<br />
Scharen fort im Austausch gegen<br />
Anatoliens Landbevölkerung, die, bildungs<br />
fern, aber bauernschlau, vom<br />
hiesigen Sozialschlaraffenland wie magisch<br />
angezogen wird. Das düstere Bild<br />
der Zukunft ist an hiesigen Problemschulen<br />
bereits heute zu bewun dern.<br />
Die Überwachung der verbleibenden<br />
Produktiven wird immer lückenloser,<br />
fliehendem Kapital wird an den Grenzen<br />
polizeistaatlich nachgespürt. Der<br />
Klassenfeind lauert in Liechtenstein.<br />
Mauer und Stacheldraht sind nur noch<br />
eine Frage der Zeit. Auch so ist das im<br />
Sozialismus, auf Dauer immer.<br />
Die Beweggründe des auf gebrach<br />
ten Volkes sind ja nachvoll ziehbar:<br />
Immer mehr Straßenzüge im ei ge -<br />
nen Land mutieren zum No-go- Bezirk<br />
für Deutsche, die zudem noch gedemü<br />
tigt werden von den stets juristisch,<br />
soziologisch, politisch und sozialstaat -<br />
lich bevorzugten Jungmänner-«Migranten».<br />
Gemeint sind nicht die Rhein-<br />
<strong>12</strong><br />
13
<strong>COMPACT</strong><br />
Titelthema<br />
Die Metropolis von Dubai City als Menetekel der Verwestlichung.<br />
Fotos: Florian Siebeck<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Titelthema<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
«Ist nicht auch die islamische Jugend im Westen wie in<br />
der eigentlichen Heimat von der Pop-Kultur der Untreue,<br />
des unproduktiven Konsums und der Ehr- wie Kinderlosigkeit<br />
bereits weitaus stärker angezogen als vom Prediger<br />
in der Moschee? Und ist nicht auch die moslemische<br />
Welt diesseits alter Ideen vom Gold-Dinar längst eine<br />
Schuldengemeinschaft, die nicht nur in Dubai auf Sand<br />
gebaut ist?» (André F. Lichtschlag)<br />
14<br />
15
<strong>COMPACT</strong><br />
Dezember<br />
länder in Berlin. Die Bauzeichnung der<br />
Ehrenfelder Großmoschee – des «neu -<br />
en Kölner Doms» – ist eine eindrucksvolle<br />
symbolische Demonstration der<br />
Macht. Da ist es verständlich, wenn<br />
sich Angst und Wut auf «die Musels»<br />
weiter verbreiten. Zunehmend stehen<br />
sie für alles Böse dieser Welt: «Politisch<br />
inkorrekte Westler» wie Broder erklären,<br />
die islamische Religion sei in Wirklichkeit<br />
eine aggressive politische Ide -<br />
ologie, ihr Religions stifter bereits sei<br />
ein Krieger und ein Kinderschänder<br />
gewesen. Die Muslime seien kulturell,<br />
moralisch und ökonomisch rückständig,<br />
und ihre Religion habe anders als<br />
das Christentum im Westen eine «Aufklärung»<br />
nie erfahren.<br />
Schließlich würden Moslems in weni<br />
gen Jahrzehnten bereits demographi -<br />
sch im Westen die Macht ergreifen. Ein<br />
Blick in die Neugeborenenab teilung eines<br />
Krankenhauses in einer beliebigen<br />
westlichen Großstadt sagt dazu mehr<br />
als tausend Worte.<br />
Gerade die Angst aber vor der<br />
Macht übernahme durch künftige muslimische<br />
Mehrheiten im alten Europa<br />
zeigt, dass wir es auch heute lediglich<br />
mit einem Blick in den Spiegel zu tun<br />
haben. Denn würden die westlichen<br />
Gesellschaften nicht selbst absterbende<br />
sein und wäre die Geburtenrate bei den<br />
Einheimischen nicht tendenziell eine<br />
Selbstmordrate, so würden nicht andere<br />
jene Macht an sich reißen können.<br />
Mohammedaner vermehren sich, der<br />
Westen ist verbraucht, alt, gebrechlich,<br />
lendenlahm und überlebt nur noch<br />
notdürftig auf Pump. In einer solchen<br />
Gesellschaft wird die Selbsttötung<br />
eines unscheinbaren und vergleichswei<br />
se wenig bekannten Torhüters als<br />
kollek tives emotionales Großereignis<br />
ze lebriert wie andernorts und zu an -<br />
de rer Zeit der im Kampf gefallene «unbekannte<br />
Soldat». Was zuweilen als<br />
«Land nahme» bezeichnet wird, ist deshalb<br />
eher eine milde «Landgabe».<br />
Doch schauen wir uns die Vorwürfe<br />
der Spiegelfechter noch einmal ge nau -<br />
er an: Im ehemals christlichen Westen<br />
folgten nach der Aufklärung Kommunismus,<br />
Nationalsozialismus und Sozi<br />
al demokratismus – und in der Fol -<br />
ge dieser Ideologien das inflationäre<br />
Papiergeldsystem sowie Abermil lionen<br />
Ermordete und Beraubte. Wo finden<br />
wir mit dem Gulag, dem «großen<br />
Sprung nach vorn» und dem Holocaust<br />
auch nur entfernt Vergleichbares im<br />
«unaufgeklärten moslemischen Kulturraum»?<br />
Die schlimmsten Verbrechen,<br />
die gegen die Armenier, wurden<br />
auch dort ausgerechnet von den «aufgeklärten»<br />
Jungtürken begangen, die<br />
sich an westlichen Modernisierern<br />
orientierten.<br />
Wessen Armeen<br />
stehen seit mehr als<br />
100 Jahren in<br />
wessen Kulturraum?<br />
damentalistischen wie US-ergebenen<br />
Saudis kostete etwa 400.000 Muslime<br />
das Leben. Die wenigen Terroristen unter<br />
mehr als einer Milliarde Muslimen<br />
haben finanziell, bildungsspezifisch<br />
und kulturell weit überdurchschnittlich<br />
häufigen Kontakt zu westlichen<br />
Gesellschaften im allgemeinen, zu deren<br />
Ideologien im besonderen und zu<br />
ihren Geheimdiensten im speziellen.<br />
Die gesamte Geschichte der RAF stellt<br />
sich 30 Jahre später von Kurras über<br />
Baader und Mahler bis Viett als in jedem<br />
Schritt beobachtet, wenn nicht gar<br />
inszeniert von diversen Geheimdiensten<br />
heraus. Was werden wir in 30 Jahren<br />
über den «islamistischen Terrorismus»<br />
erfahren, von dem bereits heute<br />
auffällig viele entsprechende Querver -<br />
bindungen bekannt sind?<br />
Und die Intoleranz? Die Sultane<br />
ließen im 15. und 16. Jahrhundert mehr<br />
als 10.000 aus Spanien vertriebene Juden<br />
in der heutigen Türkei siedeln. Das<br />
Osmanische Reich war wie jetzt noch<br />
das Russische ein Vielvölkerreich und<br />
im Vergleich zum «aufgeklärten 20.<br />
Jahrhundert» ausgesprochen tolerant<br />
gegenüber Minderheiten. Noch heute<br />
leben im Iran Juden und Christen weitgehend<br />
unbehelligt, sie praktizieren ih -<br />
re Religion in ihren Kirchen und Syna -<br />
Und was den aggressiven,<br />
kriegerischen und terroristischen Islam<br />
betrifft: Wessen Armeen stehen seit<br />
mehr als 100 Jahren in wessen Kulturraum?<br />
Wer finanzierte jahrzehntelang<br />
die fundamentalistischen Strömungen<br />
in Saudi-Arabien und in Afghanistan?<br />
Waren es Muslime oder Amerikaner?<br />
Die Machtergreifung der ebenso fungogen.<br />
Der Unterschied nur zu den<br />
Mus limen im Westen und die bes sere<br />
Erklärung für das wachsende Unbehagen<br />
an den «neuen Mitbürgern»<br />
hier: Die traditionellen Minderheiten<br />
leben und arbeiten auf eigene Kosten.<br />
Damit wir uns nicht falsch verstehen:<br />
Die Christenverfolgung in manchen<br />
islamischen Ländern bleibt ein<br />
Skandal, das Schweigen der westlichen<br />
Presse dazu nur ein weiterer Beleg für<br />
eine untergehende Ordnung. Die verbreitete<br />
Geringschätzung und Unterdrückung<br />
von Frauen im Islam ist eher<br />
noch verwerflicher als die moderne<br />
Männerverachtung im feministischen<br />
Westen. Und ja, Mohammed war im<br />
Ge gensatz zum friedliebenden Jesus<br />
ein Krieger. Da darf man werten. Und<br />
richtig, es gibt auch deshalb religiöse<br />
Unterschiede. Nur würden «die Musli<br />
me» dennoch nicht so furchteinflößend<br />
vor der vermeintlichen Machtübernahme<br />
stehen, wenn nicht der<br />
Wes ten selbst in jeder Beziehung vor<br />
dem Ende stünde.<br />
Sarrazin hat trotzdem Recht:<br />
Viele real existierende Einwanderer in<br />
Deutschland wie in der Schweiz – und<br />
mehr noch in Frankreich oder Belgien<br />
– sind ein großes Problem. Der Anteil<br />
des «Prekariats» unter den Türken und<br />
vor allem Arabern ist insbesondere in<br />
Berlin augenfällig höher als unter «Einheimischen».<br />
Doch das ist ein durch<br />
Einwanderungspolitik und Sozialstaat -<br />
lichkeit hervorgerufenes Übel, mit dem<br />
wir uns im folgenden ausführlicher<br />
beschäftigen wollen, weniger eines der<br />
Religion. Und es ist, soviel vorweg,<br />
auch nur ein Symptom des Zusammenbruchs,<br />
in etwa vergleichbar mit<br />
dem Zustand des Maschinenparks, der<br />
Straßen oder der verängstigten Menschen<br />
im Osteuropa des Jahres 1988.<br />
André F. Lichtschlag ist<br />
Herausgeber des Monats<br />
magazins eigentümlich<br />
frei. Seinem aktuellen<br />
Buch Feindbild Muslim.<br />
Schauplätze verfehlter<br />
Ein wanderungs- und Sozial<br />
politik (manuscriptum-Verkag,<br />
8.80 Euro)<br />
entnahmen wir den obigen<br />
leicht gekürzten Text.<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Titelthema<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
In der<br />
Sarrazin-Falle<br />
Der ehemalige Finanz<br />
senator blendet<br />
sein eigenes<br />
Fach gebiet – den<br />
Finanzsektor –<br />
aus. Dafür glaubt<br />
er, alles über den<br />
Islam zu wissen.<br />
Von A. Rieger und S. Wilms<br />
Deutschland schafft sich ab – schon der<br />
Titel ist eine gelungene Mar ketingmaß<br />
nahme. Auf beinahe 400 Seiten<br />
beschäftigt sich Thilo Sarrazin mit der<br />
Angst des «weißen Mannes» vor dem<br />
Untergang des Abendlandes. Die<br />
Fakten sind schnell erzählt: Unser<br />
Gemein wesen wird, nach Sicht des<br />
ehemaligen Berliner Finanzsenators,<br />
von bildungsfernen Schichten bedroht,<br />
eine Bevölkerungsgruppe die, so sein<br />
biopolitisches Bedrohungsszenario,<br />
zudem stetig wachse und eines Tages<br />
aus der bequemen «Sozialschaukel»<br />
aufstehen und das Land ins Chaos<br />
stürzen könnten. Neben der deutschen<br />
Unterschicht wird, so Sarrazin weiter,<br />
die Republik auch von revoltierenden<br />
Immigranten unterwandert. Schuld an<br />
dieser Misere habe «eine unhistorische,<br />
naive und opportunistische staatliche<br />
Migrationspolitik». Der europäische<br />
Nationalstaat, so könnte man<br />
die Lage zusammenfassen, stehe vor<br />
der Selbstauflösung.<br />
Seit Erscheinen dieses Buches<br />
wird in der Berliner Republik wenigstens<br />
mal wieder richtig gestritten. Das<br />
Buch, Carl Schmitt hätte seine Freude<br />
daran, gibt einige Steilvorlagen für<br />
neue Freund-Feind-Unterscheidungen,<br />
etabliert aber auch gleichzeitig eine<br />
machtvolle Dialektik zu Füßen des<br />
Establishments. Das funktioniert umso<br />
besser, als Sarrazin, wie noch zu zeigen<br />
ist, statt der Etikette «Ausländer» lieber<br />
den Begriff «Muslime» wählt. Der<br />
Volkszorn, auch dazu verhilft die<br />
Sarrazin-Debatte, wendet sich von den<br />
«bildungsfernen» Finanzjongleuren<br />
und Profiteuren und ihren Parallel gesellschaften<br />
ab und damit von den<br />
Eliten, die ja für den eigentlichen Abgrund<br />
dieses Jahrhunderts, die Folgen<br />
der aktuellen Finanzkrise, Mitverantwortung<br />
tragen. Die nicht gerade unwichtige<br />
Frage «Was ist ein Derivat?»<br />
können folglich bis heute nur ein paar<br />
Promille unserer Mitbürger beantworten,<br />
während fast jeder zu wissen<br />
glaubt, was im Koran steht. Dazu passt,<br />
dass Sarrazin bei seiner Selbstdarstellung<br />
einer deutschen «Beamtenkar ri -<br />
ere» seine ungeklärte Rolle bei den Berliner<br />
Finanzskandalen der letzten Jahre<br />
vergisst.<br />
Natürlich gibt die Person Sarrazins<br />
Vorlagen für einige Polemik. Gerade<br />
aus muslimischer Sicht liegen einige<br />
Vor aussetzungen vor, auf den vermeint<br />
lichen «Feind» und seine Truppen<br />
einzuschlagen. Peinlich wird es<br />
jedoch, wenn in Talkshows die meisten<br />
Muslime zugeben müssen, dass<br />
sie das Buch selbst nicht gelesen haben.<br />
Nur: Was, wenn gerade in dieser<br />
Ignoranz gegenüber den Inhalten<br />
die eigentliche Sarrazin-Falle für die<br />
Muslime liegt?<br />
Erlauben wir uns also für<br />
einen Moment den Luxus der Differenzierung<br />
(Das Motto: Wir Muslime<br />
sind nicht schon deswegen gut, weil er<br />
böse ist!). Zunächst muss man sportlich<br />
fair feststellen, dass Sarrazin natürlich<br />
ein unglaublicher Bestseller gelungen<br />
ist. Ob es uns gefällt oder nicht<br />
– seit dem Zweiten Weltkrieg hat kein<br />
anderes politisches Buch so einen Verkaufserfolg<br />
hingelegt. Punkt. Man wird<br />
einwenden dürfen, dass dies ohne die<br />
tatkräftige Unterstützung der Massen -<br />
medien kaum gelungen wäre, aber als<br />
Erklärungsmodell greift dies ein deutig<br />
zu kurz. Die Frage, «wie wir unser<br />
Land aufs Spiel setzen», scheint immer<br />
hin hunderttausende Leser zu<br />
beschäftigen. Deswegen muss man<br />
natür lich die Fragen, die dieser Ver -<br />
kaufs schlager aufwirft, durchaus ernst<br />
nehmen – nur so können auch Chancen<br />
genutzt werden.<br />
16<br />
17
<strong>COMPACT</strong><br />
Titelthema<br />
Gewünschtes Endziel «Integration»? Deutschunterricht in den Räumlichkeiten der Zentrale des türkischen Verbandes DITIB in Köln<br />
E i n z w e i t e r E i n w a n d gegen<br />
die Sarrazin-Abfertiger ist auch strategischer<br />
Natur: Ein Sarrazin in der<br />
SPD ist allemal besser, als ein Volkstribun<br />
ausserhalb der SPD, der gar<br />
den rechten Mob anzieht. Deswegen<br />
sind Forderungen nach einer Verurteilung<br />
Sarrazins oder seinem Ausschluss<br />
aus der Debatte tatsächlich<br />
wenig hilfreich.<br />
Darüber hinaus, bei allen berechtigten<br />
Vorbehalten: Sarrazin mag mit dem<br />
Feuer spielen – ein Rassist oder Rechtsradikaler<br />
ist das langjährige SPD-<br />
Mitglied allerdings beileibe nicht. In<br />
seiner öffentlichen Buchpräsentation<br />
in Potsdam bemerkte denn auch Sarra -<br />
zin selbst verwundert, dass die<br />
hunderte von Seiten, in der er die Deutschen<br />
selbst kritisiert habe, kaum polarisierten,<br />
seine Passagen über die Integration<br />
aber inzwischen eine heftige<br />
Kulturdebatte ausgelöst haben.<br />
Bevor man sich dem eigentlichen<br />
Buch annähert, sollte man also ruhig<br />
durchatmen und vielleicht den eigenen<br />
Blickwinkel auf das Werk kurz fest legen.<br />
Man wird nämlich als betroffene<br />
muslimische Minderheit deutlich weniger<br />
Probleme mit den Unterstellungen<br />
und auch den Binsen weis heiten<br />
des Buches (wer ist denn auch schon<br />
für Ali, den Schläger?) haben, wenn<br />
man sich kurz, sozusagen vor dem<br />
Einstieg in die Debatte, klar macht, was<br />
der Islam ist. Nur zur Erinnerung: Der<br />
Islam ist keine Kultur. Der Islam<br />
befördert keinen Nationalismus. Der<br />
Islam ist keine Ideologie. Der Islam ist<br />
kein System. Worauf man gegen<br />
ungerechtfertigte Pauschalisierungen<br />
aus der Sicht eines deutschen Muslim<br />
entschieden verweisen muss, ist die<br />
Plura lität unseres Glaubens. Angesichts<br />
weit über einer Milliarde Menschen<br />
weltweit findet man eine breite<br />
Auswahl von Überzeugungen und<br />
Lebens stilen: Es gibt zum Beispiel muslimische<br />
Heilige, muslimische Ausländer,<br />
muslimische Otto-Normal-Verbraucher<br />
und muslimische Kriminelle.<br />
Dieser Ansatz ist deswegen wichtig,<br />
um nicht in die Falle zu laufen, man<br />
mü sse nun als Muslim in einer Art<br />
«Soli da ri tätsverpflichtung» jeden aberwitzigen<br />
Irrweg irgendeiner muslimischen<br />
Grup pe vertreten oder gar ver -<br />
teidigen. Ergo, es mag muslimische<br />
Bankräuber geben, aber keinen islamischen<br />
Bankraub. Das ist die Linie,<br />
um die es zunächst geht.<br />
Sarrazin steht an diesem Punkt auf<br />
der anderen Seite. In den 76 Seiten, in<br />
denen er über Integration nachdenkt<br />
und insbesondere die Muslime ins Visier<br />
nimmt, behauptet er ja unter Anderem,<br />
dass der Islam selbst kulturell<br />
vom «Westen», seinem «Westen», verschieden<br />
sei, dass er Ideologie befördere<br />
und der Gewalt nahe stehe. Sätze<br />
wie «Millio nen muslimischer Frauen<br />
in unserer Mitte werden zur Beachtung<br />
von Kleidervorschriften gezwungen»<br />
artikulieren billige Polemik. So schreibt<br />
Sarrazin über die Muslime: «Tatsache<br />
ist, dass es sich um eine abgeschlossene<br />
Religion und Kultur handelt,<br />
deren Anhänger sich für das umgebende<br />
westliche Abendland kaum<br />
interessieren – es sei denn als Quelle<br />
materieller Leistungen.»<br />
Bevor wir einige konkrete<br />
Aussagen näher unter die Lupe nehmen,<br />
muss leider festgehalten werden:<br />
Wie alle Finanztechniker ist Thilo Sarra<br />
zin grundsätzlich blind gegenüber<br />
dem abgründigen Beitrag des ent fesselten<br />
Kapitalismus, der ganzheitliche<br />
und religiöse Maßstäbe annimmt und<br />
heute im globalen Maßstab zur Entwick<br />
lung, besser gesagt zur Degenerierung<br />
von Kultur, Familie und all den<br />
Werten, die er vorgibt zu verteidigen,<br />
beiträgt. Ernst Jünger hat dies einmal<br />
die «große Weißung» genannt. Sarrazin<br />
selbst wird nicht zufällig zur Ikone<br />
in einem bekannten deutschen Leitmedium,<br />
das sich aus Verkaufsgründen<br />
neben Politik in aller Kürze und<br />
(dem natürlich besten) Sportteil eben<br />
auch alltäglich der «Ausbildung», also<br />
Verblödung und Verrohung einer ganzen<br />
Unterschicht, widmet.<br />
Damit Sarrazin die unsinnige<br />
These von der kulturellen Unvereinbar<br />
keit des Islams mit dem «Westen»<br />
grundsätzlich durchhalten kann, muss<br />
er, wie viele Autoren vor ihm, die euro -<br />
päisch-bosnischen Muslime (die friedfertigen<br />
Opfer des letzten Religionskrieges<br />
Europas) genauso ver schweigen<br />
wie die neuen Generationen deutscher<br />
Muslime (die er polemisch nur als<br />
potenzielle Gewalttäter fassen kann).<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Titelthema<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Hier herrscht die Art von Ignoranz, die<br />
Sarrazin auch behaupten lässt, kora nische<br />
Suren rechtfertigten den Terrorismus<br />
– natürlich in völliger Unkennt -<br />
nis tausender Schriften muslimischer<br />
Juristen aller Epochen zu diesem<br />
Thema.<br />
Intellektuell schwach aufgestellt<br />
ist das Buch insbesondere bei der Analy<br />
se der größten muslimischen Min -<br />
der heit in Deutschland, den Türken.<br />
Dies mag auch daran liegen, dass der<br />
Autor beinahe ausschließlich eine<br />
einzige Autorin als Quelle für seine<br />
Türkei expertise heranzieht. So unterschlägt<br />
Sarrazin, dass der Vorwurf der<br />
Bildungsferne vieler Türken natürlich<br />
auch für ihre islamische Bildung gilt!<br />
Das ist kein großes Wunder, ist doch<br />
der größte Teil des geistig-muslimischen<br />
Erbes der Türkei, in Form hunderttausender<br />
Bücher, in einer Sprache<br />
– der osmanischen – geschrieben, welche<br />
die Türken heute gar nicht mehr<br />
beherrschen. Die Türkei ist in den letzten<br />
Jahrzehnten geistig nicht nur durch<br />
den Islam, sondern auch durch einen<br />
bürgerlichen Säkularismus in der Tra -<br />
dition Atatürks, der übrigens auch ide -<br />
ologische und militante Formen an -<br />
nimmt, durch Nationalismus und<br />
Ka pi talismus geprägt worden.<br />
Eine große Zahl türkischer Immigranten<br />
und auch türkischer Verbände<br />
spiegeln heute diese Mischformen wieder.<br />
Wie kommt Sarrazin nur darauf,<br />
dass einzig und per se der Islam an<br />
allen nega tiven Phänomenen muslimischer<br />
Einwanderung schuld sein<br />
soll? Eine inte ressante Nebenfrage<br />
wäre in diesem Zusammenhang, warum<br />
eigentlich unser Wertebündnis<br />
NATO mit einer Mitgliedschaft der<br />
Türkei nie das geringste Problem hatte.<br />
Wie konnte das sein, wenn die Werte<br />
in jenem Land so unver einbar mit<br />
denen des Westens sind, wie Sarrazin<br />
behauptet?<br />
Große Debatten und Ereignisse<br />
sollte man auch unter dem Blickwinkel<br />
der Bedeutung und einer nötigen<br />
Selbstkritik sehen. Natürlich haben<br />
Mus lime – und damit sind nicht nur<br />
die orientierungslosen Ghettokinder<br />
Neu köllns gemeint – selbst auch beige<br />
tragen zu der heute so verbreiteten<br />
mangelnden Unterscheidung zwischen<br />
der Alltagsrealität der Muslime und<br />
dem Islam. Die türkischen Verbände,<br />
nicht wirklich multikulturell verfasst,<br />
hin- und hergerissen zwischen Beflaggung,<br />
ethnischen Trennlinien und re -<br />
li giöser Verantwortung, müssen sich<br />
zum Beispiel schon innerislamisch un -<br />
be queme Fragen gefallen lassen.<br />
Warum verweigern sie selbst den<br />
«Will kommensgruß», den sie von der<br />
Mehrheitsgesellschaft fordern, den<br />
nicht- türkischen Muslimen? Welcher<br />
türkische Verband hat – wie es der Islam<br />
eigentlich fordert – aktiv andere Ethni<br />
en im Lande zur Mitgliedschaft ein -<br />
ge laden? Will man an diesen Trenn linien<br />
allen Ernstes dauerhaft fest halten?<br />
Fürchtet man ohne die ethnische Differenzierung,<br />
vielleicht auch mangels<br />
eines gemeinnützigen, offenen Pro -<br />
gramms, eine Identitätskrise?<br />
Es hilft kein Schwarz-Weiß<br />
bei der Integrationspolitik. Wir stimmen,<br />
schon als Macher einer deutschsprachigen<br />
Zeitung, Sarrazin zu, dass<br />
in muslimischen Kreisen, um mal das<br />
Klavier anders anzufassen, tatsächlich<br />
zu wenig gelesen und zu viel fern gesehen<br />
wird. Wir finden auch, dass man<br />
an dem Ort, an dem man ehrlich lebt,<br />
auch kulturell ankommen muss. Wir<br />
denken nicht, dass eine einheimische<br />
muslimische Identität in abgeschot teten<br />
Gewerbegebieten angesiedelt werden<br />
kann.<br />
Irrationale Finanzmärkte: Hier erwiesen sich Deutschlands Eliten als bildungsfern<br />
Wir würden auch gerne sehen,<br />
dass mehr Deutsche den Islam als<br />
alter native Inspiration zu dem ökonomisch-technischen<br />
Weltbild Herrn<br />
Sarrazins und seinem Ideal, bis hin zur<br />
Züchtung ökonomisch nutzbaren<br />
Lebens, begrei fen würden. Bekennen,<br />
Fasten, Pilgern, Beten und die Zakat –<br />
die religiös verpflichtende Reichensteuer<br />
für die Bedürftigen – sind faszi<br />
nierende Stolpersteine jenseits einer<br />
allein öko nomisch durchplanten Zukunft.<br />
Die Zweifel an diesem ökonomischen<br />
Modell wachsen ohnehin bei<br />
allen denkenden Menschen. Warum<br />
nicht zu hören, was der Islam dazu zu<br />
sagen hat?<br />
Andreas Rieger ist Herausgeber, Sulaiman Wilms<br />
Chefredakteur der Islamischen Zeitung.<br />
18<br />
19
<strong>COMPACT</strong><br />
Titelthema<br />
«Thilo Sarrazin ist ein Rassist» (Dagmar Enkelmann, Linkspartei, über<br />
die parteiübergreifende Position von Rot-Rot-Grün). Doch es gibt auch<br />
Linke, die die Hexenjagd nicht mitmachen. Drei Beispiele.<br />
Die Sarrazin-Linke<br />
EIN LEIDENSCHAFTLICHER<br />
SOZIALDEMOKRAT<br />
Von Hans Ulrich Wehler<br />
Zweifellos finden sich in Thilo Sarrazins<br />
Buch nicht gerade wenige strittige The -<br />
sen oder steile Interpretationsver suche,<br />
die Widerspruch und Auseinandersetzung<br />
verlangen. Da ich von Genetik<br />
überhaupt keine ernsthaft belastbaren<br />
Kenntnisse besitze, würde ich<br />
mich nie auf Befunde verlassen, die<br />
man sich als Laie aus dieser Wissenschaft<br />
borgen kann, ohne sie selbstständig<br />
kontrollieren zu können. Das<br />
wird auf die allermeisten Leser ebenfalls<br />
zutreffen. Für eine stringente Argumentation,<br />
wie sie auch Sarrazin<br />
verlangt, reicht es meines Erachtens<br />
völlig aus, sich auf den Einfluss soziokultureller<br />
und politischer Faktoren<br />
zu stützen.<br />
Gerade die deutschen Reform -<br />
universitäten mit ihrer unabweisbaren<br />
regionalen Anziehungskraft haben<br />
doch seit den siebziger Jahren bewiesen,<br />
dass zahlreiche Talente aus dem<br />
riesigen Pool großer Familien, in denen<br />
bisher nicht studiert worden war,<br />
herausgezogen und an die Spitze befördert<br />
werden konnten.<br />
Kein Mensch weiß, welche Rolle vererbte<br />
Intelligenz dabei gespielt hat, das<br />
neue bildungspolitische Förderungsangebot<br />
gab offenbar den Ausschlag.<br />
Hätte Sarrazin, anfangs ein vielversprechender<br />
Wirtschaftshistoriker, solche<br />
Erfahrungen an Universitäten selber<br />
machen können, anstatt in seinem<br />
Berufsleben als hochkarätiger Verwaltungsfachmann<br />
in der abgeschotteten<br />
Welt der hohen Bürokratie zu verbrin -<br />
gen, hätte er das Intelligenz- und Aufstiegsproblem<br />
vermutlich elastischer<br />
beurteilt.<br />
Und dennoch: Allein mit der<br />
Kritik an echten und vermeintlichen<br />
Schwach punkten von Sarrazins Buch<br />
ist es offensichtlich nicht getan. Die intensive<br />
Massenresonanz verdankt sich<br />
nämlich nicht an erster Stelle der Faszination<br />
für Erbbiologie und Intelligenzforschung,<br />
auch wenn Sarrazins<br />
Zuneigung deren angeblich ehernen<br />
Daten gehört.<br />
Vielmehr speichert das Buch mehrere<br />
wichtige Probleme. Eine unbefan -<br />
gene, wohl beratene, kluge Diskus sion<br />
hätte sich längst auf solche lohnenden<br />
Kritikpunkte konzentriert. Warum<br />
wird das Kapitel über soziale Ungleich -<br />
heit (47 Seiten) nicht von allen Parteien<br />
endlich freimütig diskutiert? Warum<br />
wird das Kapitel über Bildungspolitik<br />
(67 Seiten) nicht erörtert? Warum<br />
wird das Kapitel über die demografische<br />
Entwicklung (60 Seiten), über die<br />
sich Biedenkopf, Miegel, Birg und andere<br />
Bevölkerungswissenschaft ler seit Jahrzehnten<br />
die Finger vergeblich wund<br />
schreiben, nicht endlich auf die Diskussionsagenda<br />
gesetzt? Provozierend<br />
genug sind Sarrazins Befunde doch allemal<br />
formuliert. Das Zuwanderungskapitel<br />
(75 Seiten), in dem intellektuell<br />
und emotional die schärfste Kritik,<br />
der brisanteste Sprengstoff stecken,<br />
braucht sich nicht um mehr Aufmerksamkeit<br />
zu bemühen.<br />
Offenbar hat Sarrazin insofern ins<br />
Schwarze getroffen, als er weit verbreitete<br />
Befürchtungen zugespitzt artikuliert<br />
und damit einen verblüffenden<br />
Widerhall ausgelöst hat. Auch hier<br />
gilt, dass nicht wenige Argumente<br />
hieb- und stichfest formuliert und die<br />
statistischen Befunde schwer zu widerlegen<br />
sind. Jahrzehntelang hat die<br />
deutsche Einwanderungspolitik nicht<br />
auf Qualifikation, Sprachkenntnisse,<br />
Integrationswilligkeit geachtet, ganz<br />
im Gegensatz zu klassischen Einwanderungsländern<br />
wie den Vereinigten<br />
Staaten, Kanada, Australien. Millionen<br />
wurden ohne Abwägung der sozialen<br />
Kosten gemäß der Maxime «Privatisierung<br />
der Gewinne» importiert.<br />
Jetzt steht unabweisbar die<br />
«Sozialisierung der Verluste» an, die<br />
nur in Milliardenhöhe kalkuliert werden<br />
können. Anstatt die Zuwanderungsprobleme<br />
endlich ohne Scheu zu<br />
diskutieren, verstecken sich bisher die<br />
meisten Kritiker hinter der hohen<br />
Mauer ihrer Einwände gegen Sarrazins<br />
Rückgriff auf die Erbbiologie. Wer hat<br />
schon seine Sorgen im Hinblick auf die<br />
Zukunft der deutschen Gesellschaft bereitwillig<br />
anerkannt, wer für Sarrazins<br />
Kritik an schwerwiegenden Versäumnissen<br />
Verständnis geäußert, wer die<br />
Lesefreudigkeit eines Bildungsbürgers<br />
geschätzt, wer das Reformplädoyer eines<br />
geradezu leidenschaftlichen Sozialdemokraten<br />
gewürdigt?<br />
Hans Ulrich Wehler (geb. 1931) gehört zu den<br />
führenden deutschen Geschichtswissenschaftlern.<br />
Im «Historikerstreit» Mitte der achtziger Jahre wies<br />
er zusammen mit Jürgen Habermas die NS-relativierenden<br />
Thesen von Ernst Nolte zurück. Wehler<br />
hat zum Thema Sarrazin einen längeren Beitrag in<br />
der Wochenzeitung Die Zeit vom 7. Oktober <strong>2010</strong><br />
veröffentlicht.<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Titelthema<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
CHANCE DER LINKEN<br />
Von Rolf Stolz<br />
Nur Tote machen keine Fehler. Der<br />
Satz gilt auch für Sozialdemokraten<br />
und für Thilo Sarrazin. Im übrigen ändern<br />
einzelne inhaltliche Fragwürdigkeiten<br />
und dankbar ausgenutzte<br />
taktische Fehler (das «Juden-Gen»)<br />
nichts am Kern der Dinge: Hier sollen,<br />
indem ein unbequemer Denker<br />
und Mahner mundtot gemacht wird,<br />
alle überhaupt und ähnlich Denkenden<br />
auf Dauer zum Schweigen gebracht<br />
werden.<br />
Eine Große Koalition – vom kleinbis<br />
großbourgeoisen Medienmob bis<br />
zu von den Profiteuren des Arbeiterimports<br />
und der nach Steuergeld gierenden<br />
Sozial- und Konsumindustrie<br />
ruft in einer nun wahrhaft faschistoiden<br />
Weise zu Niederbrüllen und<br />
Boykott auf, verweigert freie und faire<br />
Diskussion. Die Anti-Sarrazin-Fronde<br />
weiß, wie sehr er recht hat und wie<br />
sehr sie vom Leben widerlegt wird.<br />
Eine Kanzlerin, die das üble<br />
neoliberale Multi-Kulti-Spiel mitgespielt<br />
hat (unter dem Motto «Deutschland<br />
muss sterben, und wenn wir<br />
selbst mit untergehen») erklärt nun<br />
Multi-Kulti für tot und damit ihre zielund<br />
aussichtslose Zuwanderungs politik<br />
für gescheitert.<br />
Die Linke hat eine Chance (vielleicht<br />
ihre letzte), ihre Irrwege und ihre triste<br />
Gegenwart zu überwinden: Im Zusammengehen<br />
aller, die den Sieg eines<br />
basisdemokratischen Volkswiderstands<br />
auf allen Ebenen und eine<br />
allseitige Erneuerung von Politik und<br />
Kultur wollen – und ein einiges neues<br />
Deutschland der alten und neuen<br />
Deutschen, der Ureinwohner und der<br />
Assimilierten.<br />
Rolf Stolz – Buchautor und Publizist – war 1980<br />
Mitbegründer der Grünen und kurzzeitig in deren<br />
Bundesvorstand. Bis heute ist er Mitglied im<br />
Kreisverband Köln.<br />
SOZIALISTISCHER<br />
DISKURS<br />
Von Stephan Steins<br />
Foto: Harry Walter/FES<br />
Krieg ist Frieden, Totalüberwachung<br />
ist Freiheit, Hartz IV ist Menschenwürde.<br />
Zu diesem Muster kapitalistischer<br />
Propaganda und Desinformation<br />
hat sich eine weitere begriffliche Perversion<br />
gesellt: Imperiale Diktatur ist<br />
proletarischer Internationalismus.<br />
Was aus sozialistischer Perspektive<br />
an der so genannten Sarrazin-Debatte<br />
auffällt, ist die neue Einheitsfront aus<br />
bürgerlichen Systemparteien und vermeintlichen<br />
«Linken».<br />
Die der stalinistischen und «realsozialistischen»<br />
Tradition entstammende<br />
SED/PDS/Linke steht einmal mehr<br />
fest an der Seite des Mainstream, wenn<br />
es darum geht von einem sachlichen<br />
Diskurs in der Sache selbst abzulenken<br />
und Zusammenhänge in der imperialen,<br />
auch als «Globalisierung» bekannten,<br />
internationalen Entwicklung<br />
zu verschleiern.<br />
Die Migrationsströme nach<br />
Deutschland und Europa bilden für die<br />
transnational strukturierte herrschende<br />
Klasse einen Hebel (nicht den einzigen)<br />
im Bestreben der Desintegration<br />
der republikanischen Nationalstaaten<br />
und Kulturnationen.<br />
Dies wird zunehmend als reale<br />
Bedrohung wahr genommen. Doch<br />
richtet sich der wachsende Widerstand<br />
gegen diese Entwicklung nicht GEGEN<br />
Menschen aus anderen Kulturkreisen<br />
oder fremder Religionen, sondern vielmehr<br />
artikuliert sich ein erwachendes<br />
Selbstbewusstsein FÜR ein kulturelles<br />
Selbstbestimmungsrecht und nationale<br />
Souveränität.<br />
Als die SPD noch mit<br />
nationalen Themen<br />
warb: Wahlplakat<br />
aus dem Bundestagswahlkampf<br />
1972<br />
Der sozialistische Diskurs<br />
hat die Aufgabe, eine umfassende wie<br />
fundierte Kritik zu formulieren und in<br />
rationale Bahnen zu lenken. Denkverbote<br />
und soziale Repression im Dienste<br />
der imperialen Oligarchie ist unsere<br />
Sache nicht.<br />
Stephan Steins ist Philosoph, Publizist und<br />
Herausgeber der Roten Fahne.<br />
20<br />
21
<strong>COMPACT</strong><br />
Titelthema<br />
Von Christentum, Abendland und anderen konservativen Werten<br />
hält er nichts: Geert Wilders ist der starke Mann hinter der<br />
niederländischen Regierung und will nun auch Deutschland erobern.<br />
Israels Mann in Europa<br />
Von Andrea Ricci<br />
Zickenkrieg in Europa: Die deutsche<br />
Bun deskanzlerin Angela Merkel (CDU)<br />
ist sauer. Und zwar auf den nieder ländischen<br />
Politrambo und so genannten<br />
Rechtspopulisten Geert Wilders – derzeit<br />
das Schmuddelkind Nr. 1 auf der<br />
europäischen Politbühne. Wilders hat<br />
Merkel gelobt, da sie öffentlich Multikulti<br />
als gescheitert bezeichnet hatte.<br />
Nun verwahrt sich die Kanzlerin<br />
gegen das Lob aus «dieser Ecke» und<br />
lässt ihren Regierungssprecher Steffen<br />
Seibert erklären: «Man wird die Kanzlerin<br />
nicht als Islamkritikerin interpretieren<br />
können, weil sie natürlich<br />
vor einer wichtigen Weltreligion Respekt<br />
hat.»<br />
Wilders sorgt für Furore –<br />
wenn er in Amsterdam bellt, wackeln<br />
in Berlin offensichtlich die Wände. Er<br />
steht für einen schier beispiellosen Erfolg<br />
rechtspopulistischer Bewegungen<br />
in Europa. Die Massenmedien geißeln<br />
die «einfachen Botschaften», mit denen<br />
die Populisten «komplexe Fragen»<br />
beantworteten. Gemeint sind Parteien<br />
wie die österreichische FPÖ, der flä mische<br />
Vlaams Belang oder eben die nieder<br />
ländische Wilders-Partei PVV. Während<br />
diese von Erfolg zu Erfolg eilen,<br />
Für Schwulenrechte<br />
und Feminismus –<br />
Wilders steht exemplarisch<br />
für eine<br />
Transformation der<br />
Rechten in Europa<br />
scheint in Deutschland in diesem<br />
Bereich noch gähnende Lehre zu<br />
herrschen. Das würden die Rechtspopulisten<br />
aus den Nachbarländern<br />
gerne ändern: FPÖ und Vlaams Belang<br />
unter stützen massiv die «Pro-Bewegung»,<br />
Wilders dagegen die Freiheits-<br />
Partei des Berliner CDU-Renegaten<br />
René Stadtkewitz.<br />
Vor allem linksgestrickte Analysten<br />
sehen in Wilders und in seiner Unterstützungsarbeit<br />
für Stadtkewitz eine<br />
neue rechte Gefahr aufdämmern. Wilders<br />
scharf formulierte antiislamische<br />
Thesen, sein Hang zum Polarisieren,<br />
seine Gestik – ein «Führertypus», bei<br />
dem vor allem linksintellektuellen<br />
Bedenkenträgern die Knie schlottern.<br />
Silvion Duve, Schreiber bei heise-online,<br />
erkennt bei Wilders den «altbekannten<br />
Nationalismus, der in eine neue Form<br />
gegossen, für weite Bevölkerungsschichten<br />
leichter konsumierbar ist als<br />
der abgestumpfte Nationalismus aus<br />
der Schmuddelecke». Der Grund: Wilders<br />
hat die Deutschen aufgefordert,<br />
nicht «Fremde im eigenen Land» zu<br />
werden, ihre nationale Identität zu<br />
wertschätzen und zu bewahren. Mit<br />
solchen Einschätzungen wie der Duves<br />
erntet man zwar Applaus bei besorgten<br />
linken Lesern – doch stimmt das<br />
wirklich? Ist Wilders ein gefährlicher<br />
Alles andere als nur ein enfant terrible: Der Niederländer Geert Wilders lässt sich europaweit feiern<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Titelthema<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Rechter, ein Nationalist? Bereitet er den<br />
Boden für einen ultrarechten Rollback<br />
in Europa vor?<br />
Eines scheint klar: Geert Wilders<br />
steht exemplarisch für eine Trans formation<br />
der Rechten in Europa – auch<br />
in der Bundesrepublik. Das, was man<br />
frü her in jenen Kreisen solide als<br />
«Überfremdung» bezeichnet hat, trägt<br />
heute den flotteren Namen «Isla misierung».<br />
Man übt keine Kritik mehr an<br />
der massenhaften Einwanderung, son -<br />
dern gibt sich – ganz aufgeklärt – als<br />
besorgte Religionskritiker. Dieser<br />
Trend reicht bis weit in die Mitte.<br />
Das führt zu geradezu bizarren poli<br />
tischen Aussagen: Etwa dann, wenn<br />
sich CSU-Stammtische über die Homo -<br />
sexuellenverfolgung in islamischen<br />
Ländern Sorgen machen oder christso<br />
ziale Politiker plötzlich den Feminis -<br />
mus für sich entdeckt haben, wenn es<br />
gegen das islamische Kopftuch geht.<br />
Schwulenrechte und Feminismus sind<br />
moderne liberale Stecken pferde, für<br />
die sich normalerweise katholische<br />
Bischöfe genauso wenig begeistern<br />
können wie muslimische Imame.<br />
Auch Wilders spielt massiv auf dieser<br />
postmodernen Klaviatur, wenn es gegen<br />
den Islam geht. Gegen den Islam<br />
– wie er selbst stets betont, nicht gegen<br />
die Einwanderer. Er verteidigt das, was<br />
er «christlich-jüdisches Erbe» nennt –<br />
eine Formulierung, die längst auch in<br />
den bundesrepublikanischen Alltag<br />
eingezogen ist. Inwiefern der Chris topher<br />
Street Day und Frauenqoute sich<br />
aus dem christlich-jüdischen Erbe ablei<br />
ten lassen, sei einmal dahingestellt.<br />
Wilders’ Freunde in England? Der Mob bekundet sein Verständnis von Israelsolidarität<br />
Dieser pro-zionistische<br />
Kurs des<br />
Niederländers wirkt<br />
auch auf viele<br />
deutsche Rechte<br />
sexy.<br />
mist würde sich gegen eine solche<br />
Gleichsetzung verwahren.<br />
Es sind nicht selten Ansichten,<br />
die aus Wilders Mund kommen, die<br />
man früher – in den 1990er Jahren – bei<br />
den so genannten «Antideutschen»<br />
fand: Bedingungslose Unterstützung<br />
für die USA bei ihren Raubzügen in<br />
der islamischen Welt, beim Irakkrieg,<br />
beim NATO-Krieg gegen Serbien.<br />
Auch die Parteinahme für Israel gehört<br />
zu diesem Repertoire: Der zionistische<br />
Staat gilt als Bollwerk der Moderne,<br />
der Demokratie in einem Meer von<br />
«Islamofaschisten». Und auch der Iran<br />
steht auf der Abschussliste jener Fortschrittsfalken,<br />
da er Israel bedrohe und<br />
von einer «faschistoiden Mullahdikta-<br />
Wilders politische Inhalte<br />
haben allesamt sehr wenig mit dem zu<br />
tun, was man gemeinhin als «rechts»<br />
bezeichnet. Die meisten inhaltlichen<br />
Schnittmengen dürfte der Holländer<br />
wohl eher mit den so genannten<br />
«linken Falken» der USA haben – also<br />
mit jenen Linksintellektuellen Washingtons,<br />
die US-Militäreinsätze vor<br />
allem gegen islamische Länder deshalb<br />
unterstützen, weil sie sich dadurch eine<br />
rasche Verbreitung postmoderner<br />
Demo kratievorstellungen erhoffen. Zu<br />
nennen wäre hier beispielsweise der<br />
US-Schriftsteller Paul Berman, der in<br />
seinem Buch Terror und Liberalismus<br />
tatsächlich meint, die US-Truppen in<br />
Afghanistan würden für die Frauenrechte<br />
kämpfen. Auch der von der<br />
Bush-Administration erfundene T ermi<br />
nus «Islamofaschismus» – also die<br />
Herstellung einer reichlich schrägen<br />
Verknüpfung aus Faschismus und<br />
Islam – dient dieser Sache.<br />
Kein Wunder, dass auch ein Geert<br />
Wilders be haup tet hat, der Koran sei<br />
mit Hitlers Mein Kampf wesens verwandt<br />
und müsse ebenso verboten<br />
werden. Ein überzeugter Rechtsextretur»<br />
beherrscht werde.<br />
Da mag es kaum verwundern, dass<br />
Wilders nicht nur bei den deutschen<br />
Rechten Fans hat, sondern auch in<br />
Tel Aviv und Jerusalem. Die Jerusalem<br />
Post (JP) lässt kaum eine Gelegenheit<br />
aus, den Israel-Parteigänger im fernen<br />
Amsterdam zu loben. So berichtet JP-<br />
Autor David Horowitz verzückt über<br />
Wilders verbale Unterstützung für<br />
Israels Kampf gegen die Palästinenser.<br />
«Ihr kämpft unseren Kampf!», hatte<br />
Wilders in Richtung Tel Aviv gerufen<br />
und gleichzeitig noch ein paar wertvolle<br />
Tipps und Ratschläge gegeben:<br />
So werde es keinen Frieden geben,<br />
wenn sich Israel und die Palästinenser<br />
auf eine Zwei-Staaten-Lösung einigten,<br />
glaubt Wilders zu wissen. Zudem<br />
gebe es ja bereits einen palästinen sischen<br />
Staat – Jordanien. Seinen anti -<br />
islamischen Hetzfilm Fitna, der vor<br />
zwei Jahren in ganz Europa für Furore<br />
sorgte, durfte Wilders gar in Jerusalem<br />
zeigen.<br />
Dieser pro-zionistische Kurs<br />
des Niederländers wirkt auch auf viele<br />
deutsche Rechte sexy – und lässt sie<br />
in das antideutsche Fahrwasser schlittern,<br />
ohne dass sie es selbst bemerken.<br />
Selbst die aus der deutschen Hardcore-<br />
Rechten kommende, nun auf schnittigbürgerlich<br />
gebügelte Bürgerbewegung<br />
Pro Köln schwenkt auf ihren Veranstaltung<br />
Israel-Fahnen, der Terminus<br />
«Islamofaschismus» gehört zu ihrem<br />
festen Wortschatz. Und im islamfeind -<br />
lichen Internetforum Politically Incorrect<br />
scheint kein Tag zu vergehen, an<br />
dem nicht irgendein Kommentator auf<br />
die Kooperation zwischen Adolf Hitler<br />
und dem Großmufti von Jerusalem<br />
22<br />
23
<strong>COMPACT</strong><br />
Titelthema<br />
Moham med Amin Al-Husseini hinweist.<br />
Paul Berman hätte an dieser anti faschistisch-antiislamischen<br />
Schlaumeierei<br />
sicherlich seine helle Freude.<br />
Bei Pro Köln geht man sogar so<br />
weit, das deutsche Kaiserreich für die<br />
freund liche Politik gegenüber dem<br />
Osmanischen Reich zu verurteilen – in<br />
einer Zeit, lange vor dem Holocaust,<br />
als Juden im gesamten arabischen<br />
Raum im Gegen satz zu den meisten<br />
europäischen Ländern sicher leben<br />
konnten. De Rede ist sogar von einer<br />
«gespenstischen Komp lizenschaft zwischen<br />
der deutschen Reichs regierung<br />
mit dem Weltbeherrschungs anspruch<br />
des Islam» – schöner hätte es auch die<br />
antideutsche Linkspos tille Bahamas<br />
nicht sagen können.<br />
Wilders Draht ins Heilige Land ist<br />
aber keineswegs neu. Bereits als junger<br />
Student war er in Israel, wo er in<br />
einem Moschaw – also einem zionistischen<br />
Sied lungsprojekt – mitarbeitete.<br />
Diese Sied lungen sind den Kibbuzim-<br />
Siedlungen nicht unähnlich. Beide<br />
stehen exemplarisch für die völkerrechtswidri<br />
ge Landnahme des zionistischen<br />
Staa tes in Palästina.<br />
Geert Wilders ist jedenfalls in<br />
den Niederlanden auf Erfolgskurs.<br />
Wenn sich ausländische Beobachter<br />
heute fragen, wie das «Land der To leranz»<br />
denn einen solchen «Rechtsruck»<br />
nur aushalte, dann schauen sie nicht<br />
genau hin. Denn Wilders will keineswegs<br />
«zurück» in eine traditionelle,<br />
vul go «rechte» Gesellschaft. Im Ge -<br />
genteil, er steht für einen Abwehrkampf<br />
der postmodernen<br />
Blüten Hollands –<br />
eines Hollands, in<br />
dem Pros titution<br />
und Homosexualität<br />
als eine Art landestypische<br />
Liberalität<br />
b e t r a c h t e t<br />
werden. Und damit<br />
ist Wilders nicht der<br />
Erste. Auch der im<br />
Jahr 2002 ermordete<br />
Populist Pim<br />
Fortuyn, der sich gegen eine angebliche<br />
«Islamisierung» stark machte und<br />
Erfolge bei Wahlen feierte, war alles<br />
andere als ein Rechter. Er besuche lieber<br />
den Darkroom als eine Kirche, bemerkte<br />
der bekennende homosexuelle<br />
Paradiesvogel einmal. Er war zudem<br />
erklärter Re publikaner und Mitglied<br />
der Republikeins Genootschap, eines Vereins<br />
zur Abschaf fung der Monarchie<br />
in den Niederlanden.<br />
Wilders steht für<br />
ein Holland, in dem<br />
Prostitution und<br />
Homosexualität als<br />
eine Art landestypischer<br />
Liberalität<br />
betrachtet werden<br />
Zwei muslimische Passantinnen in Amsterdam<br />
«islamofaschistischen» Großangriff<br />
verteidigen.<br />
Werden nun alle Neocons und linke<br />
Falken, wie Wilders? Ein René Stadtkewitz<br />
wird sich überlegen müssen, ob er<br />
mit pro-israelischen Positionen wie<br />
denen von Wilders an den Start gehen<br />
möchte. Denn er wird nur reale Chancen<br />
haben, wenn er die Sorgen und<br />
Nöte der Bürger in Berlin offensiv<br />
angeht. Und diese<br />
drehen sich nun<br />
einmal um Dinge<br />
wie Einwan derung<br />
ins Sozialsystem,<br />
Gewalt und Verwahr<br />
losung in Bezirken<br />
wie Berlin-<br />
Neukölln und um<br />
das Gefühl der<br />
Fremdheit im eigenen<br />
Land. Mit<br />
einer Solida ri täts -<br />
botschaft in Richtung Tel Aviv wird er<br />
keinen Blumentopf gewinnen können.<br />
Dafür dürfte allerdings Angela Merkel<br />
vielleicht bald bemerken, dass Wilders<br />
doch nicht der schlimme rechte «Badboy»<br />
ist – immerhin liegen sie außenpolitisch<br />
auf einer Linie. Vielleicht darf<br />
er sich bei seinem nächsten Berlin besuch<br />
in das Goldene Buch der Stadt<br />
eintragen.<br />
Was geschieht also mit der deut -<br />
schen Rechten in Wilders Windschatten?<br />
Schwer zu sagen. Doch längst ha -<br />
ben die hemmungslosen Bekenntnisse<br />
zu Israel, zu einem Angriffs krieg auf<br />
den Iran, zum gemeinsamen «chris t -<br />
lich-jüdischen» Erbe und zu allerhand<br />
postmodernem Firlefanz nichts mehr<br />
mit purer Taktiererei zu tun.<br />
Mitt lerweile glauben selbst frühere<br />
NPD- Kader, man müsse die «libe ralen<br />
Werte der Aufklärung» gegen einen<br />
Andrea Ricci ist Buch autor<br />
und lebt in Beirut. Zuletzt<br />
erschien sein Buch GAZA<br />
– Die Kriegsverbrechen<br />
Israels in der <strong>COMPACT</strong>-<br />
Buchreihe (vgl. Heftinnenteil<br />
S. A4)<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Titelthema<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
«Warum keine<br />
Extratouren mit China?»<br />
Die eurasische Perspektive, die Rolle des Islam, das Verhältnis<br />
EU-Türkei – geopolitischer Parforceritt mit Peter Scholl- Latour,<br />
einem deutschen Gaullisten und Kriegsreporter aus Passion.<br />
Interview: Jürgen Elsässer<br />
Im europäischen Einigungsprozess<br />
knirscht es, viele fürchten eine Blockade.<br />
Woran liegt es?<br />
Die EU ist mit 27 Mitgliedstaaten zu<br />
groß geworden. Auch 17 Mitglieder in<br />
der Euro-Zone sind zu viel. Es war ein<br />
Wahnsinn, so schnell so viele Länder<br />
in die Währungsgemeinschaft aufzunehmen.<br />
Und das geht ja weiter, kaum<br />
war Griechenland im Juni <strong>2010</strong> einiger<br />
maßen gerettet, wurde gleich Estland<br />
aufgenommen.<br />
Dabei ist es kein Trost, dass die USA<br />
ökonomisch noch viel schlechter daste -<br />
hen als Europa, die haben allein zwei<br />
Billionen US-Dollar Schulden bei Chi -<br />
na!, und dass die roten Zahlen von<br />
Großbritannien nicht besser sind als<br />
die von Griechenland. Und natürlich<br />
spekuliert die Wallstreet gegen den<br />
Euro, und das wird weitergehen. Was<br />
ich bei den Deutschen nicht verstehe:<br />
Warum versuchen sie nicht, sich stär -<br />
ker mit den Chinesen abzustimmen?<br />
Eine gemeinsame Währungspolitik zu<br />
machen? Die Volksrepublik hat einen<br />
riesigen Binnenmarkt, der nicht gesättigt<br />
ist, der nur auf unsere Exporte<br />
wartet. Anstatt dass wir uns total auf<br />
die USA ausrichten, könnten wir auch<br />
eine Extratour mit den Chinesen<br />
wagen.<br />
Sozusagen eine eurasische Perspektive<br />
statt der euroatlantischen?<br />
Jedenfalls ist die Polarisierung gegen<br />
China, wie sie teilweise deutsche<br />
Medien betreiben, total blödsinnig. In<br />
manchen Zeitungen herrscht ja geradezu<br />
ein wilhelminischer Ton vor. So<br />
wie Kaiser Wilhelm II. den deutschen<br />
Truppeneinsatz im Reich der Mitte zu<br />
Anfang des 20. Jahrhunderts mit den<br />
Worten kommentierte: «Wir werden<br />
bei Euch wüten wie die Hunnen!» Das<br />
Hochspielen der Tibet-Frage im Jahr<br />
2008 etwa – das war doch eine provozier<br />
te Sache, um die Olympischen<br />
Spiele in Peking kaputt zu machen.<br />
Dann die Unruhen in der mehrheitlich<br />
moslemischen Provinz Xingjiang im<br />
Jahr 2009. Dabei starben 149 Menschen<br />
– aber das waren ethnische Chinesen,<br />
keine Uiguren.<br />
Hintergrund ist die demografische<br />
Entwicklung in Xingjiang, dass die zuwandernden<br />
Han-Chinesen perspektivisch<br />
in der Mehrheit sein werden,<br />
dagegen wehrt sich die angestammte<br />
Bevölkerung.<br />
Wenn so etwas in Deutschland oder<br />
Europa passiert, sprechen die Medien<br />
oft von «rassistischen Pogromen». In<br />
diesem Fall wurde aber, genau umgekehrt,<br />
der uigurische Widerstand von<br />
unseren Medien gelobt und die Chinesen,<br />
die Opfer der Unruhen waren,<br />
als Täter dargestellt.<br />
24<br />
25
<strong>COMPACT</strong><br />
Titelthema<br />
Hinzu kommt, dass die Sache wenig<br />
Echo in der islamischen Welt fand. Nur<br />
im Westen wurde das hochgespielt, aus<br />
den genannten Gründen.<br />
Foto: Propyläen Verlag<br />
Kommen wir zurück zur eura si schen<br />
Perspektive.<br />
Dafür ist Russland der Schlüssel, das<br />
deutsch-russische Verhältnis. Aber<br />
nicht im Sinne von Rapallo und Tauroggen<br />
…<br />
… den deutsch-russischen beziehungs<br />
weise preussisch-russischen<br />
Verträgen von 1923 und 1806 …<br />
Das waren Son der bündnisse, gegen<br />
den Westen gerichtet, das geht heute<br />
nicht. Aber wirtschaftlich ist Russland<br />
unsere Chance. Russland hat die<br />
Rohstoffe, die wir brauchen. Jetzt<br />
muss nur noch mehr darauf geachtet<br />
werden, dass das Geld für Investi tionen<br />
nicht versickert. Ich bin zuversichtlich:<br />
Putin und Medwedew haben<br />
die notwendige Autorität. Mit an deren<br />
Worten: Der Geheim dienst FSB<br />
regiert.<br />
In unseren Medien wird genau das<br />
als Horror dargestellt: Ein autokratisches<br />
Land mit einer mächtigen Geheimpolizei,<br />
wie früher.<br />
Russland muss in gewissem Maße<br />
autokratisch regiert werden, anders<br />
geht das gar nicht. Ohne starke Zentralgewalt<br />
bilden sich an den Rändern<br />
des Riesenreiches lauter Ganoven republiken,<br />
die auf eigene Rechnung<br />
wirtschaften.<br />
Aber so undemokratisch, wie es viele<br />
westlichen Medien dargestellt werden,<br />
geht es auch nicht zu. Die europäischen<br />
Zeitungen werden von den Desin formationszentralen<br />
der USA mit Geschichten<br />
über Russland gefüttert, und<br />
da sie ihre eigenen Auslands korrespondenten<br />
eingespart haben, können<br />
sie den Wahrheitsgehalt dieser Geschichten<br />
nicht mehr überprüfen.<br />
Auch die deutsche Presse steht unter<br />
Druck. So hat etwa die Frankfurter<br />
Allgemeine Zeitung seinerzeit sehr verdienstvoll<br />
aufgelistet, welche US-Ins -<br />
ti tu tionen im einzelnen die orange Revolution<br />
in der Ukraine im Jahr 2004<br />
finanziert haben. Der Artikel erschien<br />
aber unter einer Überschrift, die diese<br />
Gerne zitiert der<br />
bald 84-jährige<br />
Scholl- Latour den<br />
Schriftsteller Bernhard<br />
Shaw: «Beware<br />
of old men, they<br />
have nothing to lose<br />
– Nehmt euch vor<br />
alten Männern in<br />
Acht, sie haben<br />
nichts zu verlieren.»<br />
Aussage ins Gegenteil verkehrte: Warum<br />
die US-Finan zierung unbedeutend<br />
gewesen sei.<br />
Berlin-Peking hat Perspektive, Berlin-<br />
Moskau auch – wie steht es mit<br />
Moskau-Peking?<br />
Das wird nicht ganz einfach, wenn<br />
man die russische Geschichte bedenkt,<br />
die jahrhundertelange Unterjochung<br />
durch Invasoren aus dem Osten. Seit<br />
einigen Jahren beginnen Chinesen wie-<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Titelthema<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
der in die riesigen Weiten des russischen<br />
Ostens einzuwandern, während<br />
die Russen dort wegziehen. Auf lange<br />
Sicht wird Moskau diese Territorien<br />
nicht halten können, in den chine sischen<br />
Grenzprovinzen leben schon<br />
heute <strong>12</strong>0 Millionen Menschen. Doch<br />
Peking ist höflich und verpflichtet seine<br />
ausreisenden Bürger zur regelmäßigen<br />
Rückreise nach ein paar Jahren Aufenthalt.<br />
Jeder Eindruck einer Invasion<br />
soll vermieden werden.<br />
Interessant ist, dass Russland auch<br />
gute Verbin dungen zur Türkei<br />
aufbaut.<br />
Das machen sie sehr klug. Wenn die<br />
Türken nicht durch die USA ent fremdet<br />
werden, sind sie für die Russen<br />
ein wertvoller Partner. Und dass in<br />
Ankara mit der AKP eine religiöse<br />
Partei regiert – damit lässt es sich leben.<br />
Die Türkei war toleranter als Osmanisches<br />
Sultanat als unter dem laizistischen<br />
Atatürk. Die christlichen und die<br />
jüdischen Minderheiten lebten damals<br />
besser, und umgekehrt leiden die von<br />
Atatürk drangsalierten Kurden bis<br />
heute.<br />
Sie fürchten also nicht, dass der mili<br />
tante Islam aus der Türkei nach<br />
Europa übergreifen könnte?<br />
Die Türkei will nicht außerhalb ihrer<br />
Gren zen missionieren. Der militante<br />
Islam droht aus Zentral asien, also aus<br />
Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan,<br />
erst in zweiter Linie aus Afghanistan<br />
und Pakistan, und er bedroht<br />
vor allem Russland. In dem Riesenreich<br />
leben 20 bis 25 Millionen Muslime.<br />
Moskau wird die Kaukasus republiken<br />
nicht auf Dauer in der Föderation<br />
halten können. In Tschetschenien hat<br />
Kadyrow zwar die Seiten gewechselt,<br />
von den Fundamentalistan weg zu den<br />
Moskowitern. Doch als deren Statthalter<br />
in Grosny hat er in der Republik<br />
die Scharia eingeführt. Das blutige Hin<br />
und Her erinnert an Tolstois Novelle<br />
Hadschi Murat, die die kaukasischen<br />
Kämpfe im 19. Jahrhundert beschreibt.<br />
Tschetschenien war für Russland<br />
schon verloren, Putin hat es immerhin<br />
zurückgewonnen. Das Problem<br />
scheint eher, da haben Sie Recht, die<br />
gesamte Südflanke der Föderation.<br />
Zweifellos. Auch im benachbarten<br />
Dagestan steigt der Einfluss der Islamis<br />
ten, in Baschkirien, Tatarstan, im<br />
ganzen Ural. In der tatarischen Hauptstadt<br />
Kasan steht ein riesiges Denkmal<br />
von Ivan dem Schrecklichen, das Zentrum<br />
wurde bei meinem letzten Besuch<br />
1991 von den goldenenen Kuppeln der<br />
orthodoxen Kirche dominiert. Jetzt war<br />
ich wieder da, und über der Kirche erhebt<br />
sich eine riesige Moschee. Das erzürnt<br />
viele Russen.<br />
Kann die Türkei Mitglied der EU<br />
werden?<br />
Ich bin weiter absolut dagegen, dazu<br />
ist die Türkei nicht demokratisch<br />
genug. Ich sage meine Meinung übrigens<br />
offen – und habe trotzdem oder<br />
vielleicht sogar deswegen von der<br />
Islamischen Gemeinschaft in Deutschland<br />
(IGD) eine Auszeichnung bekom men.<br />
Die Türken schätzen nämlich mei ne offenen<br />
Worte, weil sie von ande ren an<br />
der Nase herumgeführt werden. Was<br />
bringt es denn, dass Schäuble als Innenminister<br />
so genann te Fundamentalisten<br />
wie die türkische Milli Görös<br />
aus seiner Islamkonferenz ausschloss?<br />
Gerade mit denen hätte er doch über<br />
die Probleme reden müssen, wenn es<br />
vorwärts gehen soll.<br />
Ich sage den Türken immer: Ihr seid<br />
die Erben eines großen Imperiums, das<br />
bis an die chinesische Grenze ausstrahl -<br />
te. Ihr könnt der stabilisierende Pol im<br />
Nahen Osten sein. Warum wollt ihr<br />
euch in die EU einbinden lassen? Das<br />
wäre für die Türkei selbst gefährlich,<br />
denn die EU würde beispielsweise auf<br />
eine Autonomie für die Kurden drängen.<br />
Das geht nicht gut im Nahen<br />
Osten, das endet im Bürgerkrieg. Stattdessen<br />
sollten die EU und die Türkei<br />
eine Zollunion bilden, das bringt wirtschaftliche<br />
Vorteile für beide.<br />
Sie sind oft in der Türkei. Wie denken<br />
die Menschen dort über die EU-<br />
Mitgliedschaft?<br />
Das ist sehr geteilt. Auf dem Dorf hört<br />
man immer wieder: Früher im Sul tanat<br />
war es besser. Die Leute sind religiös,<br />
sie wollen einen höheren Stellen wert<br />
des Islam in der Gesellschaft als bisher.<br />
Auf dem Land tragen die Mädchen<br />
Kopftuch, in den Großstädten kleiden<br />
sie sich sehr lasziv. Dabei verstehen<br />
sich beide gut. Und das Kopftuch wird<br />
freiwillig getragen, nicht unter Zwang.<br />
Das ist ein Protest gegen die Moden,<br />
die der Westen vorschreibt.<br />
Die Beteili gung Deutschlands am<br />
Anti-Terror-Krieg macht, wie Oskar<br />
Lafon tai ne warnte, unser Land nicht<br />
sicherer, sondern holt uns den Terror<br />
geradewegs vor die Haustür.<br />
Das sagen doch auch die US-Geheim -<br />
dienste in ihren Expertisen. Selbst verständlich<br />
hat der Bundes wehreinsatz<br />
in Afghanistan die Terrorgefahr bei uns<br />
erhöht. Wobei man nicht alles auf<br />
Osama bin Laden schieben sollte. Der<br />
hat die Anschläge des 11. September<br />
bestimmt nicht organisiert. Er hatte<br />
doch in seiner afghanischen Höhle<br />
keine Flugpläne aus den USA, um irgend<br />
etwas zu koordinieren. Und falls<br />
er heute überhaupt noch lebt, kann er<br />
kein Telefon, kein Fax und kein Internet<br />
benutzen, wenn er nicht sofort geortet<br />
werden will. Wie kann er da Terror<br />
in Auftrag geben?<br />
Es muss sich vieles ändern. Womit<br />
beginnen?<br />
Die NATO ist obso let. Damit meine ich<br />
nicht das politische Bündnis mit den<br />
USA. Aber die militärische Einbindung<br />
hat keinen Sinn mehr. Ich erinnere an<br />
Staats prä si dent Charles de Gaulle. Er hat<br />
eine klare Un ter scheidung gemacht: In<br />
der Aus ein andersetzung mit Moskau<br />
war er immer an der Seite der USA, in<br />
der Berlin-Krise etwa stand er für einen<br />
ganz harten Kurs. Aber unter seiner<br />
Führung ist Frankreich 1966/67 aus<br />
der integrierten Militärstruktur des<br />
Bündnisses ausgeschert, ohne die Mitgliedschaft<br />
in der NATO insgesamt<br />
aufzukündigen.<br />
Von Peter Scholl-Latour<br />
erschien zuletzt Die Angst<br />
des weißen Mannes. Ein<br />
Abgesang bei Propyläen<br />
26<br />
27
<strong>COMPACT</strong><br />
Titelthema<br />
Das Ende der Geduld: Kirsten Heisig war ein Störfaktor für das<br />
Polit-Establishment – und mögliche Spitzenkandidatin einer neuen<br />
Protestpartei. Musste sie deswegen sterben?<br />
Die Richterin und ihre Henker<br />
Von Josephine Barthel<br />
Geduld scheint eine Eigenschaft zu<br />
sein, die in Deutschland besonders aus -<br />
ge prägt ist. In kaum einem anderen<br />
Land der Welt ist die politische Leidens -<br />
fähigkeit wohl so hoch, wie zwischen<br />
Oder und Rhein. Was wir zur Zeit in<br />
der Berliner Republik erleben, ist eine<br />
Art postmoderner Biedermeier, wo die<br />
neuen Metternichs und ihre Anhänger<br />
ihre politisch-korrekten Uto pien mit<br />
Sprech verboten schützen. Statt kon kre -<br />
ter Maßnahmen, die für die Rege lung<br />
der Zustände um die Ecke sorgen,<br />
philosophieren bundesdeutsche Gutmen<br />
schen lieber über globa le Gesellschafts<br />
entwürfe oder das Zu sam menleben<br />
von Menschen in anderen<br />
Brei tengraden – während es im eigenen<br />
Stadtteil bereits lichterloh brennt.<br />
Heisig wäre nach<br />
der Veröffentlichung<br />
des Buches zum Medien<br />
star geworden.<br />
Insofern war bereits der Titel eines Bu -<br />
ches eine Kampfansage gegen die allumfassende<br />
Lethargie, die für alle Befürworter<br />
des Status quo lebenswichtig<br />
ist: Das Ende der Geduld. Was die Amt s-<br />
richterin Kirsten Heisig in diesem Manuskript<br />
zusammengetragen und zu<br />
Papier gebracht hatte, dürfte nicht wenigen<br />
Gesellschaftsgruppen nicht in<br />
den Kram gepasst haben. Weder die<br />
Einwanderungslobby des Groß ka pitals,<br />
das auch ganz aktuell wieder<br />
billige Fachkräfte rekrutieren möchte,<br />
noch die etablierten Parteien, die über<br />
Jahrzehnte eine völlig reflexionslose<br />
Einwanderungspolitik betrieben haben.<br />
Und schließlich sind auch die<br />
Wahrheiten Kirsten Heisigs für manche<br />
Immigranten-Communities und die<br />
angeschlossenenen Sozialstaatsapparate<br />
wenig erfreulich gewesen.<br />
Dass die Autorin des brisanten<br />
Buches den Erscheinungstag nicht<br />
mehr erleben durfte, wunderte die veröffentlichte<br />
Meinung in Deutschland<br />
kaum. Heisig verschwand noch an dem<br />
Tag, als sie die letzten Korrekturen an<br />
das Lektorat geschickt hatte. Für Polizei<br />
und Presse stand gleich fest, dass<br />
die lebenslustige Mutter zweier Kinder<br />
Selbstmord begangen haben soll. Man<br />
stellte sich nicht die Frage, unter welchem<br />
Gefahrenpotential Menschen<br />
leben, die solch unbequeme Wahrheiten<br />
aussprechen. Eine SMS an die<br />
Kinder, die auf psychische Probleme<br />
hingedeutet habe, sollte ein Beweis für<br />
die Selbstmordthese sein.<br />
Dass Kirsten Heisig noch am Tage ihres<br />
Verschwindens einem Talkshowter<br />
min in Stern TV zugesagt und danach<br />
einen Urlaub mit ihren Kindern<br />
gebucht hatte, ist nur eines der mehr<br />
als sonderbaren Indizien, die besonders<br />
im Internet für kontroverse Diskus<br />
sionen sorgen sollten. Die so genann<br />
te seriöse Presse hielt sich an das,<br />
was viele als «Sprachregelung» em p-<br />
fanden – jedenfalls in Deutschland.<br />
Anders in der Schweiz. Das wichtigste<br />
Blatt der Alpenrepublik, die Neue<br />
Züricher Zeitung, notierte verwundert<br />
am 15. September <strong>2010</strong>: «Von Oberstaatsanwalt<br />
Andreas Brehm hätten wir<br />
(…) gern Näheres über Kirsten Heisigs<br />
Selbstmord im Tegeler Forst erfahren,<br />
dessen Umstände so fragwürdig sind,<br />
dass sich der Verdacht eines vertuschten<br />
Mordes nicht aus der Öffentlichkeit<br />
entfernen lässt.» Auf Anfrage, ob<br />
die nichtöffentlichen Ermittlungsakten<br />
auf Antrag einsehbar seien, habe Brehm<br />
mit den Worten geantwortet: «In diesem<br />
Fall gewiss nicht.»<br />
Hierzulande beschäftigte sich ausschließlich<br />
das Netzforum Kopp-Online<br />
umfassend mit dem mysteriösen Tod<br />
der Richterin. Der investigative Journalist<br />
Gerhard Wisneswki stellte in einer<br />
acht Folgen umfassenden Beitrags -<br />
reihe zahlreiche Fragen, die bis heute<br />
nicht ausreichend beantwortet wurden.<br />
Von Anfang an, so Wisnewski, habe<br />
die Polizei nach aussen hin einseitig<br />
ermittelt. Bereits am 2. Juli, also kurz<br />
nach dem Verschwinden Heisigs, habe<br />
man apodiktisch verkündet: «Eine<br />
Entführung, überhaupt eine Straftat<br />
schließt die Polizei aus.» Es sei, so der<br />
Autor, nicht mitgeteilt worden, wo und<br />
wie die Frau genau gefunden worden<br />
oder wie sie tatsächlich zu Tode gekommen<br />
sei. Auch warum bei heißem<br />
Wetter und daraus folgender schneller<br />
Verwesung einer Leiche diese in einem<br />
stark frequentierten Waldstück nicht<br />
schneller gefunden worden ist, bleibt<br />
eine offene Frage. Die schon bald<br />
eingesetzten Suchhunde jedenfalls<br />
hätten den Verwesungsgeruch bemerken<br />
müssen.<br />
In der Kriminalistik wird bereits<br />
jedem Erstsemester eingepaukt, dass<br />
man bei einer Straftat immer nach dem<br />
Motiv zu fragen habe. Für die These<br />
des Selbstmordes spricht laut überzeu -<br />
gender Aussagen von Wegge fährten<br />
Heisigs überhaupt nichts. Für Mord dagegen<br />
viel. Man darf davon ausgehen,<br />
dass Heisig nach der Veröffent lichung<br />
des Buches, ähnlich wie später Thilo<br />
Sarrazin, zum Medienstar geworden<br />
wäre. Nicht umsonst nannte man sie<br />
in Anlehnung an den Hamburger Ex-<br />
Senator und Richterkollegen, Ronald<br />
Schill, eine «Richterin gnadenlos».<br />
«Verdacht eines<br />
vertuschten Mordes»<br />
(Neue Zürcher<br />
Zeitung)<br />
Während Schill zum kurz auf flackernden<br />
politischen «Ecce Homo» wurde,<br />
die Politikszene durchmischte und<br />
dann plötzlich und unerwartet abstürz -<br />
te, fand Kirsten Heisig noch vor dem<br />
medialen Durchbruch den Tod. Bei<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Titelthema<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Die Drogenclans:<br />
Kirsten Heisigs Warnung<br />
Nach meiner Einschätzung wird momentan<br />
zugesehen, wie die «arabische»<br />
Drogenmafia, die den Erkennt nissen der<br />
Polizei zufolge speziell den Handel mit<br />
harten Drogen (wie zum Beispiel Heroin)<br />
fest in der Hand hat, aus palästinensischen<br />
Flüchtlingslagern Kinder und Jugendliche<br />
nach Deutschland schleust.<br />
Diese sollen dann den Straßenverkauf<br />
der Drogen übernehmen. Die «unbeglei -<br />
tet reisen den asylsuchenden Jugendlichen»,<br />
die häufig deutlich älter sind, als<br />
sie angeben, werden dann einem entsprechenden<br />
Heim zugewiesen, in dem<br />
sie sich dem ausländerrechtlichen Status<br />
der Duldung entsprechend eigentlich<br />
ständig aufhalten müssen.<br />
Machen sie aber nicht. Stattdessen tauchen<br />
sie rasch bei Landsleuten in Berlin<br />
unter. Diese machen sie dann vermutlich<br />
auch mit den Regeln des jeweiligen Marktes<br />
vertraut: wer wo was und für wie viel<br />
verkaufen darf, wo man die Ware erhält,<br />
wer den Erlös bekommt. Selbst davon<br />
profitieren können die Straßenhändler<br />
nicht. Sie müssen ganz im Gegenteil für<br />
die Schleusung noch bezahlen. Ich habe<br />
kürzlich in Heimen der Jugendhilfe in<br />
anderen Bundesländern angerufen, weil<br />
mir auffiel, dass ich mehrmals Jugendliche<br />
wegen Heroinhandels verurteilt hat -<br />
te, die sich eigentlich in diesen Einrichtungen<br />
weitab von Berlin aufhalten<br />
sollten. Die Mitarbeiter er klär ten mir,<br />
dass man die Jugendlichen, die sich entfernen,<br />
als vermisst meldet und das war<br />
es dann.<br />
Das System: Ein typischerweise zunächst<br />
aus Mutter, Vater und zehn bis fünfzehn,<br />
in Einzelfällen bis zu neunzehn Kindern<br />
bestehender Clan wandert aus dem Libanon<br />
zu. Nach den mir vorliegenden Erkenntnissen<br />
gibt es in Deutschland zehn<br />
bis zwölf dieser Clans, die einige Tausend<br />
Menschen umfassen. Sie agieren sowohl<br />
im Innen- wie im Aussenverhältnis kriminell.<br />
Von Drogen- und Eigentumsdelikten<br />
über Beleidigung, Be drohung,<br />
Raub, Erpressung, gefährliche Körperverletzung,<br />
Sexual straftat und Zuhälterei<br />
bis zum Mord ist alles vertreten.<br />
(aus: Kirsten Heisig, Das Ende der Geduld. Konse<br />
quent gegen jugendliche Gewalttäter. Herder-<br />
Verlag, 14.95 Euro)<br />
28<br />
29
<strong>COMPACT</strong><br />
Titelthema<br />
Ronald Schill konnten Beobachter<br />
kaum fassen, dass der prinzipientreue,<br />
gradlinige Richter «plötzlich» zum<br />
Dro genfall wurde und heute nur noch<br />
dadurch Schlagzeilen macht, dass er<br />
womöglich im Dschungelcamp unter<br />
dem letzten Wegfall persönlicher<br />
Würde Würmer und Maden fressen<br />
muss. Dass Schill regelrecht «platt<br />
gemacht» wur de, bis er als menschliches<br />
Wrack ungefährlich für das Establishment<br />
sein würde, wird hinter vorgehaltener<br />
Hand längst zugegeben.<br />
Schill war nahe daran, zum politischen<br />
Faktor zu werden. Wenn bereits er als<br />
manchmal allzu schneidiger Hardliner<br />
Wahlergebnisse von über 20 Prozent in<br />
Hamburg erzie len konnte – welche<br />
Wirkung hätte da erst eine grundsolide<br />
und sympa thische Frau wie Kirsten<br />
Heisig erzielen können?<br />
Diese Frage ist keineswegs<br />
abstrakt. Nach Berichten von Weggefährten<br />
des Berliner CDU-Dissidenten<br />
René Stadtkewitz war Heisig im Sommer<br />
<strong>2010</strong> an den Gesprächen über eine<br />
Partei bildung beteiligt und sogar als<br />
Spitzenkandidatin im Gespräch. Als<br />
unta deli ge Richterin mit der Fähigkeit,<br />
ta bu isierte Probleme anzusprechen<br />
und konkrete Lösungen aufzuzeigen,<br />
hätte sie bei den Landtagswahlen in<br />
Berlin im Herbst 2011 eingeschlagen<br />
wie eine Bombe.<br />
Nicht auszuschließen, dass sie mit<br />
ihrem sachbezogenen Ansatz, der nicht<br />
gegen den Islam, sondern gegen das<br />
kri minelle Potential genau definierbarer<br />
Ausländergruppen zielte, Brücken<br />
hätte bauen können zur Mehrheit der<br />
vernünftigen Moslems. In Neukölln<br />
und Wedding sind es nämlich oft genug<br />
die fleißigen Türken der ersten<br />
Einwanderergeneration, die unter der<br />
Gewalt und Asozialität der später<br />
Zugezogenen, vor allem krimineller<br />
arabischer Gangs, zu leiden haben.<br />
Dass sie den jugendlichen Delin quenten<br />
nicht nur mit der Strenge des Gesetzes<br />
kam, sondern ihnen bisweilen<br />
auch als Frau und Mutter ihr Herz<br />
öffnete, muss allen verhasst gewesen<br />
sein, die den «Kampf der Kulturen»<br />
von der einen, wie von der anderen<br />
Seite befeu ern wollen.<br />
Wer profitierte von Kirsten Heisigs<br />
Tod und wer musste vor der leben digen<br />
Kirsten Heisig Angst haben? Diese<br />
Fragen zu stellen, hat nichts mit «Verschwörungstheorie»<br />
zu tun. Dieser<br />
Begriff wird immer gern benutzt, wenn<br />
man sich der Diskussion entziehen<br />
will. Unliebsame Annahmen und Thesen<br />
werden rasch und wirkungsvoll<br />
zur Verschwörungstheorie gestempelt,<br />
damit man sich nicht mit ihnen beschäftigen<br />
muss.<br />
Von den Deutschen wird gesagt, sie<br />
lebten in historischen Pendelschlägen.<br />
Nach Zeiten der absoluten Ruhe und<br />
Agonie kamen oft übersteigerte Gegenbewegungen.<br />
Man hat bei Lektüre<br />
des Buches den Eindruck: Kirsten Heisig<br />
war es ein Anliegen, dass es bald<br />
zu konstruktivem Handeln kommen<br />
müsse. Bevor die Probleme unüberschaubar<br />
werden – und damit auch die<br />
Reaktionen.<br />
Josephine Barthel hat in München und Köln Vorund<br />
Frühgeschichte sowie Mediävistik und Rechtswissenschaft<br />
studiert. Sie lebt heute als freie Autorin<br />
in Limoges.
Politik<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Jemen als neuer Schurkenstaat? Tatsächlich ist Al Qaida dort sehr<br />
aktiv – mit Unterstützung des US-Alliierten Saudi-Arabien. <strong>COMPACT</strong><br />
sprach mit einem jemenitischen Oppositionellen.<br />
Luftpostterror aus Sanaa?<br />
Interview: Utz Anhalt<br />
Zu Jahresanfang <strong>2010</strong> der «Unterhosen<br />
bomber» in einer Passierflugzeug<br />
über Detroit, im November <strong>2010</strong> die<br />
Sprengstoffpakete in Frachtmaschinen<br />
auf westeuropäischen Flughäfen – der<br />
Ursprung der Bedrohung soll in beiden<br />
Fällen im Jemen gelegen haben. Dass<br />
der Hinweis im letzten Fall vom sau -<br />
dischen Geheimdienst kam, war allerdings<br />
kein Zufall, wenn man unseren<br />
Gesprächspartnern glauben darf: Sau -<br />
di- Arabien selbst hat nämlich, mit<br />
freund licher Duldung der USA, den<br />
Aufbau von Al Qaida in Jemen dirigiert.<br />
Washington, Riad und die Bin Laden-<br />
Jünger unterstützten 1994 den jemenitischen<br />
Präsidenten Ali Abdullah Saleh<br />
im Bürgerkrieg gegen die pro-kommunistischen<br />
Sezessionisten im Süden<br />
des Landes. Schon zu Jahresanfang<br />
<strong>2010</strong> hat schleichend eine US-amerikanische<br />
Intervention begon nen – nicht<br />
um Al Qaida anzugreifen, sondern die<br />
schiitischen Huthi-Rebellen im Norden,<br />
die als Vorposten des ebenfalls<br />
schiitischen Iran gelten. (Red.)<br />
Fahmi al Qadi ist Mitglied der demokratischen<br />
Opposition des Jemen und<br />
lebt als anerkannter Asylbewerber in<br />
Hannover. Sein Vater Hussein wurde<br />
am 1. November 2009 vom jemenitischen<br />
Geheimdienst ermordet.<br />
Der Jemen kam zu Jahresanfang <strong>2010</strong><br />
in die Schlagzeilen, weil kurz zuvor<br />
ein Nigerianer angeblich über Detroit<br />
eine Passagiermaschi ne hatte sprengen<br />
wollen und dieser Mann Kontakte<br />
in den Jemen hatte. Daher auch<br />
die Kriegs drohun gen der USA und<br />
das Versprechen von Präsident Saleh,<br />
den dschi hadistischen Terror zu bekämpfen.<br />
Was haben die Huthis mit<br />
den Dschihadisten, mit Al Qaida zu<br />
tun?<br />
Die haben damit nichts zu tun; die<br />
Huthis sind Schiiten, Al Qaida Sunniten.<br />
Die Huthis wollen Autonomie von<br />
Salehs Militärdiktatur und freie Wahlen;<br />
natürlich sind sie Muslime – das<br />
sind im Jemen die meisten. Der Kampf<br />
gegen die Saudis und gegen ihre Mari<br />
o nette, Präsident Saleh, hat aber keinen<br />
religiösen Grund. Die Huthis sind<br />
keine Dschihadisten. Mit den Amerikanern<br />
hat das nur insofern etwas zu<br />
tun, als dass amerikanische Piloten im<br />
Gebiet der Huthis Dörfer, das heißt,<br />
Frauen und Kinder bombardieren – für<br />
Saudi-Arabien.<br />
Und Al Qaida? Hier in Deutschland<br />
gibt es die These, dass die Stammeskonflikte<br />
und die Unregierbarkeit des<br />
Jemens das Land zum Nährboden von<br />
Al Qaida machen.<br />
Bei Al Qaida gibt es keine Mitgliedsausweise.<br />
Al Qaida ist keine politische<br />
Die jemenitische Gesellschaft befindet sich im Visier der Gewalt<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong><br />
30<br />
31
<strong>COMPACT</strong><br />
Politik<br />
Partei, sondern ein Sammelbecken. Es<br />
gibt im Jemen Abertausende von Al<br />
Qai da-Leuten, die in der Hauptstadt<br />
Sanaa-Stadt herumfahren und ihre<br />
unerschöpfliche Reserve bilden. Präsi -<br />
dent Saleh macht die Geschäfte, und<br />
wenn die Al Qaida Leute zu ihren Stämmen<br />
gehen, sind sie unantastbar. Aber<br />
nicht jeder Stamm bietet Al Qaida eine<br />
Basis.<br />
Was meinen Sie mit unerschöpflicher<br />
Reserve?<br />
Der Jemen ist heute nur an zwei<br />
Dingen reich, an jungen Männern ohne<br />
Bildung und an Waffen. Das eine<br />
kommt zum anderen; und dann kämpfen<br />
die Jungs für Al Qaida. Al Qaida ist<br />
Hartz IV im Jemen, gibt den Analphabeten<br />
Geld plus Gebete. Saleh hat keine<br />
Lösung für die Arbeitslosigkeit; das<br />
Geld geht in seine Tasche. Al Qaida bietet<br />
eine Pers pektive, den Terrorismus.<br />
Das Geld von Al Qaida kommt aus<br />
Saudi-Arabien, von den Verbündeten<br />
der Amerikaner, die Männer und die<br />
Waffen kommen aus dem Jemen.<br />
Richtet sich Al Qaida gegen die<br />
Regierung, oder wie ist das zu<br />
verstehen?<br />
Al Qaida hat 1994 mit Präsident Saleh<br />
und seinen Truppen gegen den Süd jemen<br />
gekämpft, gegen die Kommunisten.<br />
Saleh hat mit Al Qaida zusammen<br />
gearbeitet, mit Wissen und Wollen der<br />
damaligen US-Regierung. Jetzt kämpft<br />
Saleh angeblich gegen Al Qaida.<br />
Warum angeblich? Sein Militär geht<br />
doch in Sanaa-Stadt gegen Al Qaida<br />
vor.<br />
Bin Laden ist in unserem Land geboren,<br />
in Hadra maut; er hat hier seine<br />
Homebase, seine Netzwerke, alles.<br />
Seinen Familienkonflikt trägt er auch<br />
aus, aber die Familie Bin Laden führt<br />
ein Firmenimperium in Saudi-Arabien.<br />
Es ist ein Konflikt untereinander.<br />
Die Familie Bin Laden macht heute<br />
noch blühende Geschäfte mit den<br />
USA. Natürlich hat Präsident Saleh<br />
Probleme mit der Macht lokaler<br />
«Al Qaida ist Hartz<br />
IV im Jemen.»<br />
Scheichs, die für Al Qaida arbeiten.<br />
Und wenn ihm deren Macht zu groß<br />
wird, lässt er auch mal einige von<br />
seiner Armee umbringen. Wenn die<br />
Dschihadisten ihn unterstützen, ar -<br />
beitet er aber mit ihnen zusammen.<br />
Immerhin sind sie seine Verwandten.<br />
Tariq al Fadlli, der zweite Mann von Al<br />
Qaida, hat Salehs Schwester geheiratet.<br />
Al Qaida ist also auch leiblich die<br />
Familie des Präsidenten. Saleh sucht<br />
Al Qaida? Wenn ich weiß, wo jemand<br />
wohnt und ihm die Hände schüttle,<br />
muss ich den nicht suchen.<br />
Al Qaida, oder zumindest dschihadistische<br />
Gruppen, die ihnen nahe<br />
stehen, haben in den letzten Jahren<br />
Anschläge in Saudi-Arabien verübt,<br />
auch direkt gegen die saudische Königsfamilie.<br />
Mehr als hundert Al<br />
Qaida-Mitglieder wurden in Saudi-<br />
Arabien festgenommen.<br />
Natürlich funktionieren die nicht alle<br />
so, wie die saudische Königsfamilie<br />
es möchte, das ist ja das Problem bei<br />
dieser Politik mit Zuckerbrot und Peit -<br />
sche. Und natürlich richtet sich ihr Hass<br />
auch gegen die korrupte eigene Re gierung.<br />
Aber der saudische Geheim dienst<br />
steckt mittendrin im Terror. Dass dann<br />
ein paar ihrer Kinder etwas auf eigene<br />
Faust machen, ist klar.<br />
Wissen die Amerikaner das nicht? Immerhin<br />
steckt Al Qaida doch hinter<br />
Stellen Sie sich das so vor. Al Qaida<br />
sagt Saleh: Kämpfe ruhig gegen uns,<br />
aber unterstütze uns auch. So läuft das<br />
Geschäft. Saleh lässt dann ein paar Al<br />
Qaida-Leute festnehmen und lässt sie<br />
im Dunklen wieder frei. Die Spitzen<br />
von Al Qaida sind im Jemen unantast -<br />
bar. Abdullah al Ahmar, der ehemalige<br />
Parlamentschef, hat Bin Laden in seiner<br />
Wohnung beherbergt; die zweite<br />
Hand von Al Qaida, Tariq al Fadlli, lebt<br />
im Jemen, jeder sieht ihn, jeder kennt<br />
ihn. Führende Leute von Al Qaida waren<br />
in Afghanistan, dann wieder im<br />
Jemen, dann wieder in Afghanistan.<br />
Sind die Zeiten vorbei, in denen der Jemen durch seine Architektur bekannt war?<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Politik<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Jemen: Sicherheitskräfte in erhöhtem Alarmzustand<br />
dem Anschlag auf das World Trade<br />
Center. Immerhin gilt der Krieg gegen<br />
den Terror Al Qaida.<br />
Natürlich wissen die Amerikaner von<br />
der Verbindung zwischen den Saudis<br />
und Al Qaida. Sie brauchen das Öl der<br />
Saudis, sie wollen an das Rote Meer,<br />
sie wollen den Golf von Aden kontrollieren.<br />
Und sie können den Saudis<br />
nicht einfach sagen: «Seid endlich loyal<br />
im Kampf gegen Al Qaida.» Al Qaida<br />
ist im Jemen und in Saudi-Arabien, die<br />
Scheichs haben Einfluss auf Scheichs,<br />
nicht die Amerikaner. Al Qaida ist<br />
Fleisch von ihrem Fleisch, Blut von ihrem<br />
Blut. Die CIA war an der Gründung<br />
von Al Qaida beteiligt, aber auch<br />
die CIA besteht nicht aus Arabern und<br />
hat nicht auf alles Einfluss, was «die<br />
Jungs» machen. Wie sollen denn die<br />
Amerikaner daran kommen? Sie könnten<br />
Sanaa-Stadt bombardieren. Und<br />
dann? Saleh macht ja nicht nur Deals<br />
mit Al Qaida, sondern auch mit den<br />
USA. Jemand anders ist derzeit nicht<br />
da; vielleicht bereiten sie schon den<br />
nächsten Diktator vor, der ihnen besser<br />
zuarbeitet, und nicht mit allen an deren<br />
auch noch Geschäfte macht. Alle Al<br />
Qaida-Leute der Welt wissen, dass der<br />
Jemen für sie sicheres Gebiet ist – die<br />
Al Qaida-Leute aus dem Jemen bekom -<br />
men Schutz vom jemenitischen Geheimdienst<br />
und von ihrem Stamm. Al<br />
Qaida sind Sunniten. Vielleicht braucht<br />
man sie noch.<br />
«Die CIA war an der<br />
Gründung von Al<br />
Qaida beteiligt.»<br />
Wie meinen Sie das?<br />
Ahmadinedschad, das Staatsoberhaupt<br />
des Iran, die Mullahs im Iran, sind<br />
Schiiten. Die Amerikaner haben im Irak<br />
verloren; die Amerikaner haben in<br />
Afghanistan verloren. Im Irak hat der<br />
Widerstand gegen die Amerikaner den<br />
Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten,<br />
zwischen Arabern und Persern<br />
verwischt. Der Gewinner des Irak-<br />
Kriegs ist der Iran. Und das ist Amerikas<br />
Hauptfeind. Und um den Iran<br />
geht es eigentlich. Die Bombardierung<br />
der Huthi-Schiiten im Jemen ist nur ein<br />
Vorspiel dazu. Wenn die Saudis oder<br />
Amerikaner Krieg gegen den Iran führen,<br />
dann ist es besser, Al Qaida im<br />
Jemen in Ruhe zu lassen: Al Qaida sind<br />
Sunniten – Schlächter, die im Sudan,<br />
in Somalia, in Afghanistan und im Irak<br />
waren und die die Schiiten hassen. Die<br />
ersten, die mit Feuereifer in den Krieg<br />
gegen den Iran ziehen würden, wären<br />
die Al Qaida-Leute aus dem Jemen. Die<br />
Mullahs sind zwar ebenfalls Fun damentalisten,<br />
aber eben Schiiten und<br />
keine Wahhabiten. Und die Saudis<br />
wür den das wiederholen, was ihre Vor -<br />
väter in Kerbala getan hatten: Die kulturellen<br />
Heiligtümer der Muslime zerstö<br />
ren, die die wahhabitische Lehre<br />
nicht teilen, und alle massakrieren, die<br />
ihnen im Weg stehen. (…) Es gibt vor<br />
allem zwei Stämme im Nordjemen, aus<br />
denen sich Al Qaida rekrutiert. Das sind<br />
Haschut und Bakil. Sie leben im Grenzge<br />
biet zu Saudi-Arabien. Die Stammesführer<br />
bekommen Geld von Saudi-Arabien,<br />
um Ärger im Jemen zu ma chen<br />
und Al Qaida zu spielen. Wenn sie die<br />
jungen Männer in die Schlacht schicken,<br />
müssen die funktionieren. Das<br />
ist das Stammesgesetz, und aus diesem<br />
heraus zu kommen, haben diese Jungen<br />
nie geschafft. Die jungen Männer<br />
bekommen Waffen, Geld und eine<br />
Men ge Privilegien. Aber, wenn der<br />
Stamm sagt, du musst dich in die Luft<br />
sprengen, gibt es kein Nein. In Aden<br />
war es früher egal, ob du Christ, Jude<br />
oder Muslim warst. Wir hatten wunder<br />
schöne Moscheen, Kirchen und Syna<br />
gogen. Heute wird dir im Jemen der<br />
Schädel eingeschlagen, weil du kein<br />
«richtiger» Moslem bist, von dummen<br />
Jungs, die den Koran niemals gelesen<br />
haben, weil sie nicht lesen können.<br />
Manchmal schäme ich mich dafür, was<br />
aus meinem Land geworden ist.<br />
Von Utz Anhalt erschien<br />
bereits zuvor der Titel<br />
WÜSTENKRIEG. Jemen,<br />
Sudan, Somalia und die<br />
Geostrategie der USA in<br />
der <strong>COMPACT</strong> Reihe. (Vgl.<br />
Heftinnenteil S. A4)<br />
32<br />
33
<strong>COMPACT</strong><br />
Politik<br />
Hunderttausende Tote vor allem im Irak: Die Massenmedien<br />
schweigen über die Folgen des Einsatzes von Waffen aus<br />
«abgereichertem Uran» und mobben unbequeme Mitarbeiter raus.<br />
Uncle Sams schmutzige A-Bombe<br />
Von Frieder Wagner<br />
Stellen Sie sich vor, jemand käme auf<br />
die Idee, hunderte Tonnen des atoma -<br />
ren Abfallprodukts «ab gereichertes<br />
Uran» (Uran 238) zu Fein staub zu zermahlen<br />
und würde dann diesen Uranstaub<br />
aus einem Flugzeug über<br />
Deutsch land ver tei len. Das wäre eine<br />
entsetzliche Katas trophe. Es dürften<br />
keine Fuss ball spiele mehr stattfinden,<br />
alle Sta dien und Spielplätze wür den<br />
ge schlos sen und alle sportli chen Outdoor-<br />
Veran staltungen müss ten ver boten<br />
werden. Niemand dürf te mehr<br />
ohne Schutz anzüge und Gas masken<br />
auf die Straße gehen – auch nicht zum<br />
Einkaufen. Nach wenigen Wochen<br />
würden Tau sen de von Klein kindern<br />
an aggressiven Leu kämien erkranken.<br />
Monate spä ter würden Zehn tausende<br />
von gera de noch ge sunden Erwachsenen<br />
an Krebs erkran ken, später dann<br />
Hun dert tausende, noch später Millionen.<br />
Wenn Sie jetzt sagen, dass das<br />
ja zum Glück nur ein Gedankenspiel<br />
ist, dann muss ich Ihnen leider sagen:<br />
Will kom men im Irak, im Kosovo, in<br />
Af gha nistan, willkommen in Serbien<br />
und in Somalia. Denn die Alliierten haben<br />
in allen ihren vergangenen Kriegen<br />
in diesen Ländern diese Waffen<br />
aus abgereichertem Uran angewendet.<br />
Mit dem Ergebnis, dass in diesen Ländern<br />
jetzt Erwachsene an Mehrfachkrebs<br />
erkran ken und Babys ohne Augen,<br />
ohne Bei ne und Arme, Babys, die<br />
ihre inneren Organe in einem Hautsack<br />
aussen am Körper tragen, geboren werden<br />
und unter furchtbaren Schmerzen<br />
irgendwann sterben.<br />
Uranmunition und Uranbomben<br />
sind die wohl furchtbarsten Waffen,<br />
die heutzutage in Kriegen eingesetzt<br />
werden, weil sie die Menschheit unweigerlich<br />
in den Abgrund führen.<br />
Denn eine der Folgen der Anwendung<br />
von Uranwaffen ist, dass es bei Mensch<br />
und Tier zu Chromosomenbrüchen<br />
kommt und so der genetische Code<br />
verändert wird. Das ist seit Jahrzehnten<br />
eine wissen schaftliche Tatsache<br />
und der amerikanische Arzt Dr. Karl<br />
Muller hat dafür schon 1946 den Nobelpreis<br />
erhalten. Trotzdem haben die<br />
alliierten Streitkräfte unter Führung<br />
der USA in den vergangenen Kriegen<br />
so getan, als würde es diese Tatsache<br />
nicht geben.<br />
Aus einer vertraulichen Mitteilung<br />
des britischen Verteidigungsminis te riums<br />
wissen wir inzwischen, dass schon<br />
die Anwendung von 40 Tonnen dieser<br />
Uran munition im Irak zu 500.000<br />
Nachfol ge to ten führen könnte und<br />
zwar durch so entstehende hoch aggres<br />
sive Krebs tumore und Leukämien.<br />
Bis zum Januar<br />
2001 haben die<br />
meis ten großen<br />
deutschen Tages zeitungen<br />
über mög liche<br />
Gefahren durch<br />
die uran haltige<br />
Munition berichtet.<br />
Durch die Anwendung dieser Uranmu<br />
nition sind im Irak, in Serbien einschließlich<br />
Kosovo und natürlich auch<br />
in Afghanistan inzwischen ganze Regi<br />
o nen wegen der radioaktiven und<br />
hoch giftigen Kontamination durch die<br />
Uran waffen nicht mehr bewohnbar.<br />
Dies wurde durch eine Veröf fent lichung<br />
der irakischen Presseagentur<br />
bestätigt, in der stand, dass nach Unter<br />
suchungen von unabhängigen iraki<br />
schen Wissenschaftlern festgestellt<br />
wurde, dass durch die Bombardierung<br />
der Alliierten mit Uranbomben im<br />
Krieg 1991 und 2003 im Irak heute 18<br />
Regionen nicht mehr bewohnbar sind<br />
und dass deshalb die Bevölkerung dort<br />
evavkuiert werden müsste.<br />
Und das liest man hier in keiner<br />
Zei tung und man erfährt es auch nicht<br />
aus den TV-Medien, weil das Thema<br />
«Uran munition und die Folgen» ein<br />
Tabu thema geworden ist. Denn nicht<br />
die viel beschworene Klimakatstrophe<br />
ist die unbequemste Wahrheit, nein<br />
die unbequemste Wahrheit sind die<br />
furchtbaren Folgen der Uranmunition.<br />
Ich pro gnostiziere hier an dieser Stelle<br />
und bin mir da einig mit vielen unabhängi<br />
gen Wissenschaftlern weltweit,<br />
dass von unseren Tausenden eingesetzten<br />
Soldaten im Kosovo und in<br />
Af gha nis tan womöglich bis zu 30 Prozent<br />
durch Uran munition kontaminiert<br />
nach Hau se kommen werden.<br />
Und diese jungen Soldaten werden<br />
alle mit ihren Ehe frau en und zukünftigen<br />
Ehefrauen Kin der zeugen und<br />
werden ohne es zu wissen ihre Kontamination<br />
an ihre Kinder und Kindes<br />
kinder weitergeben, mit allen<br />
furchtbaren Folgen von Miss bildungen,<br />
Immunschwäche, Leukä mien<br />
und Krebstumoren.<br />
Das Schweigen der Lämmer. Und<br />
was sagen unsere Mainstream-Medien<br />
zu dieser Problematik? Sie schweigen<br />
– sie müssen inzwischen schweigen.<br />
Doch das war nicht immer so, und da<br />
können wir eine erschreckende Ent -<br />
wick lung erkennen. Bis zum Januar<br />
2001 haben die meisten großen deutschen<br />
Tageszeitungen und entsprechen<br />
de politische Fernsehmagazine<br />
immer wieder über mögliche Gefahren<br />
und sogar Missbildungen bei Neuge<br />
bo renen, hervorgerufen durch die<br />
uran haltige Munition der Alliierten,<br />
berichtet. <strong>Magazin</strong>e wie Monitor und<br />
Panorama hatten Beiträge über die Folgen<br />
dieser Munition gebracht. Monitor<br />
sprach Ende 1999 sogar einmal von<br />
«ganzen Landstrichen im Kosovo», die<br />
womöglich verseucht seien.<br />
Der Spiegel-Redakteur Siegesmund von<br />
Ilsemann konnte in der Spiegel-Ausgabe<br />
3 und 4 im Januar 2001 unter dem Titel<br />
Tödlicher Staub noch auf fast <strong>12</strong> Seiten<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Politik<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Fliegende Festung mit tödlicher Fracht – die AC-130H der US-Airforce<br />
über die Gefahren, die von den Urangeschossen<br />
für Mensch und Natur ausgehen,<br />
berichten.<br />
Dann starben die ersten portugiesischen<br />
Soldaten der internationalen Kosovo-Schutztruppe<br />
KFOR an höchst<br />
aggres siven Krebstumoren und Leukämien.<br />
Und in der Bundes re publik<br />
Deutschland geriet Verteidi gungs minister<br />
Rudolf Scharping durch diese Meldungen<br />
in der Presse zum Neujahr<br />
2001 heftig unter Druck, weil viele<br />
Ehefrauen von unseren Soldaten im<br />
Ko so vo fragten: Welche Gefahren bestehen<br />
für unsere Soldaten? Deshalb<br />
war man sich im Pentagon und in der<br />
NATO schnell einig: Das Thema Uranmunition<br />
musste raus aus den Medien!<br />
Und dazu hat man sich in Deutschland<br />
der Wochenzeitung Die Zeit bedient:<br />
Diese Zeitung hat Mitte Januar 2001<br />
durch ihren Wissenschaftsjournalisten<br />
Gero von Randow unter dem Titel Das<br />
Golfkriegssyndrom die Wende einge läutet.<br />
Auf einer ganzen Seite durfte von<br />
Randow seine Sicht der Dinge und was<br />
er von den Berichten der Konkur renz<br />
zu diesem Thema hielt, darlegen.<br />
Schon im Unter titel konnte man lesen,<br />
wohin das führen würde. Er schrieb<br />
dort: «Die Medien schüren Angst und<br />
Fakten spielen keine Rolle.»<br />
Wenn nun jemand auf die Idee<br />
gekommen wäre, zu fragen: Wie kann<br />
es sein, dass ein Redakteur der Zeit sich<br />
mit den Kollegen großer Zeitungen<br />
anlegen kann? Nun, da müssen wir die<br />
damaligen Zeitumstände recher chie -<br />
ren: Ende 1999 wurde ein gewisser Dr.<br />
Theo Sommer von Ver tei di gungsminister<br />
Rudolf Scharping als Sonder be auftragter<br />
zur Untersuchung über Urangeschosse<br />
und deren Folgen in eine<br />
entsprechende Kommission berufen.<br />
Laut Im pres sum der Zeit war Sommer<br />
damals im Beirat dieser Zeitung<br />
und Chef re dak teur, Gero von Randow<br />
einfacher Redakteur. Zählt man nun<br />
eins und eins zusammen, so erfährt<br />
man, dass von Randows Beitrag in der<br />
Zeit in Abstim mung mit den Ergeb nissen<br />
der Sommer-Kommission und nicht<br />
zu fällig erfolg te.<br />
Konnten doch so zwei Dinge gleichzeitig<br />
gelöst werden: Som mer erwies<br />
sich als höchst zuverlässig im Sinne seines<br />
Auftrag gebers Schar ping, und Die<br />
Zeit outete sich als Re gie rungs sprach -<br />
rohr in dem der Re dak t eur Gero von<br />
Randow Journa listenschelte gegen über<br />
der Konkur renz betreiben konnte.<br />
Stützen konnte er sich vorab auf die<br />
Ergebnisse der Sommer-Studie.<br />
Das Er gebnis der Studie war<br />
knapp zusammengefasst: Die im Kosovo<br />
ein gesetzte Uranmunition ist für<br />
unsere dort stationierten Sol daten vollkommen<br />
ungefährlich. Dabei stützte<br />
sie sich auf Unter suchun gen der UN-<br />
Umweltbehörde UNEP und der Weltgesundheitsor<br />
ganisation WHO und<br />
auf eine Studie, die das Institut für<br />
Strah lenschutz Neuherberg bei München<br />
im Auftrag des Verteidi gungs minis teriums<br />
unter Scharping veranlasst hatte.<br />
All diese Studien gelten heute bei neutralen<br />
Wissenachaftlern als höchst umstritten<br />
oder völlig überholt.<br />
Nach Aussage des früheren WHO -<br />
Wis senschaftlers Dr. Keith Baverstock<br />
im Hörfunk von Bayern 2 am 4.<strong>12</strong>.2008<br />
liegen allein im «Giftschrank» der<br />
WHO 16 Studien beziehungsweise<br />
Faktensammlungen zu dem Thema<br />
«Uranmunition und ge sund heitliche<br />
Folgen», die alle be wei sen, dass gerade<br />
die beiden Kom po nenten: hohe Giftigkeit<br />
und Ra dio aktivität dieser Waffe<br />
sich gegenseitig verstärken und so die<br />
hoch aggressiven Krebserkran kungen<br />
hervorrufen. 16 Studien, die nicht veröffentlicht<br />
wurden – das ist unfassbar!<br />
Und warum werden diese nicht ver öffentlicht?<br />
Die Erklärung lieferte schon<br />
am 16. Februar 2001 der Journalist Robert<br />
James Parsons in Le Monde Diplo matique.<br />
Parsons hatte herausgefunden<br />
und lieferte das Do ku ment gleich mit,<br />
dass die WHO schon 1959 mit der Inter<br />
nationalen Atomenergieorganisation<br />
(IAEO) einen Vertrag geschlossen<br />
34<br />
35
<strong>COMPACT</strong><br />
Politik<br />
Foto: AP Images/Enric Marti<br />
Strahlendes Erbe: Auch Iraks Kinder sind Opfer der eingesetzten Uranmunition<br />
hat, in dem sich die WHO verpflichtet,<br />
niemals Erkennt nisse über Radioaktivität<br />
und gesundheitliche Folgen zu<br />
veröffentlichen, wenn die IAEO dem<br />
nicht zu ge stimmt hat. Und weil die<br />
IAEO bis heute solchen kritischen Veröffen<br />
t lichungen nicht zugestimmt hat,<br />
bleiben solche Studien im «Giftschrank»<br />
der WHO.<br />
Den Verantwortlichen im Penta -<br />
gon ist also klar geworden, dass es hier<br />
nicht, wie bei der Klimakatastrophe,<br />
um ein Problem geht, das alle Industrieländer<br />
der Erde verursacht haben,<br />
sondern dass für die Folgen, die der<br />
Welt und den Menschen durch die<br />
Anwendung der Uranwaffen drohen,<br />
nur sie mit ihrem Verbündeten Großbritannien<br />
verantwortlich sind. Also<br />
muss te das Thema Uranwaffen aus den<br />
Medien verschwinden. Dass sich auch<br />
unsere Presse dem so beugt, weil Die<br />
Zeit angebliche Gegenbeweise vorgelegt<br />
hat, hätte ich noch vor zehn Jahren<br />
nicht für möglich gehalten.<br />
Inzwischen ist es so, dass missliebige<br />
Journalisten und Filmemacher von ihren<br />
Arbeitgebern keine Aufträge mehr<br />
erhalten. Drei mir namentlich bekannte<br />
Kollegen haben inzwischen quasi<br />
Haus verbot bei öffentlich-rechtlichen<br />
Sendern. Darunter sind Leute, die 30<br />
Jahre für diese Sender gearbeitet haben.<br />
Das heißt, man drängt solche Journalisten<br />
ins Abseits und versucht sie<br />
mundtot zu machen um so ein kritisches<br />
Thema aus der Öffentlichkeit verschwinden<br />
zu lassen. Und wie macht<br />
man das? Man wirft diesen Leuten vor,<br />
sie hätten in ihren Beiträgen einseitig<br />
tendenziös gearbeitet und deshalb sei<br />
ihre Arbeit nicht sendefähig beziehungsweise<br />
nicht zu veröffentlichen.<br />
Da muss ich fragen: Stempelt die Wahrheitstendenz<br />
eines Beitrages diesen<br />
tatsächlich als tendenziös ab – und ist<br />
das Bestreben, einen solchen Beitrag<br />
zu deformieren und kaputt zu reden,<br />
nicht erst recht tendenziös?<br />
Das Recht steht doch über der Macht.<br />
Das Recht der Haager und Genfer<br />
Konvention, der Nürnberger Dekrete<br />
und die UN-Charta müssen der Macht<br />
den Weg weisen und ihr den Respekt<br />
vor den Grundwerten lehren. Auf<br />
Armut und Unterdrückung, Krieg<br />
und Bomben, verstümmelten, missgebildeten<br />
und getöteten Frauen und<br />
Kindern lässt sich kein Frieden bauen<br />
– nicht im Irak, nicht in Afghanistan,<br />
nirgendwo.<br />
«Der Westen versinkt täglich immer<br />
tiefer im Sumpf der eigenen Politik.<br />
Nicht ein einziges Mal in den letzten<br />
200 Jahren hat ein muslimisches Land<br />
den Westen angegriffen. Die europä i-<br />
schen Großmächte und die USA waren<br />
immer die Aggressoren. Nicht die<br />
Gewalt tätigkeit der Muslime, sondern<br />
die Gewalttätigkeit des Westens ist das<br />
Problem unserer Zeit», sagt Jürgen<br />
Todenhöfer, der 18 Jahre lang Bun destags<br />
abgeordneter der CDU war, in seinem<br />
Buch Warum tötest Du, Zaid?<br />
In dieser Hinsicht hat sich auch unter<br />
dem neuen US-Präsidenten Barack<br />
Obama leider nichts geändert. Denn der<br />
hat ja offensichtlich gelogen, als er bei<br />
der Nobelpreisverleihung im November<br />
2009 sagte, dass er Amerikas Ver -<br />
pflichtung bestätigt, sich an die Genfer<br />
Konventionen zu halten. Die USA<br />
haben allein in den letzten sechs Jahrzehnten<br />
die Genfer Konventionen<br />
immer wieder und immer wieder<br />
gebrochen und mit Füßen getreten –<br />
be sonders in den letzten Jahren in<br />
Sachen Uranmunition.<br />
Darum müssen wir in Deutschland<br />
un seren Abgeordneten durch entsprechende<br />
Ansprache, Briefe, Emails und<br />
persönliche An sprache klar machen,<br />
welche Verantwortung sie tragen,<br />
wenn sie jetzt weitere deutsche Soldaten<br />
nach Afghanistan schicken. Wir<br />
müssen ihnen klar machen, dass sie die<br />
Verantwortung tragen, wenn diese Soldaten<br />
tot, verletzt, traumatisiert oder<br />
durch Uranwaffen kontaminiert nach<br />
Hause kommen.<br />
Wir müssen ihnen klar machen, dass<br />
wir solche Politiker zur Verantwortung<br />
ziehen werden, wenn diese Soldaten<br />
ei nes Tages wegen dieser Muni tion<br />
krank oder durch sie missgebildete<br />
Kin der geboren werden. Wir müssen<br />
ihnen klar machen, dass es um die Zu -<br />
kunft unserer Kinder und dieser Erde<br />
geht.<br />
Weiterlesen: Von Frieder Wagner<br />
ist im Mai in der Reihe<br />
<strong>COMPACT</strong> das Buch URAN-<br />
BOMBEN – Die verheim lichte<br />
Massenvernich tungswaffe<br />
erschienen. (s. Heft innenteil<br />
S. A4)<br />
Der Journalist und Filmemacher<br />
Frieder Wagner ist<br />
Jahrgang 1942. Seine Fernseharbeiten<br />
als freier Kameramann<br />
wurden schon<br />
früh mit dem Adolf-Grim me-<br />
Preis in Silber und Gold geehrt. Seit 1982 stellte er in Personalunion<br />
als Autor, Kameramann und Regisseur eigene, oft<br />
investigative Fernsehdo kumentationen für die ARD und das<br />
ZDF her.<br />
Sein für die WDR-Reihe Die Story gedrehte Dokumentation<br />
Der Arzt und die verstrahlten Kinder von Basra über die Folgen<br />
des Einsatzes der Uranmunition, erhielt 2004 auf der<br />
ÖKOMEDIA den Europäischen Fernsehpreis. Auf bau end auf<br />
diesem Film stellte er 2007 den frei produzierten Kino dokumentarfilm<br />
Deadly Dust – Todesstaub her. Dieser Film ist<br />
die wohl umfangreichste Dokumentation über das Kriegsverbrechen<br />
Uran munition.<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Politik<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Love Parade<br />
Death Parade<br />
Der Tod feierte eine Party – und niemand will Schuld haben. Dabei<br />
hatte es im Vorfeld Warnungen aus dem Polizeiapparat gegeben,<br />
aber das Spektakel musste stattfinden – um jeden Preis.<br />
Von Johannes Heckmann<br />
Die große Party führte zu einer großen<br />
Tragödie. Auf der diesjährigen Love<br />
Parade sind 21 Menschen getötet und<br />
hunderte verletzt worden. Nie zuvor<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg kamen<br />
bei einer Katastrophe im Land Nordrhein-Westfalen<br />
so viele Menschen ums<br />
Leben wie an diesem 24. Juli in Duisburg.<br />
Bis heute will sich keiner schuldig<br />
fühlen: der Oberbürgermeister<br />
nicht, der als Stadtoberhaupt Planung<br />
und Genehmigung abnickte; der Veranstalter<br />
nicht, der hinterher nahezu<br />
vollständig abtauchte; die Polizei nicht,<br />
deren oberster Dienstherr, der Innenminister,<br />
alle Vorwürfe bis dato weit<br />
von sich weist. Dabei hatte es im Vorfeld<br />
an Warnungen nicht gefehlt.<br />
Größte Bedenken hatte etwa<br />
ein Gruppenführer der Kölner Polizei,<br />
der an den Vorbereitungen in Duisburg<br />
beteiligt war: «Es gab zwölf bis<br />
13 Ortstermine in Duisburg. Auch andere<br />
Einsatzführer der Polizei aus<br />
Wuppertal oder Aachen waren dabei.<br />
Und jedes Mal waren wir uns einig,<br />
dass das geplante Konzept im Chaos<br />
enden wird, dass es Verletzte und Tote<br />
geben wird.»<br />
Im Express erhebt der Polizist schwere<br />
Vorwürfe: «Man hat unsere Bedenken<br />
ignoriert. Uns wurde immer wieder<br />
mitgeteilt, es werde nicht diskutiert.<br />
Im Rathaus stehe man auf dem Standpunkt:<br />
Die Love Parade muss funktionieren.<br />
Dabei haben wir ausge rechnet,<br />
dass sich bei einer Million Be su chern<br />
acht Menschen auf einen Quadratmeter<br />
zwängen.»<br />
Auch Wilfried Albishausen, Landesvorsitzender<br />
des Bundes deutscher Kriminalbeamter,<br />
wusste von Bedenken<br />
«wegen des kleinen Geländes und der<br />
engen Zu- und Abgänge (…). Darüber<br />
ist intern auch gesprochen worden. Die<br />
Bedenken wurden aber regelrecht<br />
weich gespült.» Im Vorfeld der Love<br />
Parade tagte insgesamt 16-mal die<br />
Arbeits gemeinschaft Sicherheit, an der<br />
auch die Bundespolizei und das Polizeipräsidium<br />
beteiligt waren. Die Polizei<br />
erklärte sich schließlich mit dem<br />
Sicherheitskonzept des Veranstalters<br />
einverstanden.<br />
Die Verantwortlichen bei der<br />
Polizei wussten offenbar, worauf sie<br />
sich einließen. So war Polizeidirektor<br />
Jörg Schalk klar, dass die «eigentliche<br />
Veranstaltungsfläche ab einer gewissen<br />
Besucherzahl überfüllt sein» und<br />
es «zu Rückstauungen auf den Wegführungen»<br />
kommen wird, was wiederum<br />
«zu einem nicht mehr funk tionierenden<br />
Wegekonzept» führe. Ge nau<br />
dieses Szenario trat später ein. Stau war<br />
offenbar genauso Teil des Konzepts wie<br />
die Schließung des Geländes bei<br />
Überfüllung.<br />
36<br />
37
<strong>COMPACT</strong><br />
Politik<br />
Das Sicherheitskonzept des Love<br />
Parade-Veranstalters Lopavent GmbH<br />
ging von insgesamt 485.000 Besuchern<br />
aus. Eine behördliche Geneh migung<br />
hatte sie für 250.000. Der im<br />
Sicherheits konzept enthaltenen Zuund<br />
Abstromanalyse zufolge wird die<br />
maximale Anzahl der Besucher nie<br />
über schritten. Für 17 Uhr wird darin<br />
mit Spitzenwerten von 90.000 Besuchern<br />
pro Stunde gerechnet, die durch<br />
die Tunnel auf das Gelände zugehen,<br />
und gleichzeitig mit 55.000 Personen,<br />
die den Festplatz verlassen.<br />
Ob dies gut gehen konnte, ist eine<br />
abstrakt-theoretische Frage. Die<br />
Meinun gen der Experten weichen weichen<br />
voneinander ab. Nach der Katastrophe<br />
steht Aussage gegen Aussage.<br />
Während «Panik forscher»<br />
Michael Schreckenberg das von ihm erstellte<br />
Sicherheitskonzept und damit<br />
sich selbst ve hement verteidigt, wird<br />
ein «Katas trophenforscher» namens<br />
Dirk Ober ha gemann zum öffentlichen<br />
Vertreter der Anklage. Es ist kein The -<br />
ma, dass er von einem Bundesministerium<br />
bezahlt wird und im Dienste<br />
der Politik stehen könnte. Laut Oberhagemann<br />
war der Tunnel als einziger<br />
Zu- und Ausgang für so einen Massenandrang<br />
«zweifelsohne absolut<br />
ungeeignet».<br />
Eine Veranstaltung dieser Größenordnung<br />
dürfe man nur mit einem Einbahnstraßensystem<br />
zulassen. Zu- und<br />
Abgang müssten auf jeden Fall von ein<br />
ander getrennt werden. «Ein Eingang<br />
und ein separater Ausgang – so und<br />
nicht anders.» Ein kurzer Blick auf das<br />
Duisburger Veranstaltungsgelände genügt<br />
dem Wissenschaftler, um festzustellen:<br />
«Der Tunnelbereich ist ein ganz<br />
sensibler Punkt. Mir war schnell klar,<br />
dass da was passieren wird.» Oberhagemann<br />
kennt kein Pardon: «Nur völlig<br />
Realitätsferne können ernsthaft gedacht<br />
haben, dass an dieser Stelle<br />
nichts passieren wird.» Deshalb kommt<br />
er zu dem eindeutigen Schluss: «Diese<br />
Veranstaltung hätte so nie und nimmer<br />
stattfinden dürfen.» Man habe sich<br />
«über sämtliche Sicherheitsbedenken<br />
hinweggesetzt.» Seine Bedenken waren<br />
freilich erst hinterher zu vernehmen.<br />
Der Einzige, der auch im Vorfeld<br />
seine Bedenken offensiv geäussert<br />
hatte, war der frühere Duisburger<br />
Polizeipräsident Rolf Cebin. Cebin hatte<br />
sich bereits 2009 we gen Sicherheitsbedenken<br />
heftig gegen die Austragung<br />
der Love Parade gewandt. Der Kreisvorsitzende<br />
der Duisburger CDU und<br />
Bun destagsabgeordnete Thomas Mahlberg<br />
hatte daraufhin in einem Schreiben<br />
an den damaligen NRW-Innenminister<br />
Ingo Wolf die Absetzung Cebins<br />
gefordert.<br />
Im Mai <strong>2010</strong> wurde Cebin in den Ruhe<br />
stand befördert, Detlef von Schmeling<br />
übernahm daraufhin den vakanten<br />
Posten des Polizeipräsidenten kommissarisch.<br />
Noch unter Cebins Führung<br />
ließ die Duisburger Polizei erklären,<br />
dass der Durchführung der Love Para -<br />
de «eklatante Sicherheitsmängel» entgegen<br />
stünden. Im Schreiben Mahlbergs<br />
Duisburg: Partystimmung vor der Katastrophe<br />
heißt es dazu: «Eine Negativ berichterstattung<br />
in der gesamten Re publik<br />
ist die Folge», deshalb solle In nenminister<br />
Wolf nun einen «personellen<br />
Neuanfang im Polizeipräsidium Duisburg»<br />
wagen.<br />
In Bochum war im Vorjahr die Love<br />
Parade auf Drängen des dortigen<br />
Polizeipräsidenten Thomas Wenner abgesagt<br />
worden, das sollte in Duisburg<br />
nicht passieren. Hat der örtliche CDU-<br />
Chef Mahlberg als Parteifreund von<br />
Oberbürgermeister Adolf Sauerland die<br />
Strippen gezogen, um einen mäch tigen<br />
Widersacher und potenziellen Spielverderber<br />
des Love Parade-Spektakels<br />
rechtzeitig aus dem Verkehr zu ziehen?<br />
Foto: Florian Peters<br />
Von Johannes Heckmann<br />
erscheint im Dezember<br />
<strong>2010</strong> in der<br />
Buchreihe <strong>COMPACT</strong> der<br />
Titel LOVE PARADE –<br />
DEATH PARADE. Ursachen<br />
und Verantwortliche<br />
eines töd lichen<br />
Kesseltreibens. (115<br />
Seiten, 8.80 Euro)<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Politik<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Freie Wahl zwischen Gold und Papiergeld: Ein malaysisches<br />
Bundesland sucht kleine Fluchten aus der weltweiten Krise<br />
des Finanzsystems.<br />
Die Dinar-Revolution von Kelantan<br />
Von Stefan Breuer<br />
Es erinnert ein bisschen an die alten<br />
Asterixhefte… ganz Gallien ist besetzt,<br />
aber ein kleines Dorf leistet noch Wider<br />
stand. So oder so ähnlich fühlt sich<br />
wohl zur Zeit die politische Lage in<br />
dem kleinen malaysischen Bundesland<br />
Kelantan an. Seit einigen Monaten<br />
sorgt die mutige Währungspolitik der<br />
dortigen Regierung für einiges Aufsehen.<br />
Der mutmaßliche Siegeszug des<br />
Kapitalismus in Asien könnte unter<br />
den Palmbäumen Malaysias empfindlich<br />
gestört werden.<br />
Im Hinterland des ehemaligen<br />
«Tiger staates» hat die erste Regierung<br />
der Welt genug vom Papiergeld-<br />
Tsunami. Die Ankündigung, eine Gold -<br />
währung, den so genannten Dinar und<br />
Dirham, als neue Barter-Währung<br />
(Tausch währung) des Landes einzuführen,<br />
hat schnell für weltweites Aufsehen<br />
ge sorgt. Sogar die ehrwürdige<br />
Financial Times bespricht staunend das<br />
verwegene Projekt. Während Europa<br />
noch einigermaßen gelähmt nach<br />
einem Ausweg aus dem irratio nalen<br />
Finanzdilemma dieser Tage sucht, de<br />
facto aber nur immer mehr Geld<br />
druckt, handeln die Bürger und Bürgerinnen<br />
Kelantans bereits mit einer<br />
echten Alternative.<br />
Die Sensationen sind schnell erzählt:<br />
Inmitten der historischen Finanzkrise<br />
und der größten Papiergeldschwemme<br />
der Menschheitsgeschichte besinnt sich<br />
das muslimische Land mit seinen<br />
knapp zwei Millionen Einwohnern auf<br />
ein altes, anti-inflationäres Gegenmittel.<br />
Die Regierung hat erstmals offiziell<br />
wieder eine Reihe unterschiedlicher<br />
Gewichte von Silber und Gold in Münzen<br />
prägen lassen.<br />
«Land des Dinar und Dirham»,<br />
heißt es nun auf großen Tafeln zur Be -<br />
grüßung der staunenden Gäste am<br />
Flug hafen der Hauptstadt Kota Bharu.<br />
Die neue Währung ist keine Kopfgeburt,<br />
sondern hat eine lange Tradition<br />
in der islamischen Lebens- und Wirtschaftsweise<br />
und könnte auf Dauer in<br />
der Region ein finanzpoli tisches Erdbeben<br />
auslösen. Auf dem «mul tikul -<br />
turellen» Marktplatz der Stadt wird<br />
bereits grenzenlos gehandelt, egal ob<br />
Chinese, Malaie oder sonst wer, das<br />
neue Geld kommt bei allen gut an. Die<br />
staatliche Kelantan Golden Trade Agency<br />
konnte nach nur zwei Wochen vermel -<br />
den, dass ihre Bestände an dem neuen<br />
Tauschmittel bereits verkauft sind.<br />
Die Politiker selbst sehen im Gold-<br />
Dinar nicht nur eine Rückbindung an<br />
die islamischen, in Europa kaum bekann -<br />
ten Grundüberzeugungen der Öko nomie,<br />
sondern auch ein taug liches Mittel<br />
für die Gestaltung der wirtschaftlichen<br />
Zukunft des Landes. Ihr Vorhaben ist<br />
bei ihren Wählern natürlich ziemlich<br />
populär, hat die Maßnahme doch das<br />
erkennbar ehrliche Ziel, die eigene<br />
Bevölkerung in Zeiten der Finanzkrise<br />
Die neuen Dinare sind da: Feierliche Zeremonie in Kota Bharu<br />
besser zu schützen. Die Argumente für<br />
einen Einstieg in die Goldwirtschaft<br />
sprechen für sich – jeder, der eine Goldmünze<br />
besitzt, kann dies an der stetig<br />
positiven Wertentwicklung der letzten<br />
Jahre ablesen.<br />
Es ist die absehbare Entwertung aller<br />
Papiergeldwährungen der Welt, die<br />
nun die lokalen Politiker zu noch<br />
schnellerem Handeln drängt. Schaut<br />
man genauer hin, wird man feststellen,<br />
dass es bei der Finanzstrategie der<br />
Regierung weiß Gott nicht nur um<br />
rück wärts gewandte Romantik geht.<br />
Auch aus der Moderne will keiner<br />
flüchten. Im Gegenteil, endlich zeigen<br />
Muslime auch einmal ihre innovative<br />
Seite. Die Grundidee dabei ist nichts<br />
Anderes als ökonomische Freiheit. Die<br />
Strategie setzt auf die zeitlose Wirksamkeit<br />
des originär islamischen Finanzmodells:<br />
freier Markt und freies<br />
Geld.<br />
38<br />
39
<strong>COMPACT</strong><br />
Politik<br />
Auch die politischen Ansprüche<br />
sind nicht gerade bescheiden. Die<br />
Befreiung der Marktkräfte soll sich am<br />
Ende gegen Monopole und Zwangsgeld<br />
gleichermaßen richten. Die Umsetzung<br />
des Finanzplanes ist dabei so<br />
revolutionär wie einfach. Ab sofort<br />
kön nen Staatsbedienstete, wenn sie<br />
denn wollen, ein Viertel ihres Lohnes<br />
in Gold und Silber, also in Dinar und<br />
Dirham, empfangen und auch ihre<br />
monatlichen Wasser- und Stromrechnungen<br />
damit bezahlen.<br />
Aber auch die Zakat, eine für Musli<br />
me verbindliche Abgabe auf das in<br />
einem Jahr angesammelte Vermögen,<br />
wird nun in Gold bezahlt. Der Grund<br />
ist ziemlich einfach: Diese Abgabe kann<br />
man nach islamischem Recht nur in<br />
realen Werten und nicht etwa mit wertlosem<br />
Papiergeld entrichten. Auch die -<br />
se religiöse Pflicht birgt nebenbei ein<br />
enormes Potenzial für die wiederbelebte<br />
Gold-Silber-Ökonomie.<br />
Der erste Geschäftsmann hat bereits<br />
auf der offiziellen Vorstellung des Kelantan-Dinars<br />
damit seine Verpflichtung<br />
erfüllt. Man muss das diesbezügliche<br />
Potenzial nur grob überschla -<br />
gen, um zu ahnen, was es heißt, wenn<br />
Millionen Muslime in Asien ihre Zakat<br />
künftig wieder mit Gold und Silber<br />
bezah len werden.<br />
Der wohl wichtigste Schauplatz für<br />
das Tauschmittel ist aber, so der spanische<br />
Muslim und Finanzberater der<br />
Regierung, Umar Vadillo, schlicht der<br />
Marktplatz der Stadt. Ab sofort werden<br />
dort die Umrechnungskurse auf<br />
digitalen Tafeln öffentlich angezeigt.<br />
Die Begeisterung auf dem Markt von<br />
Kota Bharu ist riesig – beinahe 1.000<br />
Shops haben bereits die Annahme des<br />
Dinars angekündigt. «Es geht uns in<br />
Kelantan nicht etwa um das Horten<br />
von Gold, sondern um die aktive Zirkulation»,<br />
erklärt Vadillo das Prinzip.<br />
Mit moderner Technik steht man dabei<br />
nicht auf Kriegsfuß. Die Dinar-Ökonomie<br />
operiert bereits mit ausgeklügelten<br />
technischen Hilfsmitteln wie<br />
Debit-Karten, SMS-Funktionen oder e-<br />
payment-Systemen und ist so absolut<br />
zeitgemäß.<br />
In Malaysia hat jedenfalls ein wei -<br />
teres, spannendes Kapitel der Währungsdebatte<br />
begonnen. Das Thema<br />
wird hier nicht zufällig heiß debattiert.<br />
Seit der ehemalige Premier des Landes,<br />
Dr. Mahathir, nach den aggres siven<br />
Währungs spekulationen der 90er Jahre<br />
als eine Konsequenz den «Gold-Dinar»<br />
forderte, ist in Kuala Lumpur das The -<br />
ma «Gold» fester Bestandteil der innenpolitischen<br />
Debatten.<br />
Mahathirs Plan war zunächst nur<br />
die Einführung des Gold-Dinars für<br />
den Aussenhandel des Landes ge wesen.<br />
Bereits diese geplante Maßnahme<br />
der Politik hatte aber die malaysische<br />
Nationalbank alarmiert. Es folgte, bis<br />
heute, ein jahrelanger Machtkampf um<br />
die Einführung. Die Nationalbank<br />
fürch tete schon damals, dass schon die<br />
«theoretische» Einführung des Dinars<br />
auf Dauer die Nationalwährung aushebeln<br />
könnte.<br />
Mahathir musste später kleinlaut eingestehen,<br />
dass er in seiner Amtszeit<br />
gegen die Nationalbank nichts ausrichten<br />
konnte.<br />
Politik, Banken und Parteien mögen<br />
sich nun weiter echauffieren, aber am
Politik<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Frauen als vorrangige Zielgruppe: Verbraucher werden ihr Papiergeld los<br />
Ende werden es wohl die Konsumenten<br />
selbst sein, die mit ihrer Marktmacht<br />
den Streit ums richtige Geld<br />
entscheiden werden. Viele Malaien<br />
sehen längst in der freien Wahl des<br />
Geldes ein entscheidendes Freiheitsrecht,<br />
genauso wichtig wie beispielsweise<br />
die Meinungsfreiheit. In zahlreichen<br />
Inter netforen und Zeitungen<br />
wird bereits munter diskutiert und erstaunlich<br />
sachlich die verschiedenen<br />
Glaubensüberzeugungen zum Thema<br />
Dinar präsentiert.<br />
Der Tenor der Pro-Dinar Fraktion,<br />
natürlich in Anspielung auf die wachsende<br />
Inflation, ist dabei so basisdemokratisch<br />
wie entwaffnend einfach<br />
gehalten: «Behaltet ihr doch einfach<br />
das Papiergeld, wir behalten unser<br />
Gold!»<br />
Darf man aber eigentlich<br />
einfach Münzen prägen? Offiziell dreht<br />
sich die Debatte in Malaysia auch um<br />
die Frage, ob das Bundesland – so argu<br />
mentiert zumindest die Nationalbank<br />
– seine rechtlichen Kompetenzen<br />
überschritten hat. Die Debatte ist juris -<br />
tisch durchaus komplex, denn Kelantan<br />
hatte ja gar nie behauptet, dass der<br />
Dinar eine offizielle Währung («Legal<br />
Tender») Malaysias sei.<br />
Es handelt sich auch um kein staatliches<br />
Zwangsgeld, ist die Nutzung des<br />
Dinars doch grundsätzlich freiwillig.<br />
Im Gegensatz zum südafrikanischen<br />
Krüger-Rand muss man auch des wegen<br />
für den Kelantan-Dinar in weiten<br />
Teilen der Welt Mehrwertsteuer bezahlen.<br />
Es ist aber wohl nur eine Frage der<br />
Zeit, bis ein islamisches Land endlich<br />
den Di nar als «Legal Tender» akzeptiert.<br />
Dann könnte die Goldwährung<br />
auch in anderen Ländern einziehen<br />
und das liberale Wirtschaftsrecht des<br />
Islam noch bekannter machen.<br />
Islamische Geldpolitik ist<br />
noch immer erstaunlich zeitgemäß,<br />
definiert aber auch «Geld» anders, als<br />
wir es heute in Europa gewohnt sind.<br />
Der schon im Koran erwähnte «Dinar»<br />
ist wegen seiner eigenen Geschichte,<br />
die bis zu Beginn des Islam zurückreicht,<br />
für Muslime keine bloße Alter -<br />
nativwährung oder überhaupt eine<br />
Währung im modernen Sinne.<br />
Der Dinar entzieht sich so ein Stück<br />
weit der gewohnten westlichen Ter mi -<br />
nologie. Geld wird bei den frommen<br />
Muslimen natürlich weder angebetet,<br />
noch sonst wie überhöht und ist damit<br />
eine betont rationale und nüchterne<br />
Sache. Die Münzen sind nach islamischem<br />
Recht nur ein Gewicht und<br />
mit anderen Gütern wie Reis vergleichbar.<br />
Im Gegensatz zu modernen<br />
Monopol-Währungen besteht übrigens<br />
auf dem islamischen Markt niemals<br />
ein Zwang, «nur» den Dinar zu<br />
benutzen.<br />
In Kelantan zeigt man sich von der<br />
Kritik an der alternativen Ökonomie<br />
unbeeindruckt. Datuk Husam Musa,<br />
Vorsitzender des staatlichen Planungskom<br />
mitees für Finanzen und Wirtschaft,<br />
bleibt angesichts der anschwellenden<br />
Debatte betont gelassen: «Ver schiedene<br />
Berichte, wonach der Dinar zum zweiten<br />
Zahlungsmittel Kelan tans werden<br />
soll, sind inkorrekt und haben Verwirrung<br />
gestiftet. Ich kann nicht erken -<br />
nen, warum diese Frage aufgeblasen<br />
wird, nachdem Kelantan den Gebrauch<br />
des Dinars eingeführt hatte. Es gibt den<br />
Dinar ja im Islam von Beginn an», sagte<br />
er gegenüber Medienvertretern. «Warum»<br />
so fragt Husam Musa lächelnd,<br />
«sollte das nun gerade heute in einem<br />
islamischen Land nicht mehr möglich<br />
sein?»<br />
Stefan Breuer lebt als Finanzberater in Djakarta<br />
und Frankfurt/Main.<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong><br />
40<br />
41
<strong>COMPACT</strong><br />
Politik<br />
D E R A N L A G E T I P P D E S E X P E R T E N<br />
Gold und Silber bieten Schutz<br />
Von Walter K. Eichelburg<br />
Wie die Leser sicher bereits gemerkt<br />
haben, wäre der Euro im Mai <strong>2010</strong><br />
wegen der Griechenland-Pleite fast<br />
untergegangen und konnte nur durch<br />
ein Riesen-«Rettungspaket», zu dem<br />
man Deutschland brutal gepresst hat,<br />
noch für einige Zeit gerettet werden.<br />
Im September 2008 haben überall die<br />
Bank-Runs eingesetzt, was von der<br />
Politik mit der «Garantie aller Sparein<br />
lagen» noch einmal abgewendet<br />
werden konnte.<br />
Zitat vom ehemaligen Deutschland-<br />
Chef von Mc Kinsey, Jürgen Kluge: «Die<br />
letzte Krise konnte gerade noch beherrscht<br />
werden. Die nächste wird<br />
nicht mehr beherrscht werden kön -<br />
nen!» In den USA sieht es nicht besser<br />
aus, dort versucht man über massives<br />
Gelddrucken, die Wirtschaft an zukurbeln.<br />
Das führt unweigerlich in die<br />
Hyperinflation, die es nach dem Ers -<br />
ten Weltkrieg in Deutschland und<br />
Österreich bereits gegeben hat. Die<br />
Sparer verloren alles.<br />
Die Wertsteigerung von Gold und Silber<br />
über die letzten <strong>12</strong> Monate ist beträchtlich.<br />
Gold gewann gegenüber<br />
dem Dollar 29,43 Prozent, gegenüber<br />
dem Euro 37,82 Prozent. Silber legte<br />
noch mehr zu: gegenüber dem Dollar<br />
46,72 Prozent, gegenüber dem Euro<br />
55,97 Prozent.<br />
Dagegen bieten Spareinlagen derzeit<br />
nur ein Prozent und deutsche Staatsanleihen<br />
2,5 Prozent im Jahr!!! Kein<br />
Wunder, dass das «Smart Money»<br />
bereits aus Geld und Wertpapieren<br />
flüchtet, und in Gold, Agrarland, Wald<br />
geht. Wenn es die Masse auch versucht,<br />
ist es zu spät. Das wird bald<br />
kommen: mit Crash und Währungsreform<br />
wie 1948 – und dem Verlust<br />
der Geldanlagen für viele.<br />
2008 konnte man einen richtigen<br />
Crash noch verhindern, jetzt nicht<br />
mehr. Also sorgen Sie vor.<br />
Walter K. Eichelburg betreibt die Gold- und Krisen website<br />
www.hartgeld.com, mit über drei Millio nen Besuchern pro<br />
Monat die meistgelesene im deutschsprachigen Raum.
Politik<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Das Zentralbankmonster frisst Staat und Bürger pleite: Mit der<br />
Reform der EU-Verträge hat die Bundeskanzlerin die letzten<br />
Sicherungen unserer Euro-Währung herausgeschraubt.<br />
Hayek contra Merkel<br />
Von Oliver Janich<br />
Noch <strong>2010</strong> wird die vorerst letzte Währungsreform<br />
dieses Jahres stattfinden.<br />
Eine nahezu unglaubliche Folge an of -<br />
enen Rechtsbrüchen wird ihren vorläufigen<br />
Höhepunkt finden. Weil An -<br />
ge la Merkel befürchtet, im Frühjahr 2011<br />
das im Mai <strong>2010</strong> beschlossene Euro-<br />
Rettungspaket juristisch um die Ohren<br />
gehauen zu bekommen, setzte sie Ende<br />
Ok tober in Brüssel eine nachträgliche<br />
Än derung des Lissabon-Vertrags durch.<br />
Die ande ren EU-Länder wollten das bis<br />
2013 begrenzte Rettungspaket lediglich<br />
verlängern. Aus Angst vor dem eigent -<br />
lich regierungstreuen Verfassungs gericht<br />
soll zur Sicherheit jetzt Artikel <strong>12</strong>2<br />
geändert werden. Dieser Artikel verspricht<br />
EU-Ländern finanziellen Beistand<br />
bei Naturkatastrophen und au -<br />
ßer gewöhnlichen Ereignissen. Dieser<br />
Beistand soll künftig auch möglich<br />
sein, wenn die «Stabilität der Währungs<br />
union als Ganzes» bedroht ist.<br />
Damit wird das Rettungspaket ins Unendliche<br />
verlängert. Deutschland, das<br />
für alle Länder einstehen muss, ist damit<br />
de facto pleite und seine derzeitige<br />
Währung nichts mehr wert.<br />
Das sollten Sie sich einmal auf der<br />
Zun ge zergehen lassen: Die EU betrach<br />
tet jetzt die Bedrohung der Währungs<br />
union als Naturkatastrophe, also<br />
ein unvorhersehbares Ereignis! Ein<br />
Gutes hat die Sache aber doch. Endlich<br />
finden die Mahner Gehör, die sowohl<br />
die jetzi ge als auch die 1929er Finanzkrise<br />
vor ausgesagt haben: Die Vertreter<br />
der Ös terreichischen Schule.<br />
«Kennen Sie Hayek? Dann<br />
wissen Sie doch, dass die wahre Ur sache<br />
der Finanzkrise das planwirtschaft -<br />
liche Geldmonopol der Zentralbanken<br />
und die Geldschöpfung aus dem<br />
Nichts ist, oder?» Mit dieser Frage brin -<br />
ge ich landauf, landab, Ökonomen,<br />
Politiker und Vertreter von Großbanken<br />
in Verlegenheit. Auf einer Podiumsdiskussion<br />
der Bertelsmann-Stiftung<br />
Ende Okto ber in Berlin nickte mir<br />
auf diese Frage hin plötzlich eine britische<br />
Abgeordnete zu und bestätigte<br />
später im kleinen Kreis meine Ansicht.<br />
And guess what: Es handelte sich um<br />
Gisela Stuart, Redakteurin des Parlamentsmagazins<br />
und Labour-Abgeordnete!<br />
Ähnliche Erfahrungen gab es bei<br />
der European Business School und der<br />
London School of Economics: Erst verschäm<br />
tes Schweigen, im kleinem Kreis<br />
dann Zustimmung.<br />
Friedrich August von Hayek ist der promi<br />
nenteste Vertreter der so genannten<br />
Österreichischen Schule der Ökonomie.<br />
Bereits 19<strong>12</strong>, ein Jahr vor der<br />
verhängnisvollen Gründung der US-<br />
Notenbank FED, verfasste Ludwig von<br />
Mises die Theorie des Geldes und der Umlaufmittel.<br />
Sie enthält bereits alles, was<br />
unsere heutige Finanzkrise erklärt:<br />
Der ständige Versuch einer zentralen<br />
Planstelle, den richtigen Zins und die<br />
korrekte Geldmenge herauszufinden,<br />
muss scheitern, weil die Planungs behörde<br />
nicht genügend Informationen<br />
über die vielen Millionen Markt -<br />
teilnehmer hat. An diesem simplen<br />
Prob lem ist schon der Kommunismus<br />
gescheitert.<br />
Ironischerweise wird die Finanzkrise<br />
jetzt dem Kapitalismus angelastet, ob -<br />
wohl der Geldmarkt durch ein staat liches<br />
Monopol sozialistisch gesteuert<br />
wird. Dabei spielt es keine Rolle, wie<br />
von manch Linken angenom men, ob<br />
die Zentralbank in privatem Besitz ist<br />
wie in den USA oder in öffent licher<br />
Hand wie in Europa. Entscheidend ist,<br />
dass der Staat einer einzigen Institution<br />
das Monopol zur Geldproduktion<br />
überlässt.<br />
Hinzu kommt, dass der Staat und<br />
die Zentralbank es den Geschäftsbanken<br />
ermöglichen, Geld aus dem Nichts<br />
zu erschaffen. Wenn ein Kunde 100<br />
Euro zur Bank bringt, muss das Institut<br />
nur zehn Euro bei der Zentralbank<br />
hinterlegen und kann 90 Euro weiter<br />
verleihen. Ein Unternehmer bekommt<br />
dann beispielsweise diese 90 Euro und<br />
kauft damit Waren, beispielsweise<br />
Stahl, beim Vorlieferanten ein. Kann<br />
der Unternehmer die Autos, die er damit<br />
baut, nicht verkaufen, bekommt<br />
die Bank ihr Geld nicht zurück. Aber<br />
sowohl der Anleger hat noch Anspruch<br />
auf 100 Euro bei seiner Bank, wie auch<br />
der Liefe rant berechtigt ist, 90 Euro<br />
abzu heben. Die Geldmenge hat sich<br />
knapp verdoppelt, obwohl dem keine<br />
realen Ersparnisse oder die Produktion<br />
von Waren zugrunde liegen.<br />
Dieser Mechanismus führt zur<br />
Inflation und zur Verarmung gerade<br />
der Schwächsten in einer Gesellschaft.<br />
Es findet eine Umverteilung von Unten<br />
nach Oben statt. Die Erstempfänger des<br />
neu geschöpften Geldes, der Staat und<br />
die Banken, können noch zu alten Preisen<br />
einkaufen. Deshalb ist das Mietund<br />
Gehaltsniveau in Bankenzentren<br />
wie New York, London oder Frankfurt<br />
höher. Große Konzerne mit Marktmacht<br />
profitieren auch.<br />
Sie erhöhen erst die Preise und dann<br />
die Gehälter. Superreiche erkennen den<br />
Mechanismus und kaufen Sachwerte<br />
wie Aktien, Rohstoffe und Immobilien.<br />
Nur der kleine Mann schaut in die<br />
Röhre. Ohne die staatlich gewollte Vermeh<br />
rung des Papiergeldes würden<br />
alle, vor allem Bezieher fester Einkom -<br />
men wie Arbeitnehmer und Transferempfänger,<br />
vom technischen Fortschritt<br />
profitieren.<br />
Oliver Janich machte<br />
durch seine 9/11-Dossiers<br />
in der Zeitschrift<br />
Focus Money Furore –<br />
bis seine Mitarbeit im<br />
Oktober storniert wurde.<br />
Er gründete 2009 die<br />
Partei der Vernunft und<br />
hat vor kurzem das Buch<br />
Das Kapitalismus-Komplott.<br />
Die geheimen Zirkel<br />
der Macht und ihre<br />
Methoden veröffentlicht.<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong><br />
42<br />
43
<strong>COMPACT</strong><br />
Politik<br />
Eine Expertise der Schweizer Großbank UBS über das mögliche<br />
Auseinanderbrechen der Euro-Zone. Die Rückkehr zur D-Mark könnte<br />
demnach Vorteile haben – nicht nur für die Deutschen.<br />
O-Ton:«Das Undenkbare denken»<br />
«Ein Auseinanderbrechen der<br />
Euro päischen Währungsunion<br />
(EWU) wäre zweifellos ein großer<br />
Rückschlag. Kanz lerin Angela Merkel<br />
sagte vor dem Bundestag: «Es ist<br />
eine Frage des Überlebens. Der Euro<br />
ist in Gefahr. Scheitert der Euro, dann<br />
scheitert Europa. Wenn wir Erfolg haben,<br />
wird Europa stärker als zuvor<br />
sein.» Wir stimmen dieser Einschätzung<br />
nicht zu. Die Europäische Union<br />
bestand lange vor dem Euro, und der<br />
Euro ist für den Erfolg der EU nicht<br />
ausschlaggebend.<br />
Es ist grundsätzlich noch zu früh, um<br />
ein solches Urteil abzugeben, aber es<br />
wäre gut möglich, dass sich der Euro<br />
kens werte an dieser Stellungnahme ist<br />
nicht nur, dass die deutsche Regierung<br />
darin einen geordneten Austritt aus der<br />
Union befürwortet, sondern auch, dass<br />
sie andeutet, dass ein solcher Austritt<br />
auch unfreiwillig zustande kommen<br />
könnte, wenn ein Land bestimmte Bedingungen<br />
nicht erfülen kann. (…)<br />
Es wäre vorstellbar, dass ein oder<br />
mehrere hoch verschuldete Peri pherieländer<br />
aus der EWU ausscheiden. Die<br />
Beweggründe hinter einem solchen<br />
Schritt könnten unserer Meinung nach<br />
darin bestehen, dem Zwang zur Wiederherstellung<br />
der Wettbewerbs fä higkeit<br />
– durch den schmerzhaften Prozess<br />
Darüber hinaus würde die Einführung<br />
einer neuen deutschen Währung die<br />
Staatsverschuldung reduzieren (…).<br />
in seiner derzeitigen Zusammen setzung<br />
als Hindernis für die Integration<br />
erweist. Wie eingangs festgestellt,<br />
wurde der Euro aus politischen Grün -<br />
den und mit einer fragwürdigen wirtschaftlichen<br />
Begründung eingefuḧrt.<br />
Wenn sich herausstellt, dass er nicht<br />
funktioniert, sollte die EWU keine<br />
Skrupel haben, die Mitgliedschaft neu<br />
zu gestalten, um sie besser an die wirtschaftliche<br />
Realität anzupassen. (…)<br />
Deutschland steht im Zentrum des<br />
Euroraumes, und wenn die deutschen<br />
Regierungsvertreter die Zukunft des<br />
Euro offen diskutieren, so markiert dies<br />
eine bedeutende Wende. Der Finanzminister<br />
erläuterte vor kurzem klar die<br />
Haltung der deutschen Regierung bezüglich<br />
eines Austritts aus der EWU:<br />
«… sollte ein Mitglied der Eurozone<br />
letztlich feststellen, dass es nicht in der<br />
Lage ist, seinen Haushalt zu konso lidieren<br />
oder seine Wettbewerbsfä higkeit<br />
wiederherzustellen, könnte dieses<br />
Land im schlimmsten Fall aus der<br />
Währungsunion ausscheiden, aber<br />
Mitglied der EU bleiben». Das Bemereiner<br />
fortgesetzten realen Abwer tung<br />
durch höhere Steuern, Kürzungen der<br />
Staatsausgaben und niedrigere Löhne<br />
– zu entgehen. Stattdessen würden<br />
diese Länder danach streben, die Euro -<br />
zone zu verlassen, um ihren Wechselkurs<br />
abzuwerten und dadurch die<br />
Wett bewerbsfähigkeit auf rasche und<br />
relativ schmerzlose Weise wiederherzustellen.<br />
(…)<br />
Eine zweite Option wäre ein Auseinanderbrechen<br />
der EWU infolge des<br />
Ausscheidens eines oder mehrerer der<br />
finanzstärkeren Länder aus der Union.<br />
Wenn der gewählte Kurs «Sparmaßnahmen<br />
und reale Abwertung» (…)<br />
keinen Erfolg zeitigt, könnte dies die<br />
fiskalische Koordinierung oder Födera<br />
tion wieder auf die Tagesordnung<br />
bringen und ganz allgemein die Verpflichtung<br />
der Kernländer zur Finanzie<br />
rung der Peripherieländer erhöhen.<br />
Aus diesem Grund könnten sich ein<br />
oder mehrere Kernländer für einen<br />
Aus tritt aus der Eurozone entscheiden.<br />
Das Land, das möglicherweise unter<br />
solchen Umständen aus der EWU aus-<br />
scheiden würde, wäre Deutschland.<br />
Eine neue deutsche Währung würde<br />
gegenüber dem verbleibenden Euro<br />
deutlich aufwerten. Das heißt, dass die<br />
Preiswettbewerbsfähigkeit der deutschen<br />
Exporteure stark zurückgehen<br />
wür de. Daher würde die deutsche<br />
Wirt schaft zunächst unter einem solchen<br />
Schritt vermutlich stark leiden.<br />
Längerfristig würde dies jedoch zu einer<br />
begrüßenswerten Umorientierung<br />
der deutschen Wirtschaft vom bisherigen<br />
Exportfokus auf die Binnensektoren<br />
fuḧren. Damit könnten die Deutschen,<br />
die bisher nur wenig von der<br />
Exportstärke ihres Landes profitiert haben,<br />
einen höheren Anteil dessen genießen,<br />
was sie produzieren. Darüber<br />
hinaus würde die Einfuḧrung einer<br />
neuen deutschen Währung die Staatsverschuldung<br />
reduzieren, wenn alte<br />
Verträge weiterhin auf den wohl möglich<br />
schwächeren, aber vermutlich sta -<br />
bileren Euro lauten würden.<br />
Ein Ausstieg Deutschlands hätte auch<br />
für die anderen Länder der Eurozone<br />
Vorteile. (…) Die Bestrebungen Deutschlands<br />
zur Verbesserung seiner externen<br />
Preiswettbewerbsfähigkeit zwingt den<br />
übrigen EWU-Mitgliedsländern eine<br />
deflationäre Tendenz auf. Sie können<br />
entweder versuchen, das deutsche Modell<br />
nachzuahmen oder laufen<br />
»<br />
Gefahr, grosse Defizite in ihren<br />
Leistungsbilanzen anzuhäufen.<br />
Quelle: UBS Research focus,<br />
Die Zukunft des Euro, August<br />
<strong>2010</strong><br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Leben<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Wie das Ausatmen der Zeit zwischen zwei Kriegen<br />
Unterwegs im afghanischen Oxanien. Die Sonne hat jetzt am Horizont nur noch<br />
einen orangegrauen Schimmer hinter lassen. Die Kamele traben in den nachtschwarzen<br />
Winkel des Himmels, der Hirte hält sich an die lichteren Zonen.<br />
Von Roger Willemsen<br />
Der Autor mit Kindern in Afghanistan<br />
Jetzt kommt die Nacht mit einem Schweigen nieder, das<br />
auch die Hunde dämpft und das Blöken der Kamele wattiert,<br />
deren Hufe auf dem federnden Boden keinen Abdruck<br />
und keinen Laut hinterlassen. Der Neumond kommt<br />
heraus, und Nadia sagt:<br />
«Am ersten Tag des Neumonds in der Steppe, da küsst<br />
man sich die Fingerspitzen und wünscht sich was.»<br />
Wir tun es.<br />
Am nächsten Tag erreichen wir nicht weit vor<br />
dem Ende der Straße einen heruntergekommenen Posten,<br />
wo ein Grenzsoldat bei einer Hütte wartet. Es ist ein Lädchen<br />
dabei, am Geländer lehnt ein langbärtiger Verwahrloster,<br />
vielleicht ein hängengebliebener Hippie, vielleicht<br />
ein Sufi, oder ein Gestörter. Ringsum Kriegsschrott zwischen<br />
den Hütten, rostiges Gerät auf den Feldern, ein blinder,<br />
perspektivloser Flecken rund um einen Schlagbaum<br />
mit ein paar Gestrandeten, Vergessenen.<br />
Die Straße endet vor einem Gatter, das wir<br />
passieren dürfen, um die Hafenanlage zu betreten, besser,<br />
den Schrottfriedhof, der sich da ausdehnt, wo ehemals<br />
ein aktiver Hafen gewesen sein muss. Was die Zerstörungen<br />
des Krieges zurückgelassen haben, was aus der Gegend<br />
an rostigem Metall eingesammelt wurde, türmt sich zwischen<br />
Lagerhäusern, Laderampen und einer monströsen<br />
Kran-Anlage. Über dem Brackwasser des trägen Flusses<br />
erhebt sie sich mit der opernhaften Dramatik, die frühere<br />
Zeiten in den ersten großen Maschinen der Industriellen<br />
Revolution erkannten. Wie ein Bühnenbild von Visconti,<br />
übertragen in die Welt der Maschinenpoesie, wirkt das,<br />
wie ein erhaben seinem Verfall entgegenrostendes Sinnbild<br />
hundertjähriger Technik. Und der Arm dieses Krans<br />
gestikuliert so blind über den Fluss, hinüber nach Tad schikistan,<br />
als sei er in dieser Pose erstarrt.<br />
Der Amu-Darja ist grau von der Tonerde,<br />
die er mitschwemmt. Er scheint sich seiner Umgebung angepasst<br />
zu haben. Versandet sind seine Ufer, das Wasser<br />
kommt oberflächlich behäbig, aber mit reißender Unterströmung<br />
daher, die sich nur manchmal durch Schlieren<br />
verrät. Vor nicht langer Zeit wollte ein Reiter auf seinem<br />
Pferd das rettende Ufer von Tadschikistan erreichen. Sie<br />
kämpften heroisch, sagen die Einheimischen, und ertranken<br />
beide.<br />
Breite Schlickstreifen bleiben liegen, wo<br />
sich das Wasser zurückgezogen hat, durchschossen von<br />
Prielen und brüchigen Gräben. Stromaufwärts liegt die<br />
kleine Behelfs fähre, die nach Bedarf die Ufer wechselt.<br />
Drüben in Transoxanien, so die Reisenden, beginne eine<br />
andere Welt, erkennbar am Grün der Landschaft, an den<br />
aufragenden Schornsteinen. Von russischer Seite betrieb<br />
man hier sogar einen Raddampfer, während die Afgha-<br />
44<br />
45
<strong>COMPACT</strong><br />
Leben<br />
nen Segelboote nutzten, mit denen sie selbst den Aralsee<br />
erreichen konnten.<br />
Als wir eintreffen, hat die Fähre gerade in Tadschi -<br />
kistan festgemacht, zwischen ein paar glanzlosen Industriehallen<br />
und Containern, in denen sich der Geist der<br />
afghanischen Seite fortsetzt: posthume Landschaft, Landschaft<br />
nach dem Abzug allen Geschehens, zurückgeblieben<br />
als Statthalter einer abwesenden Geschichte. Doch<br />
kaum schwenkt der Blick ostwärts, ist die Steppe wieder<br />
da, die gelbgrüne, sich in schmuckloser Weite verlaufende<br />
Steppe.<br />
Es bräuchte nichts, um diesen Wirrwarr aus<br />
Dreck, Ruinen und Kriegsschrott zu beleben. Als wüsste<br />
er das, kommt plötzlich ein Alter auf Krücken über die Hafenmauer.<br />
Sein Kartoffelgesicht blökt witternd in den staubgrauen<br />
Himmel. Sofort fliegen Vögel schreiend auf, schreien<br />
Kinder gleichzeitig in der Ferne. Dann ist nichts: Nur das<br />
Klappern eines Metallteils im Wind. Ein Luftzug trägt Stimmen<br />
herüber, auch die Vögel, die im Kran nisten, geben<br />
ein paar lustlose Geräusche von sich, so kratzig, dass sie<br />
kaum mehr nach Vögeln klingen. Schritte entfernen sich<br />
im Kies. Einer unserer Begleiter hat auf dem Schlick seinen<br />
Gebetsteppich ausgebreitet und absolviert seine Andacht<br />
mit nach innen gewandten Augen. Eine Feiertagsstille liegt<br />
plötzlich über dem Ort, unwirklich, wie das Ausatmen der<br />
Zeit zwischen zwei Kriegen.<br />
Jetzt wandert unsere kleine Gruppe vorsich -<br />
tig zum Wasser. Der Platz ist so verlassen und ohne Spuren,<br />
als habe das seit Jahren niemand mehr getan. Nichts ist<br />
schön hier, aber alles so verdichtet, als seien Steinplatten<br />
und rostiges Gerät, Büsche und Wildkräuter, Abfall und<br />
Hinterlassenschaften in diese ausgetüftelte Konstellation<br />
getreten, um so vollendet fahl zu wirken.<br />
Unter den anziehenden Unorten, die ich gese<br />
hen habe, besitzt dieser besondere Wirkung. Geh weg,<br />
sagt er, hier ist nichts, kehr um, sieh mich nicht, halte nichts<br />
fest, sei nicht hier, löse dich auf. Ich tauche meine Hände<br />
in das gelbgrau und milchig schimmernde Wasser des Flusses.<br />
Sie greifen wie in kalt fließendes Opal, und einer wird<br />
mir erklären, dass auf dem Grund des Flusses hellenische<br />
und buddhistische Skulpturen liegen, die von Taliban dort<br />
versenkt wurden, und dass Leichen hier schwammen, weshalb<br />
das Wasser noch heute Infektionskrankheiten auslösen<br />
könne.<br />
Die Kaimauer ist von gelben Flechten üppig bewachsen.<br />
Ein Ponton liegt im Wasser, aber angesteuert wurde er vielleicht<br />
seit Jahren nicht. Nur ein blauer Plastikstuhl ist stehen<br />
geblieben, mit Blickrichtung zur jenseitigen Steppe.<br />
Man dreht sich um, und gleich darauf will man schon sagen:<br />
Ich habe mir diesen Ort nur eingebildet.<br />
Eine spitzwinklige Formation Zugvögel wechselt in<br />
diesem Augenblick ihre Ordnung über dem Fluss. Demnächst<br />
soll hier eine Brücke gebaut werden. Nur afgha nische<br />
und russische Soldaten haben sich vehement<br />
dagegen aufgelehnt, der alten Feindschaft wegen, aber<br />
auch weil sie so gut wie die Ordnungskräfte wissen, dass<br />
diese Brücke niemandem so gelegen kommt wie den<br />
Drogenschmugglern.<br />
Und wer blickt nicht nach dort, wo flussabwärts<br />
noch karge Goldvorkommen die Wäscher anziehen<br />
oder wo das Rohopium verarbeitet wird, das allein durch<br />
die Überquerung des Flusses ein Mehrfaches seines Wertes<br />
gewinnt? Dreitausend Dollar kostet ein Kilo auf dieser, der<br />
afghanischen Seite des Amu-Darja, zehntausend auf der<br />
dort drüben, die kaum fünfhundert Meter entfernt liegt,<br />
und niemand soll glauben, Tadschiken und Afghanen<br />
machten diesen Handel unter sich aus.<br />
Einer der Einflussreichsten hier ist amerikanischer Staatsbürger.<br />
Genaueres will keiner wissen oder sagen. Nur seinen<br />
Spitznamen geben zwei Einheimische preis: «der weiße<br />
Ibrahim». Einer der Afghanen, die sich uns angeschlossen<br />
haben, erzählt mir von einem deutschen Diplomaten, der<br />
in seinem Gepäck unentdeckt siebzehn Kilogramm Opium<br />
schmuggelte, besprüht mit einem bestimmten, den Drogenhunden<br />
unerträglichen Parfüm.<br />
«Woher wissen Sie das?»<br />
«Weil ich der Verkäufer war.»<br />
Auf der Rückseite der Landschaft angekommen,<br />
folgen wir ihrem Imperativ und wenden uns ab,<br />
drehen uns um, machen kehrt. Es ist ein vielfaches Wegwenden<br />
von einer Landschaft, die endet, die einen Strich<br />
zieht mit dem Namen Amu-Darja. Es empfängt uns die<br />
Steppe in all ihrer Pracht der Verödung.<br />
Die Nacht macht sich breit. Ist das jetzt die stillste Stille?<br />
Sie wirkt, als habe jemand eine Glasglocke von der Steppe<br />
genommen und eine Sphäre eingelassen, die von oben<br />
kommt und noch viel weiträumiger und feierlicher still ist.<br />
Reine Atmosphäre mischt sich in das Schweigen. Etwas<br />
schwingt hinein wie atemlose Erwartung. In den nach oben<br />
geöffneten Schweigeraum dringt nun von unten ein einzelnes,<br />
sehr fernes Hundebellen, das nur angestimmt wird,<br />
um das Schweigen fühlbarer zu machen.<br />
Das Schweigen der Steppe: Wenn man in der<br />
Ferne ein Geräusch hört, ist man bei diesem Geräusch, also<br />
in der Ferne. Steht die Steppe aber still, ist man nur noch<br />
beim eigenen Atem, bei den eigenen Schritten. Also ist man<br />
ganz bei sich. Dort ist man selten.<br />
aus: Die Enden der Welt, Der Amu-Darja. An der<br />
Grenze zu Transoxanien, Fischer Verlag,<br />
gebundene Ausgabe und Hörbuch<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Leben<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Gefährliche 8<br />
Motorisierte Geheimgesellschaften: Unterwegs in märkisch Sibirien,<br />
wo Antifanten immer noch Jagd auf braune Yetis machen.<br />
Von Gerd Schulze-Meyer<br />
Autofahrer sind ein gesellschaftlicher Problemfall. Nach Erkenntnissen<br />
von Soziologen, Politologen und anderen Studienabbrechern<br />
gibt es unter ihnen ein klandestines Netz<br />
von Wiedergängern eines Postkartenmalers aus Braunau,<br />
der später als Diktator und Massenmörder berühmt wurde.<br />
Demnach grüßen sich Autofahrer untereinan -<br />
der mit «Heil Hitler» oder «Adolf Hitler», ohne dass andere<br />
davon Kenntnis erlangen. In der kleinen Welt der Antifanten<br />
stehen dabei die 1 für den ersten Buchstaben des<br />
Alphabets, also A, und die 8 für den achten, also H. In<br />
Brandenburg sind daher bereits unter der früheren Großen<br />
Koalition Autokennzeichen mit den Buchstaben- und Zahlenkombinationen<br />
AH 18 und HH 88 verboten worden.<br />
Nachdem aber vor einem Jahr eine rot-rote Koalition ans<br />
Ruder gekommen war, musste beim antifaschistischen<br />
Kampf auf den Kfz-Zulassungsstellen noch ein Zacken zugelegt<br />
werden.<br />
Eine Herausforderung für Brandenburgs Verkehrs -<br />
minister Jörg Vogelsänger (SPD) – aber er löste die Aufgabe<br />
brillant: Nun sind auch die Zahlenkombinationen 8888,<br />
1888, 8818, 888 und 188 für Nummernschilder gesperrt.<br />
Aber wird das ausreichend sein, um dem Glatzenun wesen<br />
in den Neuen Bundesländern beizukommen?<br />
Was ist mit dem Buchstaben G (Göring, Göbbels) und<br />
der Zahl 7?<br />
Und wird den Brandenburgern aus dem übrigen<br />
Bundesgebiet nun endlich Unterstützung zuteil? Die<br />
Augsburger (A), die Hannoveraner (H), die Hamburger<br />
(HH) und Hagener (HA) können jetzt nicht mehr wegschauen!<br />
Auch die Mathematiklehrer stehen in der Verantwortung:<br />
Können wir es uns leisten mit solch problematischen<br />
Zahlen wie 1 und 8 zu rechnen? Was wird das Ausland<br />
sagen, wenn wir nicht schnell handeln?<br />
46<br />
47
<strong>COMPACT</strong><br />
Leben<br />
Über die zweitälteste<br />
Form der menschlichen<br />
Kommunikation und<br />
ihre Feinde.<br />
Lungenküsse<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Leben<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Von Walter Wippersberg (Text) und<br />
Simone von Maiwald (Fotos)<br />
Was wäre der Welt alles erspart geblieben, hätte<br />
Adolf Hitler das Rauchen nicht aufgegeben! In seiner<br />
Jugend hat er 40 Zigaretten am Tag geraucht,<br />
dann aber, im Jahr 1919, machte er Schluss damit und warf<br />
sein letztes Packl Zigaretten in die Donau. Nur so, schwadronierte<br />
er später in einem seiner «Tisch gespräche», habe<br />
er zum Reichskanzler aufsteigen und die «Wiedergeburt<br />
Deutschlands» einleiten können. Im Rauchen sah er nun<br />
ein Laster der «minderen Rassen» – und die Rache des roten<br />
Mannes dafür, dass ihm der weiße Mann den Schnaps<br />
gebracht und ihn damit zugrunde gerichtet hätte. Am liebs<br />
ten hätte er allen deutschen Volksgenossen das Rauchen<br />
verboten, auch den deutschen Soldaten. Diese aber wollte<br />
er dann lieber doch bei Laune halten, sollten sie halt bis<br />
zum «Endsieg» weiter rauchen, danach aber musste Schluss<br />
sein damit. Spät erkannte er, dass diese Nachgiebigkeit ein<br />
großer Fehler gewesen war. Denn Studien belegten, wie<br />
sehr Tabak die Kampfkraft der deutschen Soldaten<br />
schwäch te, ihr Durchhaltevermögen beim Marschieren und<br />
sogar ihre Fähigkeit, geradeaus zu schießen.<br />
Dass Hitler mit dem Rauchen aufgehört hat, war also<br />
ganz schlecht für die Welt, dass er aber seinen Kampf gegen<br />
die Raucher nicht konsequent genug geführt hat, das war<br />
gut für die Welt, denn sonst wären wohl die deutschen<br />
Soldaten noch ausdauernder marschiert und hätten noch<br />
treffsicherer geschossen und so vermutlich dem Führer die<br />
Weltherrschaft erobert.<br />
Der Krieg gegen die Raucher, so wie er jetzt geführt wird,<br />
hat in Amerika begonnen, und ebendort sind auch sonst<br />
allerhand Wahnideen beheimatet: Man könne sich ohne<br />
einen Dollar eigenes Geld ein Haus kaufen; das Tragen von<br />
Schusswaffen mache eigentlich erst den rechten Mann aus;<br />
auch im 21. Jahrhundert können Recht und Ordnung ohne<br />
Todesstrafe nicht durchgesetzt werden und dies sei mit<br />
den Menschenrechten vereinbar. Solchen Gedanken will<br />
kaum ein europäischer Politiker nahe treten, in den Kampf<br />
gegen die Raucher aber lassen sich fast alle einspannen.<br />
Warum eigentlich?<br />
Da ist ein regelrechter kultureller Paradigmenwechsel<br />
zu beobachten. Rauchen war einmal ganz selbstverständlicher<br />
Teil unserer Alltagskultur, Rauchen galt zeitweise<br />
sogar als mondän. Fotos rauchender Frauen wurden zu<br />
Symbolbildern der beginnenden Emanzipation. Abbildungen<br />
rauchender Menschen wurden zu Ikonen. Glamour<br />
des Rauchens: Humphrey Bogart und Lauren Bacall.<br />
Jean-Paul Belmondo in Ausser Atem: Der rauchende Rebell.<br />
Jean-Paul Sartre: Der kettenrauchende Intellektuelle … Von<br />
ihm gibt es übrigens offenbar kein brauchbares Foto ohne<br />
Zigarette oder Pfeife. Als vor einigen Jahren in der Pariser<br />
Nationalbibliothek eine große Ausstellung zu seinem<br />
hundertsten Geburtstag ausgerichtet wurde, da hat man<br />
– political correctness bis hin zur Fälschung – aus einem<br />
berühmten Sartre-Foto von Boris Lipnitzki die Zigarette einfach<br />
wegretuschiert.<br />
Ausgerechnet in den Wirtshäusern, die, seit in Europa<br />
geraucht wird, eng mit dem Tabakkonsum verbunden sind,<br />
soll nicht mehr geraucht werden dürfen! Seit im späten 16.<br />
48<br />
49
<strong>COMPACT</strong><br />
Leben<br />
Jahrhundert in England das Rauchen durch Sir Walter<br />
Raleigh zuerst in adeligen Kreisen und durch Heimkehrer<br />
aus der Kolonie Virginia auch in bürgerlichen Schichten<br />
populär wurde, traf man sich zum Tabakgenuss vor allen<br />
in Wein- und Bierhäusern. Mit gutem Grund: Die Wirtshäuser<br />
dienen der Geselligkeit, und Raucher waren und<br />
sind gesellige Menschen. Wo man sich vorher schon getroffen<br />
hat, um gemeinsam zu trinken, dort hat man nun<br />
auch gemeinsam geraucht. Das ist kein Zufall. Die Genuss -<br />
mittel Alkohol und Tabak passen nämlich gut zusammen<br />
und ergänzen eins das andere auf eine für viele recht<br />
genuss reiche Art; das gleiche gilt für die Genussmittel<br />
Kaffee und Tabak. Natürlich könnte man sagen, jeder soll,<br />
was er genießen will, für sich allein genießen, zu Hause im<br />
sprichwörtlichen Kämmerlein, aber warum eigentlich?<br />
Auß erdem ist das asozial gedacht.<br />
Es gibt (auch wenn sich das etymologisch vielleicht gar<br />
nicht beweisen lässt) eine enge Verbindung zwischen «genie<br />
ßen» und «Genossenschaft». Nicht alle, aber bestimmte<br />
Dinge genießt man am liebsten in Gesellschaft. Deshalb<br />
gehören in unserer Kultur das Wirts- und das Kaffeehaus<br />
und das Rauchen untrennbar zusammen. Und das versteht<br />
nur der nicht, dem Genuss und Lebenslust grundsätzlich<br />
suspekt sind, der bei Alkohol nur an Leberzirrhose und<br />
Delirium tremens zu denken vermag, bei Tabak nur an<br />
Lungenkrebs und Herzinfarkt, bei Kaffee nur an hohen<br />
Blutdruck und Herzflattern.<br />
Manche Völker haben sich, erstaunlich genug, das Rauchen<br />
in den Lokalen einfach verbieten lassen. Bei den Iren<br />
und bei den Italienern hat mich das sehr gewundert. Die<br />
Iren haben in ihrer Geschichte aus geringfügigeren Gründen<br />
Volksaufstände angezettelt, und die Italiener haben,<br />
als man es ihnen noch erlaubt hatte, buchstäblich überall<br />
geraucht, sogar im Kino. Und so ungeniert wie nirgends<br />
sonst. Als ich vor Jahrzehnten einmal in einer italienischen<br />
Bar nach einem Aschenbecher gefragt habe, da hat man<br />
mir mit einer weit ausholenden Geste geantwortet, die<br />
bedeuten mochte: Ist auf dem Fussboden nicht Platz genug?<br />
Den Nichtraucher-Aktivisten ist es gelungen, dass man<br />
das Phänomen des Tabakkonsums heute – was für eine<br />
barbarische Sichtweise! – fast nur noch vom gesundheit lichen<br />
Standpunkt aus beurteilt. Das ist so kulturlos, als inter -<br />
essierte beim Essen nur der Fettgehalt der verzehrten<br />
Speisen und bei Wein oder anderen «geistigen» Getränken<br />
nur deren Alkoholgehalt. Tabak (von seinen Gegnern als<br />
schweres Nervengift denunziert) stimuliert, regt das Denken<br />
und die Phantasie an. Viele Künstler und Wissenschaftler<br />
haben von diesem Angebot (wie von anderen<br />
Stimulanzien auch) Gebrauch gemacht und tun es noch.<br />
Sieht man genauer hin, dann verdanken wir – wenigstens<br />
indirekt – einen gar nicht so kleinen Teil unserer Kultur<br />
dem Rauchen und den Rauchern.<br />
Walter Wippersberg (1945) ist Schriftsteller,<br />
Regisseur und Universitätsprofessor an der<br />
Wiener Filmakademie. Der Text ist seinem neuen<br />
Buch Der Krieg gegen die Raucher. Zur Kuturgeschichte<br />
der Rauchverbote (Promedia Verlag,<br />
Wien) entlehnt. Simone von Maiwald (1984) ist<br />
Bildbearbeiterin und lebt, fotografiert und<br />
raucht in Leipzig.<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Leben<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Der Klassiker auf dem Divan<br />
Gibt es besondere Stätten, auf die sich ein Volk<br />
in einer Identitätskrise rückbesinnen kann? Wenn ja, dann drängt sich<br />
Weimar auch heute als die Kulturwerkstatt der Nation auf.<br />
Von Andreas Rieger<br />
Noch immer zieht die Stadt hunderttausende Besucher<br />
aus Ost und West und aus aller Welt in ihren<br />
Bann. Aber auch viele junge Studenten, die die<br />
Bauhaus-Universität oder die Hochschule für Musik Franz<br />
Liszt besuchen, prägen das Stadtbild. Auf nur weni gen<br />
Quadratkilometern finden sich Bibliothek, National theater,<br />
Schloss, Museen und die Privathäuser der wichtigsten<br />
Repräsentanten der deutschen Klassik.<br />
In Thüringen, zwischen dem Wissenschaftsstandort<br />
Jena und der thüringischen Hauptstadt Erfurt gelegen, hat<br />
die schöne, aber arme Kulturmetropole wenig zum Brutto<br />
sozialprodukt beizutragen, fasziniert aber bis heute als<br />
Schicksalsort deutscher Geschichte. Obwohl im Krieg stark<br />
zerstört, sind spätestens seit der Ernennung zur Kulturhauptstadt<br />
Europas beinahe alle wichtigen Baudenkmäler<br />
renoviert. Goethe- und Schillerhaus sind aufwendig neu<br />
gestaltet und der berühmte Ilmpark scheint sich jeder<br />
Jahreszeit immer wieder neu anzupassen.<br />
Auch wenn das Städtchen heute ein wenig den Charme<br />
eines Freiluftmuseums verströmt, ist es noch immer der<br />
faszinierende Anknüpfungspunkt an das Auf und Ab deutscher<br />
Geschichte.<br />
Hier am Flüßchen Ilm herrschte die deutsche Klassik und<br />
wurde die Weimarer Republik tituliert. Ideologen und Ideologien<br />
hielten in der Stadt Einzug und – auf einer Anhöhe<br />
über dem scheinbaren Idyll gelegen – erinnert das ehemalige<br />
Konzentrationslager Buchenwald an die Schrekkenszeit<br />
des Nationalsozialismus. An gleichem Ort, wo<br />
später das furchtbare Lager entstand, hatte 1827 Goethe<br />
noch nichts ahnend Eckermann auf einem Ausflug «hier<br />
fühlt man sich groß und frei« zugerufen.<br />
Natürlich ist es aber das «goldene Zeitalter», das nachhal<br />
tig das Bild der Weimarer Klassik bestimmt. Die seltene<br />
Symbiose von Geist und Macht bestimmt den Mythos<br />
dieser Zeit. Während der Regentschaft der Herzogin Anna<br />
Amalia und unter ihrem Sohn Carl August, am Ende des 18.<br />
und Beginn des 19. Jahrhunderts, waren geistige Größen<br />
wie Wieland, Goethe, Herder und Schiller in dem kleinen<br />
Städtchen mit weniger als zehntausend Einwohnern anwesend.<br />
Vor allem das Universalgenie Goethe mischte sich<br />
auch als Minister kräftig in die Tagespolitik des kleinen<br />
Fürstentums ein. Die politischen Nachbeben der Französischen<br />
Revolution beschäftigte auch am Fürs tensitz Vereh<br />
rer und Gegner gleichermaßen. Carl August selbst galt<br />
allerdings als tolerant und aufgeklärt und gab dem Kleinstaat<br />
als erster deutscher Monarch 1817 eine Verfassung.<br />
Es sind die Jahrhundertgestalten, Goethe und<br />
Schiller, die das Bild Weimars in der Welt bis heute entscheidend<br />
ausmachen. Hier entstand die berühmte Freundschaft<br />
der beiden Genies, in der Nachbarschaft von Dichten<br />
und Denken. In Weimar pflegten die Größen ihrer Zeit ihre<br />
«Debatte» über die anstehenden Jahrhundertfragen, und<br />
ihre hintergründigen Theaterstücke konnten jederzeit<br />
Revolten und Aufruhr auslösen. Beeindruckend ist das<br />
überlieferte Niveau des Gesprächs bis hin zur sensiblen<br />
Ausgestaltung strittiger Fragen. In ihren Werken und Gesprä<br />
chen spiegeln sich die Fragen nach der Bedeutsamkeit<br />
der nationalen Zugehörigkeit, nach dem Weg des Säku la-<br />
50<br />
51
<strong>COMPACT</strong><br />
Leben<br />
rismus oder nach der Bewahrung der persönlichen Freiheit<br />
des Individuums.<br />
Kurios mutet dagegen der brachiale Versuch der moder -<br />
nen Ideologen an, die beiden deutschen Vorzeigedichter<br />
für sich zu vereinnahmen. Insbesondere die National sozialisten<br />
pflegten einen schäbigen Kult um die Dichterstadt,<br />
oft genug im eklatanten Widerspruch mit den<br />
eigentlichen Überzeugungen der «Klassik». Im Jahre 1932<br />
hielt Thomas Mann in Weimar einen Vortrag, der anschließend<br />
im Völkischen Beobachter verrissen wurde. Mann lobte<br />
ausdrücklich den deutschen Weltbürger Goethe, der sich<br />
gegenüber jedem Nationalismus, so Mann, «kalt bis zur<br />
Verachtung verhalten habe».<br />
Einige Jahre später wurden Goethe und Schiller dennoch<br />
von den Nazis skrupellos als «geistige Führer» vereinnahmt<br />
und reduziert.<br />
Die Narben dieser Zeit sind bis heute sichtbar.<br />
Bei einem Rundgang durch die Stadt ist es das so genannte<br />
Gauforum, zwischen Bahnhof und Innenstadt gelegen, das<br />
«Als der berühmte Schriftsteller und Naturforscher<br />
Johann Wolfgang von Goethe am 22.<br />
März 1832 im Sterben lag, malte er ‘mit dem<br />
Zeigefinger Zeichen in die Luft’, wie ein Biograf<br />
festhält. Die Umstehenden deuteten sie als ein<br />
‘W’, den Anfangsbuchstaben seines zweiten<br />
Vornamens. Doch manche Muslime glauben,<br />
dass Goethe – dahindämmernd und zu schwach<br />
zum Sprechen – das arabische Zeichen für<br />
Allah schrieb. Die Wahrheit ist wohl nicht mehr<br />
zu ermitteln. Aber 175 Jahre nach Goethes<br />
Tod wird allmählich klar, wie eng sich Deutschlands<br />
größter Dichter dem Orient und dem<br />
Islam verbunden fühlte.»<br />
(von der Webseite des<br />
deutschen Außenministeriums)<br />
wie ein unheimlicher Fremdkörper das eigentliche Maß<br />
der Stadt zerstört und neben dem Hotel Elephant am Marktplatz,<br />
in dem Hitler ein und aus ging, das zweite Symbol<br />
des politischen Einflusses der Nazi-Schergen in Weimar<br />
ist. Im Angesicht der Machenschaften im Weimar jener Tage<br />
liest sich Goethes geschichtliche Einsicht vielsagend, dass<br />
«alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen<br />
Epochen subjektiv sind, dagegen alle fortschreitenden<br />
Epochen eine objektive Richtung haben».<br />
Eignet sich aber das Weimar Goethes und Schillers, neben<br />
der Tatsache, ein beliebtes und klassisches Ausflugsziel für<br />
Schulklassen zu sein, auch heute noch als Bezugspunkt<br />
unserer aktuellen Debatten? Zweifellos finden sich in<br />
Weimar für jeden nachdenklichen Menschen zahllose<br />
Anknüpfungspunkte. Denkt man an die zwei großen<br />
Diskus sionen dieses Jahres, den Streit um die Ursachen der<br />
Finanzkrise und die Mängel der Integration im Lande, dann<br />
stiften die Weimarer Dichter durchaus noch «heißen»<br />
Gesprächsstoff.<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Leben<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Goethe, beispielsweise, der nach eigenen Worten<br />
immerhin den Verdacht nicht ablehnte, «selbst ein Muselmann<br />
zu sein», hatte trotz des extrem negativen Islambilds<br />
zu seiner Zeit seine Seelenverwandtschaft zum Islam und<br />
seinem Propheten entdeckt. Der aus seiner Sympathie<br />
resultierende gesellschaftliche Skandal bekümmerte den<br />
Dichterfürsten wenig. Amüsiert beobachtete Goethe das<br />
Getu schel am Hofe, wenn er versuchte, den Koran zu entziffern.<br />
Auch in Sachen Islam blieb der Dichter letztlich<br />
seiner wissenschaftlichen Maxime treu, dass man eine Sache<br />
lieben muss, um sie ganz zu verstehen. Goethe verfügte<br />
übri gens schon zu Lebzeiten – in seinen Verfügungen be -<br />
züg lich seiner Grabstätte – die Verbannung aller christlichen<br />
Symbolik. Die christliche Trinitätslehre vertrug sich<br />
nicht mit dem ganzheitlichen Denkansatz des Meisters<br />
.<br />
Zu den Kennern dieser spannenden Ost-West<br />
Materie gehört neben der Autorin des bekannten Buches<br />
Goethe und der Islam, Katharina Mommsen, auch Manfred<br />
Weimar: Blick auf das so genannte Gauforum<br />
Osten, ehemaliger Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung.<br />
Osten referiert im mer wieder über Goethes<br />
West-Östlicher Divan und sein ungewöhnlich offenes<br />
Islambild.<br />
Osten bedauert dabei den vergeblichen Ver such Goethes,<br />
«die euro zentristische Beleh rungsgesellschaft wieder in<br />
Rich tung der Lerngesellschaft zu transformieren». Diese<br />
Lern gesellschaft habe es, so Osten, leider nur um das <strong>12</strong>.<br />
Jahrhundert in Europa gegeben, als viele Grundlagen der<br />
Wissenschaft und Philo sophie aus der islamischen Welt<br />
nach Europa gelangten und muslimische Gelehrsamkeit<br />
als Quelle der Inspiration galt.<br />
Der West-Östliche Divan ist im Grunde eine<br />
fesselnde Dialog strategie, um auch künftig zwischen Ost<br />
und West auf dem eurasischen Kontinent zu vermitteln.<br />
Osten wies darauf hin, dass das persische Wort Divan eine<br />
«Versamm lung weiser Männer» bezeichne und für Menschen<br />
in der islamischen Welt positiver besetzt sei als der<br />
als «Streit ge spräch» verstandene Begriff «Dialog». Die kalte<br />
Aus übung von Toleranz war für Goethe sowieso nicht gut<br />
genug. Den Toleranzbegriff habe er vielmehr mit den Worten<br />
«dul den heißt beleidigen» kritisiert, da echte Toleranz<br />
in Aner kennung und Respekt übergehen müsse. Im Divan<br />
habe Goethe jedenfalls, so Osten resümierend, die Summe<br />
seiner tiefen Beschäftigung mit dem Islam gezogen.<br />
In Goethes Konservativismus<br />
wird heute eine Art<br />
visionäre Zeitkritik gesehen,<br />
die durchaus bis in das<br />
heutige Internetzeitalter<br />
nachklingt. Goethe hatte<br />
sich, angesichts der neuen<br />
bahnbrechenden Tech nologien,<br />
für eine Entschleunigung<br />
interessiert, die im<br />
Gegensatz zur «ve lo zife ri -<br />
schen Kultur» des Wes tens<br />
stehen könne, in der Goethe<br />
eine «Geschwin dig keit, die<br />
des Teufels ist» sieht. Goethe<br />
fürchtete an der sich im<br />
rastlosen Aufbruch befindenden<br />
west lichen Welt, sie könnte eine «gedächtnislose<br />
Gesellschaft» werden, die durch Aufklärung, Reformation<br />
und französische Revolution ihre Wurzeln vergisst und am<br />
Ende sogar zerstört.<br />
Im zweiten Teil des Faust verknüpft der<br />
Wirtschaftsminister Goethe bekanntermaßen seine Zweifel<br />
an den Möglichkeiten ewigen Fortschritts mit einer harschen,<br />
ökonomischen Kritik an der illusionären Natur des<br />
Papier geldes. Hier eröffnet sich der zweite große Beitrag<br />
Goethes für die aktuelle Debatte, den das deutsche Bil dungsbürgertum<br />
im Grunde jahrzehntelang übersehen hat. In<br />
seinem Hauptwerk geht es um nichts Anderes, als das<br />
Dogma der Moderne – das ökonomische Wachstum als<br />
Maßstab für die dauerhafte Entwicklung der Menschheit –<br />
zu entschlüsseln.<br />
Die Loslösung des Geldes von eigentlichen<br />
Werten eröffnet eine atemberaubende Dynamik, die schon<br />
den alten Goethe tief beunruhigt. Der St. Galler Ökonom<br />
Hans Christoph Binswanger widmet diesem Thema ein<br />
brillantes Buch mit dem bezeichnenden Titel Geld und Magie.<br />
Für den Wirtschaftsphilosophen Binswanger ist der Faust<br />
mit seinen Beschreibungen über die Erfindungen der Notenbankpresse<br />
sogar ein Lehrbuch der Volkswirtschaft und<br />
«von einer kaum fassbaren» Aktualität. Spätestens bei diesen<br />
Fragen blitzt das Genie Goethes wieder auf und damit<br />
die alte Faszination Weimars.<br />
Andreas Rieger ist Rechtsanwalt, Publizist und<br />
Herausgeber der monatlich erscheinenden<br />
Islamischen Zeitung. Er ist Autor des im Spohr<br />
Verlag erschienenden Buches Islam in Deutschland<br />
– Politische Notizen. Ein Tagebuch.<br />
52<br />
53
<strong>COMPACT</strong><br />
Leben<br />
Von der Lust, katholisch zu sein<br />
Meine Lust, mitten in dieser Welt und mitten in dieser Kirche katholisch zu sein,<br />
steigt fast täglich. Als aufgeklärter Mensch? Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts?<br />
Bei diesem Papst? Mit dieser Sexualmoral? Vielleicht bin ich ja verrückt.<br />
Von Martin Lohmann<br />
«Bist Du wirklich immer noch gerne katholisch? Gilt das<br />
nach all den Skandalen auch heute – dass es eine Lust ist,<br />
katholisch zu sein?» Man kennt diesen von sorgenvollem<br />
Mitleid getragenen Ton. Geht das überhaupt?<br />
Es geht! Und wie! Gut, ich habe Jesus Christus gewiss<br />
nicht immer maßstabsgerecht verstanden, fühlte mich auch<br />
schon von ihm verlassen oder habe mit ihm gehadert. Aber<br />
irgend wann habe ich dann doch wieder begriffen – und<br />
im Glauben «gesehen», dass er treu ist, dass er gut ist und<br />
dass er immer zuverlässig ist. Er ist Gottes Sohn, der der<br />
beste Grund ist und bleibt, in dieser auf ihn gegründeten<br />
Heilsgemeinschaft zu sein. Gottes Sohn und Gott. Gott aber<br />
macht keine Fehler. Fehler machen wir. Nicht aber Gott.<br />
Seit meinem Bekenntnis in dem Buch Von der Lust,<br />
katholisch zu sein vor Jahrzehnten habe ich zwar viel erlebt,<br />
hat sich auch viel getan in unserer Kirche. Und, ehrlich<br />
gesagt, auch ich kenne tatsächlich viele Enttäuschungen<br />
innerhalb der Kirche, bin selbst schon enttäuscht worden<br />
und habe wohl auch schon andere enttäuscht. Als Christ.<br />
Als Katholik. Aber ich weiß, dass Menschen nicht unfehlbar<br />
sind. Sie sündigen. Und leben von der Vergebung. Die<br />
brauche auch ich, und die muss auch ich immer wieder<br />
gewähren.<br />
Um es ganz deutlich zu sagen: Die so genannte «political<br />
correctness» ist nicht meine Richtschnur. Mich interessiert<br />
viel mehr, was wahr und richtig ist. Denn pc ist nicht<br />
selten eine reichlich hirnlose Ergebenheit in einen Mainstream,<br />
der nicht unbedingt richtig ist. Und das geht ohne<br />
hin immer mehr Leuten tierisch auf den Zeiger. Gut so.<br />
Hinzu kommt, dass wohl etwas dran ist an der Warnung,<br />
die ein gewisser Joseph Kardinal Ratzinger in seiner letzten<br />
Predigt als Kardinal, bevor er vom Purpurrot zum Papstweiß<br />
wechselte, ausgesprochen hat. Ich war damals im<br />
Petersdom dabei und werde nicht vergessen, wie er vor<br />
einer Diktatur der Relativismus warnte und das süße Gift<br />
der Verführung beschrieb, mit dem diese – ich ergänze –<br />
sexualisierte Diktatur des Relativismus anscheinend so<br />
wohlschmeckend ist.<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Leben<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Es mag also für manche pc sein, der Kirche ihre Fehler<br />
vorzuhalten und gerade nach den vielen schrecklichen und<br />
wahrlich widerlichen Missbrauchsfällen am so genannten<br />
System Kirche insgesamt Zweifel anzubringen. Die<br />
Sexualmoral sei schuld, oder gar der Zölibat. Das mag passen<br />
und bestimmte Klischees bestätigen, ist und bleibt aber<br />
falsch. Schuld sind und bleiben diejenigen, die etwa eindeutig<br />
gegen die Sexuallehre der Kirche, die von Respekt<br />
und Kostbarkeit ausgeht, verstoßen haben. Die, die schwer<br />
gesündigt haben, bestätigen ihre eigene Sündhaftigkeit,<br />
nicht aber, dass die Lehre der Kirche falsch sei oder gar der<br />
Zölibat, den man ohnehin missversteht, wenn man ihn ausschließlich<br />
auf eine Frage der gelebten Sexualität reduziert.<br />
Und überhaupt: Es besteht kein Grund, wegen einzelner<br />
Typen aus der Kirche auszutreten. In der bin ich vor allem<br />
wegen Jesus Christus, weil es Seine Kirche ist. Dieser aber,<br />
das kann ich nach mehr als einem halben Jahrhundert Erdenleben<br />
sagen, hat mich noch nie enttäuscht, hat mich<br />
noch nie belogen oder war noch nie unglaubwürdig.<br />
Mutter Teresa, eine von mir sehr verehrte Heilige, soll einmal<br />
auf die Frage, was sich in der Kirche ändern müsse,<br />
geantwortet haben: Sie und ich. Und so will auch ich meinen<br />
bescheidenen Teil zur ecclesia semper reformanda beitragen.<br />
Wohl wissend, dass ich hinter meinen eigenen<br />
Ansprüchen immer wieder zurückbleibe. Aber deswegen<br />
resignieren? Niemals. Doch in den – nach einer kurzen<br />
Phase des Wir-sind-Papst wiedererwachten – Chor der<br />
deutschen Weltmeister im Selbstmitleid will ich mich nicht<br />
einreihen. Die Mentalität der ständigen Exkulpation, nach<br />
dem Motto: «Ja, ja, verzeihen Sie mir, ich bin tatsächlich<br />
katholisch, aber es soll nicht wieder vorkommen», liegt mir<br />
nicht. Ich will anstecken, will meine Freude am Glauben<br />
teilen, ohne die Sorgen und Nöte, die auch ich hatte und<br />
habe, zu verschweigen.<br />
Mir ist unbegreiflich, warum sich so viele Katholiken<br />
duc ken, wenn in unserer Gesellschaft unter dem Deckmantel<br />
der Kritik gegen die Kirche geschossen wird. Mit<br />
Freude ist festzustellen, dass vor allem junge Christen dieses<br />
Spiel nicht mehr mitspielen wollen. Immerhin scheinen<br />
sie wieder oder noch zu ahnen, dass die römische<br />
Weltkirche die einzige greifbare Einrichtung ist, die sich<br />
zu einer langen Geschichte bekennt und ihre Tradition<br />
durch die Jahrhunderte hindurch bis zum heutigen Tag in<br />
die moderne Welt trägt – und eine wunderbare menschengerechte<br />
Botschaft treuhänderisch weiterzugeben hat.<br />
Die Kirche ist also hierzulande die einzige Institution, die<br />
ununterbrochen seit 2.000 Jahren das Leben der Menschen<br />
entscheidend geprägt hat und auch heute noch beansprucht,<br />
dieses Leben mit gestalten zu wollen.<br />
Von der Lust, katholisch zu sein, sollte ich<br />
damals auf Bitten von Michael Müller, dem Herausgeber,<br />
etwas schreiben. Lust? Im Lexikon finde ich die verwandten<br />
Begriffe: Freude, Vergnügen, Entzücken, Seligkeit, Wollust.<br />
Genuss. Lust wird vielfach – so verklemmt ist halt unsere<br />
Gesellschaft heute – nur noch auf den Bereich des Sexuellen<br />
bezogen. Dabei bedeutet Lust sinnliches Erleben insgesamt,<br />
also auch des Geistes und der Seele. Man kann also<br />
auch Lust an der Transzendenz empfinden, Lust an der<br />
Erkenntnis, in einer von Gott gestifteten Gemeinschaft<br />
54<br />
55
<strong>COMPACT</strong><br />
Leben<br />
Der Autor in der Begegnung mit Papst Benedikt XVI.<br />
Heimat zu haben. Das klingt fast schon esoterisch. Ist es<br />
aber nicht. Was ich mit dieser Lust, oder sagen wir besser:<br />
Freude am Katholischsein verbinde, lässt sich gar nicht so<br />
einfach in Worte fassen. Vielleicht helfen Begebenheiten.<br />
Zum gelebten Glauben gehört für mich das Verwurzeltsein<br />
in einer Pfarrei, die Treue zur sonntäglichen<br />
Messfeier, das selbstverständliche Tischgebet und das regelmäßige<br />
persönliche Gebet. Aufgesetztes Verhalten mag<br />
ich nicht. Selbstverständliches Zeugnis dafür umso mehr.<br />
Ich leugne nicht, dass es mir auch schon einmal schwer<br />
gefallen ist, in einer öffentlichen Gaststätte vor dem Essen<br />
ein Kreuzzeichen zu machen. Aber bereut habe ich dieses<br />
Minimalbekenntnis noch nicht. Und ich freue mich auch,<br />
dass das gemeinsame Tischgebet bei uns seinen Platz hat<br />
und nicht von Grundsatzdiskussionen bedroht ist. Ich weiß<br />
mich glücklich mit einer Frau, mit der ich den Glauben zu<br />
Hause und in der Kirche ganz natürlich praktizieren kann.<br />
Und wir beide sind froh, gute Freunde zu haben, denen<br />
die Liebe zu Gott in seiner Kirche ebenfalls etwas wert ist.<br />
Überhaupt lieben wir eine großzügige Kultur des<br />
Feierns. Auch, weil Großzügigkeit das Herz weitet und<br />
nichts mit Verschwendung gemein hat. Auch hat Großzü -<br />
gigkeit, wenn ich es recht überlege, viel mit meinem katho<br />
lischen Glauben zu tun. Nicht nur Geburtstage sind<br />
Festtage, sondern auch Namenstage, also die Gedenktage<br />
unserer Namenspatrone. Vom Hochzeitstag und von unse<br />
rer Verlobung ganz zu schweigen. Der Bezug zu einem<br />
Heiligen ist mir wichtig. Auf meinen Namenspatron, den<br />
heiligen Martin von Tours, bin ich stolz. Er muss sich hin<br />
und wieder gefallen lassen, von mir um Fürsprache gebe<br />
ten zu werden. Aber nicht nur er, sondern auch andere<br />
Wahlheilige: Caterina von Siena, Johannes, Petrus, Maria,<br />
Philipp Neri, Ignatius von Loyola, Thomas Morus – und den<br />
zu Lebzeiten begegneten Heiligen Johannes Paul II. Und<br />
Mutter Teresa. Und viele andere.<br />
Vielleicht gehört für mich deshalb die Bitte um den<br />
Heiligen Geist zu den wertvollsten Gebetsformen, die ich<br />
von meiner Kirche gelernt habe. Mir scheint, dass diese<br />
häufig vernachlässigte dritte Person Gottes uns viel von<br />
dem geben könnte, was ich einmal mit «heiliger Unruhe»<br />
bezeichnen möchte. Und wenn wir mehr auf Ihn, der der<br />
ganzen Kirche ja zugesichert ist, vertrauten, würden<br />
manche Relationen in unseren Debatten wieder stimmen.<br />
Komm Heiliger Geist, erfülle die Herzen deiner Gläubigen<br />
und entzünde in ihnen das Feuer deiner Liebe – das ist<br />
doch kein hohles Gerede!<br />
Warum bin ich heute gerne katholisch? Bringt mir das<br />
etwas? Ich bin katholisch, weil ich glaube, dass Jesus Chris -<br />
tus diese seine Kirche gestiftet hat und – trotz allem – in<br />
ihr lebt. Ich bin katholisch, weil ich in der Kirche mehr sehe<br />
als nur eine Institution oder einen Verein. Würde ich nur<br />
diese Seite meiner Kirche sehen, und wäre ich auf mich<br />
allein und die anderen angewiesen, müsste ich verzweifeln.<br />
Denn die anderen scheinen dem Anspruch häufig<br />
ebenso wenig gerecht zu werden wie ich selber. Aber zum<br />
Glück hat Gott seine Kirche so konstruiert, dass sie nicht<br />
nur auf Menschen angewiesen ist, auch wenn das bis weilen<br />
so scheint und viele Christen heute vergessen haben, dass<br />
es auch eine himmlische Seite derselben Kirche gibt. Und<br />
da kommt es nicht nur auf menschliches Machen an – was<br />
übrigens auch für die «irdische Seite» unserer Kirche gilt.<br />
Warum verdrängen wir so schnell, dass uns der Beistand<br />
des Heiligen Geistes zugesichert ist? Auch bin ich katholisch,<br />
weil ich den geistigen Reichtum, die Gebete und<br />
Gebetsformen, die mir meine Kirche aus 20 Jahrhunderten<br />
anbietet, schätze. Und ich bin katholisch, weil ich in dieser<br />
Kirche erfahre, aus welcher Quelle sich der Lebenssinn<br />
speist.<br />
«Gott lieben heißt, sich zu Gott auf die Reise machen.<br />
Und diese Reise ist schön.» (Johannes Paul I.). Warum bin<br />
ich katholisch? Sicher auch, weil mir meine Kirche auf<br />
dieser Reise eine unterhaltsame und faszinierende Reisegesellschaft<br />
bietet. Auf jeden Fall wird es mit ihr nie langweilig,<br />
weil vieles so menschlich zugeht.<br />
Prüfungen gibt es im Leben immer wieder. Ich weiß es.<br />
Ob ich die bisherigen einigermaßen ordentlich bestanden<br />
habe, mag ein anderer beurteilen. Wann die letzte Prüfung<br />
kommt, weiß ich nicht. Aber ich habe einen Wunsch für<br />
diese endgültige Seelenkontrolle: dass ich sie mit Treue<br />
überstehe. Wenn es mir gelingt, einmal so zu sterben, wie<br />
ich es für gut halte, dann, so hoffe ich, wird sich meine Lust,<br />
katholisch zu sein, erfüllt haben. Auf die Frage, wie ich<br />
sterben möchte, würde ich antworten: Im Frieden mit Gott.<br />
Darauf kommt es an. Und dabei wünsche ich mir viel Hilfe<br />
von meiner Kirche.<br />
Martin Lohmann war Chefredakteur der Rhein-Zeitung und stellv. Chefredakteur<br />
des Rheinischen Merkur. Seit 2009 ist er Vorsitzender des Bundesverbandes<br />
Lebensrecht (BVL) und hat im selben Jahr den Arbeitskreis Engagierter<br />
Katholiken (AEK) in der CDU gegründet. Lohmann ist Verlagsleiter der J.P.<br />
Bachem Medien GmbH in Köln. Der vorliegende Beitrag greift auf einen Text<br />
aus dem Buch Von der Lust, katholisch zu sein (MM-Verlag Aachen, 1993)<br />
zurück. Eine Übersicht über die zahlreichen Bücher des katholischen Publizis<br />
ten findet sich auf www.lohmannmedia.de/martin-lohmann<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Leben<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Für die Statistik<br />
Dieses Mal ging es gleich ins Gesicht. Eine Faust-Nase-, Faust-Kinn-, Faust-Auge-<br />
Kombination, drei beeindruckende oberkörperorientierte Kickboxmoves, zwei Knie<br />
im Bauch, dann das Signal. Oder darf es noch ein bisschen mehr sein?<br />
Von Christian von Aster<br />
Die Jugendgewalt ist heutzutage ja ein Thema. Das<br />
erfuhr ich jedenfalls, als ich im Berliner Institut für<br />
Gewaltprä-, -inter- und -subvention an einer gesellschaftlich<br />
relevanten statistischen Erhebung zum Thema<br />
Gewalt mitwirken durfte.<br />
Für meine Teilnahme wurde mir eine Vergütung von<br />
30,00 Euro in Aussicht gestellt, und man versicherte mir,<br />
dass besagter Test in keinem Fall länger als eine halb Stunde<br />
dauern würde.<br />
Ich füllte zunächst einen anonymen Fragebo<br />
gen aus, dann folgte ein kurzes Aufklärungsgespräch<br />
über Sinn und Zweck des Testes: Da nämlich Gewalt heutzutage<br />
viele Gesichter hätte, wäre es schwer, sie zu kategorisieren<br />
und wissenschaftlich auszuwerten. Da das jedoch<br />
vonnöten wäre, hätte man also diesen Test entworfen, der<br />
weltweit von zertifizierten Instituten durchgeführt wurde.<br />
Die ersten zehn Minuten meiner halben Stunde verbrachte<br />
ich also damit, dieser Rede zu lauschen und Formulare<br />
auszufüllen. Blutgruppe, Allergien, ethnische Abstammung.<br />
Das Übliche. Darüber hinaus Fragen nach Unfallversicherung,<br />
Krankenkasse und Sportverletzungen.<br />
Ich habe das Kleindgedruckte überflogen, dann meine<br />
Un terschrift druntergesetzt (für Geld muss man immer irgendwo<br />
unterschreiben), und zuletzt folgte eine kurze ärztliche<br />
Untersuchung, die ebenfalls fünf Minuten in Anspruch<br />
nahm, womit die ersten 15 Euro schon verdient waren.<br />
Der untersuchende Arzt führte mich in einen weißgekachelten<br />
Raum, fixierte mich, verband mir die Augen<br />
und verließ den Raum.Ich fühlte mich nicht wirklich wohl,<br />
aber lange konnte der Spaß ja nicht mehr dauern. Schließlich<br />
war die Hälfte der Zeit schon vorüber.<br />
Plötzlich ertönte ein Geräusch ähnlich dem Schließsignal<br />
einer U-Bahn, und dann begann die schlimmste Viertelstunde<br />
meines Lebens: Der erste Schlag traf mich in der<br />
Lendengegend, gefolgt von einem beherzten Schienbeintritt,<br />
der in ein mittelschweres Faustschlagstakkato in<br />
Magengrubenregion überging.<br />
Das Ganze dauerte etwa zwei Minuten.<br />
Dann erklang ein zweites Signal und die Schläge verstummten.<br />
Ich vernahm ein leises knisterndes Rauschen<br />
und aus einem Lautsprecher drang die Stimme des Arztes,<br />
der mich bat, meine Eindrücke bezüglich der Qualität<br />
gerade der empfundenen Gewalt zu schildern und auf einer<br />
Skala zwischen 1 und 10 einordnen. Ich antwortete ihm,<br />
er bedankte sich und dann ertönte ein weiteres Signal.<br />
56<br />
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<strong>COMPACT</strong><br />
Leben<br />
Drei Ohrfeigen in schneller Folge, ein Tritt zwischen die<br />
Beine, dazwischen angespuckt, ausserdem gebissen und<br />
gekratzt. Das nächste Signal. Frage nach meinen Eindrükken,<br />
Antwort meinerseits.<br />
In Gedanken stellte ich mir die Frage, was<br />
ich eigentlich gerade unterschrieben hatte. Ich kam jedoch<br />
nicht dazu, meine Phantasie spielen zu lassen, da<br />
schon das nächste Signal ertönte. Dieses Mal ging es gleich<br />
ins Gesicht. Eine Faust-Nase-, Faust-Kinn-, Faust-Auge-<br />
Kombination, drei beeindruckende oberkörperorientierte<br />
Kickboxmoves, zwei Knie im Bauch, dann das Signal.<br />
Die übliche Frage, meine wahrheitsgemäße Antwort.<br />
Danach folgte die Baseballschlägerrunde. Gleich darauf<br />
noch eine schlägerlose mit mehreren Teilnehmern und<br />
zuletzt eine Stockattacke mit weniger harten Schlägen.<br />
Dazwischen wurden immer wieder meine persönlichen<br />
Eindrücke abgefragt, und dann war der Test endlich vorüber.<br />
Mit allem drum und dran hatte er exakt eine halbe Stunde<br />
gedauert.<br />
Der Arzt nahm mir die Augenbinde ab, ich<br />
wurde losgeschnallt und in einem Nebenraum drei Stunden<br />
lang medizinisch versorgt. Ich bekam eine provisorische<br />
Schiene für mein geprelltes Bein, eine Kompresse für<br />
linkes geschwollenes Auge und ein paar Heftpflaster für<br />
verschiedene Platz- und Schürfwunden.<br />
Am Ende trat der Arzt an mein Bett, um mit mir über die<br />
Ergebnisse meines Tests zu sprechen: Innerhalb des Gewaltschlüssel<br />
aus randalierenden Grundschülern (3.Klasse),<br />
einer ethnisch durchmischten Mädchengang (14-17 Jahre),<br />
betrunkenen Ausländern (2,3 Promille), Skinheads (ebenfalls<br />
2,3 Promille), einer Gruppe Hooligans (Lok Leipzig und<br />
BFC Dynamo) und zwei wütenden Rentnern (76 und 83<br />
Jahre), hätte ich erwartungsgemäß Skinheads und Auslän -<br />
der mit 9 von 10 Punkten auf den ersten Platz gewählt und<br />
die aggressiven Rentner mit 2 Punkten am angenehms ten<br />
gefunden.<br />
Damit entspräche mein Ergebnis dem üblichen internationalen<br />
Standard.<br />
Er bedankte sich, drückte mir einen Umschlag mit 30<br />
Euro in die Hand und fragte dann noch, ob ich vielleicht<br />
an der erweiterten Testvariante mitwirken wollte. Springmesser<br />
bei den Grundschülern und Gaspistolen bei den<br />
Hooligans, aber dafür gäbe es dann auch 50 Euro.<br />
Ich lehnte dankend ab.<br />
Wenig später verließ ich humpelnd das Kranken<br />
zimmer, und wollte mir, bevor ich ging, noch einen<br />
Kaffee gönnen. Die Cafeteria war schnell gefunden. Und<br />
dort saß ein halbes Dutzend Grundschüler, die ihre Kinderriegel<br />
aßen, sieben halbwüchsige Mädchen, die sich ihre<br />
Nägel feilten und zwanzig Hooligans, die selbst am Tisch<br />
noch rauften. Ausserdem zwei ältere Herrschaften, die ihre<br />
Gehstöcke polierten, und zuletzt je ein Dutzend Skinheads<br />
und Türken, die bemüht waren, ihren Promillepegel zu<br />
halten.<br />
Ich unterhielt mich noch ein bisschen und erfuhr ganz<br />
nebenbei das einzige, das mich an dieser Sache wirklich<br />
sauer machte: Die bekamen für den Tag jeder 150 Euro!<br />
Kurz darauf ertönte zwei Räume weiter ein Signal, die<br />
Grundschüler sprangen auf um ihrer Arbeit nachzugehen<br />
und ich humpelte heim, um meine sauer verdienten 30<br />
Euro zu verprassen …<br />
Wenn sie also das Bedürfnis haben, sich mal<br />
für die Statistik vermöbeln zu lassen, empfehle ich ihnen<br />
das deutsche Institut für Gewaltprä-, -inter- und -sub vention.<br />
Sollten sie Grundschüler, Rentner, Gangmitglied, Skinhead,<br />
Hooligan oder ein gewaltbereiter Ausländer sein, dann<br />
könnte sich das sogar lohnen…<br />
Christian von Aster ist nach Selbstauskunft<br />
«Genregrenzsaboteur und Cascadeur du Mot»<br />
und übt derzeit das ehrenvolle Amt des<br />
Burgschreibers zu Querfurt aus. Seine Bücher<br />
und DVDs samt Bestellmöglichkeiten finden<br />
sich auf www.vonaster.de. Zuletzt erschien:<br />
Apocalypse au chocolat. Periplaneta, Mai <strong>2010</strong>,<br />
Buch und CD.<br />
<strong>COMPACT</strong> / Nullnummer / Dezember <strong>2010</strong>
Leben<br />
<strong>COMPACT</strong><br />
Affe mit Waffe<br />
Von animue<br />
+ + + D a s n ä c h s t e <strong>COMPACT</strong> e r s c h e i n t a m 1 . M ä r z 2 0 1 1 . + + +<br />
+ + + A b J u n i 2 0 1 1 s t e l l e n w i r a u f m o n a t l i c h e s E r s c h e i n e n u m . + + +<br />
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