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Karnickel kann sie fangen und Regenwürmer rösten. Menschen ...

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linolschnitt, einem Pass nachempf<strong>und</strong>en. Vorname: marion.<br />

nachname: aus dem Walde. Geboren: ja. Ort: erde. ein gemaltes<br />

bild, das <strong>sie</strong> von hinten zeigt. ein stempel der Hamburger melanchthonkirche<br />

<strong>und</strong> eine Telefonnummer.<br />

eine kunsthandwerkerin hat ihn für <strong>sie</strong> hergestellt. marion ist<br />

eine Frau, deren Identität niemand kennt, auch <strong>sie</strong> selber nicht.<br />

mehr als zwei Jahrzehnte hat <strong>sie</strong> fast nur im Wald gelebt, unter<br />

einem Zeltdach, das <strong>sie</strong> aus Tannenzweigen, blättern <strong>und</strong><br />

Plas tiktüten – „den Tüten, die es umsonst gibt“ – zusammengefügt<br />

hat. <strong>sie</strong> baut ihre unterstände ins dickicht, von außen erkennt<br />

man <strong>sie</strong> nicht. Wenn <strong>sie</strong> umzieht, <strong>kann</strong> es auch sein, dass<br />

<strong>sie</strong> sich einen leeren schafstall sucht für eine<br />

nacht. Zwischen büschen <strong>und</strong> bäumen bewegt<br />

<strong>sie</strong> sich geschickt, so dass die Tiere nicht aufgeschreckt<br />

werden. <strong>sie</strong> <strong>kann</strong> mit Pfeil <strong>und</strong> bogen<br />

umgehen, auch Fallen stellen <strong>und</strong> das Fleisch<br />

der erlegten kaninchen auf dem Feuer <strong>rösten</strong>.<br />

<strong>sie</strong> ist eine gute Feuermacherin, auch ohne<br />

streichhölzer. Reibt zwei steine, mit etwas<br />

Heu in der mulde dazwischen, so lange, bis die<br />

Funken schlagen. Im Wald hat <strong>sie</strong> keine angst.<br />

so erzählen es die leute, die von ihrer existenz<br />

wissen.<br />

Zum beispiel andreas Zühlke. er ist der<br />

Pfarrer, dessen Telefonnummer in marions<br />

Pass steht. einmal hatten <strong>sie</strong> sich verabredet,<br />

an einem kreisel hinter einer autobahnabfahrt.<br />

Immer wieder fuhr Zühlke in seinem<br />

auto die R<strong>und</strong>e, er konnte <strong>sie</strong> nirgends ent­<br />

decken. nach einer Weile bemerkte er, wie sich<br />

marions Gestalt aus einem dichten Gebüsch<br />

löste. <strong>sie</strong> hatte ihn eine Weile beobachtet, sich<br />

überzeugt, dass er wirklich allein, ohne begleitung<br />

von Ges<strong>und</strong>heitsdienst oder Polizei,<br />

gekommen war. Zu diesem Zeitpunkt <strong>kann</strong>ten<br />

sich die beiden noch nicht lange.<br />

es ist wohl 25 Jahre her, dass <strong>sie</strong> Zühlke das erste mal anrief.<br />

Warum ihn? möglich, dass <strong>sie</strong> ein paar andere Pfarrer durchtelefoniert<br />

hat, möglich, dass <strong>sie</strong> bei ihm hängengeblieben ist wegen<br />

seiner stimme, die tief <strong>und</strong> ruhig klingt. <strong>sie</strong> wollte kein Geld, nur<br />

reden. <strong>und</strong> <strong>sie</strong> wollte vom Hamburger Hauptbahnhof abgeholt<br />

werden, was er auch tat. schon am Telefon spürte er, dass <strong>sie</strong> sich<br />

psychisch in einem ausnahmezustand befand. bei der Frage, wie<br />

<strong>sie</strong> heiße, gab es ein Hin <strong>und</strong> Her, „wir einigten uns dann auf<br />

marion“. In Wahrheit war es ein anderer name, aber der soll nicht<br />

in der Zeitung stehen. als <strong>sie</strong> später aufs Pfarrhaus zugingen, sah<br />

<strong>sie</strong> durchs Fenster seine Frau in der küche hantieren, drehte sich<br />

um <strong>und</strong> rannte weg, er hinterher. an der küche vorbei schleuste<br />

Zühlke <strong>sie</strong> in die Jugendetage der Gemeinde, brachte ihr gekochte<br />

kartoffeln <strong>und</strong> Gemüse.<br />

58 chrismon 07 . 2012<br />

Marions Zeichnung von<br />

ihrem Bett. Selbst gebaut,<br />

aus Holz <strong>und</strong> Blättern.<br />

Eine Matratze aus Natur<br />

er erfuhr weniges aus ihrem leben: aufgewachsen ist <strong>sie</strong> in einem<br />

kinderheim in köln, mit zwölf oder dreizehn Jahren von dort geflüchtet.<br />

Von da an lebte <strong>sie</strong> ihrer erinnerung nach auf der straße,<br />

schlief unter brücken in Hamburg, jobbte st<strong>und</strong>enweise, <strong>sie</strong> schob<br />

die einkaufswagen in einem Großmarkt vom Parkplatz zum eingang<br />

zurück, fand unterschlupf in einer angrenzenden Garage.<br />

unterwegs hatte <strong>sie</strong> Gustav getroffen, mit dem <strong>sie</strong> eine Weile befre<strong>und</strong>et<br />

war, bis er sich mit ihrem ersparten Geld davonmachte.<br />

In geschlossenen Räumen hält <strong>sie</strong> es nicht lange aus. nur eine<br />

nacht blieb <strong>sie</strong> damals, bei sperrangelweit geöffneten Fenstern,<br />

in der Jugendwohnung der Gemeinde.<br />

Jetzt wartet <strong>sie</strong> auf einem abgelegenen Parkplatz. eine korpulente<br />

Frau mit einer geblümten baseballkappe,<br />

unter der ein paar kurze graue Haarsträhnen<br />

zum Vorschein kommen. andreas Zühlke<br />

parkt den kombi so, dass man auf der ladefläche<br />

sitzen <strong>kann</strong>, marion bleibt mehrere meter<br />

entfernt. es ist der zweite Versuch, mit ihr<br />

zu sprechen, den ersten hatte <strong>sie</strong> abgebrochen.<br />

Jetzt aber ist <strong>sie</strong> vorbereitet. In der Hand hält<br />

<strong>sie</strong> eine strichzeichnung. Ist das ihr bett?<br />

„nicht mein bett“, <strong>sie</strong> kichert, „nur die Zeichnung<br />

davon.“ <strong>sie</strong> erklärt, wie <strong>sie</strong> das bett gebaut<br />

hat, um es von unten zu isolieren. aus<br />

material, das ihr der Wald liefert, Hölzern,<br />

Zweigen. Vor ihr bett legt <strong>sie</strong> ein Tuch, damit<br />

das bett nicht schmutzig wird. drinnen in<br />

ihrem unterstand gibt es ein Regal aus steinen<br />

<strong>und</strong> brettern <strong>und</strong> darin einen Jahreskalender<br />

von der örtlichen sparkasse, den die leute um­<br />

sonst bekämen, sowie ein batteriebetriebenes<br />

Radio. damit hört <strong>sie</strong> ndR 1 niedersachsen –<br />

musik <strong>und</strong> Wetter.<br />

Früher habe <strong>sie</strong> die kälte nicht gespürt,<br />

sagt <strong>sie</strong>, sei das ganze Jahr barfuß durch den<br />

Wald gelaufen, jede nacht. da beobachtete <strong>sie</strong><br />

die Gestirne <strong>und</strong> das dahinziehen der Wolken.<br />

<strong>sie</strong> <strong>kann</strong> sich an den sternen orientieren <strong>und</strong> kennt die Wetterseite<br />

der bäume. der Wald macht ihr keine angst, im Gegenteil.<br />

„da kommen weniger Räuber vorbei als auf der straße.“<br />

Jahrelang hat Sie tiere geJagt, kaninchen, Täubchen,<br />

auch krähen – „aber den Rabenvögeln muss man die Haut<br />

abziehen, sonst schmecken <strong>sie</strong> bitter“. auch <strong>Regenwürmer</strong> mag<br />

<strong>sie</strong>, „aber nur wenn <strong>sie</strong> gebraten sind“. Ihre stimme klingt jetzt<br />

nicht mehr dünn, sondern hat einen singenden Tonfall, <strong>und</strong> dabei<br />

rollt <strong>sie</strong> das R. <strong>sie</strong> hat die spuren der Hasen verfolgt, erzählt <strong>sie</strong>,<br />

es werden wohl kaninchen gewesen sein, <strong>und</strong> <strong>sie</strong> in einer Falle<br />

ge<strong>fangen</strong> – mit Hilfe einer durch den schmutz gezogenen Hose,<br />

deren beine unten zugeb<strong>und</strong>en waren. Wenn das kaninchen<br />

hineingelaufen war, habe <strong>sie</strong> im richtigen moment zugepackt.<br />

cp1207-56-62 Waldfrau [Print_Red].indd 58 18.06.12 13:29

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