38 Mail Mit der Eleganz des Routiniers schliesst Antonio Montiel den Kasten auf, packt die <strong>Post</strong>, zieht einen Scanner aus der Brusttasche und blitzt auf den Strichcode im Innern. Seit einem Jahr werden sämtliche Leerungen auf diese Weise elektronisch dokumentiert.
So schnell möchte man denken können Text Adrian Müller Fotos Eliane Rutihauser «Liebe Chloé Seit wir uns unter dem Birnbaum begegnet sind, gehst du mir nicht mehr aus dem Sinn. Mein Herz rast. Seufzer folgt auf Seufzer. Ohne dich ist alles nichts. Du bist mein Mond, meine Sonne. Ich möchte immer bei dir sein. Empfindest du auch so? Fritz» So oder anders könnte, sollte man schreiben. Schliesslich hat bereits Branchenkenner Ovid darauf hingewiesen, dass «die Liebe die Trägen hasst». Ins Kuvert stecken, Zunge raus, zukleben, Zunge nochmals raus, Marke drauf, den Brief ans Herz gedrückt zum nächsten Briefkasten eilen, einwerfen. Dann beginnt das grosse Bangen. <strong>Die</strong> Frage ist nicht nur: «Liebt sie mich oder liebt sie mich nicht?», sondern auch: «Kommt er an oder nicht?» Zumindest Sorge zwei kann man sich sparen, denn die Schweizer <strong>Post</strong> ist Weltklasse: zuverlässig und fast so schnell wie der geölte Blitz. Modernste Hochleistungsmaschinen und 20 000 Briefpost-Mitarbeiter aus 70 Nationen sorgen dafür, dass das Billetdoux oder die gepfefferte Natelrechnung rechtzeitig ankommen. Eskortieren wir also den Brief auf dem Weg zu unserer – frei erträumten – Liebsten. Vom gelben Kasten Nr. 174 beim Zürcher Schlachthof bis zur boîte aux lettres an der Genfer Rue Vermont. Erlebnisreich ist die Reise, geradezu abenteuerlich: Sprünge über Klippen, Stürze in Schächte, Kollisionen, rasante Sprints und Verschnaufpausen; fluoreszierende Tätowierungen, gründliche Durchleuchtungen, Gerangel von Dicken und Dünnen und ein Happy End am Ziel. Auftakt beim Schlachthof Dire Straits hört Briefkastenleerer Antonio Montiel am liebsten. Als der Fiat mit dem Steuerrad auf der englischen Seite beim Schlachthof hält, flöten allerdings grad Destiny’s Child aus dem Autoradio («tears in my pillow»!). Kasten Nr. 174 haben wir heute Nachmittag unsere süsse Botschaft anvertraut. Mit der Eleganz des Routi- Mail 39 Von Zürich saust ein Brief nach Genf. Wir haben ihn beschattet. Der kleine gelbe Kasten mit dem Schlitz ist das Tor zu einer verborgenen Welt, in der Mensch und Maschine Erstaunliches leisten. niers öffnet Montiel das Türchen, packt die <strong>Post</strong>, zieht einen Scanner aus der Brusttasche und blitzt auf den Strichcode im Innern. Wir staunen und erfahren, dass seit einem Jahr sämtliche Leerungen auf diese Weise elektronisch dokumentiert werden. Sollte also mal ein Kunde steif und fest behaupten, dass der Pöstler einen weiten Bogen um den Kasten gemacht habe, verfügt man über einen hieb- und stichfesten Beweis. «Ritsch ratsch», macht der silberne Rollladen, der Fiat schluckt die Ware. Auf der grössten, 140 Stationen zählenden Tour kön- Antonio Montiel Briefkastenleerer nen das bis zu 6000 Briefe sein. 140-mal aus- und einsteigen spürt man abends im Gebein, und der Briefkastenleerer-Alltag umfasst drei Touren. Montiel schätzt die melodiöse Gesellschaft des Autoradios. Oft stockt der Verkehr, immer drängt die Zeit: «Man braucht viel Geduld und wenns staut, kann auch ich keine Wunder vollbringen.» Wer meint, Briefkästen enthielten bloss Briefe, täuscht sich gewaltig. Montiel erinnert sich an seine bisherigen Funde: Natels, Schlüssel, ausgeweidete Portemonnaies, gebrauchte Spritzen (in den Zürcher Dro-