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Freunde und Feinde

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<strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>Feinde</strong><br />

Friedensgebete in Leipzig<br />

zwischen 1981 <strong>und</strong> dem 9. Oktober 1989<br />

Dokumentation<br />

Herausgegeben von Christian Dietrich <strong>und</strong> Uwe Schwabe<br />

im Auftrag des<br />

„Archiv Bürgerbewegung e.V." Leipzig<br />

Mit einem Vorwort von Harald Wagner<br />

EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT


Umschlagfotos: Informationstafel in der Nikolaikirche, P. Friedrich<br />

Nikolaikirchhof am 18.09.1989 nach dem Friedensgebet, R. Kühn<br />

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme<br />

<strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>Feinde</strong>: Dokumente zu den Friedensgebeten in Leipzig zwischen<br />

1981 <strong>und</strong> dem 9. Oktober 1989 / hrsg. von Christian Dietrich <strong>und</strong> Uwe Schwabe im<br />

Auftr. des „Archiv Bürgerbewegung e.V." Leipzig. Mit einem Vorw. von Harald<br />

Wagner. - Leipzig : Evang. Verl.-Anst., 1994<br />

ISBN 3-374-01551-4<br />

NE: Dietrich, Christian [Hrsg.]; Friedensgebet <br />

ISBN 3-374-01551-4<br />

© 1994 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig<br />

Printed in Germany • H 6478<br />

Satz: Satzstudio S:C:S, Leipzig ,<br />

Druck: Jütte Druck GmbH, Leipzig


Inhaltsverzeichnis<br />

Friedensgebete - Symbol der Befreiung......................................................................................................12<br />

1. Einführende Bemerkungen zur vorliegenden Publikation.........................................................12<br />

2. Friedensengagement, Kirche <strong>und</strong> herrschende Ideologie..........................................................13<br />

3. Frieden als partnerschaftliches Miteinander - Unfrieden als initiierter<br />

„Differenzierungsprozeß“ .........................................................................................................15<br />

4. Tradition, Glaube <strong>und</strong> Basisdemokratie - Quellen des Widerstandes .......................................18<br />

5. Friedensgebete in Leipzig <strong>und</strong> das Ende der DDR ...................................................................21<br />

Editorische Vorbemerkungen......................................................................................................................25<br />

1. Aufbau der Dokumentation.......................................................................................................25<br />

2. Auswahlkriterien <strong>und</strong> zeitliche Abgrenzung.............................................................................25<br />

3. Quellenlage................................................................................................................................26<br />

3.1. Die Akten der SED <strong>und</strong> der staatlichen Behörden ....................................................................27<br />

3.2. Die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit ......................................................................28<br />

3.3. Kirchliche Gremien <strong>und</strong> private Quellen ..................................................................................28<br />

Dokumente<br />

Entstehen einer unabhängigen Friedensbewegung am Rande der evangelischen Kirche in der DDR<br />

Dok. 1 R<strong>und</strong>schreiben der Arbeitsgruppe “Friedensdienst“ zur Friedensdekade 1981.........................32<br />

Dok. 2 Material der AG „Friedensdienst“ für die Friedensdekade 1981...............................................32<br />

Dok. 3 Information des Rates des Bezirkes zur Friedensdekade 1982..................................................34<br />

Dok. 4 Texte des Gottesdienstes während des 1. Leipziger Friedensseminars......................................36<br />

Dok. 5 Protokoll einer Vernehmung durch die Stasi aufgr<strong>und</strong> des Friedensgottesdienstes ..................40<br />

Dok. 6 Bericht vom Rat der Stadt Leipzig über ein Gespräch mit Pfarrern aufgr<strong>und</strong> des<br />

Friedensgottesdienstes...............................................................................................................43<br />

Dok. 7 Einladung des AK „Friedensdienst“ zur Friedensdekade 1982 .................................................46<br />

Dok. 8 Bericht über eine Stasi-Vernehmung wegen des Plakates der AG ............................................47<br />

Dok. 9 Bericht des Rates der Stadt Leipzig über ein Friedensgebet während der<br />

Friedensdekade 1982.................................................................................................................49<br />

Dok. 10 Auszug aus einer Stasi-Monatsberichtserstattung für November 1982 .....................................50<br />

Dok. 11 Brief vom Rat der Stadt Leipzig an den 1. Sekretär der SED-Stadtleitung mit einem<br />

Bericht über Kerzendemonstrationen........................................................................................51<br />

Dok. 12 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit dem Präsidenten<br />

des Landeskirchenamtes............................................................................................................52<br />

Dok. 13 Auszug aus einer Stasi-Monatsberichtserstattung zum November 1983...................................55<br />

Dok. 14 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über die Friedensdekade 1983.............................59<br />

Dok. 15 Text eines Friedensgebetes im Dezember 1983.........................................................................61<br />

Dok. 16 Text des Friedensgebetes zur Friedensdekade 1984 von der AG „Friedensdienst“ ..................62<br />

Dok. 17 Brief einer Gruppe an die Landessynode vom Februar 1985 ....................................................63<br />

Etablierung der politisch-alternativen Gruppen <strong>und</strong> der Friedensgebete zwischen 1985 <strong>und</strong> 1987<br />

Dok. 18 Einladung von evangelischen Jugendmitarbeitern zu den montäglichen<br />

3


Friedensgebeten von Mitte 1985 ...............................................................................................65<br />

Dok. 19 Bericht des Rates des Bezirkes Leipzig zur Friedensdekade 1985 ............................................65<br />

Dok. 20 Brief von Pf. Berger über die Bildung des Bezirkssynodalausschusses an Sup.<br />

Magirius ....................................................................................................................................72<br />

Dok. 21 Ansprache von Pf. Wonneberger zum Abschluß der Friedensdekade 1986..............................73<br />

Dok. 22 Quartalseinschätzung des MfS zur Gruppe „Frauen für den Frieden“ von Ende 1986 .............74<br />

Dok. 23 Stasi-Information über Pf. Wonneberger von Ende 1986..........................................................76<br />

Dok. 24 Aus dem Liturgieheft der Friedensgebete von Anfang 1987.....................................................78<br />

Dok. 25 Brief Pf. Wonnebergers an die Leipziger Gruppen vom Januar 1987 .......................................79<br />

Dok. 26 Brief von Pf. Führer an den Bezirkssynodalausschuß vom Oktober 1987 ................................79<br />

Dok. 27 Stasi-Information über eine Veranstaltung zur Friedensdekade 1987 .......................................80<br />

Dok. 28 Stasi-Information über ein Gespräch von Sup. Magirius mit dem Stellvertreter des<br />

Oberbürgermeisters ...................................................................................................................82<br />

Dok. 29 Stasi-Information über ein Friedensgebet im Dezember 1987 ..................................................83<br />

Die Solidaritätsbewegung nach Inhaftierung Berliner Bürgerrechtler Anfang 1988 <strong>und</strong> das<br />

Zusammenkommen der Ausreisebewegung mit den politisch-alternativen Gruppen im Friedensgebet<br />

Dok. 30 Fernschreiben der SED-Bezirksleitung an das ZK der SED über den Beginn der<br />

Fürbittgebet im Januar 1988......................................................................................................84<br />

Dok. 31 Stasi-Information über ein Gespräch zwischen H. Reitmann <strong>und</strong> den<br />

Superintendenten.......................................................................................................................84<br />

Dok. 32 Auszug aus dem Zweimonatsbericht des Rates der Stadt Leipzig zu Kirchenfragen<br />

für Januar 1988..........................................................................................................................86<br />

Dok. 33 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 01.02.1988............................................88<br />

Dok. 34 Auszug aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (29.01. bis 05.02.1988) ....................................88<br />

Dok. 35 Perspektivüberlegung von Basisgruppenmitgliedern vom Februar 1988 ..................................90<br />

Dok. 36 Stasi-Information zu einem Bürgerrechtler, der Papiere im Friedensgebet verteilte.................92<br />

Dok. 37 Information der SED-Stadtbezirksleitung Leipzig-Mitte an die SED-Bezirksleitung<br />

aufgr<strong>und</strong> des Jarowinsky-Papiers vom 26.02.1988...................................................................93<br />

Dok. 38 Information der SED-Stadtleitung aufgr<strong>und</strong> des Jarowinsky-Papiers vom 26.02.1988 ............95<br />

Dok. 39 Information des Rates des Bezirkes Leipzig aufgr<strong>und</strong> des Jarowinsky-Papiers vom<br />

26.02.1988.................................................................................................................................97<br />

Dok. 40 Bericht eines inoffiziellen Stasi-Mitarbeiters über eine kirchliche Beratung aufgr<strong>und</strong><br />

der Jarowinsky-Rede ...............................................................................................................100<br />

Dok. 41 Zwei Texte aus dem Friedensgebet am 14.03.1988.................................................................104<br />

Dok. 42 Information des Stasi-Ministers über die Demonstration am 14.03.1988................................105<br />

Dok. 43 Bericht eines Demonstranten über den Protestmarsch am 14.03.1988....................................109<br />

Dok. 44 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit dem Präsidenten<br />

des LKA am 15.03.1988..........................................................................................................110<br />

Dok. 45 Interner Stasi-Bericht über das Friedensgebet am 21.03.1988 ................................................111<br />

Dok. 46 Zweimonatsbericht des Rates der Stadt Leipzig zu Kirchenfragen (Februar/März<br />

1988)........................................................................................................................................114<br />

Dok. 47 Predigt von J. Läßig im Friedensgebet am 11.04.1988............................................................119<br />

Dok. 48 Reaktion von OKR Auerbach auf die Läßig-Predigt ...............................................................120<br />

Dok. 49 Texte aus dem Friedensgebet am 18.04.1988 ..........................................................................122<br />

Dok. 50 Vorlage für die Dienstbesprechung des Staatssekretariats für Kirchenfragen am<br />

25.04.1988...............................................................................................................................124<br />

Dok. 51 Stasi-Information über das Friedensgebet am 02.05.1988.......................................................124<br />

Dok. 52 Information des Stasi-Ministers über das Friedensgebet am 02.05.1988 ................................126<br />

Dok. 53 Leserbriefe des Informationsblattes der Leipziger Basisgruppe „Kontakte“ vom April<br />

1988.........................................................................................................................................128<br />

4


Dok. 54 Brief eines Ausreisewilligen an Pf. Führer ..............................................................................129<br />

Dok. 55 Leserbriefe des Informationsblattes der Leipziger Basisgruppen aus „Kontakte“ Juni<br />

1988.........................................................................................................................................131<br />

Dok. 56 Offener Brief der Arbeitsgruppe „Frieden“ in Leipzig-Gohlis, in dem sie ihre<br />

Mitarbeit an den Friedensgebeten aufkündigen ......................................................................131<br />

Dok. 57 Notizen des Leipziger Stasi-Chefs in Vorbereitung der Bezirkseinsatzleitungssitzung<br />

am 27.06.1988 .........................................................................................................................132<br />

Dok. 58 Notizen eines Stasi-Oberleutnants zur Auswertung der Bezirkseinsatzleitungssitzung<br />

am 27.06.1988 .........................................................................................................................133<br />

Dok. 59 Notizen zu einer Stasi-Dienstberatung Ende Juli 1988............................................................134<br />

Dok. 60 Leserbriefe des Informationsblattes der Leipziger Basisgruppen aus „Kontakte“<br />

August 1988 ............................................................................................................................134<br />

Dok. 61 Brief von Pf. Führer an Pf. Wonneberger, Pf. Berger <strong>und</strong> Sup. Magirius zur<br />

Neuordnung der Friedensgebete..............................................................................................134<br />

Dok. 62 Offener Brief der Jugendkommission der CFK zu den Friedensgebeten.................................135<br />

Dok. 63 Auszug aus dem Zweimonatsbericht des Rates der Stadt Leip zig zu Kirchenfragen<br />

(Juni/Juli 1988)........................................................................................................................135<br />

Beendigung der von den Gruppen verantworteten Friedensgebete <strong>und</strong> die Auseinandersetzungen darum<br />

Dok. 64 Brief von Sup. Magirius zur Neuordnung der Friedensgebete vom 15.08.1988 .....................137<br />

Dok. 65 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Vertretern des<br />

Landeskirchenamtes am 18.08.1988 .......................................................................................138<br />

Dok. 66 Brief von Sup. Magirius an Pf. Wonneberger, mit dem Pf. Wonneberger von der<br />

Organisierung der Friedensgebete entb<strong>und</strong>en wurde ..............................................................139<br />

Dok. 67 Offener Brief von Basisgruppenmitgliedern an Sup. Magirius vom 25.08.1988 ....................139<br />

Dok. 68 Begrüßung Pf. Führers im Friedensgebet am 29.08.1988........................................................140<br />

Dok. 69 Erklärung von Sup. Magirius im Friedensgebet am 29.08.1988..............................................141<br />

Dok. 70 Rede Pfarrer Führers im Friedensgebet am 29.08.1988...........................................................142<br />

Dok. 71 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstands am 29.08.1988..............................................142<br />

Dok. 72 Bericht eines Stasi-Mitarbeiters über das Friedensgebet am 29.08.1988 ................................143<br />

Dok. 73 Brief von Kaplan Fischer an Sup. Magirius.............................................................................144<br />

Dok. 74 Mitschrift aus einer Stasi-Beratung am Morgen des 05.09.1988.............................................144<br />

Dok. 75 Vorwort der Samisdat-Dokumentation „Die Kirche“, die im Friedensgebet am<br />

05.09.1988 verteilt wurde........................................................................................................145<br />

Dok. 76 Offener Brief einiger Basisgruppenmitglieder an Landesbischof Hempel vom<br />

05.09.1988...............................................................................................................................146<br />

Dok. 77 Erklärung einiger Basisgruppenmitglieder zur Friedensgebetsordnung vom<br />

05.09.1988...............................................................................................................................148<br />

Dok. 78 Brief des Rates des Bezirkes Leipzig an den Staatssekretär für Kirchenfragen über<br />

die Friedensgebete...................................................................................................................149<br />

Dok. 79 Polizeibericht über das Friedensgebet am 05.09.1988.............................................................150<br />

Dok. 80 Chiffriertes Fernschreiben der SED-Bezirksleitung an das ZK über das Friedensgebet<br />

am 05.09.1988 .........................................................................................................................151<br />

Dok. 81 Bericht eines Demonstranten über den Schweigemarsch am 05.09.1988................................152<br />

Dok. 82 Brief an einen Unterzeichner des Offenen Briefes an Bischof Hempel...................................153<br />

Dok. 83 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über Gespräche mit Synodalen des<br />

B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen in der DDR vom 12.09.1988 ..........................................154<br />

Dok. 84 Telefonprotokoll des Leiters der Stasi-Bezirksverwaltung zu einer Aktion gegen<br />

Ausreisewillige am 12.09.1988...............................................................................................155<br />

Dok. 85 Protokoll der Sitzung des Bezirkssynodalausschusses am 12.09.1988....................................157<br />

Dok. 86 Eingabe von Ausreisewilligen an den Nikolaikirchenvorstand ...............................................158<br />

5


Dok. 87 Bericht eines Stasi-Mitarbeiters u.a. über die Bezirkssynodalausschuß-Sitzung am<br />

12.09.1988...............................................................................................................................160<br />

Dok. 88 Notizen zweier Bürgerrechtler in Vorbereitung eines Gesprächs mit Bischof Hempel ..........164<br />

Dok. 89 Artikel aus den Berliner „Umweltblättern“ zum Leipziger Friedensgebet ..............................164<br />

Dok. 90 MfS-Information über Aktivitäten am Rande des Meetings auf dem Nikolaikirchhof<br />

am 19.09.1988 .........................................................................................................................165<br />

Dok. 91 Information Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Vertretern des<br />

Kirchentags-Landesausschusses am 21.09.1988.....................................................................166<br />

Dok. 92 Erklärung der AG „Umweltschutz“ zum Offenen Brief an Bischof Hempel ..........................166<br />

Dok. 93 Sitzungsprotokoll des Bezirkssynodalausschusses am 30.09.1988 .........................................167<br />

Dok. 94 Brief des Bezirkssynodalausschußvorsitzenden an den Kirchenvorstand von St.<br />

Nikolai vom 02.10.1988..........................................................................................................167<br />

Dok. 95 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 03.10.1988..........................................168<br />

Der Nikolaikirchhof als politisches Forum<br />

Dok. 96 Texte aus dem Friedensgebet am 24.10.1988 ..........................................................................168<br />

Dok. 97 Erklärung zu einer Aktion von Gruppenvertretern im Friedensgebet am 24.10.1988.............170<br />

Dok. 98 Stasi-Befragungsprotokoll eines Bürgerrechtlers aufgr<strong>und</strong> dessen Aktivitäten am<br />

24.10.1988...............................................................................................................................170<br />

Dok. 99 Erklärung zweier Leipziger Gruppen zu Stasi-Aktionen.........................................................172<br />

Dok. 100 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Sup. Magirius................173<br />

Dok. 101 Bericht des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Vertretern des<br />

Kirchentags-Landesausschusses vom 03.11.1988...................................................................174<br />

Dok. 102 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 07.11.1988..........................................175<br />

Dok. 103 Auszug aus einem Brief einer Berliner Gruppe von Ausreisewilligen an E. Honecker ..........176<br />

Dok. 104 Flugblatt des Arbeitskreises.....................................................................................................176<br />

Dok. 105 Brief vom Rat des Bezirkes Leipzig an Bischof Hempel vom 11.11.1988 .............................177<br />

Dok. 106 Erklärung von Pf. Führer zu Beginn der Friedensnacht am 11.11.1988..................................178<br />

Dok. 107 Stellungnahme des Arbeitskreises ...........................................................................................179<br />

Dok. 108 Aktennotiz eines Stasi-Mitarbeiters zu einem Gespräch zwischen Sup. Magirius <strong>und</strong><br />

dem Stellvertreter des Oberbürgermeisters .............................................................................179<br />

Dok. 109 Stasi-Information zur Friedensdekade 1988 ............................................................................180<br />

Dok. 110 Telegramm des Rates des Bezirkes Leipzig an den Staatssekretär für Kirchenfragen<br />

zu einem Gespräch mit OKR Auerbach ..................................................................................184<br />

Dok. 111 Erklärung des Arbeitskreises ...................................................................................................185<br />

Dok. 112 Stellungnahme von Pfarrer Führer vom 16.11.1988................................................................185<br />

Dok. 113 Brief von Bischof Hempel an den Rat des Bezirkes vom 15.11.1988.....................................187<br />

Dok. 114 Gesamteinschätzung des Rates des Bezirkes Leipzig zur Friedensdekade 1988.....................188<br />

Dok. 115 Protokoll des Treffens Bischof Hempels mit Vertretern Leipziger Basisgruppen am<br />

21.11.1988...............................................................................................................................190<br />

Dok. 116 Bericht über ein Gespräch zwischen dem Nikolaikirchenvorstand <strong>und</strong><br />

Basisgruppenvertretern............................................................................................................191<br />

Dok. 117 Brief vom Bezirkssynodalausschuß an den Nikolaikirchenvorstand.......................................193<br />

Dok. 118 Beschwerde gegen eine Ordnungsstrafe ..................................................................................193<br />

Dok. 119 Text eines Flugblattes zum „Tag der Menschenrechte“, welches nach dem<br />

Friedensgebet am 05.12.1988 verteilt wurde ..........................................................................194<br />

Dok. 120 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 05.12.1988..........................................195<br />

Dok. 121 Brief des Vorsitzenden des Nikolaikirchenvorstandes an den<br />

Bezirkssynodalausschuß vom 08.12.1988 mit den Gr<strong>und</strong>sätzen einer zukünftigen<br />

Friedensgebetsgestaltung.........................................................................................................196<br />

Dok. 122 Stasi-Quartalsbericht zu einem Bürgerrechtler ........................................................................197<br />

6


Dok. 123 Brief von Ausreiseantragstellern an den Nikolaikirchenvorstand ...........................................200<br />

Dok. 124 Schreiben der Polizeibehörde an einen Bürgerrechtler............................................................201<br />

Dok. 125 R<strong>und</strong>brief von Pf. Wonneberger an die Basisgruppen zu den Gr<strong>und</strong>sätzen der<br />

Nikolaigemeinde .....................................................................................................................201<br />

Dok. 126 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (03.01.1989)...............................................................202<br />

Dok. 127 Staatliches Vorbereitungsmaterial zu einem Staat-Kirche-Gespräch ......................................203<br />

Verschärfung der Auseinandersetzung um die Friedensgebete nach der gelungenen Demonstration am<br />

15.01.1989 <strong>und</strong> in Vorbereitung des Leipziger Kirchentages<br />

Dok. 128 Stellungnahme der beiden Leipziger Superintendenten zum Demonstrationsaufruf der<br />

„Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft“ vom 16.01.1989...............204<br />

Dok. 129 Auszug aus dem Vermerk zur Beratung zwischen Jarowinsky <strong>und</strong> dem Staatssekretär<br />

für Kirchenfragen am 18.01.1989 ...........................................................................................205<br />

Dok. 130 Erklärung der wegen des Demonstrationsaufrufes Inhaftierten, die im Friedensgebet<br />

verlesen wurde.........................................................................................................................205<br />

Dok. 131 Bericht der SED-Stadtleitung über das Friedensgebet am 23.01.1989....................................206<br />

Dok. 132 Information des Staatssekretariates für Kirchenfragen über ein Gespräch mit Bischof<br />

Hempel am 23.01.1989 ...........................................................................................................207<br />

Dok. 133 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Bischof Hempel<br />

<strong>und</strong> OKR Auerbach am 25.01.1989 ........................................................................................209<br />

Dok. 134 Brief des Bezirkssynodalausschusses an den Nikolaikirchenvorstand vom 26.01.1989 .........211<br />

Dok. 135 Bericht vom Rat des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch zwischen Staatsanwalt <strong>und</strong><br />

Vertretern der Kirche am 30.01.1989......................................................................................211<br />

Dok. 136 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 13.02.1989..........................................215<br />

Dok. 137 Texte des Friedensgebetes am 27.02.1989...............................................................................215<br />

Dok. 138 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 06.03.1989..........................................219<br />

Dok. 139 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Vertretern des<br />

Kirchentagslandesausschusses vom 07.03.1989 .....................................................................220<br />

Dok. 140 Aktennotiz des Rates der Stadt Leipzig über ein Gespräch mit Vertretern des<br />

Nikolaikirchenvorstandes am 07.03.1989 ...............................................................................224<br />

Dok. 141 MfS-Information über eine Ausbürgerung vor der Demonstration am 13.03.1989.................225<br />

Dok. 142 Stasi-Bericht über die Demonstration am 13.03.1989 .............................................................225<br />

Dok. 143 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über das Friedensgebet am 13.03.1989 .............227<br />

Dok. 144 Notiz des Rates des Bezirkes Leipzig mit kirchlichen Terminen ............................................228<br />

Dok. 145 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch zwischen dem<br />

Staatssekretär für Kirchenfragen <strong>und</strong> Bischof Hempel am 15.03.1989 ..................................228<br />

Dok. 146 Aktennotiz des Rates der Stadt Leipzig über ein Gespräch mit den Superintendenten<br />

am 17.03.1989 .........................................................................................................................231<br />

Dok. 147 Stasi-Information über westliche Journalisten, die sich an der Demonstration am<br />

13.03.1989 beteiligten .............................................................................................................232<br />

Dok. 148 Stasi-Quartalsbericht zu einem Bürgerrechtler ........................................................................235<br />

Dok. 149 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Theologen der<br />

Leipziger Universität...............................................................................................................236<br />

Dok. 150 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 10.04.1989..........................................237<br />

Friedensgebetsbesucher im Polizeikessel <strong>und</strong> die Etablierung der Montagsdemonstrationen<br />

Dok. 151 Bericht des MfS über einen Schweigemarsch am 01.05.1989.................................................237<br />

Dok. 152 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Vertretern des<br />

Kirchentagslandesausschusses am 03.05.1989........................................................................238<br />

Dok. 153 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (07./08.05.1989).........................................................239<br />

7


Dok. 154 Reden der IG „Leben“ im Friedensgebet vom 08.05.1989......................................................239<br />

Dok. 155 Textauslegung von E. Dusdal im Friedensgebet vom 08.05.1989...........................................243<br />

Dok. 156 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 08.05.1989. 318..................................243<br />

Dok. 157 Stasi-Bericht über das Friedensgebet am 08.05.1989 ..............................................................244<br />

Dok. 158 Stasi-Bericht über die Demonstration am 08.05.1989 .............................................................246<br />

Dok. 159 Stasi-Bericht über die Verhaftungen am 08.05.1989...............................................................247<br />

Dok. 160 Information des Rates der Stadt über das Friedensgebet am 08.05.1989 ................................249<br />

Dok. 161 ADN-Information über Vorgänge in Leipzig am 07. <strong>und</strong> 08.05.1989.....................................250<br />

Dok. 162 Notizen vom Vorsitzenden des Rates des Bezirkes vom 11.05.1989 ......................................251<br />

Dok. 163 Protokoll der Sondersitzung des Nikolaikirchenvorstandes vom 18.05.1989 .........................252<br />

Dok. 164 Aktennotiz des Rates der Stadt Leipzig über ein Gespräch mit Sup. Magirius am<br />

19.05.1989...............................................................................................................................252<br />

Dok. 165 Stasi-Bericht über die Verhaftungen am 22.05.1989...............................................................254<br />

Dok. 166 Gesprächskonzeption Dr. Reitmanns für zwei Gespräche mit Bischöfen ...............................256<br />

Dok. 167 Brief von Bischof Hempel an den Rat des Bezirkes vom 25.05.1989.....................................258<br />

Dok. 168 Bericht des Rates des Bezirkes Leipzig an das Staatssekretariat für Kirchenfragen<br />

über das Gespräch mit Bischof Hempel vom 26.05.1989 .......................................................260<br />

Dok. 169 Protokoll einer Beratung beim 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Leipzig am<br />

29.05.1989...............................................................................................................................263<br />

Dok. 170 Handschriftliche Aufzeichnungen des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes zur<br />

Beratung beim 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung................................................................266<br />

Dok. 171 Bericht über eine Verhaftung von Bürgerrechtlerinnen...........................................................268<br />

Dok. 172 Auszug aus einem Vermerk zur Beratung zwischen Jarowinsky <strong>und</strong> dem<br />

Staatssekretär für Kirchenfragen am 30.05.1989 ....................................................................269<br />

Dok. 173 Brief von Landesbischof Hempel an den Rat des Bezirkes vom 31.05.1989 ..........................269<br />

Dok. 174 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (12.06.1989)...............................................................270<br />

Dok. 175 Bericht der SED-Stadtleitung Leipzig über die Demonstration am 12.06.1989......................270<br />

Dok. 176 Auszug aus einem Protokoll einer SED-Parteiaktivtagung zum Vorgehen gegen die<br />

Opposition ...............................................................................................................................271<br />

Dok. 177 Auszug aus einem Vermerk zur Beratung zwischen Jarowinsky <strong>und</strong> dem<br />

Staatssekretär für Kirchenfragen am 16.06.1989 ....................................................................277<br />

Dok. 178 Fernschreiben des Leiters der Stasi-Bezirksverwaltung an den stellvertretenden<br />

Minister über das Friedensgebet am 19.06.1989.....................................................................278<br />

Dok. 179 Information der Propaganda-Abteilung der SED-Bezirksleitung über ein<br />

Pressegespräch mit Kirchenvertretern.....................................................................................279<br />

Dok. 180 Stasi-Bericht über das Friedensgebet am 26.06.1989 ..............................................................279<br />

Dok. 181 Auszug aus einem Vermerk zur Beratung zwischen Jarowinsky <strong>und</strong> dem<br />

Staatssekretär für Kirchenfragen am 27.06.1989 ....................................................................280<br />

Dok. 182 Stasi-Quartalsbericht zu einem Bürgerrechtler ........................................................................281<br />

Dok. 183 Aktennotiz des Chefredakteurs der..........................................................................................282<br />

Dok. 184 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (03.07.1989)...............................................................283<br />

Dok. 185 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 03.07.1989..........................................283<br />

Dok. 186 Fernschreiben des Leiters der Stasi-Bezirksverwaltung an den stellvertretenden<br />

Minister über das Friedensgebet am 03.07.1989.....................................................................284<br />

Dok. 187 Brief des Nikolaikirchenvorstandes an den Staatssekretär für Kirchenfragen.........................285<br />

Dok. 188 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (15.08.1989)...............................................................286<br />

Die Demonstrationen nach dem Herbstmesse-Friedensgebet<br />

Dok. 189 Erklärung von drei Studenten anläßlich eines Protestfastens in der Thomaskirche ................286<br />

Dok. 190 Brief des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig an Bischof Hempel ......................................287<br />

8


Dok. 191 Brief des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig an den Nikolaikirchenvorstand....................288<br />

Dok. 192 Bericht des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Vertretern des<br />

Landeskirchenamtes am 22.08.1989 .......................................................................................288<br />

Dok. 193 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 28.08.1989..........................................289<br />

Dok. 194 Brief des Vorsitzenden des Nikolaikirchenvorstandes an den Oberbürgermeister vom<br />

29.08.1989...............................................................................................................................289<br />

Dok. 195 Mitschrift einer Rede des Leipziger Stasi-Chefs am 02.09.1989.............................................290<br />

Dok. 196 Aktennotiz des Rates der Stadt Leipzig über ein Gespräch mit dem<br />

Nikolaikirchenvorstand am 04.09.1989 ..................................................................................290<br />

Dok. 197 Auszug aus dem Zweimonatsbericht des Rates des Bezirkes Leipzig zu<br />

Kirchenfragen (Juli/August 1989)...........................................................................................292<br />

Dok. 198 Bericht der Zentralen Auswertungs- <strong>und</strong> Informationsgruppe des MfS über das<br />

Friedensgebet am 04.09.1989..................................................................................................294<br />

Inhaftierungen nach dem Friedensgebet <strong>und</strong> Bildung einer Koordinierungsgruppe für Fürbittandachten<br />

Dok. 199 Auszug aus Mitschrift einer Stasi-Beratung am 11.09.1989....................................................295<br />

Dok. 200 Augenzeugenbericht über den Polizeiterror am 11.09.1989....................................................295<br />

Dok. 201 Bericht über eine Verhaftung nach dem Friedensgebet am 11./12.09.1989 ............................296<br />

Dok. 202 Fernschreiben der SED-Bezirksleitung über das Friedensgebet am 11.09.1989 .....................298<br />

Dok. 203 Auszug aus dem Protokoll der Tagung der SED-Bezirksleitung am 12.09.1989....................299<br />

Dok. 204 Brief von Sup. Richter an die Pfarrer der Ephorie Leipzig-West ............................................301<br />

Dok. 205 Brief einer Bürgerrechterlin.....................................................................................................302<br />

Dok. 206 Telegramm der Staatsanwaltschaft Leipzig über ein Gespräch mit Bischof Hempel<br />

am 13.09.1989 .........................................................................................................................302<br />

Dok. 207 Erklärung von Mitgliedern des Neuen Forums Leipzig vom 17.09.1989................................304<br />

Dok. 208 Aktenvermerk von Pf. Führer über die Vorgänge am Abend des 18.09.1989.........................305<br />

Dok. 209 Bericht der Zentralen Auswertungs- <strong>und</strong> Informationsgruppe des MfS über das<br />

Friedensgebet am 18.09.1989..................................................................................................306<br />

Dok. 210 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (19.09.1989)...............................................................307<br />

Dok. 211 Eingabe aus Forst an den Rat des Bezirkes wegen der Inhaftierungen nach den<br />

Friedensgebete.........................................................................................................................308<br />

Dok. 212 Brief der Suptur Leipzig-Ost an den Rat der Stadt ..................................................................308<br />

Dok. 213 Tonbandprotokoll eines Fürbittgebetes am 21.09.1989...........................................................309<br />

Dok. 214 Protestbrief von Teilnehmern eines Fürbittgebetes vom 22.09.1989.......................................315<br />

Dok. 215 Informationsblatt der Koordinierungsgruppe für die Fürbittandachten ...................................316<br />

Dok. 216 Überlegungen aus dem Bereich Kirchenfragen des Rates des Bezirkes zu den<br />

Friedensgebeten.......................................................................................................................317<br />

Friedensgebet gegen die Gewalt, die erste große Demonstration <strong>und</strong> die Vorbereitung des<br />

Ausnahmezustandes durch die SED<br />

Dok. 217 Tonbandprotokoll des Friedensgebetes am 25. September 1989.............................................318<br />

Dok. 218 Hausinformation des ZK der SED zur Demonstration am 25.09.1989....................................323<br />

Dok. 219 Fernschreiben der SED-Bezirksleitung zur Demonstration am 25.09.1989 ............................323<br />

Dok. 220 Eingabe eines Pfarrers an den Rat des Bezirkes Leipzig .........................................................324<br />

Dok. 221 Aufzeichnungen zur Sitzung des Sekretariats der SED-Bezirksleitung am 27.09.1989..........324<br />

Dok. 222 Beschluß des Sekretariats der SED-Bezirksleitung vom 27.09.1989 ......................................326<br />

Dok. 223 Bericht des Ersten Sekretärs der SED-Stadtleitung auf der SED-Stadtleitungssitzung<br />

am 28.09.1989 über die Vorgänge an der Nikolaikirche.........................................................328<br />

Dok. 224 Brief von Magirius an den Rat des Bezirkes vom 29.09.1989.................................................329<br />

Dok. 225 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (29.09.1989)...............................................................329<br />

9


Dok. 226 Aus dem Bericht der SED-Gr<strong>und</strong>organisation einer Kompanie der<br />

Bereitschafspolizei ..................................................................................................................330<br />

Dok. 227 Information des MfS über ein Gespräch zwischen Bischof Hempel <strong>und</strong> dem<br />

Staatssekretär für Kirchenfragen am 28.09.1989 ....................................................................330<br />

Dok. 228 Texte aus dem Friedensgebet am 02.10...................................................................................331<br />

Dok. 229 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 02.10.1989..........................................333<br />

Dok. 230 Fernschreiben der SED-Bezirksleitung an E. Honecker über die Demonstration am<br />

02.10.1989...............................................................................................................................334<br />

Dok. 231 Brief eines Genossen an das Bezirkskirchenamt Leipzig vom 02.10.1989 .............................336<br />

Dok. 232 Information der Polizei über das Friedensgebet am 02.10.1989..............................................338<br />

Dok. 233 Vermerk Pf. Führers über Informationen, die er am 03.10.1989 erhielt..................................338<br />

Dok. 234 Brief von Pf. Führer an Pf. Ebeling zur Öffnung der Thomaskirche für<br />

Friedensgebete.........................................................................................................................339<br />

Dok. 235 Fernschreiben der SED-Bezirksleitung an E. Krenz vom 05.10.1989.....................................340<br />

Dok. 236 Vermerk des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Bischof Hempel am<br />

05.10.1989...............................................................................................................................341<br />

Dok. 237 Befehl des Leipziger Stasi-Chefs vom 06.10.1989..................................................................344<br />

Dok. 238 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (06.10.1989)...............................................................344<br />

Dok. 239 Information des Rates des Stadtbezirkes Südost Leipzig über einen Gottesdienst am<br />

07.10.1989...............................................................................................................................345<br />

Der 9. Oktober <strong>und</strong> der Beginn der Herbstgesellschaft<br />

Dok. 240 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Bischof Hempel<br />

am 09.10.1989 .........................................................................................................................346<br />

Dok. 241 Aktennotiz des Rates des Bezirkes Leipzig über eine Information von OKR<br />

Auerbach .................................................................................................................................347<br />

Dok. 242 Information zur Lage von der SED-Stadtbezirksleitung Leipzig-Mitte vom<br />

09.10.1989...............................................................................................................................348<br />

Dok. 243 Mitschrift aus einer Stasi-Beratung am 09.10.1989, 19.00 Uhr...............................................350<br />

Dok. 244 Einschätzung der SED-Stadtleitung über das Friedensgebet am 09.10.1989 in der<br />

Nikolaikirche...........................................................................................................................350<br />

Dok. 245 Brief vom Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig an den Vorsitzenden des<br />

Ministerrates über die Demonstration am 09.10.1989 ............................................................352<br />

Dok. 246 Information des Staatssekretärs für Kirchenfragen an das ZK der SED über das<br />

Friedensgebet am 09.10.1989..................................................................................................353<br />

Anhang<br />

Institutionen, Organisationen <strong>und</strong> Ereignisse<br />

Beratung beim 1. Sekretär......................................................................................................................... 355<br />

Bezirkssynodalausschuß (BSA) ................................................................................................................ 355<br />

Ehrenamtliche Mitarbeiter für Kirchenfragen........................................................................................... 356<br />

Einsatzleitung <strong>und</strong> Mobilmachung............................................................................................................ 357<br />

Gesellschaftliche Kräfte ............................................................................................................................ 359<br />

Kampfgruppen........................................................................................................................................... 360<br />

Kirchenstruktur in Leipzig bzw. Sachsen.................................................................................................. 361<br />

Kirchentag in Leipzig 1989....................................................................................................................... 362<br />

Kirchenvorstand St. Nikolai - St. Johannis ............................................................................................... 367<br />

10


Kleines Kollektiv....................................................................................................................................... 367<br />

Kommunikationszentrum (KOZ) .............................................................................................................. 369<br />

Konziliarer Prozeß..................................................................................................................................... 370<br />

Montagsdemonstrationen .......................................................................................................................... 370<br />

Entwicklung der Montagsdemonstrationen...............................................................................................374<br />

Olof-Palme-Marsch................................................................................................................................... 375<br />

Pleißemarsch ............................................................................................................................................. 375<br />

Sozialer Friedensdienst (SoFD)................................................................................................................. 376<br />

Spitzengespräch am 6. März 1978 ............................................................................................................ 377<br />

Staatssicherheit in Leipzig......................................................................................................................... 379<br />

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) .................................................................................... 380<br />

Leipziger Gruppen....................................................................................................................... 381<br />

Aktion Sühnezeichen, Bezirksgruppe Leipzig .......................................................................................... 381<br />

Arbeitsgruppe „Konziliarer Prozeß im Vorschulalter“ ............................................................................. 382<br />

Arbeitsgruppe Friedensdienst (AGF) ........................................................................................................ 382<br />

Arbeitsgruppe für Frieden Gohlis.............................................................................................................. 382<br />

Arbeitsgruppe Menschenrechte (AGM).................................................................................................... 382<br />

Arbeitsgruppe Umweltschutz (AGU)........................................................................................................ 382<br />

Arbeitsgruppe Wehrdienstfragen beim Jugendpfarramt ........................................................................... 383<br />

Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR.................................................................. 383<br />

Arbeitskreis „Treff für Haftentlassene“..................................................................................................... 383<br />

Arbeitskreis Abgrenzung <strong>und</strong> Öffnung ..................................................................................................... 383<br />

Arbeitskreis Bausoldaten........................................................................................................................... 384<br />

Arbeitskreis Friedensdienst ....................................................................................................................... 384<br />

Arbeitskreis Gerechtigkeit (AKG) ............................................................................................................ 384<br />

Arbeitskreis Gerechtigkeit <strong>und</strong> Ökumene ................................................................................................. 384<br />

Arbeitskreis Solidarische Kirche (AKSK) Leipzig ................................................................................... 384<br />

Christliche Friedenskonferenz (CFK), Kommission Friedensdienst der Jugend (Leipzig) ...................... 385<br />

Demokratische Initiative - Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft (DI) ............ 385<br />

Eine Mark für Espenhain........................................................................................................................... 385<br />

Frauen für den Frieden .............................................................................................................................. 386<br />

Friedenskreis Grünau/Lindenau ................................................................................................................ 386<br />

Gesprächskreis „Hoffnung für Ausreisewillige“....................................................................................... 386<br />

Gruppe Neues Denken............................................................................................................................... 386<br />

Initiativgruppe Hoffnung Nikaragua (IHN) .............................................................................................. 386<br />

Initiativgruppe Leben (IGL)...................................................................................................................... 387<br />

Jugendkonvent Leipzig.............................................................................................................................. 387<br />

Kadenkreis................................................................................................................................................. 387<br />

Kontakte .................................................................................................................................................... 387<br />

Kontaktgruppe „Friedensgebet für die Inhaftierten“................................................................................. 388<br />

Koordinierungsgruppe............................................................................................................................... 388<br />

KOZ-Trägerkreis....................................................................................................................................... 388<br />

Offene Arbeit Mockau............................................................................................................................... 388<br />

Chronik zu den Friedensgebeten <strong>und</strong> politisch-alternativen Gruppen in Leipzig .....................................389<br />

Verzeichnis der aufgesuchten Archive <strong>und</strong> benutzen Akten.....................................................................419<br />

Unlizensierte Publikationen der Basisgruppen..........................................................................................420<br />

Verwendete Literatur.................................................................................................................................420<br />

Personenverzeichnis ..................................................................................................................................425<br />

Abkürzungsverzeichnis .............................................................................................................................435<br />

11


Friedensgebete - Symbol der Befreiung<br />

„Die Welt ist wahr für uns alle, doch verschieden für jeden einzelnen.“ (Marcel Proust) 1<br />

1. Einführende Bemerkungen zur vorliegenden Publikation<br />

Das vorliegende Buch reiht sich nicht ein in die mittlerweile unüberschaubare Flut der Schriften über die<br />

Revolution in Ostdeutschland <strong>und</strong> den damit einhergehenden Zusammenbruch der DDR <strong>und</strong> auch nicht in<br />

die Abhandlungen über die Rolle der Kirchen in der DDR. Das Besondere der vorliegenden Publikation<br />

besteht in der Reichhaltigkeit des Materials, der Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven <strong>und</strong> einer<br />

dadurch möglichen Reflexion. Sie stellt den Versuch dar, ein gesellschaftliches Phänomen innerhalb eines<br />

historisch kurzen Zeitabschnittes in einem überschaubaren sozialen Raum zu rekonstruieren. Es können<br />

also keine generellen Aussagen über die Rolle der Kirche bzw. umfassende Darstellungen selbst der<br />

Ereignisse in Leipzig erwartet werden. Allerdings besteht die begründete Hoffnung, daß hiermit ein<br />

wesentlicher Beitrag vorliegt, der sich jenseits von Gutdünken <strong>und</strong> Vorurteilen auf dieses Ziel zubewegt.<br />

Denn wenn Verstehen geschichtlicher Ereignisse überhaupt möglich sein soll, dann könnte die hier<br />

vorgelegte Auswahl der Dokumente, die Perspektivenvielfalt <strong>und</strong> die differenzierten Deutungsangebote<br />

die besten Voraussetzungen dazu bieten. Der Dokumententeil bringt im einzelnen: kirchliche Quellen<br />

(Originaltexte der Veranstaltungen; Protokolle kirchlicher Gremien; Reflexionen der Kirchenleitungen<br />

<strong>und</strong> Gruppen; Gedächtnisprotokolle Beteiligter), persönliche Aufzeichnungen <strong>und</strong> staatliche Quellen<br />

(öffentliche Verlautbarungen zu obigen Ereignissen; entsprechende interne Protokolle der Staats-, Partei-<br />

<strong>und</strong> Sicherheitsorgane; daraus folgende Anordnungen; operative Pläne).<br />

So kann an einem Ereignis nachvollzogen werden, welch verzweigtes Kapillarsystem der<br />

Kommunikation, welche Mißverständnisse <strong>und</strong> Fehlinterpretationen, welche Vorurteile <strong>und</strong> massiven<br />

Beeinflussungen relevant waren bzw. den stets präsenten Horizont jeder Handlung bildeten. Die<br />

LeserInnen werden damit in die Lage versetzt, die wirklichen Dimensionen selbst zu erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> zu<br />

eigenständigen Beurteilungen zu gelangen. Um dies zu erleichtern, werden im Anhang Schlüsselbegriffe<br />

erläutert <strong>und</strong> mitunter kurze Erklärungen im Text eingefügt.<br />

In diesem einleitenden Aufsatz sollen vier Problemkreise aus soziologischer Sicht erörtert werden, um<br />

Hilfen zum Verständnis anzubieten. In der Auseinandersetzung mit den Texten stellte sich dies als<br />

besonders dringlich heraus, weil andernfalls mit der Lektüre unbemerkt die Vorurteile befestigt würden,<br />

die historisch produziert <strong>und</strong> manipuliert wurden. Uns leitet dabei die Überzeugung, daß<br />

Erkenntnisgewinn erst möglich wird durch immer wieder neues Aushandeln der jeweiligen<br />

Wirklichkeitsdefinition unter Einbeziehung der subjektiven Erfahrungswelten.<br />

Sicher ist aus der Geschichte nichts zu lernen im Sinne einer Korrektur gesellschaftlicher Großversuche. 2<br />

Möglicherweise aber dadurch, daß raumzeitliche Gesellschaftsstrukturen, imaginäre Institutionen <strong>und</strong><br />

kollektive Handlungsmuster sich aufhellen. Die Handlungssubjekte könnten dann in neuen<br />

Handlungssituationen über differenziertere Einsichten in Handlungsspielräume (Wissen um funktionale<br />

Äquivalente) verfügen. Dies bedeutet die reflexiv gewendete Integration historischer Ereignisse in<br />

aktuelle Problemlagen. Damit ist also nicht eine Vergangenheitsaufarbeitung im Sinne einer Auf- <strong>und</strong><br />

Abrechnung beabsichtigt, sondern Verstehen durch Horizonterweiterung, durch Erkennen eigener<br />

Begrenztheit, aber vor allem im Abbau von Bewußtseinsmüll aus Produktion <strong>und</strong> Distribution der STASI.<br />

Die skrupellose <strong>und</strong> äußerst wirksame Manipulation des Bewußtseins der fernen <strong>und</strong> nahen Beteiligten<br />

durch die Stasi aufzuarbeiten ist ein nicht nur die Bewohner der ehemaligen DDR angehendes Problem.<br />

Im Interesse des Friedens geht es dabei besonders um die Entlarvung der noch überall latenten Folgen der<br />

„Differenzierungsprozesse“. In ihnen wurde Wirklichkeitsdeutung fremdbestimmt, Handeln beeinflußt<br />

<strong>und</strong> Erinnerung - subjektive wie kollektive - präformiert. Dies unselige Werk kann <strong>und</strong> wird fortwirken,<br />

1 Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Gefangene 1, Frankfurt 1969, S.254.<br />

2 Dies konnte bereits K. R. Popper überzeugend nachweisen; vgl. Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus.<br />

Tübingen 1965.<br />

12


solange uns die Mechanismen <strong>und</strong> die eigene Betroffenheit verborgen bleiben.<br />

Von einer weiteren Warte aus betrachtet, sollte natürlich der Geheimdienst der ehemaligen DDR keine<br />

Rolle mehr spielen, sondern wir sollten uns fragen (lassen), wie wir mit diesem Rhizom umgegangen sind,<br />

inwieweit wir uns haben erfassen lassen <strong>und</strong> welche Möglichkeiten der Resistenz <strong>und</strong> Läuterung<br />

offenstehen.<br />

2. Friedensengagement, Kirche <strong>und</strong> herrschende Ideologie<br />

Alle menschlichen Aktivitäten sind unlösbar eingeb<strong>und</strong>en in den jeweiligen sozialen Kontext. Das, was<br />

Menschen wissen <strong>und</strong> glauben, wie sie sich verhalten, was sie bevorzugen <strong>und</strong> was sie wie beurteilen, ist<br />

geprägt von der Welt, in der sie leben. Diese Lebenswelt bietet den stets unproblematisch erscheinenden<br />

Hintergr<strong>und</strong> unseres Erlebens <strong>und</strong> Verstehens. Dieses Reservoir alltäglichen Wissens wird uns in den<br />

feinsten <strong>und</strong> unscheinbarsten Formen des Zusammenlebens vermittelt. Es bildet einen Horizont von<br />

Selbstverständlichkeiten, die geprägt sind durch die jeweilige Kultur, durch allgemeine <strong>und</strong> spezielle<br />

Formen der Tradition, durch ideologische Überlagerungen, die in die Lebenswelt einsickern, <strong>und</strong> - in der<br />

Moderne stärker denn je - durch den angebotenen Medienkonsum. Weltdeutungen sind stets<br />

lebensweltlich vermittelt - objektive, extram<strong>und</strong>ane Welterkenntnis ist unmöglich. Alle Sozialität beruht<br />

auf dieser Einbettung in eine Lebenswelt. Individualität kann sich nicht außerhalb herausbilden, sondern<br />

sie ist auf die Interaktionen in der Lebenswelt angewiesen. Das Zentrum der jeweiligen Lebenswelt bildet<br />

der eigene Körper, der Leib. Um ihn schichten sich die Strukturen der Lebenswelt in räumlicher, zeitlicher<br />

<strong>und</strong> sozialer Hinsicht. Niemand kann seine eigene Lebenswelt überschreiten. Es ist lediglich möglich, sie<br />

auszudehnen. Aus dem eben Gesagten geht hervor, daß die Lebenswelten von Menschen nie völlig<br />

kongruent sein können. Auch für Personen, die im gleichen Land leben, bestehen vielfältige<br />

Abweichungen, bei gleichzeitigen Überschneidungen <strong>und</strong> Abhängigkeiten. In Gesellschaften mit geringer<br />

Mobilität <strong>und</strong> Strukturierung gleichen sich die individuellen Lebenswelten stärker als in solchen mit<br />

entgegengesetzten Kennzeichen. Aus diesen Andeutungen zur Theorie der Lebenswelt soll folgendes<br />

deutlich werden: Menschen, die in einem sozialen Raum zusammenleben, sind wesentlich mehr durch ihn<br />

geprägt, als es ihnen bewußt ist. Personen aus deutlich anderen sozialen Bezügen dagegen verfügen nur<br />

begrenzt über das jeweils notwendige Wissen, was zum erfolgreichen Handeln nötig ist. Deutlich wird<br />

dies immer im Falle großer Brüche in der Lebenswelt, wie es individuell durch eine Übersiedlung in ein<br />

anderes Land geschehen kann oder wie wir es momentan auf dem Gebiet der ehemaligen DDR feststellen:<br />

bis dahin gültiges Handlungswissen wird in großem Umfang entwertet, psychische Erkrankungen,<br />

Motivationsverluste <strong>und</strong> Anomien treten gehäuft auf. In diese Zusammenhänge ist die Fähigkeit zur<br />

Deutung von Handlungen eingeschlossen. Dahinter steht die Überzeugung, daß Handlungen selbst keine<br />

Bedeutung eignet, sondern daß es dazu immer einer Interpretation bedarf. Diese Interpretationsleistung<br />

wird wesentlich durch die Strukturen der Lebenswelt beeinflußt: gemeinsame Lebensweltsegmente<br />

befördern. das Verstehen. Die Beurteilung einer fremden Gesellschaft bzw. von Personen, die zur eigenen<br />

Lebenswelt kaum Kontakt haben, beruht notwendig immer auf den eigenen Deutungsmustern <strong>und</strong> nicht<br />

auf denen der Fremdgruppe 3 .<br />

Dies alles ist nun von höchster Relevanz für die Erklärung des Friedensengagements in der DDR, für die<br />

Rolle, die die Kirchen dabei gespielt haben, <strong>und</strong> die Probleme, die heute bei der Beurteilung all dessen<br />

auftauchen. Heute, da das Ende der vierzigjährigen Diktatur der SED vor aller Augen liegt, heute wird es<br />

wichtig, sich erinnern zu lassen, was wir damals gedacht haben 4 . Keineswegs soll damit gesagt sein, daß<br />

3 Inwieweit dies methodisch überhaupt überw<strong>und</strong>en werden kann, soll hier nicht diskutiert werden. Es verweist<br />

aber auf die Versuchungen aller Ethnologie <strong>und</strong> Geschichtsschreibung von außen: Besserwisserei, Bewertung aus<br />

sicherem Abstand <strong>und</strong> aus der eigenen Weltsicht. Dies kann sich souverän <strong>und</strong> weltmännisch geben, ist damit<br />

aber nur lebensweltlich eingeschlossen in eine Sicht, die meint, den Kulminationspunkt menschlicher<br />

Entwicklung darzustellen.<br />

4 Vgl. dazu D. Pollack: Selbstverlust durch Engagement. Das Gift wirkt weiter. Später Triumph der Stasi. In: LMH<br />

5/91, S. 213. D. Pollack erinnert daran, daß nicht nur die DDR-Bürger, sondern die ganze Welt - also auch die<br />

B<strong>und</strong>esrepublik - den DDR-Staat faktisch anerkannt <strong>und</strong> mit ihm zusammengearbeitet hatte.<br />

13


alle dem gleichen Weltbild anhingen oder sich in gleicher Weise verhalten hätten. Im Gegenteil, es<br />

bestanden f<strong>und</strong>amentale Unterschiede, aber selbst diese waren auf das subtilste aufeinander bezogen, <strong>und</strong><br />

einige der entscheidenden - natürlich gegensätzlich gewerteten - Rahmenbedingungen unserer Existenz<br />

wurden von allen als unproblematisch angesehen <strong>und</strong> geteilt. Textzeugen sind hier wesentlich<br />

unbestechlicher als das eigene Erinnerungsvermögen. Interessant ist beispielsweise, daß selbst unsinnige<br />

<strong>und</strong> perverse Sprachregelungen in die Alltagssprache übernommen wurden. Und erst, wenn dieses<br />

Geflecht in seinem ganzen Ausmaß gesehen wird, erlangen deutlich davon abweichende Erkenntnisse <strong>und</strong><br />

Handlungen die ihnen zustehende Anerkennung. Den LeserInnen der vorgelegten Dokumente ist es an die<br />

Hand gegeben nachzuvollziehen, wie es beispielsweise mit der unbewußten Situationsdefinition aussah.<br />

Welche Chancen wurden einer Reform zugestanden, wer hatte sich gar vom möglichen Zusammenbruch<br />

der Parteidiktatur leiten lassen? Welche Schritte zur Wiedervereinigung bzw. zu einer deutschen<br />

Konföderation wurden in Betracht gezogen? Und wie sah es mit der Bewertung der<br />

Handlungsmöglichkeiten der DDR gegenüber der Sowjetunion, der Kirche gegenüber dem Staat aus?<br />

Hierher gehört auch die Frage, wie die Gruppen ihren eigenen Spielraum eingeschätzt <strong>und</strong> sich als<br />

Opposition verstanden haben. Pauschalisierende <strong>und</strong> nachträgliche Beurteilungen sowohl von Betroffenen<br />

als auch von auswärtigen Beobachtern gehen völlig am Problem vorbei <strong>und</strong> eignen sich lediglich,<br />

Klischees zu befestigen.<br />

Angesagt ist eine detaillierte Analyse der seinerzeit agierenden Gruppierungen 5 - unter Beachtung von<br />

Persönlichkeitsmerkmalen wichtiger Vertreter - vor dem Hintergr<strong>und</strong> eines lebensweltlich vermittelten<br />

Wissens <strong>und</strong> Verhaltens. Nur eine solche Betrachtungsweise bewahrt vor ungerechtfertigten<br />

Vereinnahmungen <strong>und</strong> vor anachronistischen Aburteilungen.<br />

Im Hinblick auf die Gruppen spiegeln sich solche Mißverständnisse beispielsweise in der pathetischschulmeisterlich<br />

vorgetragenen Tautologie, daß man die Gruppen nicht idealisieren solle, denn auch sie<br />

wären beeinflußt gewesen von der herrschenden Ideologie. Natürlich waren auch sie davon geprägt, denn<br />

ein völliges Aussteigen aus den sozialen Lebensräumen war weder möglich noch angestrebt. Bei einigen<br />

Gruppen war lediglich daran gedacht, über subkulturelle Lebensweisen mit solidarischen <strong>und</strong><br />

ökologischen Gr<strong>und</strong>positionen gestaltend auf die Gesamtgesellschaft einzuwirken. Dabei ist von keiner<br />

Gruppierung - soweit bekannt - ernsthaft der Sturz des Regimes betrieben worden. Dokumente in diesem<br />

Sinne sind hier reichlich zu finden. Verwiesen sei auf Joachim Garstecki (im FG vom 11. 11. 84) <strong>und</strong><br />

Jochen Lässig (vgl. Predigt vom 11. 4. 88; vgl. Dokumente 16 <strong>und</strong> 47), die ja beide von jedem Verdacht<br />

frei sind, Apologeten der ostdeutschen Machthaber gewesen zu sein. Regelrecht als Opposition haben sich<br />

die Gruppen größtenteils erst ab Herbst 1988 gesehen (auch dies war ein Bestandteil der lebensweltlich<br />

vermittelten Ideologie: wir sind nicht Opposition zum Sozialismus, sondern entschiedene<br />

Reformbewegung).<br />

In den verschiedenen Gremien der Kirchenleitung war dagegen ein anderes Gr<strong>und</strong>verständnis anzutreffen.<br />

Hier bestanden tendenziell größere Abneigungen gegenüber der Idee des Sozialismus, da dieser oft mit<br />

Kirchenfeindlichkeit identifiziert wurde. Dagegen aber war eine relativ hohe Anerkennung staatlicher<br />

Ordnungsfunktionen anzutreffen. An Reformen waren natürlich auch die Kirchenleitungen interessiert,<br />

aber nur so weit, wie es den mühsam ausgehandelten Status Quo zwischen Kirche <strong>und</strong> Staat unberührt<br />

ließ. So war es den kirchlichen Exponenten eher unangenehm, von der Gesellschaft gegen den Staat<br />

vereinnahmt zu werden. Sie verwiesen immer wieder darauf 6 , daß die Kirche doch frei sei vom Verdacht,<br />

die Probleme des Staates lösen zu wollen. Das handlungsleitende Interesse der Kirchenleitungen -<br />

gegenüber dem der Gruppen - bestand also nicht in der Herbeiführung von Reformen, sondern in der<br />

Einhaltung der Ergebnisse des Spitzengespräches vom 6. 3. 1978. Alle Kritik <strong>und</strong> jegliche Aktivitäten<br />

mußten sich daran messen lassen, ob sie die formal zuerkannten Rechte der Kirchen auch nicht<br />

gefährdeten. Diese Position kann durchaus als vorsichtiges Taktieren eingeschätzt werden, keinesfalls aber<br />

als Kumpanei, als komplizenhafte Unterstützung eines Unrechtsregimes.<br />

5 Vgl. die weiterführenden Überlegungen bei: Harald Wagner: Kirche, Staat <strong>und</strong> politisch alternative Gruppen.<br />

Engagement zwischen Evangelium <strong>und</strong> Reglementierung. In: Horst Dähn (Hg:): Die Rolle der Kirchen in der<br />

DDR. Eine erste Bilanz. München 1993.<br />

6 Vgl. exemplarisch: Reinhard Henkys: Wenig Zukunftsweisendes. In: KiS 2/1988, S. 41ff.<br />

14


Um diese Behauptung zu stützen, scheint es an dieser Stelle angebracht, einige gr<strong>und</strong>sätzliche Worte zur<br />

Religion zu verlieren. Religion hat menschheitsgeschichtlich immer zwei Gr<strong>und</strong>funktionen zu erfüllen:<br />

eine integrativstabilisierende <strong>und</strong> eine befreiendaufrüttelnde. Beide widersprechen sich nur scheinbar <strong>und</strong><br />

schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander gerade. Das wird nur dadurch verdunkelt, daß es<br />

immer wieder kirchliche Machtzentren gibt, die eine Funktion in den Vordergr<strong>und</strong> rücken <strong>und</strong> die andere<br />

mitunter gar bekämpfen. In der Geschichte der christlichen Kirchen - im Gegensatz zur biblischen<br />

Botschaft - bestand fraglos eine Dominanz der integrativ-stabilisierenden Funktion, unstrittig ist auch, daß<br />

dies wiederholt machtpolitisch ausgenutzt, christlicher Glaube also instrumentalisiert wurde. Nie aber war<br />

die andere Stimme völlig verlorengegangen: in allen Zeiten ist das prophetisch-reformatorische Element<br />

anzutreffen. In diesem Sinne kann der Gegensatz von Kirche <strong>und</strong> Gruppen in der DDR nur so verstanden<br />

werden, daß Kirche ohne die Gruppen die ihr obliegende Aufgabe, die Erfüllung der Funktion der<br />

Religion, hätte nicht wahrnehmen können. Die Gruppen sind nicht nur „auch“ Kirche, sondern ohne sie<br />

wäre die Kirche nur ein deformierter Restkörper. Andererseits wären die Gruppen ohne Erfüllung der<br />

integrativ-stabilisierenden Funktion in den Gemeinden <strong>und</strong> Kirchenleitungen nicht in der Lage gewesen,<br />

eine so hohe Akzeptanz <strong>und</strong> Wirksamkeit zu erringen. Kompliziert <strong>und</strong> komplikationsreich wurde die<br />

Situation dadurch, daß die Gruppen gegen Ende der achtziger Jahre nicht mehr nur religiöse Bewegungen<br />

vertraten, sondern teilweise zu ausschließlich politisch motivierten Reformgruppen wurden. Dies aber<br />

hätte keineswegs zu der schroffen Auseinandersetzung führen müssen, wie sie dann auftrat - zumindest<br />

nicht in der Phase der Auseinandersetzung mit dem SED-Regime. Dazu bedurfte es noch eines<br />

zusätzlichen Elements, eines vom Staatsicherheitsdienst manipulierten Differenzierungsprozesses.<br />

3. Frieden als partnerschaftliches Miteinander - Unfrieden als initiierter<br />

„Differenzierungsprozeß“<br />

Es ist ein altes Dilemma, daß Menschen Schwierigkeiten, die sie erdulden müssen - wie z. B.<br />

Arbeitslosigkeit -, als persönliches Versagen ansehen, anstatt die strukturelle Bedingtheit zu erfassen. Im<br />

Ergebnis dessen werden sie durch Schuldkomplexe niedergedrückt, ziehen sich zurück, werden verbittert,<br />

<strong>und</strong> - komplementär dazu - es gelangen die wirklichen Ursachen nicht zur Aufklärung. Natürlich sind<br />

soziale Strukturen immer auch von Menschen getragen, sie sind demzufolge nicht „unschuldig“ an den<br />

manifesten Gesellschaftsstrukturen. Diese Feststellung soll auf die Komplexität der Bedingungen<br />

stalinistischer Herrschaft hinweisen <strong>und</strong> im besonderen auf das Staat-Kirche-Verhältnis. Denn mit dem<br />

SED-Staat <strong>und</strong> den Kirchen lagen Institutionen vor, die in sich jeweils eigenen Strukturen verpflichtet<br />

waren. Diese jeweils aktuelle Form der Koexistenz (die als Möglichkeit vom Kirchenstaat bis zur<br />

kirchenfeindlichen Diktatur reichen kann) beruht auf Überlagerungen der beteiligten Einheiten, wobei<br />

Fragen der Dominanz von entscheidender Bedeutung sind. Ohne hier die Geschichte dieser Beziehung -<br />

mit allen Bedingungen <strong>und</strong> Besonderheiten - aufzeigen zu können, darf konstatiert werden, daß eine<br />

leidliche Akzeptanz (nach beeindruckendem Widerstand in der Gründungsphase der DDR!) der Kirchen<br />

durch den atheistischen Staat vorlag. Die besonderen Kennzeichen waren einerseits in einer Ähnlichkeit<br />

<strong>und</strong> andererseits in einer offenen Konkurrenz gegeben. Das Moment der formalen Vergleichbarkeit<br />

bestand darin, daß beide Institutionen hierarchisch gegliedert waren <strong>und</strong> somit eine kompatible<br />

Kommunikationsweise vertraten. Die Konkurrenz innerhalb ihrer Beziehung ging so weit, daß beide die<br />

andere ausgelöscht hätten, wenn dies ohne größeren Schaden hätte gelingen können. Da das keiner von<br />

beiden möglich war, zeigten sich beide an einem praktikablen Modus vivendi interessiert. Dieses<br />

Gr<strong>und</strong>verhältnis wurde natürlich durch vielfältige andere Interessen - innenpolitische wie außenpolitische<br />

- überlagert, welche die Geschichte der Staat-Kirche-Beziehung dann prägten. Auch innerhalb der Kirche<br />

gab es völlig unterschiedliche Positionen, die von der Abscheu vor einer „Proletendiktatur“ bis zur<br />

völligen Konformität mit den Interessen des Staates reichten. Vergessen werden darf zudem nicht, daß die<br />

Machtverteilung völlig asymmetrisch war, d.h., der Staat verfügte uneingeschränkt über das<br />

Machtmonopol: Neben allen möglichen Schikanen gegenüber der verfaßten Kirche, Benachteiligung von<br />

Christen im alltäglichen Leben <strong>und</strong> allumfassender atheistischer Agitation wurden in besonderer Weise<br />

geheimdienstliche Mittel angewandt, die Kirchen, wenn schon nicht zu vernichten, so sie doch<br />

einzugliedern in die totalitären Strukturen. Was der Staat hier in Gestalt des Geheimdienstes praktizierte<br />

15


<strong>und</strong> mit dem Begriff Differenzierungsprozeß belegte, meinte explizit: Unfrieden schaffen! Die Perversion<br />

dieses Unterfangens ist in der vorliegenden Materialsammlung besonders augenscheinlich, da es sich in<br />

Auseinandersetzung mit der kirchlichen Friedensbewegung in Leipzig äußerte: Frieden wurde in den<br />

Friedensgruppen nicht einfach als Abwesenheit von Krieg gesehen, nicht als die Friedhofsstille der Lüge<br />

<strong>und</strong> des feigen Schweigens. Nein, der Begriff des Friedens wurde aus der Fülle des biblischen Schalom<br />

abgeleitet: als von Gott her kommende Gemeinschaft, die untrennbar aufruht auf Gerechtigkeit <strong>und</strong><br />

Solidarität.<br />

In den hier gebotenen Texten staatlicher Institutionen, besonders der Staatssicherheit, taucht der Terminus<br />

Differenzierungsprozeß häufig auf, <strong>und</strong> seine Schlagrichtung ist unverkennbar. Dennoch soll an dieser<br />

Stelle das dahinterstehende Phänomen beleuchtet werden. Auf der rein operativen Ebene handelte es sich<br />

um ein konzertiertes Vorgehen, welches die Zersetzung des Gegners - hier der Kirche - zum Ziel hatte.<br />

Zersetzung meinte, daß diejenigen Personen <strong>und</strong> Gruppen, die in bestimmten Belangen als „brauchbar“<br />

eingeschätzt werden konnten, abgedrängt wurden von solchen, die störend wirkten. Dabei war kein Mittel<br />

zu schade. Gerüchte 7 wurden verbreitet, mißliebige Personen wurden diskreditiert, Konflikte wurden<br />

geschürt, Ereignisse wurden inszeniert, die Bloßstellungen <strong>und</strong> Zerwürfnisse zur Folge hatten. In der<br />

vorliegenden Dokumentation ist dies besonders gut am Vorgehen gegen die Initiativgruppe „Frauen für<br />

den Frieden“ <strong>und</strong> gegen Pfarrer Christoph Wonneberger (vgl. Dokumente: 22, 23, 27f.) zu verfolgen.<br />

Diese formale Seite ist mittlerweile zur Kenntnis genommen 8 , nicht aber die damit einhergehende<br />

Manipulation der Weltwahrnehmung. Wie im vorhergehenden Punkt angedeutet wurde, ist Weltdeutung<br />

<strong>und</strong> Wirklichkeitsinterpretation kein Prozeß, der nach biologisch-mechanistischen Gesetzen verläuft,<br />

sondern es ist eine in lebensweltliche Bezüge eingeb<strong>und</strong>ene Wirklichkeitskonstruktion. Diese ist stets<br />

abhängig von kulturellen Deutungsmustern <strong>und</strong> ist überformt von Ideologien. Herrschende versuchten<br />

fraglos zu allen Zeiten, Einfluß auf diesen Prozeß zu nehmen. Was aber die Staatsicherheit in der DDR<br />

inszenierte, scheint einer anderen Qualität anzugehören. Ihr gelang, was der herrschenden Ideologie<br />

versagt blieb: die Differenzierung, sprich Entzweiung <strong>und</strong> Verfeindung oppositioneller Gruppierungen mit<br />

noch jetzt anhaltender Wirkung. Bemerkenswert an diesem Prozeß ist, daß er in den eigenen Reihen<br />

begann 9 <strong>und</strong> sich fortsetzte über alle möglichen Schattierungen der Abhängigkeit <strong>und</strong> des Dissens. An<br />

dieser Stelle ist es zwar nicht möglich, diese Prozeß-Struktur angemessen darzustellen, aber es soll<br />

zumindest auf dieses Ineinandergreifen hingewiesen werden. Selbstverständlich ist das faktisch nicht<br />

losgelöst zu sehen von der Gesellschaft <strong>und</strong> auch nicht von der lebensweltlichen Bewußtseinsbildung.<br />

Aber meines Erachtens liegt hier ein Phänomen vor, was nicht konturlos im Begriff der Ideologie<br />

aufgelöst werden darf. Denn es ist nicht unwesentlich, mittels welcher Strategien die Herrschaft erhalten<br />

wird bzw. Ideologien implantiert werden. Ich sehe darin letztlich die Voraussetzung zu einer<br />

differenzierten Kenntnisnahme, Aufarbeitung <strong>und</strong> Auseinandersetzung mit den Erscheinungen<br />

stalinistischer Machtausübung. Andernfalls wären weder kulturspezifische Unterschiede für die jeweiligen<br />

Staaten auszumachen noch individuelle Schuldanteile bzw. Rechtfertigungen zu benennen. Es ist in<br />

diesem Zusammenhang lehrreich, einen Blick in „Kaderschmieden“ des Regimes zu werfen, wie sie<br />

beispielsweise mit der Juristischen Hochschule in Potsdam bekannt sind. Dort wurde zielgerichtet auf das<br />

Bewußtsein der späteren Protagonisten des Systems zugegriffen. Erklärtes Ziel war es, „positive<br />

Einstellungen zur Partei der Arbeiterklasse“ zu entwickeln. Auch dort schreckte man nicht vor Lügen,<br />

Verfälschungen <strong>und</strong> Druck zurück: die Studenten erfuhren am eigenen Leib, was sie später an andere<br />

weitergeben sollten.<br />

7 Diese Aufzählung mag banal klingen. Wir wissen aber heute, daß hiermit in rücksichtlos-geplanter Weise<br />

Menschen vernichtet werden sollten <strong>und</strong> wurden. Die Stasi-Krake (<strong>und</strong> dies soll in keiner Weise die Spezies<br />

„Tintenfisch“ diskreditieren) schreckte dabei vor keinem Tabu zurück. Es sind mir Fälle bekannt, wo selbst die<br />

noch nicht schulpflichtigen Kinder Oppositioneller systematisch ausgespäht, analysiert <strong>und</strong> verleumdet wurden.<br />

8 Vgl. dazu: STASI intern. Macht <strong>und</strong> Banalität. Leipzig 1991, bes. S. 198 ff.<br />

9 Auch hinter dieser Behauptung verbergen sich menschliche Tragödien, denen bislang kaum Beachtung geschenkt<br />

wurde. Aber gerade die solchermaßen getäuschten <strong>und</strong> unter Druck gesetzten offiziellen <strong>und</strong> inoffiziellen<br />

Mitarbeiter der Stasi fühlen sich nun doppelt betrogen, wie ich in zahlreichen Gesprächen erfahren konnte. Von<br />

einer Analyse gerade dieser Grauzone wird der Fortgang der kollektiven <strong>und</strong> individuellen<br />

Vergangenheitsaufarbeitung nicht unwesentlich abhängen.<br />

16


Denn Menschen, die direkt mit dem „Gegner“ in Berührung kamen, mußten weitestgehend immun sein<br />

für dessen Argumentation: Bewußtseinsmanipulation der Aktivisten der Differenzierungsprozesse ist die<br />

Voraussetzung für den nächsten Schritt, die Operationalisierung dieser Strategie. Konzeptionelle<br />

Überlegungen dazu bietet eine Schrift dieser Institution 10 , es heißt dort: „Wenn das bisher Dargelegte<br />

[Ausführungen zur ‚historischen Herausbildung des gewaltfreien Widerstandes’ <strong>und</strong> dazugehörige<br />

‚operative Erkenntnisse’] gegenwärtige <strong>und</strong> in nächster Zeit zu erwartende Vorgehen der feindlichnegativen<br />

Personenzusammenschlüsse veranschaulicht <strong>und</strong> deutlich wird, daß durch eine erfolgreiche,<br />

politisch-operative Arbeit alle Formierungsabsichten des <strong>Feinde</strong>s von vornherein zu stören <strong>und</strong> zu<br />

unterbinden sind, um alle Eskalationsabsichten aus vorbeugender Sicht im Keim zu ersticken, soll der<br />

Vollständigkeit halber nur kurz erwähnt werden, daß die Verfechter des gewaltfreien Widerstandes mit<br />

sogenannten Durchbruchsschlachten <strong>und</strong> Massenbewegungen weitere Eskalationsstufen vorgeben, in<br />

dessen Verlauf es zu offenen konterrevolutionären Attacken kommen soll.“ Und: „Politisch-operative<br />

Maßnahmen ... dürfen in der Endkonsequenz nicht ihr Image stärken, <strong>und</strong> Maßnahmen der Zersetzung<br />

feindlich-negativer Zusammenschlüsse müssen mit hoher gesellschaftlicher Wirksamkeit die Auflösung<br />

bewirken, ohne daß es zu Märtyrer-Effekten kommt.“ 11<br />

Das vorliegende Unterrichtsmaterial zeigt, daß wissentlich mit falschen Behauptungen gearbeitet wird,<br />

denn „Durchbruchsschlachten“ gehören keinesfalls zum Repertoire des gewaltfreien Widerstandes.<br />

Darüber hinaus wurde versucht, aus den Schlappen um die Durchsuchung der Umweltbibliothek <strong>und</strong> um<br />

die Affäre anläßlich der Demonstration für Luxemburg <strong>und</strong> Liebknecht zu lernen.<br />

Die nächste Ebene - im Anschluß an die Ausbildung der Akteure -, die im Prozeß der Differenzierung <strong>und</strong><br />

Bewußtseinsmanipulation folgte, betraf die Umsetzung in Strategien innerhalb der Sicherheitsorgane. In<br />

diesem Stadium stand die eigentliche Differenzierung im Mittelpunkt, welche die Spaltung der<br />

oppositionellen Kräfte zum Ziel hatte <strong>und</strong> einherging mit Diskreditierung, Verunsicherung <strong>und</strong> Isolierung.<br />

Für den Bereich der Kirchen ist dies in einem R<strong>und</strong>schreiben Mielkes 12 aus dem Jahre 1978<br />

folgendermaßen fixiert: „Auf der Gr<strong>und</strong>lage der ‚Bearbeitungskonzeption zur weiteren politischoperativen<br />

Bearbeitung politisch-klerikaler Kräfte in der DDR ...’ vom 4. 3. 1975 sind verstärkt<br />

qualifizierte inoffizielle Mitarbeiter in Spitzenpositionen (leitende <strong>und</strong> mittlere Ebene) sowie in<br />

theologischen Ausbildungsstätten zu schaffen. Durch eine qualifizierte politisch-operative Arbeit ist zu<br />

gewährleisten, daß der Differenzierungsprozeß in den Kirchen <strong>und</strong> Religionsgemeinschaften so<br />

vorangetrieben wird, damit die realistisch denkenden Kräfte noch stärker an die humanistische Politik<br />

unserer Partei herangeführt, die Schwankenden gefestigt <strong>und</strong> feindlichnegative Personen gespalten <strong>und</strong><br />

paralysiert werden.“<br />

In der vorliegenden Dokumentation zu den Friedensgebeten in Leipzig ist dann der nächste Wirkungskreis<br />

dieser geheimdienstlichen Praxis anzutreffen - sie erscheint als die sämtliche Handlungen koordinierende<br />

Matrix. Hingewiesen sei hier - auch wiederum exemplarisch - auf die Kontroverse des<br />

Bezirkssynodalausschusses mit der Initiativgruppe „Frauen für den Frieden“. Die Koordinierung aller<br />

Maßnahmen erfolgte im ZOV „Wespen“ (MfS XV 4113/85). Es handelte sich dabei um einen<br />

Frontalangriff auf eine kleine Frauengruppe, der von den Sicherheitsorganen selbst folgendermaßen<br />

beschrieben wurde 13 : „Zur Gewährleistung der weiteren zielgerichteten, effektiven <strong>und</strong> umfassenden<br />

Bearbeitung der feindlich-negativen Führungskräfte ist die weitere Heranführung <strong>und</strong> Einführung<br />

geeigneter inoffizieller Quellen notwendig. Dazu wird unter anderem die über Schlüsselpositionen<br />

zielgerichtet vorbereitete Veranstaltung im ‚Club der Intelligenz’ Leipzig genutzt. Darüber hinaus werden<br />

10 Hochschuldirektstudium Rechtswissenschaften: Spezialisierungsrichtung 2; Komplex IV; Lesematerial: Die<br />

Nutzung des gewaltfreien Widerstandes durch Kräfte politischer Untergr<strong>und</strong>tätigkeit. VVS-o001; JHS-Nr.:<br />

34/89.<br />

11 Ebd. S. 44<br />

12 R<strong>und</strong>schreiben Mielkes vom 19. 4.1978 als: „Information über das Gespräch des Generalsekretärs des ZK der<br />

SED ... Honecker, mit dem Vorstand der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR am 6. 3.<br />

1978 <strong>und</strong> einigen sich daraus ergebenden politisch-operativen Problemen.“ Als VVS MfS o009 Nr.: 30/78. In:<br />

BesierJWolf (1991), 301 f.<br />

13 Vgl. B V für Staatssicherheit, Abteilung XX: Quartalsberichterstattung U86 vom 27. März 1986 (ABL H 10)<br />

17


dazu offensive Zersetzungsmaßnahmen eingeleitet <strong>und</strong> realisiert. Durch den Einsatz weiterer inoffizieller<br />

Quellen ist der ständige Überblick über die von den bearbeiteten Personen ausgehenden feindlichnegativen<br />

Pläne <strong>und</strong> Absichten sowie angewendeten Mittel <strong>und</strong> Methoden zu gewährleisten <strong>und</strong> offensive<br />

Maßnahmen zur Vorbeugung feindlicher Angriffe sowie zur weiteren Forcierung der Auseinandersetzung<br />

der Kirche mit den Mitgliedern des Arbeitskreises ‚Frauen für den Frieden’ durchzusetzen.“<br />

Die Schwerfälligkeit der abgedruckten Textpassage steht offenbar in keinem Verhältnis zur operativen<br />

Umsetzung der Beschlüsse. Denn es gelang, die Initiativgruppe „Frauen für den Frieden“ <strong>und</strong> die<br />

Kirchenleitungen zu entzweien - <strong>und</strong> dies offensichtlich lebenslang. Inwieweit in diesem Zusammenhang<br />

die Aktivitäten des IMB „Carl“ (Pfarrer Dr. Berger) eine solche Schlüsselposition darstellt, wäre zu<br />

prüfen. Zu denken wäre dabei an eine entscheidende Sitzung der Leitung des Bezirkssynodalausschusses<br />

vom 27. 2. 1986, über die ein Brief von Dr. Berger vorhanden ist (hier S. 94). Dieses Dokument ist ohne<br />

weiteres als Aufforderung zur Zensur zu lesen, die an den Superintendenten herangetragen wurde.<br />

Alles wäre nur halb so schlimm, wenn wir es dabei belassen könnten, diese Differenzierungsstrategien der<br />

Stasi zu beschreiben. Leider gilt es zu konstatieren - Beispiele lassen sich im vorliegenden Material<br />

genügend finden -, daß sich Menschen haben differenzieren lassen. Gruppen wurden unterminiert.<br />

Menschen wurden diskreditiert <strong>und</strong> ausgegrenzt. Verleumdungen wurden weitergetragen.<br />

Zusammenarbeit wurde aufgekündigt. Mächtige haben ihre - auch mitunter noch so kleine - Macht<br />

benutzt, andere zu reglementieren. Vertrautheit wuchs zum <strong>Feinde</strong> - die zu den Verbündeten, zur<br />

Schwester <strong>und</strong> zum Bruder kehrte sich in Verdächtigungen, in Unfrieden <strong>und</strong> Kampf bis aufs Messer.<br />

Diese Handlungen bleiben bestehen, selbst wenn sich die Einsicht durchsetzen könnte, daß stimmt, was<br />

hier angedeutet wurde. Selbst dazu ist die Hoffnung gering, aber nicht aussichtslos. Ich schreibe das im<br />

Bewußtsein, mich zwischen die Stühle zu setzen, denn: geirrt haben sich immer nur die anderen. Nein, ich<br />

schreibe es in der Hoffnung auf Einsicht <strong>und</strong> Versöhnung.<br />

4. Tradition, Glaube <strong>und</strong> Basisdemokratie - Quellen des Widerstandes<br />

Trotz aller Anstrengungen <strong>und</strong> Perfidie ist es der Stasi nicht gelungen, auch nur eine kleine Zahl der<br />

Akteure im Umkreis um die Friedensgebete - genau wie sonst in der Opposition - zur vorsätzlichen<br />

Zusammenarbeit zu bringen. Die geheimdienstlichen Methoden taugten nicht, Konvertiten zu gewinnen.<br />

Lediglich Außenseiter, infiltrierte Quereinsteiger <strong>und</strong> regelrechte Agenten konnten in die Gruppen<br />

geschleust werden. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang die theologischen Fakultäten 14<br />

an den staatlichen Universitäten, aber selbst dort war Resistance allgegenwärtig - auf allen Ebenen ist hier<br />

auf standhafte Frauen <strong>und</strong> Männer zu verweisen =, trotz mächtigen Drucks der universitären Hierarchie.<br />

Dies alles verw<strong>und</strong>ert um so mehr, als in der Gesellschaft die Allgegenwart <strong>und</strong> sogar eine<br />

gesellschaftliche Allmacht der Stasi zum lebensweltlichen Gr<strong>und</strong>wissen gehörte - es war etwas, das jedem<br />

Kind geläufig war, ohne daß es ihm explizit hätte erklärt werden müssen. So gesehen gehört die<br />

Widerstandskraft der Kirchen - im oben beschriebenen umfassenden Sinn - zu den unwahrscheinlichen<br />

<strong>und</strong> darum wahrhaft erklärungsbedürftigen Beständen der Geschichte Ostdeutschlands.<br />

Auch hier soll nicht der Versuch unternommen werden, alle Ursachen aufzuspüren. Das Friedensgebet in<br />

Leipzig <strong>und</strong> sein Umkreis verweisen zumindest deutlich auf drei Phänomene, die entscheidend zur<br />

Standhaftigkeit der kirchlichen Friedensbewegung haben beitragen können:<br />

a. Tradition<br />

Eine soziologische Untersuchung zum Traditionsprozeß in den Kirchen Ostdeutschlands ist für die Zeit<br />

nach dem 2. Weltkrieg noch nicht geschrieben. Auch über die Rolle der Tradenten, über die Personen <strong>und</strong><br />

Institutionen also, die dieses Gut weitergetragen haben, liegen nur spärliche Untersuchungen vor. In den<br />

nachfolgenden Überlegungen sollen einige Bemerkungen zur Pfarrerschaft auf das hier gemeinte<br />

14 Wirklich Erhellendes darf in diesem Zusammenhang von der Dissertation des Leipziger Theologen Edgar Dusdal<br />

erwartet werden. Die mir bereits bekannten Textpassagen lassen mich uneingeschränkt zu der hier gegebenen<br />

Einschätzung stehen.<br />

18


Problemfeld hinweisen. Dabei muß beachtet werden, daß selbst über diese klar beschreibbare Gruppierung<br />

nur spärliche Analysen vorliegen 15 . Was hier gesagt werden kann, ergibt sich aus eigenen Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> durch Extrapolationen gesicherter Erkenntnisse: Engagement, politische Präferenzen <strong>und</strong><br />

Reflexionsfähigkeit waren sehr unterschiedlich entwickelt <strong>und</strong> weitgespannt. Keinesfalls hatten sich alle<br />

Pfarrer - später dann auch Pastorinnen - durch politische Ruhmestaten ausgezeichnet, aber dennoch wirkte<br />

das evangelische Pfarrhaus als eines der starken Fermente gegen die Egalisierung der Gesellschaft.<br />

Indirekte Stützung findet diese These in der Praxis der Staatsorgane. Auch in der vorliegenden<br />

Dokumentation wird dies deutlich an den Bemühungen, aus Gesprächen mit den Geistlichen auf die<br />

Stimmung in der Friedensbewegung zu schließen (vgl. z. B. die Befragung Leipziger Pfarrer aus dem<br />

Jahre 1985; vgl. Dokument 19). Diese Vorgehensweise erwies sich zwar in zweifacher Weise als<br />

Trugschluß - viele PfarrerInnen waren nicht aussagefähig, <strong>und</strong> die wirklichen Initiatoren wurden nicht<br />

erfaßt -, widerspiegelt aber die Weltsicht der damaligen proletarischen Machthaber. Der Pfarrerstand<br />

selbst befand sich im allbekannten Dilemma. In einem „Pfarrerspiegel“ aus dem Jahre 1940 wird diese<br />

Befindlichkeit - damals am Beispiel der Arbeiterfrage - bereits deutlich umrissen 16 : „Es ergab sich aus<br />

dem Wesen <strong>und</strong> der Stellung der Kirche, daß der evangelische Pfarrer mit zwiespältigen Gefühlen vor der<br />

Arbeiterfrage stand. Vom Evangelium mußte es ihn drängen, sich der Mühseligen <strong>und</strong> Beladenen<br />

anzunehmen (...), von der Staatskirche her aber war ihm auferlegt, sich schützend vor die Autorität des<br />

Staates zu stellen, die von der revolutionären Arbeiterbewegung immer ernstlicher angefochten wurde.<br />

Dieser Zwiespalt mußte allmählich jedem Pfarrer fühlbar werden, ihn zu beheben, ist der evangelischen<br />

Kirche nicht gelungen. ... <strong>und</strong> dieser Mangel ... stellte jeden evangelischen Pfarrer vor eine von ihm selber<br />

zu verantwortende Entscheidung.“<br />

Dieses Bild, das hier von der Pfarrerschaft in der evangelischen Kirche gezeichnet wird, widerspiegelt das,<br />

was oben mit der Doppelfunktion der Religion beschrieben wurde, aufs genauste <strong>und</strong> deckt sich auch mit<br />

den Ergebnissen der Studie Pollacks. Die Meinungsvielfalt war groß, alle waren letztlich auf sich selbst<br />

verwiesen, um sich zu positionieren. Vom Evangelium her wäre es klar gewesen: sich zuerst für die<br />

Benachteiligten einzusetzen - unabhängig davon, ob das angenehm ist oder ob es nützlich ist für die<br />

Kirche bzw. für das Kirche-Staat-Verhältnis 17 Die PfarrerInnen waren keineswegs immer diejenigen<br />

gewesen, die erkannt hätten, was die Zeichen der Zeit ansagten, dennoch waren sie es, die Oasen in der<br />

Gleichschaltungsideologie des Staates schufen - oder besser: es geschah in ihrem Umkreis: In den<br />

Gruppen der Jungen Gemeinde, in denen der Studenten <strong>und</strong> einfach im Umfeld der Pfarrhäuser. Dort<br />

sammelten sich Menschen, die den Anspruch des Evangeliums ernst nahmen. Diese, größtenteils jungen<br />

Menschen, ließen sich an der Wurzel (lateinisch: radix) ihrer Existenz anfragen - sie wurden radikalisiert.<br />

Oft über das Maß hinaus, das von den Initiatoren intendiert bzw. gewünscht worden war. In der Soziologie<br />

wird dieses Phänomen mit dem Begriff des erfolgreichen Scheiterns 18 umrissen. Widerspiegeln sich in der<br />

15 Herauszuheben ist hier fraglos die Untersuchung einer Leipziger Gruppe unter der Federführung des Theologen<br />

D. Pollak: Ulrike Franke, Andreas Fünfstück, Detlef Pollak, Joachim Rasch, Thomaß Weiß: Der Pfarrer im<br />

Spannungsfeld von Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft. Interviews mit Leipziger PastorInnen vor <strong>und</strong> nach der Wende. In:<br />

Grabner/Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober, Berlin 1990, 47-62.<br />

16 August Winnig: Pfarrer <strong>und</strong> Arbeiter. In: Siegbert Stehmann (Hrsg.): Der Pfarrerspiegel. Berlin-Steglitz 1940; S.<br />

136.<br />

17 Vgl. in diesem Sinne eine Stellungnahme des Arbeitskreises Solidarische Kirche/Regionalgruppe Thüringen vom<br />

20. 1. 1989 zu R<strong>und</strong>briefen des Landesbischofs Leich; dort heißt es: „Es kann nicht Aufgabe der Kirche Jesu<br />

Christi sein, - auch <strong>und</strong> gerade in schwierigen Konfliktsituationen - die formal-juristische Argumentationsweise<br />

der herrschenden Staatsorgane positivistisch zu referieren (...). Vielmehr muß es uns als Christen in erster Linie<br />

darum gehen, die Fragen <strong>und</strong> auch die gesellschaftlichen, politischen <strong>und</strong> seelsorgerlichen Bedrängnisse der<br />

Menschen in diesem Land zu hören, ernstzunehmen <strong>und</strong> uns kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Das gilt<br />

auch dann noch, wenn wir die Handlungsweise solcher Menschen möglicherweise als Nötigung empfinden.“<br />

(Der Text ist im Archiv Bürgerbewegung einzusehen.)<br />

18 Vgl. Johannes Weyer: System <strong>und</strong> Akteur. Zum Nutzen zweier soziologischer Paradigmen bei der Erklärung<br />

erfolgreichen Scheiterns. In: KZfSuS 1/1993, S. 1-22. Die Gr<strong>und</strong>annahme wird dort (S. 6) folgendermaßen<br />

umrissen: „Soziale Strukturen sind nach diesem Konzept das Produkt zweckgerichteten Handelns <strong>und</strong> darauf<br />

aufbauender (expliziter oder impliziter) Abstimmungsprozesse zwischen Akteuren; sie sind in ihrer Genese nicht<br />

19


Geschichte der Friedensgebete die Bemühungen der verantwortlichen Amtsträger nicht genau in dieser<br />

Weise?<br />

b. Glaube<br />

Ungleich bedeutungsvoller erscheint das zweite Moment: der lebendige Glaube des befreienden<br />

Evangeliums <strong>und</strong> die unmittelbare Erfahrung der Gottesnähe im Gebet.<br />

Das sozialethische <strong>und</strong> ökologische Engagement vieler Christen - in besonderer Weise das der<br />

MitgliederInnen der Basisgruppen - wuchs aus dem Geist, der die Prophetie, den Exodus <strong>und</strong> die<br />

bedingungslose Nächstenliebe (manchmal sogar unter Einschluß der <strong>Feinde</strong>sliebe) kennzeichnet. Solche<br />

Glaubensäußerungen waren selten ausgewogen <strong>und</strong> theologisch bis ins letzte reflektiert 19 . Ihr<br />

Kennzeichen war echte Betroffenheit: angerührtsein vom Leid <strong>und</strong>/oder von Gottes Verheißung. Hier tat<br />

sich eine Sphäre auf, die sich dem Denkhorizont der Machthaber völlig entzog. So verliefen deren<br />

Reaktionen stets auf einer völlig inadäquaten Ebene: sie beschworen kirchenpolitische Entscheidungen<br />

(die Ergebnisse des Gesprächs vom 6. 3. 1978), wo Entscheidungen vor Gott angesagt waren! Nur am<br />

Rande sei vermerkt, daß trotz dieses Klimas auch theologische Entwürfe keimten, die sich an einer<br />

radikalen Schöpfungstheologie, an der Johannäischen Liebesethik <strong>und</strong> an der emanzipatorischen<br />

Kommunikationspraxis Jesu orientierten.<br />

Die Wirkungen des Gebets zu beschreiben ist bis zu einem gewissen Grad unsinnig. Solche Wirkungen<br />

gilt es zu erleben. Um aber auf das Essentielle dieses Phänomens zu verweisen, sei aus einem der ältesten<br />

religiösen Texte, dem Ragveda, zitiert 20 : „Gewaltig ist das Gebet ... das Gebet erhält Himmel <strong>und</strong> Erde,<br />

das Gebet ist für die Götter, das Gebet ist Herr über sie. Auch die getanen Sünden bitte ich durch das<br />

Gebet ab.“ In der modernen Wissenschaft führt die Erwähnung der Transzendenz an den Rand der<br />

Peinlichkeit. Gerade im Bereich der Kirchensoziologie ist dies zu konstatieren. Interessanterweise kommt<br />

die solchermaßen ins Abseits gedrängte Sehnsucht nach dem Jenseitigen in allen möglichen esoterischen<br />

<strong>und</strong> okkulten Spielarten wieder ins Leben der modernen Menschen zurück. Beachtenswert ist darum, daß<br />

bei den Leipziger Friedensgebeten das Moment der Transzendenz - nicht zuletzt als Appellationsinstanz in<br />

ethischen Fragen - stets präsent war. Wie an den vorliegenden Materialien zu ersehen ist, gab es vielfältige<br />

Beschäftigungen mit dem Thema „Frieden“, aber das Montags-Gebet in der Nikolaikirche bildete den<br />

periodisch wiederkehrenden Rahmen einer ethischen, öffentlichen Selbstvergewisserung. Hier liegt ein<br />

nicht zu unterschätzender Kern der moralischen Resistenz, der auch die Moralphilosophien unserer Tage<br />

belehren könnte, daß die Reduktion auf Formalia der Konsensfindung ein zu unsicherer Ersatz ist. Denn in<br />

der Transzendenz erfährt sich der Mensch als bedingtes Lebewesen, als Lebewesen in der Verantwortung<br />

vor dem Sein. Erst aus solchem Erleben erwächst die Kraft des Widerstandes, die Erleuchtung gegen<br />

Verblendung <strong>und</strong> der Mut zum Leben. Innerhalb der Theorie der Lebenswelt erweisen sich solche Impulse<br />

sogar als lebensweltüberschreitend.<br />

c. Basisdemokratie<br />

Mit den beiden gerade erwähnten Faktoren Tradition <strong>und</strong> Transzendenzerfahrung im lebendigen Glauben<br />

bahnt sich eine weitere Evidenz an: Luthers Vorstellung vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen<br />

bildet die theologische F<strong>und</strong>ierung für basisdemokratische Strukturen in der Kirche. Es muß hier<br />

dahingestellt bleiben, ob es gute Gründe gibt, an hierarchischen Strukturen der Kirche in bestimmten<br />

Belangen vorerst festzuhalten 21 . Kein Zweifel aber darf daran bestehen, daß Kommunikation über<br />

ethische Fragen nie über asymmetrische, geschweige hierarchische Strukturen verlaufen darf. Dies ist<br />

von den Interessen der Mitglieder zu trennen, selbst wenn die dann entstehenden Strukturen sich zunehmend<br />

verselbständigen <strong>und</strong> den Individuen als kollektiver Zwang gegenübertreten.“<br />

19 Vgl. hier in der Dokumentation die Kontroversen zwischen Jochen Lässig <strong>und</strong> Beate Schade mit OLKR<br />

Auerbach.<br />

20 RV VI 51,8; zitiert in: Friedrich Heiler: Die Religionen der Menschheit. Stuttgart 1962, S.221.<br />

21 Vom Standpunkt einer systemtheoretisch orientierten Kirchensoziologie wären in diesem Zusammenhang<br />

immerhin funktionalistische Strukturmuster den hierarischen vorzuziehen.<br />

20


nicht nur im Falle unbelasteter Diskurse zu bedenken, sondern gerade auch innerhalb aktueller<br />

Konfliktsituationen. Für Gruppen <strong>und</strong> Organisationen erweisen sich Normen <strong>und</strong> Werte, die von den<br />

Mitgliedern selbst ausgehandelt bzw. immer wieder hinterfragt <strong>und</strong> internalisiert wurden, als sinnstiftend<br />

<strong>und</strong> resistent. Die aktive Einbeziehung der Subjekte erweist sich als stärkender Faktor für die jeweilige<br />

Organisation <strong>und</strong> als starke Motivation für die Subjekte selbst. In Anerkennung dieser Tatsachen wurden<br />

die Gruppen in der DDR zu Recht als emanzipatorische bzw. als sozialisierende Gruppen bezeichnet 22 ,<br />

die Bewegung in eine erstarrte Landschaft brachten. Da Wandel <strong>und</strong> Emanzipation jegliche Struktur in<br />

Frage stellen, besonders aber hierarchisch-verknöcherte, verw<strong>und</strong>ert es nicht, daß von seiten der<br />

Hierarchie - <strong>und</strong> von all denen, die sich im Bestehenden leidlich eingerichtet haben - Skepsis <strong>und</strong><br />

Ablehnung gegenüber den Unruhestiftern auftrat. Es mag Institutionen geben, wo diese Ablehnung<br />

gerechtfertigt ist, für die Kirche kann dies aber nicht gelten. Für sie ist Wandel konstitutiv. Einzig die<br />

lebendige Inkarnation des Wortes Gottes hat das Recht, sich Kirche Jesu Christi zu nennen. Die<br />

basisdemokratisch orientierten Gruppen haben dazu einen entscheidenden Beitrag geleistet. Eine Kirche,<br />

in der solches sich ereignet, darf sich glücklich schätzen, verweist es doch darauf, daß Gottes Geist noch<br />

weht <strong>und</strong> Menschen ergreift. Wenn hierzu immer komplementär das bedacht wird, was oben mit der<br />

Doppelfunktion der Religion beschrieben wurde, dann wird der Beitrag der Gruppen sowohl relativiert als<br />

auch gewürdigt. Denn eine Kirche, die ihre Tradition lebendig erhält, ist widerstandsfähig gegen alle<br />

Vereinnahmungen - böswillige wie gutgemeinte - des Staates oder anderer Mächtiger. In der vorliegenden<br />

Dokumentation wird deutlich, daß zwischen hierarchischen <strong>und</strong> basisdemokratischen Orientierungen ein<br />

echter Konfliktbereich vorliegt 23 . Gegensätzliche Erfahrungen <strong>und</strong> Interessen bestimmen hier eindeutig<br />

die Gewichtung. Glücklicherweise hielt dies spannungsvolle Miteinander in der DDR bis zum Schluß.<br />

Auch das ist ein Phänomen, das ans Unwahrscheinliche grenzt <strong>und</strong> seine Letztbegründung nur im<br />

Transzendenten findet. Denn gewaltig war der Versuch gewesen, beide Gruppierungen zu entzweien:<br />

Gleichgültig wo sich Reformkräfte in der Kirche bemerkbar machten, ob in den Gemeinden, ob in den<br />

Kirchenleitungen oder in den Gruppen, überall setzte die Stasi an mit ihrem Zerstörungswerk. Ihr Ziel war<br />

eine einseitige, systemstabilisierende Kirche. Und es muß hier offen ausgesprochen werden: vielfältige<br />

Bemühungen von Kirchenleitungen zur Ausgrenzung unliebsamer Personen <strong>und</strong> Gruppen arbeiteten<br />

faktisch in die gleiche Richtung. Falsch aber ist es, sie damit als Handlanger <strong>und</strong> Kumpane der<br />

Staatsmacht zu diffamieren. Es war ihr eigenes Interesse 24 - das ihrer Position <strong>und</strong> ihres jeweiligen<br />

Verantwortungsbereiches -, was sie hier vertraten, nicht das des Staates - aber auch nicht das Interesse der<br />

(ganzen) Kirche Jesu Christi.<br />

5. Friedensgebete in Leipzig <strong>und</strong> das Ende der DDR<br />

Sicherlich waren es nicht die Aktivitäten der Gruppen bzw. allgemein der Kirchen, die das Ende der SED-<br />

Herrschaft herbeigeführt haben. Ausschlaggebend waren die verheerende wirtschaftliche Situation, der<br />

politische Bankrott der SED <strong>und</strong> die Reformbewegungen Osteuropas, insbesondere die Perestroika in der<br />

damaligen SU, was wiederum mit der Selbstauflösung des Warschauer Paktes korrespondierte. Dennoch<br />

waren die Reformbewegungen bzw. die Zusammenbruchserscheinungen in Osteuropa keinesfalls<br />

einheitlich. Die Prozesse in Ungarn, Polen, der CSFR <strong>und</strong> in der SU waren von ihren jeweiligen Reform-<br />

Kräften geprägt. Gemeinsam war ihnen nur der Zusammenbruch der „kommunistischen“ Regimes - bei<br />

Beachtung aller gegenseitigen Verflechtungen. Auch in der DDR zeigten sich deutlich eigene Konturen:<br />

Die Partei erwies sich als nicht reformfähig, trotz vielfältiger Reformbestrebungen, die Intelligenz spielte<br />

nicht die Rolle, wie dies in der CSFR bzw. in Polen der Fall war. Der unter- <strong>und</strong> entscheidende Faktor in<br />

der DDR war offensichtlich die Rolle der Kirche. Mit Kirche kann in direkter Weise nur der<br />

22 Vgl. Ehrhard Neubert: Gesellschaftliche Kommunikation im sozialen Wandel. Berlin 1989.<br />

23 Auch dies ist kein neues Problem, denn die zweitausendjährige Kirchengeschichte ist von diesem Gegensatz<br />

durchzogen: als umstrittener Machtanspruch von Zentren (Rom), als Auseinandersetzung um das synodale<br />

Prinzip <strong>und</strong> bereits in divergierenden Auffassungen um kirchliche Ämter.<br />

24 Vgl. zur theoretischen Begründung dieser Zusammenhänge Jürgen Habermas: Erkenntnis <strong>und</strong> Interesse.<br />

Frankfurt/Main 1979.<br />

21


emanzipatorisch-befreiende Teil gemeint sein: die Gruppen in der Kirche <strong>und</strong> die an ihrem Rande. Nur in<br />

indirektem Sinne war es auch die hierarchisch verfaßte Amtskirche als Vertreterin der integrativstabilisierenden<br />

Funktion, indem sie Räume gewährte bzw. sich immer wieder abtrotzen ließ. So gesehen<br />

gehörte auch dieser Teil zu den notwendigen Voraussetzungen der Revolution, denn hätte sie sich nicht<br />

clever genug erwiesen, Sonderräume zu erhalten - wie es in der CSFR oder der SU nicht gelang! -, dann<br />

hätte sie diese auch anderen nicht zur Verfügung stellen können.<br />

Die Friedensgebete in Leipzig sind ein eindrückliches Exempel für diese allgemein formulierten<br />

Zusammenhänge. An der vorliegenden Dokumentation ist abzulesen, wie sich die Friedensbewegung als<br />

eigenständiger Faktor Schritt für Schritt herausbildete, welche Impulse wichtig waren <strong>und</strong> auch, welche<br />

Mißverständnisse <strong>und</strong> Komplikationen auftraten. Das Zersetzungswerk der Stasi ist nachzuverfolgen,<br />

obwohl die detaillierten Verbrechen an der Kirche, an den Gruppen <strong>und</strong> besonders an Personen noch<br />

längst nicht im vollen Ausmaß bekannt sind. Mit dem Beginn des Jahres 1988 verschärften sich die<br />

Konflikte in allen Richtungen in ungeahnter Weise: die „Ausreiser“ erkannten die Möglichkeiten der<br />

Friedensgebete zur Durchsetzung ihrer Interessen. Sie strömten zu H<strong>und</strong>erten in die Nikolaikirche. Die<br />

Gruppen erlangten dadurch einen Grad der Öffentlichkeit, der ihnen vorher völlig verschlossen war. Die<br />

Staatsorgane reagierten hysterisch, d. h., sie waren empört, beschwerten sich bei den Kirchenleitungen<br />

über die Veranstaltungen, fanden aber selbst kein Mittel, sich wirkungsvoll durchzusetzen. Die<br />

Reaktionen der Staatsmacht verwiesen auf den politischen Bankrott der SED. Die „Ausreiser“, die<br />

Menschen also, die mit diesem Land endgültig gebrochen hatten, die keinerlei Hoffnung mehr auf<br />

Reformen setzten, kamen mit starken Erwartungshaltungen zu den Friedensgebeten. Die meisten waren in<br />

keiner Weise vertraut mit kirchlichen Gebräuchen <strong>und</strong> dem christlichen Glauben. Sie erwarteten, daß ihre<br />

Probleme zur Sprache kamen. Beiträge in ihrem Sinne wurden lautstark begrüßt - unabhängig davon, ob<br />

es sich gerade um Ansagen, Meditationen oder Gebete handelte. Auch das motivierte die Gestalter der<br />

Friedensgebete zu harscher Kritik an der Politik der SED, was offenen Beifall von den Rängen, Kritik <strong>und</strong><br />

Reglementierungen von den Kirchenleitungen <strong>und</strong> zügellose Proteste des Staates gegenüber den<br />

Superintendenten <strong>und</strong> dem Landeskirchenamt einbrachte. Die Verantwortlichen in der Kirche - in direkter<br />

Weise war das der Kirchenvorstand von St. Nikolai - versuchten, einen Weg zu finden, der einerseits die<br />

Weiterführung der Friedensgebete ermöglichte, die Anliegen der Ausreiser zwar aufnahm, sie aber<br />

andererseits nicht alleinbestimmend werden ließ <strong>und</strong> damit das Verhältnis zum Staat nicht über Gebühr<br />

belastete. Die Gruppen waren sich uneinig <strong>und</strong> letztlich auch ratlos, wie sie sich verhalten sollten. Denn<br />

die meisten waren thematisch geb<strong>und</strong>en 25 <strong>und</strong> nicht gewillt, sich dem Erwartungsdruck des Publikums<br />

völlig unterzuordnen. Die Kirchenleitung meinte, allein ordinierte Pfarrer wären in der Lage, hier Abhilfe<br />

zu schaffen. Als der zuständige Gebietsdezernent daraufhin die Predigt übernahm, war er konsterniert, daß<br />

die von ihm gewählte Weise, das Evangelium mit der Situation der Besucher zu vermitteln, offensichtlich<br />

weit hinter den Bemühungen der Gruppen zurückblieb 26 . Dies braucht keinesfalls als Schande aufgefaßt<br />

zu werden. Es kann aber als deutliches Indiz gelten für die Einschätzung der Gruppen durch einige<br />

Vertreter kirchenleitender Gremien, denn man wähnte sich kompetenter, in dieser schwierigen Situation<br />

das Evangelium zu verkünden. Dahinter wurde die ständig latente Entmündigung des basisdemokratischen<br />

Engagements offenbar: Die echte Betroffenheit, die prophetische Kraft <strong>und</strong> die moralische<br />

Unbeugsamkeit der Gruppen wurde als lästiger Dilettantismus vor der Staatsmacht empf<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

mitunter - hier in der Dokumentation ersichtlich - in Kirche-Staat Gesprächen in diesem Sinne<br />

25 Im Gegensatz zu der Behauptung W. Rüddenklaus, der sowohl aus Unkenntnis als auch aus hauptstädtischer<br />

Überheblichkeit spricht; Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. ddr-opposition 1986-1989. Berlin 1992, S. 181 f:<br />

,,... reduzierte sich das Anliegen der Leipziger Basisgruppen fast völlig auf bloße Protestaktionen gegen die<br />

jeweilige Politik der Regierung, während die Ostberliner Gruppen stärker inhaltlich bestimmt waren.“<br />

26 Hier muß zumindest angemerkt werden, daß die Gruppen in zahlreichen Diskussionsr<strong>und</strong>en dieses Dilemma zu<br />

lösen versucht hatten. Es waren dabei gr<strong>und</strong>sätzlich-politische Argumentationen einbezogen als auch rein<br />

praktisch-homiletische Erkenntnisse ausgetauscht worden. Die Gruppen hatten also versucht, in offenen<br />

Diskursen ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Die Verärgerung über die Interventionen der Kirchenleitung<br />

ist darum auch so zu verstehen, daß sich die Basis in ihrem Ringen um angemessene Verkündigung in den<br />

Friedensgebeten von der kirchlichen Hierarchie nicht ernst genommen <strong>und</strong> aus dem gemeinsamen Prozeß der<br />

Meinungsfindung ausgeschlossen fühlte.<br />

22


abqualifiziert. Und es war oft genug unprofessionell, was in den von den Gruppen gestalteten Gebeten<br />

ablief, aber es kam aus den Herzen <strong>und</strong> war nicht selten getrieben vom Geist Gottes.<br />

Die Friedensgebete stellten in den letzten beiden Jahren nicht immer theologische Meisterwerke dar. Die<br />

Atmosphäre war selten meditativ <strong>und</strong> gemeinschaftsfördernd. Trotzdem waren die Friedensgebete in<br />

Leipzig das entscheidende Symbol für die Revolution in der DDR. Mir scheint es wichtig, dies<br />

herauszustellen <strong>und</strong> es mit folgenden Hinweisen zu belegen. Die vorgetragenen Elemente waren einzeln<br />

auch an anderen Orten zu finden, aber allein im Leipziger Friedensgebet waren sie alle vereint <strong>und</strong> hatten<br />

- <strong>und</strong> sie tun es noch heute! - dieser Institution ihr einzigartiges Gepräge verliehen:<br />

Die Friedensgebete wirkten als öffentliche Klagemauer mit großer Resonanz.<br />

Sie boten dabei einen kommunikativen Freiraum in der ansonsten geschlossenen Gesellschaft. Es waren<br />

die Gruppen, die den anfangs von der Amtskirche gewährten Raum strukturierten, indem sie ihn zum<br />

internen Austausch <strong>und</strong> zur gesellschaftlichen Wirksamkeit nutzten. Das Ringen um diesen Raum hielt bis<br />

zum Herbst 1989 an. Die Kirche versuchte ihn gegen den übermächtigen Staat zu erhalten, nicht ohne<br />

massiv in die Belange der Gruppen einzugreifen. Was nach außen als Meisterleistung erschien, erlebten<br />

einige im Innern als Bevorm<strong>und</strong>ung <strong>und</strong> Ausgrenzung <strong>und</strong> zogen demonstrativ aus - als kinetische<br />

Dimension der umfassenden Gesellschaftskritik, die auch vor der Kirche nicht halt machte.<br />

Den Besuchern - <strong>und</strong> gerade denen, die das Land verlassen wollten, - erschienen die Amtskirche <strong>und</strong> die<br />

Gruppen als die einzig Gerechten im Lande. Ihnen allein trauten sie noch zu, für Gerechtigkeit<br />

einzustehen.<br />

Inspiriert wurden die Friedensgebete von der - vielleicht nicht immer geglückten - Beziehung zur<br />

Transzendenz. Dadurch wuchs ihnen die Fähigkeit zu, moralische Instanz zu sein.<br />

In der Regelmäßigkeit des montäglichen Gebets liegt eine nicht zu unterschätzende Komponente der<br />

Publizität <strong>und</strong> Wirksamkeit vor. Damit war gewährleistet, daß anstehende Diskurse lange genug Thema<br />

bleiben konnten <strong>und</strong> sich nicht am nächsten Tag in der Vergessenheit verloren.<br />

Die einstündigen Ruhepunkte mit ihrer angedeuteten Kraft <strong>und</strong> Wirkung bildeten den Ausgangspunkt zur<br />

gemeinsamen Bewegung 27 auf der Straße. Erst damit war die magische Grenze überschritten, die von<br />

einer religiösen Sonderveranstaltung - wenngleich von großer Bedeutung - zur Revolution führte.<br />

Wichtige Impulse setzten hier die beiden Pleiße-Pilgerwege 1988 <strong>und</strong> 1989. Interessanterweise war diese<br />

Bewegung zeitlich dem großen Abwanderungsstrom über Ungarn vorgelagert, wurde aber dann von<br />

dessen Sogwirkung enorm beeinflußt.<br />

In der Phase der Revolution, die überall am Vorabend des 7. Oktober begonnen hatte <strong>und</strong> mit der<br />

Montagsdemo vom 9. Oktober in Leipzig bereits vorentschieden war, stellten die Friedensgebete mit den<br />

anschließenden gewaltigen Demonstrationen auf dem Innenstadtring das einzig wirksame Druckmittel der<br />

gesamten Opposition gegenüber dem Staat an den Verhandlungstischen dar. Bezeichnenderweise hatte der<br />

Leipziger Bezirkschef für Inneres die Basisgruppenvertreter schon am 14. Oktober zu einem Treffen ins<br />

Stadthaus eingeladen - was früher strikt abgelehnt worden war. Dort signalisierte er Gesprächsbereitschaft<br />

für alle anstehenden Fragen. Die einzige Bedingung, die er stellte, war die dringliche Bitte an die<br />

Basisgruppen, alles zu tun, damit am nächsten Montag keine Demonstration stattfinden werde. Selbst<br />

noch an der Hilflosigkeit dieses Anliegens wird deutlich, daß die Herrschenden - trotz totaler Ausspähung<br />

durch die Stasi - nie begriffen hatten, was wirklich lief. Denn es hätte klar sein können, daß es sich um<br />

eine Bewegung handelte, die zwar nicht allein entstanden, aber dennoch führerlos war, d. h. sich um den<br />

Kristallisationspunkt Friedensgebet selbst organisiert hatte: Die Leute würden also so lange kommen, bis<br />

entscheidende Veränderungen realisiert wären. So war das Anwachsen der Teilnehmerzahlen nicht<br />

lediglich statistisch bedeutsam, sondern es war der einzige Garant, die Staatsmacht weiterhin an den<br />

mittlerweile „R<strong>und</strong>en Tisch“ zu zwingen 28 . Nicht von ungefähr versuchte die Staatsführung auch sonst<br />

27 Dieses höchst interessante Phänomen - was gerade für die deutsche (nicht stattgef<strong>und</strong>ene) Revolutionsgeschichte<br />

bedeutsam ist - wurde von Paul Virilio theoretisch ausgearbeitet; vgl. Paul Virilio: Der negative Horizont.<br />

Bewegung/Geschwindigkeit/Beschleunigung. München/Wien 1989.<br />

28 Ich behaupte hier nicht, daß die Demonstrationen in Leipzig wichtiger gewesen seien als die in der übrigen DDR<br />

<strong>und</strong> in Berlin, sondern daß mit den sich wöchentlich selbst organisierenden Demonstrationen im Anschluß an die<br />

Friedensgebete ein Faktor bestand, dem machtpolitisch nicht beizukommen war.<br />

23


alles, um die kritischen Geister von der Straße wegzubringen, wie beispielsweise mit dem scheinheiligen<br />

Angebot zum Dialog montags ab 18 Uhr in allen Hörsälen der Karl-Marx-Universität.<br />

Es braucht hier nicht orakelt werden, welche direkte Wirkung von der Institution Friedensgebet zum Sturz<br />

des SED-Regimes ausging, aber es darf konzediert werden, daß es als das entscheidende Symbol für den<br />

Gestaltungswillen der Bevölkerung in diesem Prozeß stand. Die Losung „Wir sind das Volk“, die erstmals<br />

auf dem Leipziger Ring skandiert wurde, ist der unmittelbare Ausdruck für diese Tatsache.<br />

Heute geht es natürlich nicht darum, Leipzig mit den Attributen einer Heldenstadt auszustaffieren, sondern<br />

sich zu vergegenwärtigen, was denn da alles zusammenlief. Hieran könnten Glücksumstände, erfolgreiche<br />

Interventionen, standhaftes Verhalten, Mißverständnisse, Feigheit, Verrat <strong>und</strong> Verbrechen deutlich<br />

werden. All dies steht noch aus, ist aber unverzichtbar für die Aufarbeitung der Vergangenheit im Sinne<br />

einer Integration ins Gegenwärtige. Momentan ereignen sich dagegen eher neidvolle Demontagen,<br />

Vertuschungen <strong>und</strong> einseitige Geschichtsinterpretationen - faktisch führt all dies das Zersetzungswerk der<br />

Stasi fort. Die vorliegende Publikation dagegen vermag den aufgeschlossenen LeserInnen aus diesem<br />

Dilemma zu verhelfen. Aneignung der Geschichte kann zum individuellen Klärungsprozeß werden.<br />

Leipzig, im Dezember 1993<br />

Harald Wagner<br />

24


Editorische Vorbemerkungen<br />

1. Aufbau der Dokumentation<br />

Im Dokumententeil werden fast 250 Dokumente - soweit nötig <strong>und</strong> möglich - vollständig wiedergegeben.<br />

Sie sind chronologisch nach ihrem Entstehungszeitpunkt geordnet <strong>und</strong> in Gruppen nach Schwerpunkten<br />

(s. Inhaltsverzeichnis) zusammengefaßt. Unter der Dokumentennummer werden kurze Mitteilungen über<br />

den Kommunikationskontext <strong>und</strong> die Quellen des Dokumentes gegeben. Gibt es mehrere F<strong>und</strong>orte, so ist<br />

der erste angegebene der F<strong>und</strong>ort der verwendeten Vorlage. Es werden alle Angaben zum<br />

Kommunikationskontext wiedergegeben, die auf den Dokumenten zu finden sind. Falls möglich werden<br />

auch Informationen, die zusätzlich zu bekommen waren, mitgeteilt. Anstreichungen, Vermerke usw. auf<br />

den Dokumenten werden mit dem Hinweis auf „Bearbeitungsspuren“ mitgeteilt <strong>und</strong> - sofern die<br />

Herausgeber sie als relevant einstuften - werden diese im Regreß, im Text (eckige Klammern) oder in den<br />

Fußnoten wiedergegeben. Die Dokumente wurden von den Herausgebern vorsichtig überarbeitet, d. h.,<br />

offensichtliche Rechtschreibfehler wurden stillschweigend berichtigt, die Absatzgestaltung wurde im<br />

Interesse einer geschlossenen Präsentation frei gehandhabt. Markante Zeilenwechsel im Dokument<br />

werden dabei mit [/] gekennzeichnet. Von den Herausgebern veranlaßte Kürzungen werden mit [...]<br />

vermerkt <strong>und</strong>, wenn aus dem Zusammenhang nicht ersichtlich, kurz beschrieben. Dort, wo die<br />

Herausgeber in den Text eingegriffen haben, wird es stets durch eckige Klammern [] signalisiert.<br />

Verweise, die zum besseren Verständnis der Dokumente notwendig sind, sind als Fußnoten auf derselben<br />

Seite zu finden. Um diese Verweise <strong>und</strong> Erläuterungen kurzzuhalten, wurde an die Dokumente ein<br />

ausführlicher Anhang angefügt. Einerseits werden in kurzen Artikeln Institutionen <strong>und</strong> Ereignisse<br />

erläutert, die für das Verständnis der Dokumente von Bedeutung sind <strong>und</strong> allein durch die Dokumente<br />

nicht erschlossen werden können. Andererseits finden sich dort eine ausführliche Chronik, ein Personen-<br />

<strong>und</strong> ein Basisgruppenverzeichnis <strong>und</strong> sechs Strukturpläne für verschiedene Institutionen bzw. deren<br />

Zusammenwirken. Die Chronik stellt die Leipziger Ereignisse in Beziehung zum nationalen <strong>und</strong> teilweise<br />

internationalen Geschehen. Das Gruppenverzeichnis ist zugleich eine kleine Geschichte der Leipziger<br />

Gruppen. Mit Hilfe des Abkürzungs- <strong>und</strong> des Literaturverzeichnisses sind die verwendeten Abkürzungen<br />

zu entschlüsseln. Da die Herausgeber Beteiligte am dokumentierten Geschehen sind, unterlassen sie es,<br />

neben den Dokumenten auch eine „Geschichte“ zu veröffentlichen.<br />

2. Auswahlkriterien <strong>und</strong> zeitliche Abgrenzung<br />

Die Dokumentation ist das Ergebnis einer dreijährigen Recherche, die mit Unterstützung des „Archivs<br />

Bürgerbewegung e.V.“ Leipzig möglich war. Hauptmotiv der Herausgeber (die keine Historiker sind) für<br />

eine Veröffentlichung ist ihr Unbehagen angesichts der öffentlichen Klischees zur Rolle der Kirche <strong>und</strong><br />

der politisch-alternativen Gruppen vor der <strong>und</strong> für die sogenannte Revolution im Herbst 1989. Auch die<br />

Geschichte der DDR zu verstehen setzt voraus, sie aus sich heraus verstehen zu lernen. Dafür sind<br />

Dokumentationen unersetzlich. Die in diesem Buch veröffentlichten Dokumente wurden unter mehr als<br />

tausend unveröffentlichten oder schwer zugänglichen Texten, die im Zusammenhang mit den Leipziger<br />

Friedensgebeten entstanden sind, ausgewählt. Die dabei untersuchten Aktenbestände sind im Anhang<br />

aufgelistet.<br />

Die Friedensgebete waren Anfang <strong>und</strong> Mitte der 80er Jahre ein Ort der Besinnung, Information <strong>und</strong> des<br />

Gebetes der Leipziger Friedensgruppen. An ihnen nahmen nur wenige - meist Christen - teil. Nur im<br />

Rahmen der alljährlichen Friedensdekaden im November besuchten mehr als 30 Personen - teilweise über<br />

1000 Personen - die kirchlichen Veranstaltungen. Nachdem Pf. Wonneberger 1986/87 die Friedensgebete<br />

als Ort der Kommunikation aufzuwerten versuchte, <strong>und</strong> die politisch-alternativen Gruppen ihre<br />

eigenständige Vernetzung ausbauten, gewannen die montäglichen Friedensgebete an Bedeutung. Zum<br />

25


zentralen Ort der politischen Auseinandersetzungen wurden sie jedoch erst, nachdem sich 1988 immer<br />

mehr Ausreisewillige an den Friedensgebeten beteiligten. Im Laufe von sieben Jahren wurde so aus der<br />

intimen Andacht <strong>und</strong> aus dem „Gruppentreff“ ein Forum, in dem die gesellschaftlichen Widersprüche<br />

(wie sonst nur selten in der DDR) artikuliert wurden. Am Rande der Friedensgebete eroberten die<br />

politisch-alternativen Gruppen das Terrain, auf dem dann die Macht der SED effektiv hinterfragt <strong>und</strong> in<br />

Frage gestellt werden konnte: Öffentliche Meetings <strong>und</strong> Demonstrationen. Die Herausgeber versuchten,<br />

gerade diese Entwicklung zu dokumentieren. Ausgewählt wurden dafür Dokumente, die die Herrschafts-<br />

<strong>und</strong> Kommunikationsstrukturen offenlegen. Vor allem, um die Wahrnehmungen <strong>und</strong> Optionen der<br />

Beteiligten (Kirche, Gruppen, Staat, SED, Staatssicherheit ...) in ihrer Spezifik <strong>und</strong> Differenziertheit zu<br />

dokumentieren, sind Schwerpunkte gesetzt worden. So wurden zu einzelnen Ereignissen mehrere<br />

Dokumente ausgewählt, während andere Vorgänge nicht dokumentiert wurden. Ausgewählt wurden<br />

solche Ereignisse, die von mehreren Seiten dokumentiert sind <strong>und</strong> wo die Dokumente deutliche<br />

Interpretations- bzw. Zielunterschiede der damaligen Autoren belegen. Auf diesem Wege soll ermöglicht<br />

werden, DDR-Geschichte auch als Regionalgeschichte in den Blick zu bekommen.<br />

Die spezifische Andachtsform der Friedensgebete entstand aus der liturgischen Erneuerungsbewegung<br />

„Gottesdienst einmal anders“ <strong>und</strong> den Gottesdiensten der Offenen Jugendarbeit <strong>und</strong> der<br />

Bausoldatengruppen in verschiedenen Städten der DDR Mitte der 70er Jahre. Institutionalisiert wurden sie<br />

durch die Einführung der Friedensdekaden 1980. Die Dokumentation beginnt jedoch erst mit Dokumenten<br />

zur Friedensdekade 1981, da den Herausgebern erst ab 1981 Dokumente zur Beteiligung der politischalternativen<br />

Gruppen an den Friedensgebeten zur Verfügung standen. Die Dokumentation endet mit dem<br />

9. Oktober 1989. Dieser Tag bedeutete faktisch das Ende der „geschlossenen Gesellschaft“ DDR<br />

(zumindest für Leipzig!). Nachdem der Repressionsapparat nicht zum Einsatz kam, brach das System aus<br />

Angst <strong>und</strong> Lüge zusammen. Nun war die kommunikative Kompetenz, die z. B. in den Friedensgebeten<br />

erworben wurde, gefragt. Der öffentliche Diskurs zu den „Lebensfragen des Volkes“ konnte beginnen.<br />

Diese „Herbstgesellschaft“ unterschied sich so tief von der DDR-Gesellschaft, daß ihr eine eigene<br />

Dokumentation gewidmet werden müßte.<br />

3. Quellenlage<br />

Zu dokumentieren gibt es nur das, wovon Dokumente vorhanden sind. Diese Binsenweisheit beschreibt<br />

den engen Rahmen, in dem sich die Herausgeber bewegen mußten, weshalb darauf ausführlich<br />

eingegangen werden soll.<br />

Die Leipziger Friedensgebete haben ein großes öffentliches Interesse gef<strong>und</strong>en, so daß es dazu schon<br />

einige Veröffentlichungen gibt. Die wichtigste wurde von führenden Leipziger Kirchenvertretern<br />

herausgegeben (Dona nobis pacem. Fürbitten <strong>und</strong> Friedensgebete Herbst ‘89 in Leipzig). Diese<br />

Dokumentation gibt jedoch nur Texte der Friedensgebete wieder, die Ende 1989 gehalten wurden, <strong>und</strong><br />

diese oft nur unvollständig. Das Gebet vom 25. 09. wurde durch eine Manuskriptseitenvertauschung sogar<br />

entstellt. Das Spezifische der Friedensgebete, einer liturgisch geb<strong>und</strong>enen Gemeindeveranstaltung, bei der<br />

politische Gruppen zu Wort kommen konnten, ist in dieser Dokumentation kaum zu fassen. Eine<br />

Verbindung zwischen dem Geschehen in den Kirchen <strong>und</strong> auf der Straße bzw. in den Herrschaftsetagen<br />

kam kaum in den Blick. Auch verstreute weitere Publikationen (s. Literaturverzeichnis) konnten diesen<br />

Mangel kaum beheben. Die hier vorgelegte Dokumentation versucht diese Lücke zu schließen. Sie bietet<br />

deshalb nur unveröffentlichte oder schwer zugängliche Dokumente.<br />

Auf der Suche nach den Texten ließen sich Archiv- <strong>und</strong> Privatquellen erschließen. Es wurden archivierte<br />

Unterlagen der Räte der Stadt bzw. des Bezirkes Leipzig <strong>und</strong> des Staatssekretariats für Kirchenfragen, die<br />

archivierten Materialien der SED (Kreisleitung, Stadtleitung, Bezirksleitung, Zentralkomitee) <strong>und</strong><br />

außerdem die zugänglichen Akten des Ministeriums für Staatssicherheit eingesehen. Andererseits wurde -<br />

soweit zugänglich - unter den Protokollen kirchlicher Gremien <strong>und</strong> Publikationen der politischalternativen<br />

Gruppen ausgewählt. Ein wichtiges Ziel des „Archivs Bürgerbewegung e.V.“ ist es,<br />

Dokumente der DDR-Opposition <strong>und</strong> des zivilen Widerstandes zu sammeln. Dabei fanden sich bei<br />

ehemaligen Basisgruppenmitgliedern auch für diese Dokumentation wichtige Texte.<br />

26


3.1. Die Akten der SED <strong>und</strong> der staatlichen Behörden<br />

Der Umgang mit den Unterlagen von Partei- <strong>und</strong> Staatsorganen (Ausnahme MfS) ist in doppelter Weise<br />

schwierig. Einerseits wurden die Akten nicht nach einheitlichen Registraturordnungen angelegt, sondern<br />

die Abteilungen bzw. Büros hatten eigene Ordnungen. So sind die Akten, die nicht Sitzungsprotokolle<br />

regulärer Gremien sind, in Form von Handakten angelegt worden, deren Umfang sehr unterschiedlich ist.<br />

Andererseits fanden in der Umbruchphase 1989/90 selten geordnete Aktenübernahmen statt. So wurde vor<br />

allem der Handaktenbestand ausgesiebt oder überhaupt nicht archiviert. Prinzipiell sind die archivierten<br />

Sachakten nur ein Teil der ursprünglichen Handakten 29 . Nur in den Fällen, wo Berichte an verschiedene<br />

Stellen gingen, lassen sich manchmal Lücken schließen.<br />

Ende 1989 war regulärer Archivierungstermin für die Büros der SED-Leitungen. So wurde zwischen<br />

September <strong>und</strong> Dezember 1989 ein Großteil ihrer Akten vom Archiv der damaligen Bezirksleitung der<br />

SED(-PDS) übernommen. Eine erste Auswahl fand schon in den SED-Leitungen statt, eine zweite - nur<br />

teilweise protokollierte Kassation - im Archiv der PDS. Die Bestände der Abteilungen Staat <strong>und</strong> Recht<br />

<strong>und</strong> Sicherheitsfragen der SED-Bezirksleitung Leipzig sind für die Jahre ab 1981 so dünn, daß Aussagen<br />

über die Arbeit dieser Abteilungen nur indirekt zu machen sind. Von der SED-Kreisleitung an der<br />

Leipziger Universität gibt es nur noch die Protokolle der Leitungs- <strong>und</strong> Sekretariatssitzungen ... Da die<br />

Akten des Vertreters des ZKs in der SED-Bezirksleitung, des sogenannten „Beschleunigers“, nicht<br />

archiviert wurden, sind vermutlich die Lücken im SED-Aktenbestand nicht weiter zu schließen.<br />

Die Archivierung der staatlichen Akten war ähnlich <strong>und</strong>urchsichtig <strong>und</strong> verlustreich. Für die Archivierung<br />

zuständig war nach DDR-Recht das Verwaltungsarchiv, welches der jeweiligen Abteilung Innere<br />

Angelegenheiten unterstellt war. Da das öffentliche Interesse an einer Aktensicherung in den Räten der<br />

Stadtbezirke, der Stadt <strong>und</strong> des Bezirkes kaum entwickelt war, kam es teilweise überhaupt nicht zu einer<br />

Archivierung der Akten. Der Leipziger Oberbürgermeister wies Ende Mai 1990 aufgr<strong>und</strong> eines<br />

Registraturwechsels die Archivierung sämtlicher Akten im Verwaltungsarchiv an. Eine unabhängige<br />

Kontrolle fand nicht statt. So sind eine Vielzahl der Akten des Stadtarchivs, das seit 1993 für die Akten<br />

der Stadt zuständig ist, zufällige F<strong>und</strong>e. Sämtliche archivierte Akten des Referates Kirchenfragen beim<br />

Rat der Stadt wurden Ende August 1990 von dem Mitarbeiter für Kirchenfragen H. Fenzlau in<br />

neuangelegten Aktenordnern dem Archiv übergeben 30 . Die (noch erhaltenen) Verschlußsachen des<br />

Sektors Geheimnisschutz wurden erst im Mai 1992 dem Archiv übergeben. Das einzige Arbeitsbuch des<br />

Stellvertreters des Oberbürgermeisters wurde auf dem Müll im Rathausinnenhof gef<strong>und</strong>en. Akten der<br />

Stadtbezirksverwaltung Leipzig-Mitte wurden 1992 in verschiedenen Kellerräumen gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

gelangten so ins Stadtarchiv...<br />

Für die Akten der Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat des Bezirkes interessierte sich das<br />

Leipziger Bürgerkomitee schon früh, so daß es Anfang 1990 den Inhalt der Schränke des Stellvertretenden<br />

Vorsitzenden des Rates des Bezirkes versiegeln ließ. Das Verwaltungsarchiv des Rates des Bezirkes<br />

(heute Regierungspräsidium) hat jedoch aus nicht geklärten Gründen nicht alle dieser zeitweise<br />

versiegelten Akten dem Sächsischen Staatsarchiv übergeben (können). Die im Staatsarchiv liegenden<br />

Akten des Referates Kirchenfragen wurden von W. Jakel in einer Form übergeben, die den Verdacht der<br />

Manipulation nahelegt. So finden sich in den Akten gelochte <strong>und</strong> ungelochte Blätter, <strong>und</strong> für die jüngeren<br />

Akten läßt sich kaum eine Ordnung finden; auch hatten die Akten keine Titel...<br />

Ergänzend zu den Akten, die in Leipzig liegen, wurden die Akten der zentralen Behörden ausgewertet.<br />

Die Akten des Staatssekretariats für Kirchenfragen sind vollständig archiviert, jedoch wurden die Akten<br />

der Abteilung I(Sicherheit) vernichtet. Die im allgemeinen genaue Aktenführung im Staatssekretariat für<br />

Kirchenfragen ermöglichte eine gezielte Recherche, dies war bei den Akten des Zentralkomitees der SED<br />

nicht möglich. Die Herausgeber hatten erwartet, daß es eine Vorgangsakte „Friedensgebete“ oder<br />

29 Auch innerhalb der Akten der regulären Gremien lassen sich Lücken feststellen, so fehlen z. B. Beschluß-<br />

Protokolle 47/89 <strong>und</strong> 48/89 des Sekretariats SED-Bezirksleitung (Oktober/November 1989) (StAL SED A 5547<br />

<strong>und</strong> A 5548).<br />

30 Ab 19.11.1989 war der Bereich Kirchenfragen dem Ratsvorsitzenden (Oberbürgermeister) direkt unterstellt<br />

(Festlegung des Vorsitzenden des Ministerrates). Ende September 1990 wurden die Referate Kirchenfragen <strong>und</strong><br />

das Staatssekretariat für Kirchenfragen aufgelöst.<br />

27


„Leipzig“ gibt, doch sowohl die Arbeitsgruppe „Kirchenfragen“ als auch die Politbüromitglieder Krenz<br />

oder Jarowinsky haben keine solche Akten abgeliefert. So sind die Dokumente alle „Zufallsf<strong>und</strong>e“.<br />

Die Akten der Leipziger Polizeibehörden werden für die Übergabe an das Sächsische Staatsarchiv<br />

vorbereitet. Die Dienstvorgänge der „Deutschen Volkspolizei“ sind - anders als bei anderem Behörden,<br />

bei denen ein größerer Personalwechsel stattfand - z. Z. nicht offen zugänglich. Die Akten der Abteilung 1<br />

der Kriminalpolizei <strong>und</strong> deren inoffiziellen bzw. unbekannten Mitarbeiter sind nach Aussagen des<br />

Archivars des Polizeiarchives nie dort archiviert worden, womit die Akten des MfS auch als Quelle zur<br />

Arbeit der Polizei an Bedeutung gewinnen.<br />

3.2. Die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit<br />

Aufgr<strong>und</strong> des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) ist wohl eine wissenschaftliche Auswertung der Stasi-<br />

Unterlagen möglich, doch da in den letzten Jahren vor allem personenbezogene Unterlagen archiviert<br />

wurden, die nur bedingt der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung stehen, sind die nutzbaren MfS-<br />

Akten nur ein schmaler Ausschnitt der noch erhaltenen. Im Zentralarchiv sind die Handakten der<br />

Hauptabteilung XX/4 <strong>und</strong> eine Vielzahl an zentralen Informationen (ZAIG), die u. a. an<br />

Politbüromitglieder gingen, einsehbar. In der Außenstelle Leipzig des B<strong>und</strong>esbeauftragten sind bis heute<br />

(Mai 1994) - neben personenbezogenen Akten - nur die noch erhaltenen Dienstbücher archiviert <strong>und</strong><br />

damit zugänglich. Jedoch ist die Relevanz dieser ca. 4000 Bücher sehr unterschiedlich, <strong>und</strong> ihr Studium<br />

erfordert viel Geduld. Für die Vorgänge um die Friedensgebete sind vor allem einige Bücher der<br />

Abteilung XX <strong>und</strong> ein Buch des Leiters der Bezirksverwaltung von Bedeutung.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der noch schlechten Aktenlage kommt den vom Bürgerkomitee hergestellten Kopien von Stasi-<br />

Unterlagen, die sich u. a. im „Archivs Bürgerbewegung e.V.“ <strong>und</strong> im „Forschungszentrum zu den<br />

Verbrechen des Stalinismus“ (Dresden) befinden, ein hoher Quellenwert zu. Die vom Bürgerkomitee<br />

begonnene Archivierung wurde durch die Behörde des B<strong>und</strong>esbeauftragten nicht übernommen, so daß die<br />

Signatur-Angaben nicht mehr von Nutzen sind. Die Herausgeber geben deshalb nur die F<strong>und</strong>orte der<br />

Kopien an. Aus ihnen lassen sich jedoch zum Teil sichere Aussagen über die Herkunft - d. h. der<br />

aktenführenden MfS-Abteilung - machen. So waren Mitgliedern des Bürgerkomitees zur Auflösung des<br />

MfS 1990 vom Militärstaatsanwalt drei Säcke mit Unterlagen der Auswertungs- <strong>und</strong> Kontrollgruppe zur<br />

„wissenschaftlichen Auswertung“ zugänglich gemacht worden. Diese Unterlagen waren zum Teil<br />

„vorvernichtet“. Die Säcke enthielten vorwiegend Materialien aus „Operativen Vorgängen“, die<br />

vollständig vernichtet werden sollten 31 . Im Ordner H 8 des „Archivs Bürgerbewegung e.V.“ befinden sich<br />

Kopien von Akten, die offensichtlich im Büro des Leiters der Bezirksverwaltung Leipzig, in der Abteilung<br />

IX der Bezirksverwaltung <strong>und</strong> im Referat XX/2 der Kreisdienststelle Leipzig-Stadt des MfS lagen. Im<br />

Ordner H 53 des Archivs Bürgerbewegung sind Kopien von Aktenstücken, die von den Referaten<br />

Kirchenfragen des Rates des Bezirkes oder der Stadt Leipzig erstellt wurden <strong>und</strong> an den Leiter des<br />

Referates XX/4 32 der Bezirksverwaltung des MfS gingen, gesammelt. Vermutlich stammen sie aus der<br />

Akte des Gesellschaftlichen Mitarbeiters Sicherheit (GMS) des MfS „Rat“, W. Jakel. W. Jakel hatte als<br />

operativer Mitarbeiter des Referates XX/4 gearbeitet <strong>und</strong> hielt als Referatsleiter für Kirchenfragen beim<br />

Rat des Bezirkes Leipzig engen Kontakt zum MfS.<br />

Die Herausgeber haben außerdem personenbezogene Akten des MfS hinzugezogen, die ihnen von<br />

Betroffenen zur Verfügung gestellt wurden.<br />

3.3. Kirchliche Gremien <strong>und</strong> private Quellen<br />

Für die Geschichte der Leipziger Friedensgebete sind die Protokolle der Kirchenvorstandssitzungen der<br />

Gemeinde St. Nikolai - St. Johannis, die Protokolle des Bezirkssynodalausschusses „Frieden <strong>und</strong><br />

31 Kopien von Papieren aus diesen Säcken liegen im „Forschungszentrum zu den Verbrechen des Stalinismus“<br />

(Dresden) <strong>und</strong> im ABL H 10 <strong>und</strong> wurden zum Teil von Besier/Wolf (1991) veröffentlicht.<br />

32 Sie tragen durchweg das Kürzel „Co“ für Conrad.<br />

28


Gerechtigkeit“ der Bezirkssynode LeipzigOst <strong>und</strong> Aufzeichnungen des Bezirkskirchenamtes, der<br />

sächsischen Kirchenleitung (Kirchenleitung, LKA, Synode), der Ephorenkonventen <strong>und</strong> des<br />

Landesausschusses für Kongreß- <strong>und</strong> Kirchentag zu den Leipziger Vorgängen von Belang 33 . Weiterhin<br />

von Interesse sind Berichte über Gespräche mit staatlichen Stellen oder Gruppenvertretern <strong>und</strong><br />

Materialien zur Vorbereitung <strong>und</strong> Gestaltung der Friedensgebete.<br />

Die Protokolle des Nikolaikirchenvorstandes sind handschriftlich in ein Buch geschrieben worden, das<br />

beim Vorstandsvorsitzenden liegt. Die Herausgeber erhielten nach mehrmaligem Bitten auf Beschluß des<br />

Vorstandes Einsicht in das Buch <strong>und</strong> Kopien von den Abschnitten, in denen es um die Friedensgebete<br />

ging 34 . Diese fanden zum großen Teil Eingang in diese Dokumentation. Die Protokolle <strong>und</strong> Briefe des<br />

Bezirkssynodalausschusses (BSA), in dem Synodale <strong>und</strong> Basisgruppenvertreter gemeinsam saßen, wurden<br />

durch die Herausgeber von verschiedenen ehemaligen Mitgliedern des BSA zusammengetragen <strong>und</strong><br />

liegen heute im Original oder als Kopie im Archiv Bürgerbewegung. Der Versuch der Herausgeber, Akten<br />

des Landeskirchenamtes oder der Bischofskanzlei der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens<br />

einzusehen, scheiterte am mangelnden „Vertrauen“ des Kirchenleitungskollegiums „zu einzelnen<br />

Leipziger Bürgerrechtlern“ 35 . Die vorhandenen kirchlichen Protokolle über Gespräche mit staatlichen<br />

Stellen, die die Leipziger Superintendenten führten, sind in dem Band „Sorget nicht, was ihr reden<br />

werdet“ 36 veröffentlicht worden. Sie werden nur in den Anmerkungen berücksichtigt.<br />

In verschiedenen Veröffentlichungen sind die Ansprachen der Pfarrer in den Friedensgebeten im<br />

September/Oktober 1989 zu finden 37 . Es fällt jedoch auf, daß die Texte von Gruppenmitgliedern, die<br />

während derselben Andachten verlesen wurden, kaum mit publiziert worden sind 38 . Aus der Zeit davor<br />

wurden noch keine Friedensgebetstexte publiziert. Die Herausgeber haben eine Vielzahl der Pfarrer <strong>und</strong><br />

Gruppenmitglieder über einen Zeitraum von zwei Jahren gebeten, ihre Aufzeichnungen <strong>und</strong> Skizzen zu<br />

den Friedensgebeten zur Verfügung zu stellen. Auf diesem Weg entstand eine kleine Sammlung von<br />

Predigten <strong>und</strong> liturgischen Stücken, die im Archiv Bürgerbewegung (H 1 <strong>und</strong> 55) liegt. Eine Auswahl<br />

daraus zu treffen war besonders schwierig, da die Sammlung kaum repräsentativ zu nennen ist. So fehlen<br />

wichtige Friedensgebete (z. B. 01. 02. 1988, 27. 06. 1988 oder 07. 11. 1988). Die Auswahl wurde dann<br />

folgendermaßen getroffen: Für die Zeit vor 1988 wurden die Gottesdienste ausgewählt, die sich aufgr<strong>und</strong><br />

der Materialdichte am besten dokumentieren ließen, für die Zeit danach, wenn das Friedensgebet eine<br />

große Resonanz fand.<br />

Um die Aktivitäten der politisch-alternativen Gruppen in den Blick zu bekommen, wurden deren<br />

Publikationen 39 <strong>und</strong> Veröffentlichungen in anderen Zeitschriften 40 untersucht. Außerdem wurden die<br />

Materialien, die das „Archiv Bürgerbewegung e.V.“ von verschiedenen Gruppenmitgliedern erhalten <strong>und</strong><br />

archiviert hat, ausgewertet. Eine erste Orientierung gaben die von Gruppenmitgliedern im Februar <strong>und</strong><br />

März 1989 herausgegebenen Chroniken bzw. Dokumentationen „Die Mücke“ 41 <strong>und</strong> „Was war los in<br />

Leipzig“ 42 . Für die Zeit danach war besonders der Nachlaß der Koordinierungsgruppe für die<br />

33 Zu den einzelnen Gremien s. Anhang S.352ff.<br />

34 Die Kopien liegen im ABL H 54<br />

35 so Brief J. Hempel an C. Dietrich vom 13.10.1992<br />

36 Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak<br />

37 Sievers (1990); Hanisch et al. (1990); Kuhn (1992), 35-37 u. ö.<br />

38 s. z.B. Fürbitten der AG Umweltschutz, die sich nicht in Hanisch et al. (1990) finden lassen (abgedruckt in: Zur<br />

Freiheit berufen, hrg. von Jürgen Israel, Berlin 1991, 183 f.)<br />

39 Dazu zählen folgende in Leipzig herausgegebene Zeitschriften <strong>und</strong> Dokumentationen: Streiflichter (1981-89),<br />

Kontakte (1984-89), IHN-Post (1986-89), Anschlag (1984-89), Solidarische Kirche (1988/89), Zweite Person<br />

(1987-90), Die neue Grüne (1989), Forum für Kirche <strong>und</strong> Menschenrechte (1989), Glasnost (1987-89), Messitsch<br />

(1987-89), Sno Boy (1989), Umfeldblätter (1989), Die Kirche (1988), Ostmitteleuropa (1988), Varia (1989), Die<br />

Pleiße (1989), Dokumentation Straßenmusikfestival (1989), Die Mücke (1989) (ABL, Buchkunstmuseum in der<br />

Deutschen Bibliothek Leipzig <strong>und</strong> Privatbesitz).<br />

40 z. B.: Umweltblätter (Ost-Berlin), grenzfall (Ost-Berlin), Arche-Info (Ost-Berlin), Blattwerk (Halle),<br />

Straßenfeger (Quedlinburg), Unkraut (Eilenburg), Ost-West-Diskussionsforum (Düsseldorf)<br />

41 hg. von AG Menschenrechte <strong>und</strong> AK Gerechtigkeit<br />

42 hg. von C. Dietrich, in: „Solidarische Kirche“ (Februar 1989)<br />

29


Fürbittgebete (Herbst 1989) ergiebig, der fast vollständig im Archiv Bürgerbewegung liegt.<br />

Eine wertvolle Quelle zur öffentlichen Rolle der Friedensgebete bzw. Nikolaikirche sind die Gästebücher<br />

der Nikolaikirche. Die Stadtkirche war täglich zwischen 9.00 Uhr <strong>und</strong> 18.00 Uhr geöffnet. Die „Offene<br />

Kirche“ hatte eine Informationsecke, an der sich jeder z. B. über kirchliche Erklärungen zu politischen<br />

Fragen informieren konnte. Außerdem gab es wechselnde Ausstellungen, z. B. zu Umweltfragen im Raum<br />

Leipzig oder zur Geschichte der Juden in Sachsen ... Die Gästebücher belegen jedoch, daß die Kirche auch<br />

zu einem Pilger- <strong>und</strong> Treffort von Ausreise- <strong>und</strong> Reformwilligen geworden war. Dies vollständig zu<br />

dokumentieren würde den Rahmen der Dokumentation sprengen, deshalb sind nur Eintragungen zu den<br />

Eckdaten ausgewählt worden. Ende Januar 1988 wurde der Protest gegen die Inhaftierungen in Berlin vor<br />

allem in der Kirche artikuliert, <strong>und</strong> im Herbst 1988 verstanden viele Ausreisewillige, daß die<br />

„Gastfre<strong>und</strong>schaft“ der Nikolaikirche keine Selbstverständlichkeit ist. Anläßlich der Polizeiaktionen am<br />

7./8. Mai 1989 wurde die Kirche Zufluchtsort <strong>und</strong> das Gästebuch ein Medium des<br />

Informationsaustausches. Dies verstärkte sich im September 1989. Nun artikulierten einige Besucher ihre<br />

Solidarität mit den Friedensgebeten bzw. mit der Gemeinde. Immer wieder heißt es: „Macht weiter so!“.<br />

Ab 21.09. wurde das Gästebuch zum Medium für Zustimmungserklärungen zum „Neuen Forum“.<br />

Um die Zusammenhänge rekonstruieren zu können, haben die Herausgeber eine Vielzahl an Hinweisen<br />

<strong>und</strong> Materialien von Zeitzeugen erhalten. Teilweise war dies mit wochenlangen Konsultationen<br />

verb<strong>und</strong>en. Für die Ausdauer, Hilfsbereitschaft <strong>und</strong> Freigebigkeit danken wir ihnen.<br />

30


Dokumente


1 Veranstaltungseinladung<br />

Hektographierter Brief, mit dem die Arbeitsgruppe „Friedensdienst“ zur Friedensdekade 1981 einlud (ABL H<br />

55).<br />

Liebe <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>!<br />

vom 8.-18.11.81 findet die Friedensdekade statt1 . In diesem Zeitraum sollen sich in möglichst vielen<br />

Gemeinden jeden Tag zur gleichen Zeit Menschen zum Friedensgebet treffen. Die Dekade wird mit dem<br />

Bußtagsgottesdienst am 18.11., 19.30 Uhr, in der Nikolaikirche beendet. Wir glauben, daß in einer<br />

politisch so angespannten Situation wie heute das Gebet für den Frieden eine besondere Bedeutung hat.<br />

Der B<strong>und</strong> der evangelischen Kirchen in der DDR wird dazu Material herausgeben . In der Anlage<br />

2 3<br />

möchten wir Anregungen zur thematischen Ausgestaltung der Gebete geben. Wir bitten Euch, nicht nur<br />

mit dem nachfolgenden Plakat 4 zu werben, sondern auch die Abkündigung in den kommenden<br />

Gottesdiensten möglich zu machen. Im Anschluß an den Bußtagsgottesdienst laden wir alle Helfer sehr<br />

herzlich zu einer Auswertung ein.<br />

Im Namen der Arbeitsgruppe Friedensdienst des Jugendpfarramtes<br />

2 Friedensgebetstexte<br />

Material für Veranstaltungen, welches von der AG „Friedensdienst“ anläßlich der Friedensdekade 1981<br />

erarbeitet <strong>und</strong> über das Jugendpfarramt an die Leipziger Gemeinden versandt wurde. Die vier Papiere wurden<br />

im Jugendpfarramt vervielfältigt. Handschriftlich wurde „Nur für den kirchl. Dienstgebrauch“ darauf<br />

vermerkt (ABL H 55).<br />

Kriegsspielzeug<br />

Am 8.01.79 schlossen Spielzeugfabrikanten, der schwedische Verbraucherverband <strong>und</strong> der „Spielrat“ (der<br />

die Regierung vertritt) ein Abkommen, das die Herstellung <strong>und</strong> den Verkauf von Kriegsspielzeug in<br />

Schweden untersagt. Mit dieser Kampagne wurde in Schweden ein Beschluß in die Tat umgesetzt, der<br />

anläßlich des europäischen Jugend- <strong>und</strong> Studententreffens 1976 in Warschau gefaßt worden war, um auf<br />

ein Verbot von Kriegsspielzeug zu drängen.<br />

Frieden ist, [/] wenn den Kindern [/] bei dem Wort „Feind“ [/] nichts mehr einfällt.<br />

H.-E. Käufer<br />

− Wie reagiert Ihr, wenn sich Kinder beim Spielen totschießen?<br />

− Können Kinder den Sinn ihres Spieles begreifen?<br />

− Welchen Einfluß haben Presse <strong>und</strong> Fernsehen auf das Spiel von Kindern?<br />

Einige Gründe für die Abschaffung von militärischem Spielzeug<br />

− Militärisches Spielzeug fördert die Vorstellung, daß Gewalt ein übliches <strong>und</strong> sinnvolles Mittel ist, mit<br />

Schwierigkeiten fertig zu werden. Diese Vorstellung kann im Erwachsenenalter schädliche Folgen für<br />

das Zusammenleben mit anderen haben.<br />

− Militärisches Spielzeug stellt Krieg als etwas Harmloses dar. Krieg heute bei uns würde aber in<br />

1 Die erste FD fand 1980 unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ statt. Sie war Ausdruck einer neuen<br />

Gestaltung der „besonderen Gemeinschaft“ der ev. Kirchen in beiden deutschen Staaten (z.B.: gemeinsame<br />

Liturgien, inhaltliche Absprachen über das neugeschaffene gesamtdeutsche Gremium „Konsultativgruppe“ bei<br />

EKD <strong>und</strong> BEK ...). In Leipzig gab es während der FD 1980 eine Unterschriftensammlung zur Fortsetzung der FD<br />

an die Kirchenleitung <strong>und</strong> einige Jugendliche, die verschiedene Elemente der FD demonstrativ übernahmen. So<br />

verweigerten Schüler am Buß- <strong>und</strong> Bettag für eine Minute die Mitarbeit im Unterricht anläßlich der geplanten<br />

„Schweigeminute“, so daß staatliche Stellen den Pfarrern <strong>und</strong> kirchlichen Jugendmitarbeitern Aufruf zum Streik<br />

(in Parallele zu Polen!) vorwarfen.<br />

2 Das Material für die FD 1981 wurde von der Arbeitsgemeinschaft christlicher Jugend in der DDR erarbeitet <strong>und</strong><br />

vom Sekretariat des BEK herausgegeben.<br />

3 s. Dok. 2<br />

4 Das Plakat konnte von den Herausgebern noch nicht gef<strong>und</strong>en werden.<br />

32


Wirklichkeit Massenvernichtung bedeuten.<br />

− Es besteht ein Widerspruch zwischen dem Bemühen vieler Politiker um Rüstungsbegrenzung <strong>und</strong><br />

Abrüstung auf der einen Seite <strong>und</strong> der spielerischen Vorbereitung von Kindern auf Krieg auf der<br />

anderen Seite.<br />

− Die Abschaffung des militärischen Spielzeugs würde die militärische Sicherheit der DDR nicht<br />

beeinträchtigen. Sie wäre aber ein Beitrag zur Entspannung <strong>und</strong> eine indirekte Unterstützung der<br />

Friedensbewegung in westlichen Ländern.<br />

− Kinder sind durch ihre geringe eigene Erfahrungswelt noch sehr beeinflußbar <strong>und</strong> biegsam.<br />

− Sie glauben voller Vertrauen, was ihnen Erwachsene erzählen.<br />

− Da sie in vereinfachten Kategorien „gut <strong>und</strong> böse“ denken, können Kinder bei noch wenig entwickelter<br />

Kombinationsgabe keine Zusammenhänge erkennen.<br />

Zivilverteidigung<br />

Quelle: Lehrbuch Zivilverteidigung für Klasse 9 [/]<br />

„Schutzmaßnahmen vor den Wirkungsfaktoren der Kernwaffen“<br />

− Den wirksamsten Schutz bietet in jedem Falle der entsprechend vorbereitete Schutzraum.<br />

− In freiem Gelände wirft man sich sofort auf den Erdboden. Dabei zeigen die Füße in Richtung des<br />

Detonationszentrums. Die Hände werden zum Schutz des Kopfes in den Nacken gelegt. Zum Schutz<br />

der Atmungsorgane bleibt der M<strong>und</strong> geschlossen.“<br />

Zitat aus „Wissenschaftliche Welt“ 4/1980, Berlin: Bericht der medizinischen Arbeitsgruppe der 30.<br />

Pugwash-Konferenz<br />

Aufgr<strong>und</strong> der Detonations-, Hitze- <strong>und</strong> Strahlenwirkung wären Schutzbunker in Städten, die mit<br />

Kernwaffen angegriffen würden, wertlos. Bunker, die sich 10 km weit vom Explosionsort einer 1-<br />

Megatonnenbombe befänden, würden sich in Öfen verwandeln, in denen die Insassen bei den<br />

Großbränden an der Erdoberfläche verschmoren <strong>und</strong> ersticken würden. In größeren Entfernungen würden<br />

Bunker nur zeitweiligen Schutz gegen den hochradioaktiven Fall-out bieten. Überlebende würden aus den<br />

Bunkern in eine Welt heraufkommen, die einem Alptraum gliche: Wasser wäre ungenießbar,<br />

Nahrungsmittel wären radioaktiv verseucht <strong>und</strong> das ökonomische, ökologische <strong>und</strong> soziale Gefüge, von<br />

dem das Leben der Menschen abhängt, wäre zerstört. Den Überlebenden würden Epidemien drohen, denn<br />

überall lägen Leichen <strong>und</strong> Tierkadaver unbestattet herum. Viren, Bakterien, Pilze <strong>und</strong> Insekten, die<br />

gegenüber der Radioaktivität hochresistent sind, nähmen enorm zu, <strong>und</strong> die Widerstandskraft des<br />

menschlichen Organismus gegenüber Infektionen wäre durch die ionisierende Strahlung stark<br />

herabgesetzt.<br />

Kernwaffen haben eine so verheerende Wirkung auf die menschliche Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> das Leben, daß sie<br />

nie zum Einsatz kommen dürfen. Die einzige Möglichkeit, die Menschen vor ihren medizinischen<br />

Konsequenzen zu schützen, besteht darin, den Atomkrieg zu verhindern. Das ist die einzige Alternative.<br />

Gebet:<br />

Herr, du unser Gott, mit diesen Kernwaffen haben wir uns eingedeckt, sie reichen, um unsere <strong>und</strong><br />

deine Erde mehrmals zu zerstören!<br />

Herr, wir sind verzweifelt <strong>und</strong> suchen nach Wegen, das zu verhindern, wo sind diese Wege? Uns<br />

fällt das Suchen danach oft sehr schwer, <strong>und</strong> die Hoffnungslosigkeit erdrückt uns fast. Alles ist<br />

voll von falschen Informationen. Jedes System erdenkt sich Schutzmaßnahmen, die keine sind <strong>und</strong><br />

um uns zu beruhigen, um die Wahrheit zu vertuschen.<br />

Herr, Du unser Gott, zu dir rufen wir jetzt in dieser St<strong>und</strong>e. Hilf uns, Wege zum Frieden zu finden,<br />

hilf uns, den Weg deines Friedens zu erfahren.<br />

Amen.<br />

Rüstung<br />

Lukas 19,41-44 („Jesus weint über Jerusalem“)<br />

Als Jesus Jerusalem erblickte, weinte er <strong>und</strong> sagte traurig: „Wenn du doch heute erkennen wolltest, was<br />

dir Frieden bringt! Aber du bist blind dafür. Es kommt eine Zeit, da werden deine <strong>Feinde</strong> einen Wall rings<br />

um dich aufwerfen, dich belagern <strong>und</strong> von allen Seiten einschließen. Sie werden dich <strong>und</strong> deine<br />

Einwohner völlig vernichten <strong>und</strong> keinen Stein auf dem anderen lassen. Denn du hast den Tag nicht<br />

erkannt, an dem Gott dir zu Hilfe kommen wollte.“<br />

33


Die weltweite Rüstung hat nicht nur längst ein unerträgliches Ausmaß erreicht, sie schreitet rasend<br />

vorwärts. Es scheint fast aussichtslos, diese Entwicklung unter Kontrolle bringen zu wollen, bedenkt man<br />

den Umfang <strong>und</strong> [die] Vielfalt der Waffenarten, die Zahl der betroffenen Länder auch in der dritten Welt.<br />

Nur wenn es gelingt, möglichst vielen Menschen diese Situation bewußt zu machen, Gleichgültigkeit <strong>und</strong><br />

Bequemlichkeit zu überwinden, besteht Hoffnung.<br />

Erich Fried „Gründe“ 5<br />

„Weil das alles nicht hilft, [/] Sie tun ja doch was sie wollen... [/] Weil ich mir nicht noch mal die Finger<br />

verbrennen will... [/] Weil man nur lachen wird: Auf dich haben sie gewartet... [/] Und warum immer ich?<br />

[/] Keiner kann es mir danken, [/] Weil da niemand mehr durchsieht, [/] Sondern höchstens noch mehr<br />

kaputt geht... [/] Weil jedes Schlechte vielleicht auch sein Gutes hat... [/] Weil es Sache des Standpunktes<br />

ist <strong>und</strong> überhaupt, wem soll [/] man glauben? [/] Weil auch bei den anderen nur mit Wasser gekocht<br />

wird... [/] Weil ich das lieber Berufeneren überlasse... [/] Weil man nie weiß, wie einem das schaden<br />

kann... [/] Weil sich die Mühe nicht lohnt, [/] Weil sie das alle gar nicht wert sind...“<br />

Das sind Todesursachen [/] zu schreiben auf andere Gräber [/] die nicht mehr gegeben werden [/] wenn<br />

das die Ursachen sind.<br />

Sozialer Friedensdienst 6<br />

In unserem Lande werden zweimal im Jahr junge Menschen zum Wehrdienst eingezogen. Sie sollen die<br />

Errungenschaften des Sozialismus schützen. Es gibt aber auch Menschen, die den Dienst mit der Waffe<br />

aus Gewissensgründen nicht leisten können, deshalb wurde 1964 vom Staat die Möglichkeit geschaffen,<br />

als Bausoldat einen Wehrersatzdienst zu leisten. Wieder andere können auch dies nicht mit ihrem Glauben<br />

<strong>und</strong> Gewissen vereinbaren <strong>und</strong> werden zu Gefängnisstrafe verurteilt, wenn sie dem Einberufungsbefehl<br />

nicht folgen. Seit etwa einem Jahr bemühen sich Christen in der DDR, einen Weg für einen Dienst im<br />

zivilen Bereich (Krankenhaus, Alters- u. Pflegeheime usw.) zu finden. Er soll die Möglichkeit bieten, ein<br />

Zeichen des Friedens <strong>und</strong> der Versöhnung in diesen sozialen Bereichen zu setzen. Von der Güstrower<br />

Synode 7 wurde dieses Anliegen befürwortet, die Konferenz der Kirchenleitungen ist beauftragt, mit<br />

unserer Regierung darüber zu sprechen.<br />

Gebet:<br />

Herr, du unser Gott, viele Menschen ringen um den Frieden. Du gabst uns den Auftrag,<br />

Friedensstifter zu sein, aber unsere Wege sind so unterschiedlich, oft auch gegensätzlich. Schenke<br />

uns Achtung vor allen Menschen, die für den Frieden kämpfen, ob Christen oder Atheisten. ob mit<br />

oder ohne Waffe. Laß uns trachten nach Deinem Frieden. Gib uns die Kraft, den Weg frei nach<br />

unserem Gewissen zu wählen.<br />

Amen.<br />

3 Staatlicher Ereignisbericht<br />

Auszug aus der Information des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für Inneres vom<br />

23.11.1981 an den Vorsitzenden des Rates, an den Staatssekretär für Kirchenfragen <strong>und</strong> an die Bezirksleitung<br />

der SED (Urbaneck) „über gegenwärtige kirchliche Aktivitäten“. Die Information wurde von Bitterlich<br />

unterzeichnet <strong>und</strong> trägt Bearbeitungsspuren (BA O-4 1432).<br />

[...] In Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung der „Friedensdekade“ wurde sichtbar, daß die überwiegende<br />

Mehrzahl der evangelischen Geistlichen im Bezirk Leipzig die durch den B<strong>und</strong> der evangelischen Kirchen<br />

in der DDR an die Gemeinden herausgegebenen Arbeitspapiere zur inhaltlichen Gestaltung der<br />

„Friedensdekade“ verwendet hat, ohne negative politische Aussagen zu treffen oder sich gegen die Politik<br />

5 E. Fried, Gedichte, Band 1, Berlin 1993, 365f.<br />

6 s. Anhang S. 376<br />

7 Die Synode des BEK stellte sich auf ihrer Güstrower Tagung (18.-22.09.1981) - ohne sich den Forderungskatalog<br />

der Initiative zu eigen zu machen - hinter die Forderung eines sozialen Wehrersatzdienstes (epd Dok. 4/81, 75-79,<br />

s.a. Bericht des Vorsitzenden der KKL, Landesbischof Dr. J. Hempel zum Thema Friedensverantwortung,<br />

Auszug in: Lingner, 150).<br />

34


des Staates zu wenden. Eine Reihe von Geistlichen hat überhaupt keine Aktivitäten unternommen, so daß<br />

Gottesdienste <strong>und</strong> Friedensgeläut unterblieben. [...]<br />

Nachfolgende Beispiele negativer Aktivitäten zeigen, daß sich die Pläne <strong>und</strong> Absichten rechter kirchlicher<br />

Kreise in unserem Bezirk auf eine verstärkte Wirksamkeit unter der Jugend richten <strong>und</strong> dazu eine<br />

intensive Unterstützung durch die Kirchenleitung der Landeskirche Sachsens gegeben wird.<br />

Im Jugendgottesdienst der Nikolaikirche Leipzig am 18.11.19818 , 19.30 Uhr waren ca. 800 Personen<br />

anwesend.<br />

Unter dem Thema: „Ent-rüstet Euch“ wurde in Form eines Sketches symbolisch eine Mauer errichtet <strong>und</strong><br />

darauf orientiert, daß Mauern Menschen, Familien, Kollektive <strong>und</strong> Völker trennen, was vielen gar nicht<br />

mehr bewußt sei. Im Zusammenhang mit der Frage: „Wie werde ich mit diesen Mauern fertig?“ wurde die<br />

Feststellung getroffen, daß es Einzelne gab, die sich hinter diesen Mauern hervorgewagt haben, wie z.B.<br />

Wolfgang Borchart [sic!]. Von diesem wurde ein Gedicht zitiert: „Arbeiter an der Werkbank, wenn sie Dir<br />

morgen befehlen, Du sollst statt Kochtöpfen Granaten drehen, dann gibt es nur eins, sag nein.“ 9<br />

Die Predigt, gehalten vom Jugendpfarrer Gröger, reflektierte über eine Grenze „an deren beiden Seiten<br />

Raketen aufgebaut sind. Auf der einen Seite könne man gegen diese Art von Schutz protestieren, <strong>und</strong> es<br />

werde auch protestiert. Auf der anderen Seite ist Ruhe <strong>und</strong> es herrscht Schweigen. Im nächsten Jahr<br />

kommen neue Pershing II Raketen dazu. Wieviel SS 20 dazukommen, wissen nur die Großen dieser<br />

Welt.“ Weitere Aussagen bezogen sich auf den Bußtag, der erst nachdem sich junge Leute entrüstet<br />

hätten, wieder zum kirchlichen Feiertag gemacht worden sei.“ „Wenn der Ruf erschallt, Gewehre<br />

anzufassen“, so Pfarrer Gröger, trifft er nur die Jugend.“ Es sei die Tragik, daß ältere bestimmen, was<br />

junge zu tun haben.“ Pfarrer Gröger stellte fest, junge Christen bemühen sich um eine Haltung, die in<br />

unserer Gesellschaft unüblich ist. Sie sollen die Heimat nicht mit der Waffe verteidigen, sondern in Alters<strong>und</strong><br />

Pflegeheimen arbeiten.<br />

Im Verweis auf Mathäi [Matthäus] 10 interpretierte Gröger die Anforderungen Jesu an die Menschen, daß<br />

− junge Christen nicht länger gedankenlos ein Gewehr in die Hand nehmen,<br />

− junge Christen [sich] nicht mit gemeinen Witzen über polnische Glaubensbrüder abfinden,<br />

− Anforderungen an den Staat gehen müssen, für Jugendliche unter 18 Jahren die Möglichkeit zu<br />

schaffen, eine Ausbildung ohne Waffe zu absolvieren.<br />

Diese Aussagen wurden jeweils durch heftigen Beifall der anwesenden Jugendlichen begrüßt.<br />

Das Fürbittgebet am Ende des Gottesdienstes sprach sich für alle Opfer der Gewaltherrschaft, für<br />

friedliche Lösung der Konflikte, der Nutzung von politischen <strong>und</strong> ökonomischen Potenzen zu friedlichen<br />

Zwecken aus. Es solle dort begonnen werden, wo Unfrieden <strong>und</strong> Ungerechtigkeit am nächsten sind, im<br />

Beruf, in der Familie oder bei der Armee 10.<br />

Bezeichnend für den Charakter dieses Jugendgottesdienstes war auch ein Informationsstand zur<br />

Unterstützung polnischer Bürger. Neben der Ausstellung von Waren, die von Christen der DDR an<br />

polnische Bürger geschickt werden können, wurden hier Adressen der Gottesdienstteilnehmer gesammelt,<br />

mit dem Hinweis, daß sie später Anschriften polnischer Bürger erhielten, um ihnen Pakete zu schicken 11.<br />

8 H. Bächer teilte den Herausgebern mit, daß - bis auf einen Abend <strong>und</strong> dem Abschlußgottesdienst - die Gebete<br />

von der AGF vorbereitet <strong>und</strong> durchgeführt wurden. Er schrieb den Herausgebern: „Für mich sind diese ersten 10<br />

Tage Friedensgebete 1981 der Anfang der Leipziger Friedensgebete. Nach der Friedensdekade '82 kam dann der<br />

Gedanke in der Leipziger Jugendarbeit [der evangelischen Kirche] auf, ein regelmäßiges Friedensgebet<br />

einzuführen.“<br />

9 W. Borchert, Dann gibt es nur eins!, in: ders., Das Gesamtwerk, Halle 1957, 397-400<br />

10 Die Fürbitten des Jugendgottesdienstes (von Lutz Stellmacher <strong>und</strong> Heinz Bächer) berührten das Thema Mauer<br />

<strong>und</strong> gingen auf die Angst vor einem Einmarsch in Polen ein („Herr, wir bitten dich für unser Nachbarvolk Polen.<br />

Hilf du den Verantwortlichen, daß sie die richtigen Entscheidungen treffen. Hilf, daß Polen ohne äußeren Einfluß<br />

zu einer eigenen polit. Lösung finden kann. [...] „ (ABL H 44/1).<br />

11 Im Gottesdienst wurde zu einer Paketaktion für evangelische Christen in Polen als „praktisches Zeichen für den<br />

Frieden“ aufgerufen. Dies war eine Form der Solidarität mit dem Volk in Versorgungsnot <strong>und</strong> Ausdruck der<br />

Angst, daß erneut die DDR-Armee - ähnlich wie 1968 - in einem Nachbarland militärisch eingreift (vgl. M.<br />

Wilke <strong>und</strong> M. Kubina, „Die Lage in Polen ist schlimmer als 1968 in der CSSR...“. Die Forderung des SED-<br />

Politbüros nach einer Intervention in Polen im Herbst 1980, in: Deutschland Archiv 3/1993, 335-340).<br />

35


Da es nicht zulässig ist, Anschriften der Bürger der DDR auf diese Art zu sammeln, weil eine<br />

Abwanderung in andere Kanäle nicht vermeidbar ist <strong>und</strong> diese Aktion mit dem Staat nicht abgestimmt<br />

wurde <strong>und</strong> somit den Rechtsvorschriften der DDR widerspricht, wird der Stellv. des OBM für Inneres,<br />

Genosse Sabatowska, beauftragt, mit dem zuständigen Superintendenten ein Gespräch zu führen <strong>und</strong><br />

diesen zu veranlassen, einen Wiederholungsfall auszuschließen 12.<br />

[...]<br />

Schlußfolgerungen:<br />

1. Die gegenwärtige Lage <strong>und</strong> Situation wird mit den Stellv. Vorsitzenden für Inneres des Rates der Stadt<br />

<strong>und</strong> der Räte der Kreise in einer Beratung am 24.11.1981 analysiert.<br />

2. Das politische Gespräch ist im Sinne des 6.3.1978 13 fortzusetzen mit der Zielstellung, keine politischen<br />

Konfrontationen zuzulassen.<br />

3. Die Friedens- <strong>und</strong> Abrüstungsproblematik ist in den Vordergr<strong>und</strong> zu stellen, wobei die ökonomische<br />

<strong>und</strong> die soziale Politik der DDR den Geistlichen überzeugend zu erläutern ist.<br />

4. Durch verstärkte Einflußnahme auf die progressiven Geistlichen sind diese mit unserer Argumentation<br />

vertraut zu machen, um gegen negative innerkirchliche Bestrebungen formierter vorgehen zu können.<br />

5. Auf die Geistlichen ist Einfluß zu nehmen, die Gesetze der DDR einzuhalten, wobei besonders durch<br />

die Veranstaltungstätigkeit <strong>und</strong> die Anordnung zur Genehmigung von Druckerzeugnissen breite<br />

Möglichkeiten eines koordinierten Vorgehens der staatlichen Organe gegen Gesetzesverstöße<br />

vorhanden sind.<br />

6. In Zusammenarbeit mit den Blockparteien <strong>und</strong> den Arbeitsgruppen „Christliche Kreise“ 14 sind<br />

wirksamere Maßnahmen zur Einbeziehung der Kirchenvorstände in die politische Überzeugungsarbeit<br />

zu treffen.<br />

7. Es ist notwendig die Gesamtverantwortung der Räte für die Staatspolitik in Kirchenfragen zu erhöhen,<br />

die Bürgermeister verstärkt in die Gesprächstätigkeit einzubeziehen <strong>und</strong> die Abgeordneten zu<br />

befähigen, die Staatspolitik in Kirchenfragen mit zu vertreten.<br />

4 Friedensgebetstexte<br />

15<br />

Bausteine aus dem Friedensgottesdienst am 06.03.1982 in der Michaeliskirche , der von der AG<br />

„Friedensdienst“ unter Leitung des Stadtjugendpfarrers Gröger gestaltet wurde. Die Teile A) <strong>und</strong> B) liegen<br />

handschriftlich vor, die Predigt als Ormig-Abzug mit Briefkopf des Jugendpfarramtes. Die Fürbitten wurden<br />

mit Maschine geschrieben <strong>und</strong> die Sprecher per Hand eingefügt (ABL H 55).<br />

[A) Liturgie 16]<br />

[B)] Besinnung<br />

Frage: Was macht uns sicher?<br />

Edgar [Dusdal]: Mich macht sicher, daß ich mir ein Wissen aneignen konnte <strong>und</strong> kann. Mit diesem brauch<br />

12 Dieses Gespräch fand am 03.12.1981 mit Superintendent Richter statt (vgl. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 157).<br />

13 s. Anhang S. 377<br />

14 Arbeitsgruppen „Christliche Kreise“ waren bei der Nationalen Front organisiert.<br />

15 Die AGF <strong>und</strong> andere Friedensgruppen veranstalteten Anfang der 80er Jahre im März das sogenannte „Leipziger<br />

Friedensseminar“ (ursprünglich „Jugendwoche“ <strong>und</strong> „Bausoldatentreffen“). Zentrales Thema des ersten<br />

„Friedensseminars“ 1982 war der „soziale Friedensdienst“ (s. Anhang S. 376), den viele der über 100 Teilnehmer<br />

in einer DDR-weiten koordinierten Aktion einklagen wollten. Im Rahmen der Friedensseminare fand jedes Jahr<br />

ein großer Jugendgottesdienst statt. Der hier dokumentierte Gottesdienst beruht zum Teil auf Material, welches<br />

vom Sekretariat des BEK im Juli 1979 unter dem Titel „Gemeindetag Frieden: Was macht uns sicher?“<br />

herausgegeben wurde (epd-Dok 2/1980). Im Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens<br />

wurden im November 1978 (B69-76) Anregungen für einen Familiengottesdienst zum Thema „Krieg dem Kriege<br />

- Der Frieden kommt!“ veröffentlicht, in dem ebenfalls parallele Elemente zu finden sind. Seit 1980 gab das<br />

Sekretariat des BEK jährlich Materialsammlungen für FG <strong>und</strong> Gemeindeabende heraus, die Anfang der 80er<br />

Jahre zumindest auch als Anregung für die FG in Leipzig verwendet wurden (s. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 181-<br />

183).<br />

16 Die Zuordnung einer Liturgie zu diesem Gottesdienst ist nicht ganz sicher <strong>und</strong> unterbleibt deshalb.<br />

36


ich keine Angst vor Blamagen zu haben <strong>und</strong> kann sicher im Umgang mit anderen auftreten. Außerdem<br />

bringe ich damit meine Leistung, die mir Erfolg <strong>und</strong> eine gute Stellung garantieren. Auch merke ich<br />

mit diesem Wissen, daß ich gebraucht werde.<br />

Helmut W[olf]: Mich macht meine Lebensgr<strong>und</strong>lage sicher, für die ich Jahre gearbeitet habe <strong>und</strong> zu der<br />

auch meine Eltern einiges beisteuerten. Angefangen bei meiner kompletten Wohnungseinrichtung über<br />

das Auto bis zum guten täglichen Essen. Durch entsprechende Beziehungen brauch ich mir auch<br />

weiterhin keine Sorgen zu machen, <strong>und</strong> für alle Fälle liegt noch etwas auf der hohen Kante.<br />

Katja: Mich macht sicher, daß ich zufrieden mit meinem Äußeren bin. Um das zu unterstreichen, bemühe<br />

ich mich um chice Kleidung, die es leider oft nur im Ex oder Shop17 gibt. In Verbindung mit Make up<br />

<strong>und</strong> Frisur ergibt das ein Aussehen, das mich sympathisch werden läßt <strong>und</strong> wodurch ich mich<br />

schließlich freier bewegen kann.<br />

Lutz [Stellmacher]: Mich macht sicher, daß ich <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> habe. Geborgenheit, die ich in meiner<br />

Partnerschaft finde, das bedingungslose Angenommensein, das Vertrauen, welches mir der andere<br />

entgegenbringt, macht mich frei von meinen Unsicherheiten. Es öffnet mich nicht nur ihm gegenüber.<br />

Ich kann mich fallen lassen in dem Bewußtsein, aufgefangen zu werden.<br />

[C)] Predigt [Heinz Bächer 18]:<br />

Liebe Gemeinde! [/] Was macht uns sicher? [/] Das ist die Frage, die uns den ganzen heutigen Tag<br />

bewegte. Unser Friedensseminar hatte sie sich als Thema gestellt. Aber sie ist damit noch lange nicht<br />

abgetan. Sie besteht weiter <strong>und</strong> begleitet uns an jedem Tag im Leben. Was macht uns sicher?<br />

Vorhin sind Bereiche aufgezählt worden, von denen wir glauben, daß sie an irgendeiner Stelle bei jedem<br />

von uns ein Gefühl der Sicherheit hervorrufen. Ich möchte nochmals erinnern<br />

− da ist das Wissen, welches wir uns angeeignet haben. Wir müssen mehr wissen als die anderen. Die<br />

Überlegenheit, die sich für uns daraus ergibt, macht uns sicher.<br />

− ein Leben ohne materiellen Wohlstand ist für uns nur schwer vorstellbar. Wir brauchen ihn, um<br />

bequem leben zu können.<br />

− keiner von uns lebt gern allein. Darum bemühen wir uns um <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> <strong>und</strong> um Familie. Wenn andere<br />

uns brauchen, fühlen wir uns bestätigt, <strong>und</strong> das macht uns sicher.<br />

Und nun stellen Sie sich folgende Situation vor, die ein Fre<strong>und</strong> von mir so erlebt hat: Ein junger Mann<br />

fährt früh mit dem Motorrad zur Arbeit <strong>und</strong> bringt vorher noch seine Fre<strong>und</strong>in weg. Auf der Fahrt von<br />

dem Haus seiner Fre<strong>und</strong>in zur Arbeit passiert ein grausamer Unfall, an dem er keine Schuld hatte. Sein<br />

Leben hängt in Folge des Unfalls wochenlang vom Funktionieren medizinischer Geräte ab. Er wird<br />

wahrscheinlich nie wieder richtig laufen können, verlor ein Auge <strong>und</strong> hat seitdem Sprachschwierigkeiten.<br />

Sinnlos wurden für ihn:<br />

− erstens - die Partnerschaft, denn seine Fre<strong>und</strong>in hat ihn nach dem Unfall sitzen lassen.<br />

− zweitens - das Haus, das er für sich <strong>und</strong> seine Fre<strong>und</strong>in mit viel Mühe ausgebaut hatte<br />

− drittens - Beruf <strong>und</strong> Bildung, da er seinen Traumberuf KFZ-Schlosser nicht mehr ausüben kann. Durch<br />

den Sehschaden kann er noch nicht einmal ein Buch lesen.<br />

− viertens - er hat nicht mehr das hübsche Aussehen. Ein Brille <strong>und</strong> viele Narben zeichnen ihn.<br />

Das Schicksal meines <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>s hat mir zu denken gegeben. Es zeigt deutlich, daß wir unser Leben nicht<br />

absichern können. Trotz aller Anstrengungen bleibt die Ohnmacht <strong>und</strong> Unsicherheit im Leben, <strong>und</strong> wir<br />

vermögen nicht, dieses Leben durch unser Streben nach Sicherheit zu verlängern.<br />

In dieses Leben hinein hat uns Jesus etwas ganz Konkretes zu sagen: Matth. 6, 31-35 nach der<br />

Übersetzung von Jörg Zink.<br />

Deshalb sollt ihr euch nicht in der Sorge verzehren:<br />

Was essen? Was trinken? Was anziehen? Um all das kreisen die Gedanken derer, die von Gott nichts<br />

wissen. - Denn euer Vater im Himmel weiß, daß ihr das alles braucht. - Sorgt dafür, daß Gott geehrt wird<br />

<strong>und</strong> unter seiner Herrschaft bei euch etwas Gerechtes geschieht. Das übrige wird euch zufallen.<br />

17 Gemeint sind Delikat- bzw. Exquisit-Läden <strong>und</strong> Intershops, in denen es Ende der 70er <strong>und</strong> in den 80er Jahren<br />

teure Waren bzw. Waren gegen Devisen zu kaufen gab.<br />

18 Schon am 15.02.1982 beschloß die Abteilung XX der BV des MfS Leipzig gegen H. Bächer wegen seines<br />

Engagements für das Friedensseminar einen OV einzuleiten.<br />

37


Gott kennt uns. Er weiß um unsere Sorgen <strong>und</strong> will uns davon befreien. Weil er uns kennt, sind wir<br />

angenommen von ihm <strong>und</strong> brauchen uns nicht mehr ab[zu]sichern. Wenn wir dem Allmächtigen glauben,<br />

wird die Furcht vor den Mächtigen der Welt geringer.<br />

Wenn ich aus dem Vertrauen zu Gott lebe, kann ich es mir leisten, ein Risiko einzugehen. Z.B. brauche<br />

ich meinen Studienplatz nicht mehr durch 3 Jahre Armeezeit abzusichern. Aus dem Vertrauen auf Gott,<br />

daß er mir trotz Risiko einen Weg zeigen wird, der meinem Leben einen Sinn gibt, kann ich mich frei<br />

entscheiden.<br />

Des weiteren verweist uns Jesus darauf, daß wir Gott ehren <strong>und</strong> nun, da wir frei von unseren Sorgen sind,<br />

unter seiner Herrschaft etwas Gerechtes tun sollen. Dies geschieht, indem wir anderen die Augen öffnen,<br />

wo sie sich unnütze Sorgen um ihre Sicherheit machen, indem wir sie annehmen <strong>und</strong> ihnen Vertrauen<br />

schenken, den Einsamen, den Kranken, den Andersdenkenden, den Süchtigen <strong>und</strong> den Kaputten. So<br />

können wir einen neuen Sinn im Leben finden, der beiträgt zum Frieden auf dieser Welt.<br />

Das bisher Gesagte berührt fast ausschließlich den ganz persönlichen Bereich. Ich möchte nun auf den<br />

politischen Bereich von Sicherheit eingehen. Durch das Gefühl von Unsicherheit <strong>und</strong> Angst, durch das<br />

Bedürfnis, seinen Besitz zu sichern, entstand ein Rüstungswettlauf, der nur noch eine Sicherheit bieten<br />

kann, die da heißt: Der nächste Weltkrieg ist mit Sicherheit der letzte. Es fing an mit: Ich rüste auf, weil<br />

der andere mich, meinen Besitz bedroht. Das klingt noch recht vernünftig - aber was passierte dann? Es<br />

schlägt um in das Gegenteil. Ich werde bedroht, weil ich gerüstet bin <strong>und</strong> somit eine Gefahr für den<br />

anderen darstelle. Die Politiker sprechen von Sicherheit durch Abschreckung. Man schreckt sich<br />

gegenseitig ab durch die Zahl, wieviel mehr der eine den anderen vernichten kann. Einmal genügt nicht -<br />

also 7-mal. Denn: sicher ist sicher. - Bombensicher. Der andere muß wirklich vernichtet werden können.<br />

Bringt das Sicherheit? Bringt das Frieden? Eine deutliche Antwort darauf gibt der Theologe Dietrich<br />

Bonhoeffer in seiner Rede vom 28. August 1934 auf einer ökumenischen Konferenz: „Es gibt keinen Weg<br />

zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Sicherheiten fordern heißt, Mißtrauen haben, <strong>und</strong> dieses<br />

Mißtrauen wiederum gebiert Krieg. Frieden muß gewagt werden, ist das eine große Wagnis <strong>und</strong> läßt sich<br />

nie <strong>und</strong> nimmer sichern.“ 19 Aber welcher Staat kann <strong>und</strong> will das? Wir können zwar nicht von heute auf<br />

morgen verlangen, daß unser Staat sein Sicherheitsbedürfnis aufgibt, wenn es uns selbst schon schwer<br />

fällt, unsere Sicherheiten aufzugeben <strong>und</strong> Risiken auf uns zu nehmen. Aber wir müssen unsere Besorgnis<br />

aussprechen, so wie es die Synode der Ev. Kirche der Kirchenprovinz Sachsen deutlich gesagt hat, <strong>und</strong><br />

zwar darüber, daß das „Militärische in wachsendem Maße unser ganzes gesellschaftliches Leben<br />

durchdringt: Von Militärparaden bis zum Kindergarten, von gesperrten Wäldern bis zu den Kriterien bei<br />

der Zulassung zu Ausbildungswegen, vom Kriegsspielzeug der Kinder bis zu den Übungen der<br />

Zivilverteidigung. Das alles dient nicht der wirklichen Sicherheit <strong>und</strong> Zukunft unseres Lebens: dadurch<br />

wird einerseits Angst erzeugt, anderseits aber an den möglichen Krieg gewöhnt; dadurch wird vielleicht<br />

Disziplinierung erreicht, nicht aber zu einer kreativen Gestaltung des Friedens befähigt.“ 20<br />

Taucht bei solchen Erfahrungen nicht allzu schnell wieder Resignation bei uns auf in dem Sinne: Was<br />

können wir kleinen Lichter schon gegen die geballte Macht des Militärs auf der ganzen Welt tun? Diese<br />

Frage haben wir uns bestimmt <strong>und</strong> hoffentlich alle schon einmal gestellt. Gibt es Möglichkeiten für uns,<br />

Frieden zu schaffen ohne Waffen? Ja, es gibt sie. Es sind kleine Schritte <strong>und</strong> meist ganz persönliche<br />

Entscheidungen, die wir treffen müssen. Der Mut dazu wächst, <strong>und</strong> wir sind dabei nicht alleine. Das<br />

Seminar <strong>und</strong> der Gottesdienst heute beweisen uns das wieder. Wir wollen gemeinsam Zeichen setzen, die<br />

das Ja <strong>und</strong> das Nein beinhalten. Das Ja zu den Menschen in unserem <strong>und</strong> allen anderen Ländern; das Ja zu<br />

unserem Staat <strong>und</strong> der Zukunft der Menschen auf der ganzen Welt. Dem gegenüber bzw. nicht gegenüber,<br />

sondern aus diesem Ja heraus das Nein zu all dem, was dem Ziel, Leben zu erhalten <strong>und</strong> entwickelbares<br />

Leben auf seinen höchsten Stand [zu] bringen, widerspricht. Das heißt für mich: Nein zur Sicherheit durch<br />

Waffen, Nein zu Haßerziehung <strong>und</strong> Feindbildern <strong>und</strong> stattdessen Liebe <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>bilder. Das heißt für<br />

eine ganze Reihe junger Leute Nein zur Ausbildung an der Waffe <strong>und</strong> Nein zum bewaffneten Dienst <strong>und</strong><br />

Ja zu Friedenserziehung, Völkerverständigung <strong>und</strong> Abrüstung. Ja zu Alternativen gegenüber dem<br />

19 Dieses Zitat stand in der Materialsammlung zur FD 1981 des Sekretariats des BEK (S. 15) unter der Überschrift<br />

„Zum Stichwort: Sicherheit“.<br />

20 Beschluß der Synode der Kirchenprovinz Sachsen, in: epd-Dok 51/81, S. 17f.<br />

38


Rüstungswettlauf wie z.B. der Einrichtung eines sozialen Friedensdienstes in der DDR . 21<br />

Dieses Ja <strong>und</strong> Nein kann Konsequenzen haben für jeden einzelnen, die ihm niemand abnehmen kann, <strong>und</strong><br />

sie bedürfen guter Überlegung, bevor sie gegangen werden. Risiken einzugehen ist schwer, schwer für<br />

Eltern, die ihren Kindern die Zukunft nicht verbauen wollen, schwer für Schüler <strong>und</strong> Lehrlinge, die mit<br />

ihren Problemen alleine sind, ist schwer für junge Männer, die so viele Dinge noch nicht überschauen<br />

können, aber sich entscheiden müssen. Aber ich muß nochmals an die Sätze aus der Bergpredigt Jesu<br />

erinnern: Sorgt dafür, daß Gott geehrt wird <strong>und</strong> unter seiner Herrschaft bei euch etwas Gerechtes<br />

geschieht. Das Übrige wird euch zufallen. Ich muß nochmals sagen: Wer aus dem Vertrauen zu Gott lebt,<br />

kann auch viele Sorgen verlieren. Etwas kommt noch dazu: Keiner braucht seine Entscheidung im<br />

Alleingang zu fällen. Es gibt genug Pfarrer <strong>und</strong> Diakone, die offen sind für Fragen. Wir erleben es bei<br />

einem Friedenseminar, wie man sich gegenseitig beraten <strong>und</strong> ermutigen kann. Das viele Nachdenken, so<br />

wie heute, macht uns Hoffnung, Schritte des Friedens zu gehen. Hoffnung, die mit Zeichen setzen beginnt,<br />

mit Zeichen des Friedens. Ein solches Zeichen soll für uns heute Abend das Agape-Mahl sein, das wir<br />

nachher miteinander feiern wollen. Daß Jesus uns vorangegangen ist mit seiner Liebe <strong>und</strong> mit seiner<br />

Botschaft, gibt uns Kraft. Sein Wort: „Selig, die Frieden machen, wo Streit ist, denn sie sind die Kinder<br />

Gottes“ gibt uns die nötige Ruhe.<br />

So möchte ich schließen mit einem Gedicht vom Rudolf Otto Wiemer: [/] Lob der kleinen Schritte<br />

„Wir loben die kleinen Schritte. [/] Der Mann, der das voreilige Wort nicht ausspricht. [/] Die Stimme, die<br />

sagt: Pardon, ich bin schuld. [/] Die über den Zaun des lästigen Nachbarn gestreckte Hand. [/] Wir loben<br />

die kleinen Schritte. [/] Die Faust in der Tasche. [/] Die nicht zugeschlagene Tür. [/] Das Lächeln, das den<br />

Zorn wegnimmt. [/] Wir loben die kleinen Schritte. [/] Das Gespräch der Regierungen. [/] Das Schweigen<br />

der Waffen. [/] Die Zugeständnisse in den Verträgen. [/] Wir loben die kleinen Schritte. [/] Die St<strong>und</strong>e am<br />

Bett des Kranken. [/] Die St<strong>und</strong>e der Reue. [/] Die Minute, die dem Gegner Recht gibt. [/] Wir loben die<br />

kleinen Schritte. Den kritischen Blick in den Spiegel. [/] Die Hoffnung für den anderen. Den Seufzer über<br />

sich selbst.“<br />

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft bewahre unsere Herzen <strong>und</strong> Sinne in Jesus<br />

Christus...<br />

[D)] Fürbitten<br />

Edgar: Laßt uns beten!<br />

Herr, wir danken Dir für die Geborgenheit <strong>und</strong> Sicherheit, die Du uns im persönlichen Leben gegeben<br />

hast. Herr, wir danken Dir, daß wir in gesicherten sozialen Verhältnissen leben <strong>und</strong> unsere Sorge nicht<br />

dem täglichen Brot gelten muß. Wir bekennen, daß wir oft materiellen Wünschen nachlaufen <strong>und</strong> für<br />

unsere Mitmenschen zu wenig Zeit haben. Wir bitten, daß nicht häusliche Geborgenheit unser<br />

Lebensziel bedeutet, sondern laß uns erkennen, daß auch gesellschaftliche Aufgaben zu tun sind.<br />

Uwe: Herr, wir danken Dir für die vielen Möglichkeiten, uns zu bilden <strong>und</strong> uns ausreichend zu<br />

informieren. Wir bekennen Dir, daß wir oft diese Möglichkeiten zu Bildung <strong>und</strong> Information nicht<br />

nutzen oder bei unerfüllten Berufswünschen zu schnell resignieren. Wir bitten für alle Eltern, Lehrer<br />

<strong>und</strong> Erzieher, daß sie Vertrauen bilden <strong>und</strong> eine Erziehung zum Frieden praktizieren.<br />

Helmut: Herr, wir danken Dir für unsere Familie <strong>und</strong> unsere <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>, auf die wir uns verlassen können<br />

<strong>und</strong> die Freud <strong>und</strong> Leid mit uns teilen. Wir bekennen, daß wir oft schuldig werden, wenn die Harmonie<br />

in der Familie gestört ist <strong>und</strong> wir unseren <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n nicht offen entgegentreten.<br />

21 s. Anhang S. 376. Im Monatsbericht des Stellv. des Vorsitzenden des Rates [des Bezirkes] für Inneres vom<br />

30.03.1982 heißt es dazu: „Diese Aussagen, getroffen von dem Studenten der Sektion Theologie der KMU,<br />

gipfelten in der Feststellung, daß die Einführung eines sozialen Friedensdienstes, einzige mögliche Alternative<br />

zum Wehrdienst in der DDR <strong>und</strong> selbst der Dienst als Bausoldat ein Kompromiß sein muß, riefen frenetischen<br />

Beifall bei den mehr als 1200 Jugendlichen während des Gottesdienstes hervor. Die Reaktion des<br />

verantwortlichen Jugendpfarrers für das Jugendpfarramt Leipzig Gröger, der sich in Vorbereitung <strong>und</strong><br />

Durchführung dieses Gottesdienstes bemühte, den staatlichen Erwartungen zur Einhaltung von Ordnung <strong>und</strong><br />

Sicherheit, gerecht zu werden <strong>und</strong> der die Gottesdienstteilnehmer darauf hinwies, die Kirche nicht mit einen<br />

Fußballplatz zu verwechseln, zeigt auf, daß in der Position kirchlicher Amtsträger gegenüber der Bewegung eines<br />

sozialen Friedensdienstes <strong>und</strong> zur Erhaltung des Friedens in der Welt eine deutliche Polarisierung eingetreten<br />

ist.“ (StAL BT/RdB 11410)<br />

39


Wir bitten Dich, gib uns die Liebe, den anderen zu verstehen, <strong>und</strong> mache uns auch bereit zu sachlichen<br />

Gesprächen mit Andersdenkenden.<br />

Katja: Herr, wir danken Dir, daß trotz der wahnsinnigen Rüstungen bisher kein 3. Weltkrieg ausgebrochen<br />

ist <strong>und</strong> wir in Mitteleuropa eine lange Friedensepoche hatten. Wir bekennen, daß uns die weitere<br />

Zukunft der Menschheit Angst macht, wir aber zu wenig Phantasie entwickeln, um den Frieden ohne<br />

Waffen zu sichern. Laß uns nicht ein Sicherheitsdenken hinnehmen, daß auf ein „Gleichgewicht des<br />

Schreckens“ hinausläuft.<br />

Lutz: Wir bitten Dich für die Politiker <strong>und</strong> Militärs, daß sie jederzeit verantwortlich handeln <strong>und</strong> von jeder<br />

militärischen Konfrontation Abstand nehmen, daß sie Verhandlungen <strong>und</strong> Dialoge mit der andern Seite<br />

suchen <strong>und</strong> zu Kompromissen bereit sind.<br />

Wir bitten Dich für die Offiziere <strong>und</strong> Berufssoldaten in allen Ländern: Laß sie erkennen, daß<br />

Sicherheit durch Waffen heute nicht mehr gegeben ist <strong>und</strong> daß auch sie zur Abrüstung bereit sind.<br />

Uwe: Wir bitten Dich für alle Wehrpflichtigen <strong>und</strong> Wehrdienstverweigerer <strong>und</strong> besonders für diejenigen,<br />

die bestraft worden sind, weil sie Frieden praktizieren wollen. Gib ihnen <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> zur Seite, die ihnen<br />

helfen, über Haßgefühle oder Resignation hinwegzukommen.<br />

Wir bitten für alle Menschen, die Friedensarbeit leisten, daß sie konstruktive Wege zum Frieden<br />

finden <strong>und</strong> diese Wege vielen Menschen bewußt machen können.<br />

Wir bitten für die Kirche <strong>und</strong> alle kirchlichen Mitarbeiter, daß sie das Engagement für den Frieden in<br />

der Welt als Teil der Botschaft Christi verstehen <strong>und</strong> dem Evangelium des Friedens vertrauen.<br />

Katja: Herr, wir tragen selber dazu bei, daß Angst, Vergeltung <strong>und</strong> Gewalt von neuem mächtig werden.<br />

Wir bitten Dich:<br />

Laß uns mutiger bekennen, treuer beten, fröhlicher glauben, brennender lieben!<br />

Herr, schenke uns einen neuen Anfang <strong>und</strong> gib der Welt Frieden!<br />

Amen!<br />

Anmerkung von Heinz Bächer (1992): Ein wichtiges Ereignis in der Friedensarbeit war der Gottesdienst<br />

am 6. März 1982. Es war das Frühjahr, nachdem die Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ im Herbst<br />

[1981] zur Friedensdekade verteilt worden waren. Der Gottesdienst <strong>und</strong> das Friedensseminar wurden mit<br />

viel Engagement von dem Arbeitskreis Friedensdienst selbständig vorbereitet 22 . Ich war eingeladen auf<br />

das VP-Amt zu einer Befragung mittels vorgedruckter Postkarte. Erst dort gab sich der Beamte als MfS-<br />

Mitarbeiter zu erkennen. Ich war aufgeregt (meine erste ‘Vernehmung’) <strong>und</strong> hatte vorher W. Gröger<br />

Bescheid gegeben. Mit ihm war abgesprochen, daß das Jugendpfarramt <strong>und</strong> damit er die volle<br />

Verantwortung trägt, da ich als Student weitaus weniger geschützt war als kirchliche Mitarbeiter. Bereits<br />

vor dem 6.3. wurde ich eine Woche lang täglich „beschattet“. Als ich bei der VP war, mußte ich beim<br />

Pförtner den Ausweis abgeben, <strong>und</strong> die Ausgangstür hatte nur einen elektr. Öffner. Hinter mir fiel das<br />

Schloß in die Tür, ein angst machendes Gefühl. Der Vorgang wurde sowohl dem Superintendenten als<br />

auch dem Landeskirchenamt mitgeteilt. Ich selber erhielt nie eine Antwort oder eine Ermutigung von dort.<br />

5 Vernehmungsprotokoll<br />

Erinnerungsprotokoll zur Vernehmung des Theologiestudenten H. Bächer durch das MfS von H. Bächer.<br />

Typoskript (ABL H 55).<br />

Am 5.4.1982 war ich in das VPKA, Leipzig, Dimitroffstr. 5 zu einer Befragung um 8 Uhr bestellt 23.<br />

22 Die Sächsische Landessynode reagierte am 24.03.1982 auf die staatlichen Willkür- <strong>und</strong> Gewaltakte gegenüber<br />

Trägern des Aufnähers der FD 1981 mit einem Brief an die Jugend, in dem es hieß: „Wir müssen Euch aber<br />

sagen, daß wir nicht mehr in der Lage sind, Euch vor Konsequenzen, die das Tragen des Aufnähers jetzt mit sich<br />

bringen kann, zu schützen“ (in: Büscher/Wensierski/Wolschner, 290-292, 290). In der Kanzelabkündigung vom<br />

28.03.1982 stellte sich die Sächsische Landeskirche erneut hinter die Träger des Symbols: „Wir halten es für<br />

einen schwerwiegenden Fehler, dem wachgewordenen Bewußtsein mit Verboten zu begegnen.“ (ebenda 293f.,<br />

zur Reaktion in den Gemeinden vgl. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 169)<br />

23 Am gleichen Tag fand auch eine Vernehmung von L. Stellmacher durch das MfS statt. Er hatte das Plakat, mit<br />

40


Unterzeichnet war die Vorladung mit dem Namen Schubert. Eingangs stellte sich Major Schubert als<br />

Mitarbeiter des MfS vor <strong>und</strong> machte mich mit den gesetzlichen Regelungen bekannt. Die Befragung fand<br />

statt auf der Gr<strong>und</strong>lage des § 12 (2) 24 des Gesetzes über die Aufgaben <strong>und</strong> Befugnisse der Deutschen<br />

Volkspolizei vom 11. Juni 1968 zur Klärung eines Sachverhaltes gemäß § 20 (2) 25.<br />

(V)ernehmer: Herr Bächer, Sie sind hier vorgeladen wegen Ihrer Predigt am 6. März 1982 in der<br />

Michaeliskirche Leipzig. Erzählen Sie bitte den Inhalt Ihrer Predigt.<br />

(B)ächer: Dieser Gottesdienst fand unter Leitung des Jugendpfarramtes Leipzig statt <strong>und</strong> auch unter<br />

dessen Verantwortung. Es war alles mit Jugendpfarrer Gröger abgesprochen. Deshalb möchte ich keine<br />

Aussagen ohne Pfarrer Gröger zu diesem Gottesdienst machen.<br />

(V): Sie sind hier auf Gr<strong>und</strong> einer Befragung von Ihnen <strong>und</strong> auf Gr<strong>und</strong> gesetzlicher Bestimmungen.<br />

Haben Sie die Predigt ausgearbeitet?<br />

(B): Ja, in Absprache mit Pfarrer Gröger, dem ich sie auch schriftlich vorher vorgelegt habe.<br />

(V): Dann erzählen Sie über den Inhalt.<br />

(B): Sie war in zwei Teile geteilt. In einen persönlichen <strong>und</strong> in einen politischen. Gr<strong>und</strong>lage für die ganze<br />

Predigt war der Text aus dem Matth. Ev. Kap. 31-33. Ich lese es Ihnen mal vor (ich lese den Text aus<br />

dem NT vor). Dann habe ich ein Beispiel erzählt, das ein Fre<strong>und</strong> von mir erlebte. Er hatte einen<br />

schweren Unfall, nach dem er sein Leben neu einrichten mußte. Er mußte sich einen neuen Sinn<br />

suchen, da viele Werte für ihn verloren gingen. Dann bin ich darauf eingegangen, wo wir uns zu viele<br />

Sorgen um unsere materiellen <strong>und</strong> luxuriösen Sicherheiten machen.<br />

(V): Herr Bächer, wie war denn Ihr zweiter Teil gestaltet?<br />

(B): Da ging es um den politischen Bereich. Ich habe ein Beispiel gezeigt, wie sich Rüstung aufschaukelt.<br />

Daß es klein anfing, daß einer sagte, ich rüste auf, weil ich mich absichern will <strong>und</strong> der andere dann<br />

sagte, weil dieser aufgerüstet ist, fühle ich mich bedroht <strong>und</strong> rüste auch auf <strong>und</strong> so ein<br />

Rüstungswettlauf entstand, der so weit eskalierte, daß die Erde schon mehrmals vernichtet werden<br />

kann. Dann habe ich ein Zitat aus einer Rede von D. Bonhoeffer gebracht, die er 1934 über „Kirche<br />

<strong>und</strong> Völkerwelt“ hielt <strong>und</strong> in der er sich gegen militärische Sicherungen des Friedens wendet. Friede<br />

muß gewagt werden <strong>und</strong> kann nicht durch Waffen abgesichert werden, sagt er dort.<br />

(V): Herr Bächer, was haben Sie zu Wehrdienst <strong>und</strong> Wehrerziehung gesagt?<br />

(B): Was meinen Sie da, was soll ich gesagt haben?<br />

(V): Haben Sie nicht über die Dinge geredet?<br />

(B): Ich habe ein Zitat von der Synode der Kirchenprovinz Sachsen gebracht, in dem, glaube ich,<br />

Wehrerziehung drin vor kam. Es war aus einem Brief an die Gemeinden.<br />

(V): Herr Bächer, reden Sie nicht um den heißen Brei herum. Was haben Sie dort vor h<strong>und</strong>erten<br />

Jugendlichen gesagt?<br />

(B): Was meinen Sie denn? Worauf wollen Sie hinaus?<br />

(V): Sie haben dort gegen die Gesetze der DDR verstoßen, § 214 (2) StGB 26 , <strong>und</strong> haben junge Leute<br />

aufgefordert, den Wehrdienst zu verweigern. Sie haben gesagt, daß die einzige Alternative zum<br />

Wehrdienst der Soziale Friedensdienst ist <strong>und</strong> haben einseitige Abrüstung des Warschauer Vertrages,<br />

speziell der DDR, gefordert. Sie haben sich gegen Wehrerziehung <strong>und</strong> vormilitärische Ausbildung<br />

ausgesprochen <strong>und</strong> haben H<strong>und</strong>erte Jugendliche aufgerufen, Risiken einzugehen <strong>und</strong> sich den<br />

dem zum Gottesdienst geworben wurde, hergestellt (Nachschrift der Vernehmung von L. Stellmacher - ABL H<br />

55).<br />

24 Der § 12 dieses Gesetzes lautete: „(1) Personalien dürfen nur dann festgestellt oder aufgenommen werden, wenn<br />

es zur Erfüllung polizeilicher Aufgaben unbedingt erforderlich ist. (2) Können Personalien nicht an Ort <strong>und</strong><br />

Stelle zweifelsfrei festgestellt werden, ist eine Zuführung zulässig. Sie ist auch zulässig, wenn es zur Klärung<br />

eines die öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit erheblich gefährdenden Sachverhalts unumgänglich ist.“<br />

(Gesetzblatt der DDR Teil I, Nr. 11 vom 14.06.1968)<br />

25 „Die Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit sind ermächtigt, die in diesem Gesetz geregelten<br />

Befugnisse wahrzunehmen.“ (ebenda)<br />

26 § 214 (2) „Ebenso wird bestraft, wer gegen Bürger wegen ihrer staatlichen oder gesellschaftlichen Tätigkeit oder<br />

wegen ihres Eintretens für die öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit mit Tätlichkeiten vorgeht oder solche<br />

androht.“ (Strafgesetzbuch, Berlin 1986, 77)<br />

41


Studienplatz nicht durch drei Jahre Armeezeit zu „verdienen“. Sie haben aufgerufen, sich mit den<br />

Leuten, die darüber anders denken, auseinanderzusetzen <strong>und</strong> sie von Ihren Ansichten zu überzeugen. In<br />

Ihrer Predigt haben Sie aufgerufen, an Arbeitsgruppen teilzunehmen. In dieser haben Sie berichtet, mit<br />

welchen Möglichkeiten die Jugendlichen auf Gr<strong>und</strong> gesetzlicher Bestimmungen Wehrerziehung <strong>und</strong><br />

GST-Ausbildung umgehen können <strong>und</strong> wie man Bausoldat wird <strong>und</strong> wie man dabei argumentieren<br />

muß. Nehmen Sie dazu Stellung!<br />

(B): Dies alles kann ich nicht akzeptieren! Ich habe nicht zur Wehrdienstverweigerung aufgerufen. Ich<br />

habe vom Soz[ialen] Friedensdienst als Beispiel einer Alternative gegenüber dem Rüstungswettlauf<br />

gesprochen, nicht als einziger. Ich habe auch nicht davon gesprochen, daß der Warschauer Pakt,<br />

speziell die DDR, einseitig abrüsten soll. Auch war nicht die Rede davon, Andersdenkende zu<br />

überzeugen.<br />

(V): Herr Bächer, das, was Sie dort sagten, war für unser Verständnis keine Predigt mehr. Das war<br />

Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR. Das können wir uns nicht gefallen lassen.<br />

(B): Für mich war das Verkündigung des Wortes Gottes.<br />

(V): Stand der Gottesdienst noch in einem anderen Zusammenhang?<br />

(B): Was für einen Zusammenhang meinen Sie?<br />

(V): Fand noch etwas anderes an dem Tag in den Räumen der Michaeliskirche statt?<br />

(B): Ja, ein Friedensseminar.<br />

(V): Wer hatte dazu eingeladen?<br />

(B): Die Arbeitsgruppe Friedensdienst des Jugendpfarramtes.<br />

(V): Welchen Zusammenhang hatte dieses mit dem Gottesdienst?<br />

(B): Der Gottesdienst war so etwas wie ein Abschluß des Friedensseminars.<br />

(V): Wer gehört zu Ihrer Arbeitsgruppe?<br />

(B): Darüber gebe ich keine Auskunft. Das sind innerkirchliche Angelegenheiten. Ich sehe dabei eine<br />

Einschränkung der verfassungsmäßig garantierten Religionsfreiheit.<br />

(V): Kennen Sie Herrn Lutz Stellmacher?<br />

(B): Ja, den kenne ich.<br />

(V): Wie hat er bei der Vorbereitung des Seminars mitgearbeitet?<br />

(B): Darauf kann ich keine Antwort geben. Ich berichte hier nicht über andere Personen.<br />

(V): Herr Bächer, ich habe Sie nur gefragt, wie er mitgearbeitet hat. Das ist doch kein Bericht.<br />

(B): Nein, ich gebe Ihnen darauf keine Antwort.<br />

(V): Wo haben Sie Lutz Stellmacher kennengelernt?<br />

(B): Innerhalb der Kirche.<br />

(V): Seit wann kennen Sie ihn?<br />

(B): Das weiß ich nicht mehr so genau. Es ist schon länger her.<br />

(V): Wie haben Sie zum Seminar eingeladen?<br />

(B): Schriftlich, mit Einladungen an die, die auch schon im Vorjahr da waren.<br />

(V): Weiter nicht?<br />

(B): Nein.<br />

(V): Überlegen Sie noch mal.<br />

(B): Ich wüßte nicht.<br />

(V): Hat Lutz Stellmacher Plakate hergestellt?<br />

(B): Ja.<br />

(V): Wie sahen diese aus?<br />

(B): Sie hatten das Format für die Schaukästen, die es gibt. Es stand drauf: „Was macht uns sicher?“ <strong>und</strong><br />

die Einladung zum Gottesdienst.<br />

(V): Ich meine, Sie <strong>und</strong> ich kennen es. Es hing ja überall aus 27.<br />

Waren nicht lauter Einzelfotos darauf?<br />

(B): Ja, so ist es.<br />

(V): Wo hat Herr Stellmacher die hergestellt? Hatte er eine Genehmigung dazu?<br />

(B): Das weiß ich nicht. Da bin ich überfragt.<br />

27 Das MfS zählte über 60 Aushänge dieses Plakates in Leipzig (BStU Leipzig AB 1003).<br />

42


(V): Wieviel Stück wurden hergestellt?<br />

(B): Das weiß ich auch nicht, sie wurden gleich im Jugendpfarramt abgegeben.<br />

(V): Herr Bächer, was haben Sie in der nächsten Zeit an ähnlichen Veranstaltungen geplant?<br />

(B): Ich habe bis jetzt nichts geplant.<br />

(V): Was haben andere Personen geplant?<br />

(B): Darüber ist mir nichts bekannt.<br />

(V): Herr Bächer, sind Sie sich im Klaren, daß Sie gegen die Gesetze unseres Landes verstoßen haben? In<br />

einem Wiederholungsfalle kann ein Ermittlungsverfahren gemäß § 214 (1) StGB 28 eingeleitet werden.<br />

Nehmen Sie das bitte hiermit zur Kenntnis.<br />

(B): Ja, ich nehme es zur Kenntnis.<br />

Darauf hin wurde das Protokoll angefertigt, in dem vieles auch zusammengefaßt war. Schwerpunkt waren<br />

diese fünf bzw. sieben Vorwürfe, in denen ich gegen § 214 (2) verstoßen haben soll. Das Gespräch fand in<br />

einem sachlichen Rahmen statt. Ich kann mich nicht in allen Fällen genau an Redewendungen erinnern,<br />

glaube aber, daß ich inhaltlich alles festgehalten habe. Die Befragung dauerte bis gegen 11.15 Uhr.<br />

6 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

29<br />

Information vom RdS Leipzig, Bereich Kirchenfragen, vom 14.04.1982 über ein Gespräch am 06.04.1982<br />

mit den Superintendenten Richter <strong>und</strong> Magirius <strong>und</strong> dem Jugendpfarrer Gröger. Die 6 Seiten wurden von A.<br />

Müller unterzeichnet 30 <strong>und</strong> tragen Bearbeitungsspuren (StAL BT/RdB 21405).<br />

Gemäß der Bitte des Pfarrers Gröger wurde das Gespräch geführt, um den Jugendgottesdienst vom 6.3.82<br />

detailliert auszuwerten. Superintendent Richter nahm an diesem Gespräch unaufgefordert teil. Gröger<br />

begründete dies damit, daß Richter sein „Brötchengeber“ sei <strong>und</strong> aus diesem Gr<strong>und</strong>e am Gespräch<br />

teilnehme.<br />

Folgende Probleme standen im Mittelpunkt:<br />

− Jugendgottesdienst am 6.3.82 in der Michaeliskirche<br />

− Beschwerdeführung der Superintendenten über den Umgang der Sicherheitsorgane mit kirchlichen<br />

Amtspersonen<br />

− Liederabend der Kirche mit Gerhard Schöne<br />

31<br />

− kirchliche Aktivitäten während der Osterfeiertage<br />

Zum Jugendgottesdienst am 6.3.82 in der Michaeliskirche äußerte sich Pfarrer Gröger auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

des ihm vorliegenden Wortlautes der durch den Theologiestudenten des 3. Studienjahres an der KMU<br />

[Karl-Marx-Universität] 32,<br />

Bächer, gehaltenen Predigt sowie eines Gesprächsprotokolls über die mit<br />

28 § 214 (1) „Wer die Tätigkeit staatlicher Organe durch Gewalt oder Drohungen beeinträchtigt oder in einer die<br />

öffentliche Ordnung gefährdenden Weise eine Mißachtung der Gesetze bek<strong>und</strong>et oder zur Mißachtung der<br />

Gesetze auffordert, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe,<br />

Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.“(Strafgesetzbuch, Berlin 1986, 77)<br />

29 Die Gegenüberlieferung dieses Gespräches, eine Nachschrift von J. Richter ist abgedruckt in:<br />

Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 170-173. Dort ist vermerkt, daß den Superintendenten im Nachgang des Gespräches<br />

auffiel, daß „die im Protokoll sichtbar werdende Tendenz unverkennbar ist: auf unserer Ebene sachlich <strong>und</strong><br />

fre<strong>und</strong>lich. Auf der Ebene der Jugendlichen hart <strong>und</strong> einschüchternd.“ Richter vermerkte in der Mitteilung an das<br />

Landeskirchenamt weiter: „Diese Erkenntnis ist uns nur schwer erträglich. Sie sollte bei Gesprächen mit dem<br />

Staatssekretär unbedingt mit angesprochen werden. Schließlich haben wir viel zu verlieren: das Vertrauen der<br />

Jugendlichen. Noch ist es groß.“ (ebenda, 173)<br />

30 Nach J. Richter nahmen von staatlicher Seite neben A. Müller ein Herr Güntherberg <strong>und</strong> ein Herr Heinze am<br />

Gespräch teil (ebenda, 170).<br />

31 Der Liedermacher G. Schöne veröffentlichte 1981 <strong>und</strong> 1982 zwei Schallplatten, die vor allem innerhalb der<br />

evangelischen Kirche gute Resonanz fanden („Spar deinen Wein nicht auf für morgen“ <strong>und</strong> „Lieder aus dem<br />

Kinderland“). Am 25.03.1982 fand ein Konzert G. Schönes in der Michaeliskirche statt.<br />

32 Am Rand wurde vermerkt: „Bächer studiert jetzt am Theol. Seminar.“ In Leipzig gab es bis 1992 die<br />

43


Bächer seitens der Sicherheitsorgane durchgeführten Befragung. Pfarrer Gröger bemerkte zum<br />

Jugendgottesdienst, daß ihn die Praktiken der Sicherheitsorgane vor, während <strong>und</strong> nach Beendigung des<br />

Gottesdienstes verärgert hätten. So33 seien bereits geraume Zeit vor Beginn des Gottesdienstes Toni-<br />

Wagen34 der VP um den Nordplatz Streife gefahren. Während des Gottesdienstes seien durch Anwesende<br />

Teilnehmer am Gottesdienst fotografiert worden, des weiteren wurden Passagen der Predigt<br />

mitgeschrieben. Gröger brachte weiterhin zum Ausdruck, daß ihm die Art <strong>und</strong> Weise des Umgangs mit<br />

Bächer <strong>und</strong> Stellmacher durch die Sicherheitsorgane befremde. Die Predigt selbst sei kollektiv erarbeitet<br />

worden, darum verstehe er nicht, warum Bächer nach § 214 (2) StGB Strafe angedroht worden sei.<br />

Außerdem sei der Ton, in welchem mit Bächer gesprochen wurde, mehr als rüde gewesen35 . In der<br />

Predigt sei darauf hingewiesen worden, daß sich jeder selbst entscheiden müsse, vor dem die<br />

Entscheidung stehe, welche Art des Wehrdienstes er mit seinem Gewissen vereinbaren könne. Auf den<br />

„sozialen Friedensdienst“ sei nur als zu begrüßende, durch den Staat bestätigungswürdige Alternative<br />

hingewiesen worden. Außerdem seien während der Befragung Bächers durch die Sicherheitsorgane<br />

Textstellen der Predigt aus ihrem Zusammenhang heraus zitiert worden. Sie haben beispielsweise nie die<br />

Textstelle: „Wir machen Fre<strong>und</strong>schaft zum Menschen neben uns, zu den Menschen im anderen Land. Wir<br />

sagen ja zu diesem Staat, zu dieser Gesellschaft“ erwähnt. Gröger wurde entgegnet, daß es Eingaben von<br />

Teilnehmern am Gottesdienst gebe, welche an öffentliche Institutionen geschickt wurden. In diesen<br />

Eingaben sei Beschwerde darüber geführt worden, daß eine offene Polemik gegen unseren Staat <strong>und</strong> die<br />

Ableistung des Wehrdienstes mit der Waffe geführt wurde 36.<br />

Gröger äußerte, daß er dies nicht verstehen könne, denn nach dem Jugendgottesdienst sei in<br />

Gesprächskreisen die Möglichkeit gewesen, möglicherweise entstandene oder vorhandene Unklarheiten<br />

zu klären. Er stehe jedenfalls voll inhaltlich hinter der Predigt von Bächer, <strong>und</strong> man hätte ihn ebenso<br />

zuführen oder verhaften können37 . Superintendent Richter bemerkte diesbezüglich, daß es<br />

kirchenrechtlich gar nicht zulässig sei, Bächer für eine Predigt, welche von der Kanzel aus gehalten<br />

worden sei, verantwortlich zu machen. Bächer38 sei noch kein ausgebildeter Pfarrer, <strong>und</strong> für Personen <strong>und</strong><br />

Predigt solcher Personen ohne abgeschlossene theologische Ausbildung sei der Pfarrer, in diesem Fall<br />

Pfarrer Gröger, in vollem Umfang verantwortlich. Außerdem sei er mit den Methoden des Staatsapparates<br />

in keiner Weise einverstanden.<br />

Daraufhin39 wurde Richter auf die Tatsache hingewiesen, daß die Sicherheitsorgane nicht unter dem<br />

Begriff Staatsorgane gefaßt werden40 . Die mühevolle Kleinarbeit der Mitarbeiter für Kirchenfragen beim<br />

Rat der Stadt <strong>und</strong> das Ansehen ihrer Person würden durch das Verhalten der Sicherheitsorgane gemindert<br />

werden, äußert Richter anschließend41 . So sei beispielsweise der Diakon Weißmann [richtig: Weismann]<br />

von der Straße weg zugeführt <strong>und</strong> von den Sicherheitsorganen befragt worden 42.<br />

Dies werde sich Richter<br />

Möglichkeit, entweder an der Universität oder am Theologischen Seminar (Kirchliche Hochschule) Theologie zu<br />

studieren. Zum Theologischen Seminar s.: Vogler, Werner u.a. (Hgg.)<br />

33 Dieser Satz wurde am Rand angestrichen <strong>und</strong> daneben vermerkt: „Sicherheit“.<br />

34 DDR-Jargon für PKW der Polizei<br />

35 vgl. Dok. 5<br />

36 Diese Angaben lassen sich nach der Aktenlage nicht bestätigen. Dagegen waren zu den Konzerten S. Krawczyks<br />

1987 in Leipzig einige Protestbriefe - vermutlich von „ehrenamtlichen Mitarbeitern“ der Abteilung Innere<br />

Angelegenheiten - zu finden (SAL ZR 7048/17).<br />

37 Dieser Satz wurde unterstrichen.<br />

38 Dieser Satz wurde ebenfalls unterstrichen.<br />

39 Hinter diesem <strong>und</strong> den folgenden Absätzen waren Fragezeichen gesetzt, die jedoch durchgestrichen wurden.<br />

40 Hier wurde handschriftlich angefügt: „(sehr richtig)“<br />

41 Hier wurde handschriftlich angefügt: „(Das ist richtig!)“<br />

42 Über diese Festnahme berichtet B. Weismann am 18.10.1993: „An diesem Tag wurde ich gegen 9.45 Uhr - ich<br />

war auf dem Weg ins Jugendpfarramt - auf dem Nikolaikirchhof von zwei Beamten des MfS festgehalten.<br />

Nachdem sie meine Personalien festgestellt hatten, wurde ich aufgefordert mitzukommen. Ich weigerte mich.<br />

Nach einigem Hin <strong>und</strong> Her (etwa 10-15 Passanten blieben stehen <strong>und</strong> beobachteten schweigend die Szene) wurde<br />

ich gezwungen in einen PKW mit zivilem Kennzeichen einzusteigen. Die Fahrt ging zum Polizeikomplex in der<br />

Dimitroffstraße. In einem Verhörzimmer mußte ich ca. eine halbe St<strong>und</strong>e, von einem Beamten bewacht, warten.<br />

44


zukünftig nicht mehr bieten lassen. Zukünftig werde er bei Fortsetzung der Befragung ihm unterstellter<br />

kirchlicher Amtspersonen als Superintendent an diesen teilnehmen. Superintendent Magirius ergänzte<br />

Superintendent Richter in der Hinsicht, daß er bei weiteren Befragungen <strong>und</strong> Zuführungen von<br />

Angestellten der Kirche dazu übergehen werde, diese Fälle unter Nennung des Namens <strong>und</strong> der näheren<br />

Umstände von der Kanzel zu verkünden. Er habe aber die Hoffnung, daß dies nicht notwendig zu sein<br />

brauche. Daher bitte er die Mitarbeiter für Kirchenfragen des Rates der Stadt, auf die Sicherheitsorgane in<br />

entsprechender Weise einzuwirken. Superintendent Magirius wurde darauf verwiesen, daß die<br />

Sicherheitsorgane eigenständige Organe darstellen, denen der Staatsapparat nicht weisungsberechtigt ist 43 .<br />

Magirius wurde anschließend darüber ins Bild gesetzt, daß die Sicherheitsorgane für die Sicherheit der<br />

gesamten Bevölkerung der DDR, der Atheisten <strong>und</strong> Christen, also auch für die Sicherheit seiner Person<br />

verantwortlich seien. Verständlich sei doch das Vorgehen der Sicherheitsorgane, wenn man sich gewisse<br />

Erscheinungen der letzten Zeit vor Augen halte. So sei in der letzten Woche die Losung „Frieden schaffen<br />

ohne Waffen“ in Großformat über die Karl-Heine-Straße geschmiert <strong>und</strong> mit einem Hakenkreuz versehen<br />

worden. Dadurch würde doch auch das Anliegen der Kirche verunglimpft werden, zumal man solche<br />

Handlungen wie in der Karl-Heine-Straße nicht Gemeindemitgliedern der Kirche unterstelle. Sicherlich<br />

stünden nicht alle angewandten Methoden außerhalb jeder Kritik, doch das Anliegen der<br />

Sicherheitsorgane sei auch im Sinne der Kirche. Darauf wandte Richter ein, daß er sich dagegen<br />

entschieden verwahre, wenn die evangelischen Kirchen als ein „Hort der Konterrevolution“ betrachtet <strong>und</strong><br />

mit Nationalsozialismus <strong>und</strong> Faschismus in Verbindung gebracht werden würde. Er sei gegenwärtig dabei,<br />

solchen Hinweisen nachzugehen, Adressen könne er jedoch noch nicht nennen. Magirius brachte<br />

weiterhin zum Ausdruck, daß ihm die „übertriebenen“ Sicherheitsmaßnahmen unverständlich seien. Es 44<br />

entstehe bei ihm die Frage, ob denn der Staat Angst habe, die Machtfrage sei doch seit langem geklärt <strong>und</strong><br />

die Kirche habe nicht die Absicht, die Macht des Staates anzutasten.<br />

Noch einmal auf den Jugendgottesdienst vom 6.3.82 Bezug nehmend, äußert Richter, daß die heutige<br />

Generation von Jugendlichen seiner Meinung nach die „liebste“ seit 30 Jahren <strong>und</strong> nie die Generation von<br />

Konterrevolutionären sei. Die Maßnahmen der Sicherheitsorgane seien nur geeignet, diese Jugendlichen<br />

zu verunsichern. Heraus kämen dann Erwachsene, die nur noch in sich gekehrt seien <strong>und</strong> „nicht mehr aus<br />

dem Haus herausschauen“. Damit wäre dem Staat auch nicht gedient. Wenn er das Verhalten von<br />

Angestellten der Volksbildung gegenüber Kindern von engagierten Christen, die Kinder von<br />

Superintendenten <strong>und</strong> Pfarrern ausgenommen, betrachte, komme er zu dem Eindruck, daß diese als<br />

Menschen zweiter Klasse behandelt würden. Dies würden auch Übergriffe im Zusammenhang mit den<br />

Aufnähern „Schwerter zu Pflugscharen“ beweisen. Abschließend brachten Richter, Magirius <strong>und</strong> Gröger<br />

zum Ausdruck, daß solche Gespräche mit den Mitarbeitern für Kirchenfragen geeignet seien, das<br />

Dann betraten zwei weitere Beamte den Raum. Einer stellte sich als Major ... (den Namen weiß ich nicht mehr)<br />

vor. Im Verlauf des Verhörs ging es um den 'Berliner Appell', verfaßt von Rainer Eppelmann am 25.1.1982. Die<br />

Stasi hatte in Erfahrung gebracht, daß ein Exemplar des Appells in meine Hände gelangt war. Sie wußten auch,<br />

daß ich mit Pfarrer Wonneberger (damals war er Pfarrer in der Weinbergskirche Dresden) in Verbindung stand,<br />

mit dem ich darüber sprach, wie dieser Appell unter die Leute gebracht werden könnte. Die Beamten wollten, daß<br />

ich mich von Wonneberger distanzieren sollte. Sie drohten massiv mit harten Maßnahmen, wenn ich den<br />

'Berliner Appell' verbreiten würde. Sie nahmen mir, nach einer Taschenkontrolle, das Schriftstück ab. (Allerdings<br />

hatte ich vorher den 'Berliner Appell' abgeschrieben <strong>und</strong> versteckt aufbewahrt.) Des weiteren versuchten die<br />

Beamten mich unter Druck zu setzen, ihnen zuzuarbeiten <strong>und</strong> sie zu informieren, wo der Appell auftauchen<br />

würde. Dieses Ansinnen lehnte ich strikt ab. Und weil ich dazu lachte, schlug der Major einen äußerst scharfen<br />

Ton an <strong>und</strong> sagte sinngemäß: 'Mit Euch werden wir schon fertig'. Ich gab ihm zu verstehen, daß ich, wenn ich<br />

hier herauskäme, diesen Vorfall meinem Vorgesetzten, Herrn Superintendent Richter, mitteilen würde. Daraufhin<br />

bemühten sich die Beamten, mit mir sachlicher zu sprechen. Gegen 13.00 Uhr ließen sie mich wieder frei.<br />

Damals arbeitete ich als Bezirksjugendwart im Jugendpfarramt. Dieses Ereignis ist schon 11 1/2 Jahre her <strong>und</strong><br />

ich konnte hier nur das Wesentliche mitteilen.“ R. Eppelmann wurde am 9.02.1982 aufgr<strong>und</strong> des 'Berliner<br />

Appells' inhaftiert. Am darauffolgenden Tag erließ der Leipziger Stasi-Chef ein R<strong>und</strong>schreiben zum Umgang mit<br />

Unterzeichnern dieses Appells (s. Besier/Wolf, 316f., vgl. Bericht von K. Hinze vom 22.03.1982 in:<br />

Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 165f.).<br />

43 Die letzten beiden Nebensätze wurden unterstrichen. Es folgt handschriftlich: „(Sehr richtig)“<br />

44 Dieser Satz wurde unterstrichen <strong>und</strong> am Rand angestrichen.<br />

45


Verständnis für die beiderseitigen Probleme zu vertiefen <strong>und</strong> Probleme zu beseitigen.<br />

Im Anschluß daran wurden die Liederabende des Liedersängers Gerhard Schöne im Gespräch berührt.<br />

Richter, Magirius <strong>und</strong> Gröger wurden darauf verwiesen, daß Schöne kein Angestellter der Kirche sei <strong>und</strong><br />

diese Veranstaltung keinen vordergründigen religiösen Charakter trage. Daher sei es erforderlich,<br />

Veranstaltungen dieser Art beim VPKA, Abt. Erlaubniswesen, anzumelden. Sonst laufe man Gefahr,<br />

gegen die Gesetzlichkeit in unserem Staat zu verstoßen 45 . Richter bemerkte dazu noch, daß er Schöne auf<br />

einer Schallplatte gehört habe <strong>und</strong> er der Meinung sei, daß dieser mit seinen Texten das Anliegen des<br />

Evangeliums mit seinen Worten ausdrücke. In der Endkonsequenz stimme er dem gegebenen Hinweis<br />

zum Anmelden von Veranstaltungen dieses Charakters inhaltlich zu. Zum Abschluß wurde noch auf die<br />

bevorstehenden Osterfeiertage eingegangen. Zu eventuell geplanten Veranstaltungen der Kirche gefragt,<br />

antworteten Richter <strong>und</strong> Magirius, daß mit Ausnahme des Suchens von Ostereiern keine Aktivitäten<br />

vorgesehen seien. Gröger ergänzte noch, daß es in einigen Gemeinden üblich sei, die Nacht von<br />

Ostersonnabend zum Ostersonntag durchzuwachen. Dies trüge jedoch nicht den Charakter organisierter<br />

religiöser Handlungen. Bei der Verabschiedung wurde Jugendpfarrer Gröger zugesichert, seiner<br />

Einladung, das Jugendpfarramt zu besuchen, zu einem späteren Zeitpunkt gern zu folgen.<br />

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß beide Superintendenten mehrmals im Gespräch darauf<br />

hinwiesen, Reibungspunkte zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche, welche nie auszuschließen sind, auf der Ebene<br />

von Gesprächen zu klären <strong>und</strong> damit an den Ergebnissen des 6.3.1978 festzuhalten 46 . Ausgehend davon,<br />

wurde Magirius unsererseits darauf aufmerksam gemacht, sich seine Äußerung, man werde bei weiteren<br />

Zuführungen seitens der Sicherheitsorgane dazu übergehen, die Fälle mit Namen <strong>und</strong> Umstand von der<br />

Kanzel abzukündigen, reiflich zu überdenken, da ansonsten seitens der Kirche das Verhältnis Staat/Kirche<br />

auf ein weiteres belastet würde. Richter gab zu, daß es auch innerhalb der Kirche Kräfte gibt, die darauf<br />

hinarbeiten, das Verhältnis Staat/Kirche zu belasten. Hier wurde an seine wie an Magirius[‘]<br />

Verantwortung appelliert, dies nicht zuzulassen, sondern darauf einzuwirken, den Kräften keinen<br />

Spielraum zu überlassen. Es wurde darauf hingewiesen, daß das Gespräch vom 6.3.1978 für beide Seiten,<br />

für den Staat wie für die Kirche, Verpflichtungen beinhaltet, die nicht nur für den Staat, sondern auch für<br />

die Kirche, als Kirche im Sozialismus, bindend sind.<br />

Über das Gespräch wurden im Anschluß die Sicherheitsorgane in Kenntnis gesetzt.<br />

7 Veranstaltungseinladung<br />

In einem Schreiben der Arbeitsgruppe „Friedensdienst“ vom 17.09.1982 werden alle Gemeinden von Leipzig<br />

dazu aufgerufen, sich an der Vorbereitung der Friedensdekade zu beteiligen 47 . Das hektographierte Schreiben<br />

hat die Adresse des Jugendpfarramtes als Briefkopf. Handschriftlich wurde darauf vermerkt: „Nur für<br />

innerkirchlichen Dienstgebrauch“ (ABL H 55).<br />

Liebe Mitarbeiter!<br />

Vom 7.11.-17.11.82 wird in diesem Jahr die Friedensdekade sein.<br />

Wir haben uns, zusammen mit unserer Arbeitsgruppe „Friedensdienst“, Gedanken gemacht, wie wir diese<br />

Friedensdekade vorbereiten <strong>und</strong> durchführen könnten. Dabei dachten wir ganz besonders an die<br />

Kirchgemeinde vor Ort. Das Anliegen dieser Friedensdekade ist es, so breit <strong>und</strong> vielfältig wie möglich<br />

unsere Gemeinden mit einzubeziehen. Deshalb machen wir Ihnen nachfolgend Angebote, wie Sie mit uns<br />

zusammen diese Friedensdekade noch mehr, als im vergangenen Jahr, in das Bewußtsein Ihrer<br />

Kirchgemeinde rücken können.<br />

45 Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen vom 30. Juni 1980 (GBl. I, Nr. 24)<br />

46 s. Anhang, S. 377<br />

47 Das Jugendpfarramt schickte 1982 drei Einladungen zur Friedensdekade an alle Leipziger Gemeinden, im Juni,<br />

am 17.09. <strong>und</strong> am 22.10. (vgl. ABL H 55 <strong>und</strong> Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 177f.). Die letzte Einladung wurde<br />

versandt, da die oben abgedruckte „nicht in allen erreichbaren Gemeinde- <strong>und</strong> Jugendkreisen“ ankam. In der<br />

Einladung vom Juni 1982 bot die AGF Material zur eigenständigen Vorbereitung der FD an. Ein Teil des<br />

erarbeitetet Materials liegt im ABL.<br />

46


1. Vorbereitungstag für interessierte Mitarbeiter (Kirchvorsteher, Gruppenleiter usw.) am Sonnabend, dem<br />

9.10.82, 9 Uhr - 13 Uhr im Gemeindesaal der Nikolaikirche, Ritterstraße 5. (Anmeldungen werden bis<br />

1.10. an das Jugendpfarramt erbeten!)<br />

2. Untergruppen unserer Arbeitsgemeinschaft „Friedensdienst“ haben Gemeindeabende, die zur<br />

Durchführung der Dekade in den Ortsgemeinden ermuntern sollen, erarbeitet 48 . Diese Abende sind<br />

dem Jugendpfarramt vorgelegt worden <strong>und</strong> werden hiermit empfohlen für Jugendgruppen,<br />

Bibelst<strong>und</strong>enkreise, Ehepaarkreise, Gemeindeabende usw. Bitte melden Sie uns Ihr thematisches<br />

Interesse (Datum, welcher Ort, Zeit, Gruppe) <strong>und</strong> wir vermitteln Ihnen die Referenten. Folgende<br />

Abende bieten wir an:<br />

a) Frieden - durch Angst, Resignation, Ohnmacht?<br />

b) Frieden - durch Rüstung?<br />

c) Frieden - durch Erziehung im Kinderzimmer?<br />

d) Frieden - durch Pazifisten?<br />

e) Frieden - durch Bäume pflanzen?<br />

f) Frieden - durch Bibellesen?<br />

3. Wir bereiten für die Dekade Gebetsst<strong>und</strong>en in der Nikolaikirche vor, die über das allgemeine<br />

angekündigte Informationsmaterial hinausgehen. Diese St<strong>und</strong>en entstehen aus den o.g.<br />

Gemeindeveranstaltungen. Vom 7.11.-17.11.82 beginnt das Gebet jeweils um 18 Uhr mit dem<br />

Abendläuten <strong>und</strong> endet gegen 18.30 Uhr.<br />

4. Am Sonntag, 14.11., laden wir aus Anlaß der Dekade Familien mit ihren Kindern von 16-18 Uhr in die<br />

Goldschmidtstr. 14 zu einem bunten Friedensnachmittag ein, der mit dem Gebet abgeschlossen wird.<br />

5. Am Bußtag, 17.11., laden wir um 19.30 Uhr zum Friedensgottesdienst in die Nikolaikirche ein.<br />

Weitere Informationen senden wir Ihnen zu!<br />

Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen [/] (gez.) W. Gröger (gez.) Chr. Heinze (gez.) B. Weismann<br />

8 Vernehmungsprotokoll<br />

Kopie der handschriftlichen Aufzeichnung L. Stellmachers über eine Vernehmung durch zwei Mitarbeiter des<br />

MfS vom 20.10.82 (ABL H 55).<br />

Vorbemerkung: [/] Ich bin Student an der Hochschule für Grafik <strong>und</strong> Buchkunst, Leipzig, Fachklasse<br />

Fotografie. Anläßlich der Kulturkonferenz der FDJ läuft z.Zt. an unserer Schule eine Ausstellung mit<br />

Studentenarbeiten, darunter Arbeiten unserer Abteilung. Die Ausstellung wurde am 18.10. fertiggestellt.<br />

Als ich am 19.10. in die Schule kam, traf ich auf Herrn Jansong, den Dozenten meiner Fachklasse sowie<br />

Frau Richter, ebenfalls Leiter einer Fachklasse, die sehr erregt feststellten, der Ausstellungsteil unserer<br />

Abteilung sei ohne ihr Wissen konzipiert worden <strong>und</strong> einige wichtige Studentenarbeiten würden fehlen.<br />

Das könne unmöglich so bleiben. Sie würden in eigener Verantwortung verändern. [/] U.a. wurde ich von<br />

Herrn Jansong beauftragt, mein Plakat zur Friedensdekade der ev. Kirchen, November 1982, zu hängen.<br />

[/] (Dieses Plakat ist eine Studienarbeit, wurde unter Betreuung <strong>und</strong> mit Absprache zu Dozent <strong>und</strong><br />

Abteilungsleiter im Frühjahr 1982 erarbeitet <strong>und</strong> im Sommer, nach Prüfungsabschluß, dem<br />

Jugendpfarramt Leipzig zur Verwendung angeboten).<br />

Im Laufe des Tages besichtigte eine Kommission, bestehend u.a. aus Vertretern der Hochschulleitung,<br />

einem Vertreter des Kulturministeriums <strong>und</strong> Vertretern des FDJ-Zentralrates, die noch nicht wieder<br />

vollständig hergestellte Ausstellung, verweilte sichtlich verstimmt vor meinem Plakat <strong>und</strong> entfernte dieses<br />

anschließend. [/] In einem Gespräch zwischen Hochschulleitung <strong>und</strong> meinem Dozenten wurde der<br />

Verärgerung über die eigenmächtige Veränderung der Konzeption Ausdruck gegeben <strong>und</strong> erklärt, daß<br />

jegliche Werbung für die Kirche in staatlichen Einrichtungen nicht zulässig sei.<br />

Am 20.10. wurde ich in meiner Schule zu einem Gespräch mit zwei Mitarbeitern des MfS gebeten.<br />

Gespräch: [/] Die Mitarbeiter stellten sich vor, erklärten, sie wollten weder Vernehmung noch Befragung<br />

mit mir durchführen, sondern ein fre<strong>und</strong>schaftliches Gespräch. Es wurde kein Protokoll geführt. Ich bat<br />

48 s. Anm. 51<br />

47


zunächst, mir Notizen machen zu dürfen, um Jugendpfarramt wie Abteilungsleiter den Inhalt des<br />

Gespräches mitteilen zu können, um das Gespräch zu vereinfachen, unterließ ich die Notizen dann aber.<br />

Zunächst wurde gefragt, wie es passieren konnte, daß die Ausstellung nicht entsprechend ursprünglicher<br />

Konzeption hing <strong>und</strong> wie mein Plakat entstanden sei, ich erklärte dies wie in der Vorbemerkung<br />

geschildert. Im zweiten Teil ging es um meine Arbeit im Jugendpfarramt als Mitglied der Arbeitsgruppe<br />

Friedensdienst. Mir wurden einige Fakten aus meiner Biographie zitiert, mein Vater sei Genosse gewesen,<br />

leider vor 12 Jahren verstorben, ich hätte aktiven Wehrdienst geleistet, am FDJ-Studienjahr<br />

teilgenommen, Abzeichen für gutes Wissen usw. erworben, auch habe das erste Gespräch, das ich vor<br />

einem halben Jahr mit einem Mitarbeiter des MfS führte 49 , einen positiven Eindruck hinterlassen, ich<br />

hätte zugesichert, mich normgerecht, d.h. entsprechend den Gesetzen unseres Landes verhalten zu wollen<br />

- (Bei diesem Gespräch ging es um ein Plakat zu einem Gottesdienst „Was macht uns sicher?“, daß ich<br />

herstellte <strong>und</strong> im Auftrag des Jugendpfarramtes, ohne Genehmigung fotografisch vervielfältigte, damit die<br />

„Anordnung über Genehmigung von Druck- <strong>und</strong> Vervielfältigungserzeugnissen“ vom 20.7.59 (GB Teil 1,<br />

S. 640), in der Fassung vom 13.6.68 (GB [Teil] 2, S. 360) verletzte, sowie um meine Arbeit im<br />

Jugendpfarramt) - müsse ich nicht gelegentlich mit anderen Mitarbeitern, z.B. Herrn Bächer, der lediglich<br />

als Bausoldat gedient hätte <strong>und</strong> im genannten März-Gottesdienst (s.o.) zur Wehrdienstverweigerung<br />

aufgerufen hätte in Konflikt kommen? Ich antwortete, Herr Bächer hätte in diesem Gottesdienst<br />

keinesfalls zur Wehrdienstverweigerung aufgerufen, wenn, dann wäre ich mit ihm sicherlich in Konflikt<br />

gekommen. Die Mitarbeiter unserer Gruppe seien in einzelnen Fragen selbstverständlich unterschiedlicher<br />

Ansicht, das sei normal, ich würde in dieser Gruppe auch deshalb mitarbeiten, um meine Meinung zu<br />

vertreten. Über strittige Fragen würden wir sprechen. Was das Ziel unserer Arbeitsgruppe sei? Wir kämen<br />

zusammen, um zur Friedensproblematik Informationen zu sammeln, uns darüber auszutauschen, eine<br />

Meinung zu bilden <strong>und</strong> unsere Erkenntnisse weiterzuverbreiten in Form von Gemeindeabenden oder auch<br />

persönlichen Gesprächen. Wir würden die Friedensdekade sowie ein Friedensseminar im Frühjahr<br />

vorbereiten. Was z.Zt. meine konkrete Arbeit sei? In Vorbereitung der Friedensdekade hätten wir<br />

Gemeindeabende erarbeitet, ich sei an einem Abend „Frieden - durch Pazifisten?“ beteiligt. Das<br />

Jugendpfarramt bietet diese Abende an, die Gemeinden bestellen uns.<br />

Welche Erfahrungen ich gemacht hätte? Wie der Abend ausgesehen hätte? Pazifismus sei unserer Ansicht<br />

nach ein z.Zt. vielgebrauchtes Wort, über das man sich verständigen müsse. Wir würden über<br />

verschiedene Definitionen, die Geschichte <strong>und</strong> seine bisherige praktische Realisierung vortragen (z.B.<br />

Martin Luther King, William Penn) <strong>und</strong> in einem anschließenden Gespräch nicht versuchen, zu einer<br />

einheitlichen Meinung zu kommen, sondern jeden seinen Standpunkt finden zu lassen. Gesprochen wird<br />

dabei besonders über die Möglichkeiten der Realisierung des pazifistischen Ideals in einer bestimmten<br />

Zeit, an einem bestimmten Ort (z.B. Mittelamerika, Südafrika, Europa). Meiner Ansicht nach wären<br />

manche Probleme der Gegenwart dabei noch zu wenig diskutiert worden. Wie stark das Interesse an<br />

einem solchen Abend gewesen sei? [/] Relativ stark. [/] Hätte jemand an einem solchen Abend<br />

provozieren wollen? [/] (Gemeint war auf Nachfrage offensichtlich das Vortragen extremer politischer<br />

Ansichten). [/] Nein. [/] Wir hätten doch aber z.B. in jenem Märzgottesdienst sicher die Erfahrung<br />

gemacht, daß es Leute gäbe, die provozieren wollten? Es gäbe meiner Ansicht nach sehr viele<br />

Jugendliche, die nicht unbedingt an die Kirche geb<strong>und</strong>en sind, die große Probleme mit der gegenwärtigen<br />

politischen Situation haben, diese Probleme aber nirgendwo austragen können. Hier versagen<br />

Organisationen wie die FDJ. Diese Jugendlichen suchen innerhalb der Kirche Gespräch <strong>und</strong> Antworten.<br />

Wir als Arbeitsgruppe <strong>und</strong> Veranstalter teilen nicht unbedingt ihre Ansichten. Auch ich hatte bei jenem<br />

Märzgottesdienst Angst vor einer kritischen Situation. Sich aber dann nicht mehr zu stellen, hielte ich für<br />

einen sehr folgenschweren Fehler. Damit sei jenen Jugendlichen auch die letzte Möglichkeit zum<br />

Gespräch genommen, daraus könne wesentlich Schlimmeres entstehen. [/] Wie sich die Mitglieder unserer<br />

Arbeitsgruppe hinsichtlich Konfrontation mit dem Staat verhalten würden? [/] Wir sind der Meinung, daß<br />

Frieden außenpolitisch wie innenpolitisch nur auf dem Wege der Verständigung möglich ist, nicht aber<br />

durch Konfrontation, daß wir daher bemüht sind, Konflikte zu vermeiden. Wir orientieren darauf, alle<br />

legalen, gesetzlich möglichen Mittel in Anspruch zu nehmen, das politische Geschehen zu beeinflussen.<br />

49 anläßlich des Leipziger Friedensseminar, s. Anm. 23<br />

48


Es gibt einen engeren, ständigen Mitarbeiterkreis, der diese Auffassung ohne Ausnahme vertritt, der sehr<br />

eng <strong>und</strong> unter Anleitung von Herrn Gröger <strong>und</strong> Magirius zusammenarbeitet, die Haltung der letzteren sei<br />

ja sicher bekannt. Dieser Kreis kontrolliert alle unsere Aktivitäten. Daneben haben wir sehr viele Gäste<br />

oder kurzzeitige Mitarbeiter, die wir oft nicht gut kennen <strong>und</strong> für die persönlich wir natürlich nicht<br />

garantieren können.<br />

Abschließend baten die Mitarbeiter des MfS, das Friedensdekade-Plakat sich anschauen zu dürfen, sie<br />

äußerten wiederholt, es richte sich keinerlei Vorwurf gegen das Plakat selbst, nur müsse es dort hängen,<br />

wo es hingehört, in der Nikolaikirche (entsprechend Text) 50.<br />

9 Staatlicher Ereignisbericht<br />

Anlage zur Information vom RdS Leipzig, Stellv. des OBM für Inneres, über den „Verlauf der<br />

Friedensdekade 1982 auf dem Territorium der Stadt Leipzig“ die Friedensdekade. Die Information ging an<br />

den RdB, SED-Stadtleitung <strong>und</strong> die KD Leipzig-Stadt des MfS. Unterzeichnet wurde sie von Sabatowska. Sie<br />

trägt den Stempel „Nur für den Dienstgebrauch“ <strong>und</strong> den Eingangsstempel des RdB vom 23.11.1982 (ABL H<br />

53). Die einzige Anlage der Information ist ein Bericht über den Abschlußgottesdienst der Friedensdekade<br />

1982 am 17.11.1982 in der Nikolaikirche zum Thema: „Wir können nicht schweigen.“, die hier<br />

wiedergegeben wird (StAL SED ohne Nummer).<br />

Anwesend waren ca. 1800 Jugendliche, vorwiegend aus den Jungen Gemeinden der Stadt Leipzig. Der<br />

Jugendgottesdienst wurde durch eine Band unter Leitung von Landesjugendwart Lehnert musikalisch<br />

ausgestaltet. Dieser Gottesdienst wurde durch eine Arbeitsgruppe unter Leitung des ev. Jugendpfarramtes<br />

der Stadt Leipzig vorbereitet. Während des Gottesdienstes traten besonders in Erscheinung Pf. Gröger, der<br />

die Predigt hielt, Sozialdiakon Hinze, der Informationen <strong>und</strong> Ankündigungen verlas, <strong>und</strong> Vikar Heinze<br />

<strong>und</strong> Diakon Weißmann [richtig: Weismann], die einen Sketsch gestalteten. Die Gr<strong>und</strong>lage des Sketsches<br />

bildeten symbolisch die 3 indischen Weisheiten - Nichts sagen, Nichts hören, Nichts sehen. Ein Händler<br />

(Diakon Weißmann) preist gegenüber einem Käufer (Vikar Heinze) ein M<strong>und</strong>pflaster an, welches eine<br />

nichtgewünschte Kritik an der Gesellschaft verhindert bzw. so formuliert, daß sie im Ergebnis positiv<br />

klingt; des weiteren einen Kopfhörer, mit dem man nur das hört, was einem angenehm ist (im Hintergr<strong>und</strong><br />

wurde das Lied „Ein bißchen Frieden“ eingespielt), <strong>und</strong> zuletzt wurde eine Brille feilgeboten, mit der man<br />

die Wirklichkeit sehen kann, wie man sie sich vorstellt, aber nicht wie sie ist. Im Ergebnis wurde<br />

formuliert (sinngemäß), daß man mit M<strong>und</strong>pflaster, Kopfhörer <strong>und</strong> Brille voller Zuversicht in die Zukunft<br />

blicken kann. Danach wurde der Sketsch von Weißmann <strong>und</strong> Heinze auf die gesellschaftliche<br />

Wirklichkeit ausgelegt. Es wurde sinngemäß formuliert, daß man nicht schweigen kann<br />

− zu der zunehmenden Militarisierung,<br />

− wenn Kinder Krieg statt Frieden spielen,<br />

− wenn Haß statt Vertrauen verbreitet wird,<br />

− wenn Menschen schweigen, um ihrer Karriere willen,<br />

− wenn Menschen schweigen, um Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen<br />

− wenn man um der Karriere willen abgeforderte Null-acht-fünfzehn Stellungnahmen schreibt, obwohl<br />

man dazu eine andere Meinung hat.<br />

Im Anschluß daran hielt Pf. Gröger, Leiter des Jugendpfarramtes, die Predigt. Zur Gr<strong>und</strong>lage nahm er<br />

Texte aus der Offenbarung des Johannes. Sinngemäß äußerte er in seiner Predigt u.a.:<br />

− 37 Jahre fallen keine Bomben mehr auf Leipzig. Diese Selbstverständlichkeit ist keine<br />

Selbstverständlichkeit. Man verdankt dies dem Wirken unserer Politiker, daß man in unserer<br />

Gesellschaft in Frieden leben kann. Dafür sind sie dankbar. Auch für das Zusammenwirken von Staat<br />

50 Auf dem Plakat war das Symbol der 2. UN-Abrüstungssezession mit einem Mann vor einer Erdkugel, der ein<br />

Gewehr über seinem Kopf zerbricht, verwendet worden. Da der BEK wieder das Symbol „Schwerter zu<br />

Pflugscharen“ als FD-Symbol verwendete, wurde für die Nikolaikirche ein Plakat mit diesem Symbol angefertigt.<br />

Ein ca. 1,50mx1,50m großes Transparent mit dem Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ steht heute noch in der<br />

Nikolaikirche (s. Foto auf dem Umschlag).<br />

49


<strong>und</strong> Kirche in Blick auf die Erhaltung des Friedens.<br />

− Dankbar sei man, daß die Gespräche zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche auch in der Stadt Leipzig immer<br />

möglich waren <strong>und</strong> sind in schlechten wie in guten Zeiten.<br />

− Man könne aber nicht schweigen, wenn ein großer Teil der Jugend ohne Ziel, ohne Ideal <strong>und</strong><br />

verunsichert lebt. Verunsichert <strong>und</strong> resignierend deswegen, weil ihr ehrliches Bemühen um Frieden<br />

<strong>und</strong> das Mitwirken in der einheitlichen Friedensbewegung in der DDR von der Gesellschaft<br />

mißverstanden wird.<br />

− Man könne nicht schweigen, wenn der soziale Friedensdienst als ein Modell der Friedenseinübung<br />

staatlicherseits abgelehnt wird.<br />

− Man könne nicht schweigen, daß zwischen November 1981 <strong>und</strong> November 1982 gegen die Träger des<br />

Aufnähers „Schwerter zu Pflugscharen“, die aus einem ehrlichen Friedenswillen diese Aufnäher<br />

tragen, mit staatlichen Maßnahmen vorgegangen wird. Diese Maßnahmen haben tiefe W<strong>und</strong>en bei der<br />

Jugend geschlagen, die heute noch offen sind <strong>und</strong> durch Befehl auch nicht vergessen gemacht werden<br />

können. Diese Maßnahmen haben verunsichert, viele Jugendliche resignieren.<br />

− Man könne nicht schweigen, daß bei der Pfingstmanifestation der FDJ für Frieden, wo christliche<br />

Jugendliche mit eigenen Losungen mitdemonstrieren wollten, dies abgelehnt wurde <strong>und</strong> für einige der<br />

Weg nicht am Völkerschlachtdenkmal endete, sondern auf dem Polizeirevier.<br />

− Im weiteren Verlauf seiner Predigt reflektierte Gröger Bibelstellen der Offenbarung theologisch.<br />

− Im letzten Teil seiner Predigt berief er sich auf Billy Graham, der in Moskau im Mai zur Konferenz der<br />

religiösen Friedenskräfte sagte, daß die Großmächte ein Moratorium des Vertrauens unterzeichnen<br />

sollten, weil das gegenseitige Unterstellen von bösen Absichten den Rüstungswettlauf nie beenden<br />

wird, sondern diesen ins Unermeßliche noch steigert.<br />

− Er forderte auf (Gröger), einmal darüber nachzudenken, was es ist, daß uns heute Konflikte in der<br />

Welt, wo Menschen getötet, gefoltert <strong>und</strong> gequält werden, wo Menschen hungern <strong>und</strong> vor Hunger<br />

sterben, kaum noch betroffen machen.<br />

− Am Schluß seiner Predigt rief er die Jugendlichen auf, genau zu sehen, genau zu hören <strong>und</strong> über das,<br />

was man sieht <strong>und</strong> hört, auch zu sprechen <strong>und</strong> nicht zu schweigen. Zu sprechen, auch wenn es für den<br />

einzelnen nicht immer persönliche Vorteile bringt. Es kommt darauf an, den Frieden im kleinen zu<br />

praktizieren.<br />

− Der Abschlußgottesdienst verlief von seiten der Teilnehmer disziplinarisch. Beendet wurde dieser<br />

gegen 21.30 Uhr.<br />

10 Stasi-Information<br />

Auszug aus der monatlichen Berichterstattung der Abteilung XX der BV Leipzig des MfS (Referat AuI,<br />

unterzeichnet vom Leiter der Abteilung, Wallner) zum Monat November 1982 vom 06.12.1982 an die<br />

Hauptabteilung XX des MfS, aufgr<strong>und</strong> der Anweisung des Leiters der HA XX vom 03.11.1979 (Tgb.-Nr.<br />

XX/AIG/160279/schmi-gi). Handschriftlich vermerkt steht neben der maschinengeschriebene Adresse: „Gen.<br />

Oberst Eppisch“ (BStU Leipzig, Abt. XX MB Nov. 82).<br />

[...] 1.7. Sicherungsbereich Kirchen/Religionsgemeinschaften<br />

OV „Zersetzer“ [in diesem Operativen Vorgang wurde vor allem H. Bächer bearbeitet] - Reg.-Nr. [...]<br />

Im Zeitraum der vom 7.11.-17.11.1982 stattgef<strong>und</strong>enen „Friedensdekade“ der ev. Kirchen in Leipzig<br />

konzentrierte der Arbeitskreis (AK) „Friedensdienst“, unter Leitung von „Zersetzer“, seine Aktivitäten auf<br />

die Durchführung mehrerer Vorträge in den Kirchgemeinden der Leipziger Ephorien <strong>und</strong> Gemeinden des<br />

Kreises Leipzig 51.<br />

[... Bericht über den AK „Friedensdienst“] Der [sic!] Höhepunkt <strong>und</strong> Abschluß der<br />

51 Im Abschlußbericht des RdB, Stellv. des Vorsitzenden für Inneres, vom 19.11.1982 zur FD heißt es: „Der<br />

Arbeitskreis 'Friedensdienst' beim Jugendpfarramt hat besondere starke Aktivitäten bei der Durchführung von<br />

kleineren Veranstaltungen entwickelt.“ (BArch O-4 1432) Pf. Gröger sprach von „ungefähr 30<br />

Gemeindeabenden“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 183). Diese wurden auch nach der FD 1982 „aus Einsicht in die<br />

Notwendigkeit“(ebenda) fortgesetzt.<br />

50


ereits angeführten „Friedensdekade 1982“ im Verantwortungsbereich bildete der „Friedensgottesdienst“<br />

am 17.11.1982 52 unter dem Thema „Wir können nicht schweigen“, an dem ca. 1800<br />

Jugendliche/Jungerwachsene teilnahmen. [/] Als zeitweiliger Gast des „Gottesdienstes“ richtete<br />

Landesbischof Hempel das Wort zu einer kurzen Ansprache an die Teilnehmer <strong>und</strong> brachte zum<br />

Ausdruck: Es sei nicht zufällig, daß dieser Jugendgottesdienst am Bußtag stattfinden würde, da gerade im<br />

Blick auf die vielfältigen Friedensaktivitäten der jungen Christen auch vieles schiefgegangen sei. Man<br />

solle den Begriff „Vertrauen“ zum zentralen Orientierungspunkt für christliches Friedensengagement<br />

wählen, junge Christen müßten sich mit ihren Friedensaktivitäten das Vertrauen des Staates erwerben.<br />

Bezogen auf das Motto „Wir können nicht schweigen“ orientierte Hempel auf das Neue Testament, in<br />

dem am Beispiel Jesus klar zu erkennen sei, an welchen Stellen Christen sprechen müssen <strong>und</strong> wo sie zu<br />

schweigen haben. [/] Gegenüber den durch inoffizielle Quellen als positiv eingeschätzten Ausführungen<br />

Hempels trug die von Pfarrer Gröger gehaltene Predigt einen resignierenden <strong>und</strong> pessimistischen<br />

Gr<strong>und</strong>tenor. (Jugendliche seien in ihren Bemühungen um SOFD von Staat <strong>und</strong> Kirche im Stich gelassen<br />

worden, das Problem des Entfernens von Aufnähern habe Schmerz <strong>und</strong> Verbitterung hinterlassen u.ä.<br />

bereits bekannte Positionen). [/] Abgesehen von den Bemerkungen Hempels enthielt der gesamte<br />

Gottesdienst keine klare Orientierung für die künftige Arbeit zur Friedensproblematik. Die Reaktionen der<br />

Teilnehmer auf vordergründig negative Äußerungen im Verlaufe des Gottesdienstes war [sic!] sehr<br />

verhalten. [...]<br />

11 Staatlicher Ereignisbericht<br />

Brief des RdS Leipzig, Stellv. des OBM für Inneres an den 1. Sekretär der SED-Stadtleitung, R. Wötzel, vom<br />

08.11.1983 mit einer Information „über Vorkommnisse im Rahmen der Friedensdekade“. Unterzeichnet<br />

wurden die zwei Blätter von Sabatowska (StAL BT/RdB ohne Nr.).<br />

1. Zum Sachverhalt 53<br />

Am 5.11.83 gegen 18.15 Uhr wurden auf dem Marktplatz ca. 50 Jugendliche sitzend einen Kreis bildend<br />

<strong>und</strong> in der Mitte brennende Kerzen aufgestellt, angetroffen. [/] Am 6.11.83 gegen 19.50 Uhr<br />

versammelten sich 20 Jugendliche am Bachdenkmal des Thomaskirchhofes kurzzeitig mit brennenden<br />

Kerzen. [/] Am 7.11.83 gegen 18.40 Uhr versammelten sich 30 Personen aus der Nikolaikirche kommend<br />

<strong>und</strong> gingen in Richtung Naschmarkt <strong>und</strong> Grimmaische Straße mit brennenden Kerzen. [/] Durch Genossen<br />

der Volkspolizei wurden insgesamt 32 Beteiligte durch Feststellen der Personalien <strong>und</strong> Befragung<br />

namhaft gemacht. [/] Bei den Beteiligten handelt es sich ausschließlich um Jugendliche im Alter von 16<br />

bis 23 Jahren <strong>und</strong> um keine negativ dekadenten Personen. Die Befragung der Beteiligten nach ihrem<br />

Motiv ergibt, daß sie mit dieser „Symbolhandlung“ ihren Willen zum Frieden dokumentieren wollen <strong>und</strong><br />

beabsichtigen, die Bürger zum Nachdenken über den Frieden anzuregen. Ausgangspunkt für diese<br />

sogenannten „Symbolhandlungen“ sind offensichtlich die täglich stattfindenden Friedensgottesdienste in<br />

der Nikolaikirche bzw. Thomaskirche. [/] Die beabsichtigte Öffentlichkeitswirksamkeit wurde, bedingt<br />

auch durch den Zeitpunkt der Handlungen <strong>und</strong> durch die Tatsache, daß durch die Passanten der<br />

Hintergr<strong>und</strong> dieser Handlungen kaum übersehen wird, im wesentlichen nicht erreicht. Das kann man aus<br />

Reaktionen von Passanten, wie, es ist doch noch gar nicht Advent, schlußfolgern.<br />

52 s. vorhergehendes Dokument<br />

53 Zur „Absicherung“ der FD hatte der Stellv. d. OBM für Inneres des RdS Leipzig u.a. befohlen, daß die Stellv. des<br />

SBBM für Inneres während der Friedensdekade täglich schriftlich über kirchliche Veranstaltungen berichten.<br />

(Information des RdS Leipzig „über die eingeleiteten Maßnahmen zur staatlichen Absicherung...“ vom 7.11.1983<br />

- StAL BT/RdB 20707). Diese tägliche Berichterstattung gab es in allen Ebenen bis zum StfK. Staatssekretär<br />

Gysi hatte die verantwortlichen in den Bezirken dazu am 02.11.1983 eingewiesen. Am 4.11.1983 wurden die<br />

Stellv. der Vorsitzenden für Inneres der Räte der Bezirke durch das StfK angewiesen, auszuschließen, daß<br />

„pazifistische Positionen“ „in Form <strong>und</strong> im Rahmen sogenannter gewaltfreier Aktionen (provokatorischdemonstrative<br />

öffentlichkeitswirksame Handlungen, Lichterketten, Fastenaktionen usw.)“ geäußert werden.<br />

(Telegramm-Entwurf unterzeichnet von Gysi <strong>und</strong> Bestätigung der Übermittlung von Hubrich - BArch O-4 461).<br />

51


2. Wertung dieser Ereignisse<br />

Diese Ereignisse können nur als Mißbrauch christlich-motivierten Friedensengagements durch reaktionäre<br />

Kräfte innerhalb der Kirche im Sinne einer eigenen selbständigen Friedensbewegung bewertet werden.<br />

Dafür sprechen auch u.a. folgende Tatsachen: [/] In den seit Anfang September durch den Stellv. d. Rates<br />

des Bezirkes für Inneres <strong>und</strong> dem Stellv. d. OBM f. Inneres in kurzen Abständen mit dem Präsidenten der<br />

Landeskirche Sachsen, Domsch, den beiden Superintendenten Richter <strong>und</strong> Magirius sowie mit dem<br />

Jugendpfarrer Gröger geführten Gesprächen54 wurde auf wiederholte Herausforderung von diesen<br />

versichert, alle Veranstaltungen im innerkirchlichen Rahmen zu halten, alles zu unterlassen, was zu einer<br />

Konfrontation zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche führen <strong>und</strong> zu politischen Mißverständnissen geeignet sei <strong>und</strong><br />

sich strikt an die Gesetzlichkeit zu halten. [/] Noch am 19.10.83 wurde von Jugendpfarrer Gröger<br />

versichert, daß es in Leipzig zu keinen symbolhaften Handlungen wie in Berlin zum Weltfriedenstag55 kommen werde. [/] Es wird offensichtlich, daß der Einfluß politisch-progressiver kirchenleitender<br />

Persönlichkeiten wie Magirius nicht ausreicht, um in der Praxis zu abgegebenen Worten zu stehen.<br />

3. Schlußfolgerungen<br />

1. Der Stellv. d. Rates d. Bez. f. Inneres <strong>und</strong> der Stellv. d. OBM f. Inneres führen am 8.11.83, 14.00 Uhr<br />

eine prinzipielle Aussprache mit den Sup. durch mit dem Ziel, daß unter Verantwortung beider Sup.<br />

gewährleistet wird, daß derartige sogenannte „Symbolhandlungen“ im Interesse der Kirche <strong>und</strong> des<br />

Staates der Unterbindung jeglichen politischen Mißbrauchs im Namen der Kirche sowie unter<br />

Wahrung der Gesetzlichkeit (keine Demonstration beantragt <strong>und</strong> genehmigt) unterbleibt 56.<br />

2. Das VPKA sichert weiterhin die uniformierte Präsenz der VP, sichert die Feststellung zur Person <strong>und</strong><br />

gewährleistet die Auflösung derartiger Handlungen im Anschluß an die täglich stattfindenden<br />

Friedensgottesdienste in der Innenstadt soweit erforderlich.<br />

3. Durch den Rat der Stadt im Zusammenarbeit mit dem Rat d. Bezirkes wird ab 8.11.83 bis auf weiteres<br />

die offizielle Teilnahme von Vertretern der Staatsorgane an diesen Friedensgottesdiensten<br />

gewährleistet.<br />

12 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Auszug aus einem Gedächtnisprotokoll vom Rat des Bezirkes Leipzig, Sektor Kirchenfragen, vom<br />

28.11.1983 über ein Gespräch des Stellv. des Vorsitzenden des RdB für Inneres mit dem Präsidenten des<br />

Landeskirchenamtes. Das 7-seitige Gedächtnisprotokoll trägt den Stempel „Nur für den Dienstgebrauch“ <strong>und</strong><br />

wurde von Ebisch unterzeichnet <strong>und</strong> von Reitmann bestätigt. Am 30.11.1983 wurde das Protokoll an den<br />

Staatssekretär für Kirchenfragen gesandt (StAD RdB 45081 <strong>und</strong> in: BArch O-4 795).<br />

Das Gespräch fand am 25.11.1983 auf mehrfachen Wunsch von Herrn Domsch statt. Als Inhalt des<br />

Gesprächs nannte Domsch die Bitte, Auskünfte über die Angehörigen vom Synodalen Dr. Hofmann u.a.<br />

im Zusammenhang mit den Ereignissen am Capitol am 18.11.1983 verhafteten Personen zu erhalten.<br />

Domsch drängte auf den frühest möglichen Gesprächstermin, um eine baldige Entlassung der Verhafteten<br />

zu erreichen. Domsch verspätete sich zum Gespräch, an dem außerdem Herr Rau vom Landeskirchenamt<br />

<strong>und</strong> Gen. Ebisch, Rat des Bezirkes, Bereich Kirchenfragen, teilnahmen. Das Gespräch verlief insgesamt in<br />

54 Zum Gespräch am 02.09.1983 s. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 198-202. Bei einem Staat-Kirche-Gespräch im<br />

Sommer 1983 muß Pf. Gröger schon auf mögliche „Komplikationen während der Friedensdekade“ hingewiesen<br />

haben (Information zum Berichtszeitraum Juni/Juli 1983 von Sabatowska vom 4.8.1983, S. 7 - StAL BT/RdB<br />

20713).<br />

55 Am 1. September versuchten ca. 70 Menschen in Berlin eine Menschen- bzw. Kerzenkette zwischen den<br />

Botschaften der Sowjetunion <strong>und</strong> den USA. Diese symbolische Aktion sollte die Großmächte mahnend an ihre<br />

Friedensverantwortung erinnern. Sicherheitskräfte unterbanden jedoch diese Aktion <strong>und</strong> verhafteten einige<br />

Teilnehmer.<br />

56 J. Richter vermerkte zu diesem Gespräch: „Unsere Antwort: Es gibt innerhalb der Kirche keine Organisatoren<br />

von Demonstrationen. Deswegen können wir auch niemanden direkt ansprechen. Wir werden aber im<br />

Friedensgebet die Jugendlichen darauf hinweisen, daß sie nicht mit Kerzen auf die Straße gehen. [...] Die Ansage<br />

am Dienstag bewirkte, daß keine Kerzen in der Öffentlichkeit auftauchten.“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 203)<br />

52


einer sachlichen Atmosphäre. Es wurde durch einen Anruf vom Bischof Hempel unterbrochen. Hempel<br />

bat um einen Rückruf von Domsch (im Telefongespräch ging es um eine Sache Ziegler <strong>und</strong> um eine nicht<br />

zu gewährende Unterschrift in der Angelegenheit eines „EKHd-Projektes“) [... Verweis der staatlichen<br />

Vertreter auf staatliche Kirchenpolitik <strong>und</strong> einer „auf beiderseitigen Vertrauen begründeten<br />

Gesprächsführung“ ...]<br />

Dem stimmte Domsch zu <strong>und</strong> erklärte sinngemäß: „Sie sprachen von kirchlicher Hierarchie, es gibt aber<br />

die vom Evangelium ausgehende Gewissensfreiheit in der Kirche, die die Rand- <strong>und</strong> Grenzbereiche nicht<br />

einschränkt. Es gibt auch viele Christen, die ausscheren wollen, siehe Pfarrer Rausch 57 <strong>und</strong> Pfarrer<br />

Stiehler. Mit den Ereignissen am Capitol <strong>und</strong> den „Kerzen“ ist auch so ein Grenzbereich erreicht. Die<br />

Superintendenten <strong>und</strong> auch Jugendpfarrer Gröger haben in der Nikolaikirche verkündet <strong>und</strong> die<br />

Jugendlichen aufgerufen, nicht mit ihren Kerzen auf die Straße zu gehen - die Antwort war ein<br />

Pfeifkonzert -. Danach haben sie die Verlängerung des Friedensgebetes in der Kirche angeboten“. Domsch<br />

brachte weiter zum Ausdruck, daß die Superintendenten auf die Gespräche mit den Staatsorganen richtig<br />

reagiert hätten <strong>und</strong> auch versucht haben, ihren Inhalt in Gesprächen mit den Jugendlichen umzusetzen.<br />

Pfarrer Gröger hätte den Jugendlichen ebenfalls gesagt, daß ihre Handlungen nicht mehr von der Kirche<br />

gedeckt werden können. Die zuständigen Pfarrer haben so gehandelt, wie mit den staatlichen Organen<br />

abgestimmt war. Die Jugendlichen stellten jetzt mehrfach die Frage: „Ob es Sache der Kirche ist, so etwas<br />

bekannt zu geben. Ist die Kirche beauftragt, derartige Festlegungen den Jugendlichen mitzuteilen? Die<br />

Jugendlichen hätten angeblich die Frage gestellt: „Macht Ihr Euch nicht zum Büttel des Staates?“ 58 Nach<br />

Meinung Domschs, wäre zu hoffen, daß der Staat derartiges auf andere Weise bekannt gibt, z.B. in<br />

Zeitungsveröffentlichungen usw.<br />

Domsch wurde eindeutig klar gemacht, daß der Ansatzpunkt doch ein anderer ist. Es ist doch in der<br />

Kirche zu sehen, alle Aktionen gehen doch von der Nikolaikirche aus. Die Kirche hat ihre Verantwortung<br />

wahrzunehmen, damit es im „Grenzbereich“ nicht zu Straftaten kommt, <strong>und</strong> Döring ist doch kein<br />

Vertreter des Grenzbereiches, sondern ein leitender Mann <strong>und</strong> verantwortlich für Jugendarbeit in der<br />

Kirche. Außerdem ist den Superintendenten mehrfach gesagt worden, daß Veranstaltungen, die nicht<br />

beantragt <strong>und</strong> nicht genehmigt, von den Veranstaltern ohne die vom Gesetzgeber gegebenen Modalitäten<br />

durchgeführt werden, strafrechtlich geahndet werden.<br />

Im weiteren Gesprächsverlauf versuchten Domsch <strong>und</strong> auch Rau, das Gespräch in Gr<strong>und</strong>satzfragen<br />

abzudrängen. So sprach Domsch u.a. von dem Zusammenhang zwischen Evangelium, Predigt <strong>und</strong> Politik<br />

<strong>und</strong> Rau machte deutlich, daß alle Bereiche von politischen Fragen betroffen sind. Für die Jugendlichen<br />

wären Dr. Martin Luther King <strong>und</strong> Bonhoeffer Vorbilder für die Sache des Friedens. Sie wären sich einig,<br />

daß der Frieden bewahrt werden müsse. Da es ihnen aber nicht gegeben ist, die Rüstungsspirale<br />

zurückzudrehen, würden sich die Jugendlichen mit solchen Aktionen äußern. Domsch sprach in diesem<br />

Zusammenhang davon, daß die Jugendlichen durch die vielen Veröffentlichungen zur Friedensbewegung<br />

in den kapitalistischen Ländern angeregt wurden, etwas Ähnliches zu tun. In diesem Teil des Gespräches<br />

wurde beiden Herren eindeutig dargelegt:<br />

1. Es besteht kein Gr<strong>und</strong>, die Demonstrativhandlungen der Jugendlichen zu verniedlichen. Durch 15 bis<br />

20 Jugendliche ist unserem Staat enormer außenpolitischer Schaden zugefügt worden.<br />

2. Die Nikolaikirche war mehrfach Ausgangs- <strong>und</strong> Endpunkt derartiger Aktionen. In der Nikolaikirche<br />

wurde am 16.11.1983 durch Flüsterpropaganda für die Aktion am 18.11.1983 vor dem Capitol<br />

57 Hans Georg Rausch war Pfarrer der Immanuel-Kirchgemeinde in Leipzig-Probstheida. Er erklärte im Sommer<br />

1955, nachdem das LKA ihm einen Amtswechsel nahegelegt hatte, zusammen mit dem Kirchenvorstand, daß<br />

seine Gemeinde von der Sächsischen Landeskirche unabhängig sei. Die DDR-Regierung (Abteilung Kultfragen)<br />

bestätigte im August 1955 dieser Gemeinde den Status „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ <strong>und</strong> CDU <strong>und</strong><br />

Staat unterstützen die unabhängige Gemeinde bis in die 70er Jahre. Während dieser Zeit konnte die Sächsische<br />

Landeskirche nicht über den Gemeindebesitz verfügen, so daß die Christen der landeskirchlichen Gemeinde ihre<br />

Gottesdienste in einem Zirkuszelt hielten. Der Gegenspieler von H.-G. Rausch war der damalige Leipziger<br />

Superintendent Stiehl.<br />

58 Diese Formulierung hatte K. Domsch schon am 15.06.1982 in einem Gespräch mit dem Vorsitzenden des Rates<br />

des Bezirkes Dresden, M. Scheler, gebraucht (Protokoll v. Lewerenz - SAPMO-BArch IV B 2/14/102). „Büttel<br />

des Staates?“ wurde mit der Maschine unterstrichen.<br />

53


geworben.<br />

3. Die staatlichen Organe haben den kirchenleitenden Persönlichkeiten mehrfach Gelegenheiten gegeben,<br />

Einfluß auf diese Jugendlichen zu nehmen, ohne daß strafrechtliche Maßnahmen durchgeführt wurden.<br />

4. Mit dem Brief an das Präsidium der Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche stellen sich kirchenleitende<br />

Persönlichkeiten hinter die Aktion der Jugendlichen 59.<br />

Zur Erklärung an das Präsidium der Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche führte Domsch an, daß er diese<br />

Form nicht für legitim hält, um kirchliche Standpunkte darzustellen. Er geht gemeinsam mit Bischof<br />

Hempel davon aus, der Westpresse keine Anhaltspunkte für die Einmischung in die Beziehungen Staat-<br />

Kirche zu geben. Nach Meinung von Domsch wäre es richtig gewesen, ein solches Schreiben, wenn<br />

überhaupt, dann an den Rat der Stadt zu richten. Domsch machte deutlich, daß es Superintendent Richter<br />

nicht gelungen ist, das Schreiben zu verhindern.<br />

Diese Aussage von Domsch wurde zum Anlaß genommen, um ihm die Frage zu stellen: „Was ist in der<br />

Kirche eigentlich los, wer kann gegenwärtig alles Aktionen in der Kirche durchführen?“ „Wer kann<br />

eigentlich die Friedensdekade der Kirche verlängern?“ Außerdem wurde deutlich gemacht, daß das<br />

Anliegen für das Gespräch doch eigentlich der Wunsch gewesen ist, Informationen über die inhaftierten<br />

Jugendlichen zu erhalten, <strong>und</strong> so aus der Bitte für das Gespräch natürlich auch die Verantwortung <strong>und</strong> der<br />

Bezug für die Sächsische Kirche besteht. Herr Domsch wurde in Kenntnis gesetzt über die inhaftierten<br />

Personen, ihre nicht abgeschlossene Berufsausbildung <strong>und</strong> ihre zum Teil bereits bekannten<br />

strafrechtlichen relevanten Handlungen in der Vergangenheit <strong>und</strong> die laufenden Ermittlungsverfahren<br />

nach § 212 [Widerstand gegen staatliche Maßnahmen] <strong>und</strong> 217 60 StGB.<br />

Ausführlicher wurde Domsch über die Familie Castillo informiert. Herr Domsch wurde durchaus<br />

zustimmend der Standpunkt des Synodalen Hofmann über das Verhalten seiner Familienangehörigen<br />

mitgeteilt61 . Domsch wurde mit der Frage konfrontiert, ob er überhaupt wisse, was sich eigentlich in den<br />

Kirchen abspielt? So wurden am 20.11.1983 in der Nikolaikirche 2 ausländischen Journalisten von einem<br />

Herrn, der sich als Pfarrer ausgab, Auskünfte erteilt ohne sie nach ihrer Legitimation gefragt zu haben.<br />

Des weiteren hat sich in der Wohnung des Synodalen Dr. Hoffmann bei der Übergabe seiner Tochter<br />

durch einen Volkspolizisten, ein Pfarrer aufgehalten, der gegenüber den Übergebenden tätlich wurde. Die<br />

staatlichen Organe erwarten von der Kirche neben der Angabe der Person zumindest eine Entschuldigung<br />

dieses Mannes.<br />

Am 20.11.1983 wurde der Gottesdienst in der Thomaskirche von 2 Punkern mit brennenden Kerzen<br />

unterbrochen. Beide rissen dem Diakon Döring das Mikrophon aus der Hand <strong>und</strong> sagten: „Während ihr<br />

betet - werden Jugendliche von der Staatssicherheit festgenommen!“<br />

Am 20.11.1983 wurde in Döbeln während einer Veranstaltung der Jungen Gemeinde in der Nikolaikirche<br />

durch den Sohn des kirchlichen Angestellten Landgraf Material verbreitet, was staatsfeindlichen<br />

Charakter trug. Die staatlichen Organe erwarten, daß auf den Jugendpfarrer Uhlig Einfluß genommen<br />

wird, um zukünftig so etwas zu unterbinden.<br />

Präsident Domsch war über diese Fakten schockiert <strong>und</strong> brachte zum Ausdruck, daß ihm klar sei, daß so<br />

etwas nicht geht. Zu dem Vorfall bei der Übergabe der Tochter des Synodalen Dr. Hoffmann äußerte er,<br />

die meisten wüßten nicht, daß man sich strafbar macht, wenn man einen Bürger berührt. Er kam auf die 7<br />

59 s. Dok.14, Anlage 2<br />

60 § 217: Zusammenrottung<br />

(1) Wer sich an einer der öffentlichen Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit beeinträchtigenden Ansammlung von Personen<br />

beteiligt <strong>und</strong> sie nicht unverzüglich nach Aufforderung durch die Sicherheitsorgane oder andere zuständige<br />

Staatsorgane verläßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, mit<br />

Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft<br />

(2) Wer eine Zusammenrottung organisiert oder anführt (Rädelsführer), wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr<br />

bis zu acht Jahren bestraft.<br />

(3) Der Versuch ist strafbar.<br />

61 A. Castillo ist Tochter des damaligen Landessynodalen Dr. R. Hofmann.<br />

62 s. a. Bericht des MfS (Dok. 13). J. Richter berichtete über dieses FG weiter: „[Diakon] Döring hat sofort mit<br />

ihnen gesprochen. Ein dritter Jugendlicher hat dann mit Erlaubnis von [Pfarrer] Grabner kurz <strong>und</strong> sachlich<br />

erklärt, was inzwischen geschehen war.“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 209)<br />

62<br />

54


Inhaftierten zurück <strong>und</strong> fragte, ob es nicht einen Weg gebe, diese Sache lautlos zu regeln. Er äußerte:<br />

„Herr Reitmann, ich habe die herzlichste <strong>und</strong> innigste Bitte Milde walten zu lassen <strong>und</strong> nach<br />

Möglichkeiten geringe Strafen, wenn überhaupt, auszusprechen. Wenn Zwang zur Anwendung kommt,<br />

schadet das unserer weiteren Arbeit mit den Jugendlichen nur.“<br />

Herrn Domsch wurden abschließend <strong>und</strong> zusammenfassend zu diesem Teil des Gesprächs noch einmal die<br />

staatlichen Anliegen vorgetragen. [/] Die Anwesenden wurden aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, daß<br />

sich solche Einzelfälle, wie<br />

− das Auftreten von Punkern in Kirchen<br />

− staatsfeindliche Hetze in Veranstaltungen der Jungen Gemeinden, wie in Döbeln<br />

− der Brief an die Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche, der durch die Superintendenten nicht verhindert<br />

wurde<br />

nicht wiederholen <strong>und</strong> daß die Kirche auf diese Mitarbeiter einwirkt, die hauptamtlich für die kirchliche<br />

Jugendarbeit verantwortlich sind <strong>und</strong> den Brief an die Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche unterzeichnet<br />

haben. Bezugnehmend auf eine Bemerkung von Domsch, daß Leipzig kein Jena sei 63 , wurde darum<br />

gebeten in Leipzig keine „Wonneberger“ 64 heranzuziehen oder zuzulassen. Es wäre deshalb gut zu<br />

wissen, wer die beiden angeblichen Pfarrer der Nikolaikirche sind. Im Zusammenhang mit den Punkern<br />

verwies Herr Rau darauf, daß in einer Kirche in Hannover ein Jugendlicher eindringen konnte <strong>und</strong> dem<br />

Kruzifix den Hals abschneiden konnte. Darauf wurde ihm entgegnet, daß man doch spätestens jetzt in der<br />

Kirche alles tun müsse, damit keine Hannover-Verhältnisse eintreten. Präsident Domsch bereiten nach<br />

seinen Aussagen Schreiben aus der Bevölkerung Sorgen, daß in Bad Lausick Raketen stationiert werden<br />

sollen [... u.a. wird von K. Domsch gefragt, warum 3 Mitarbeiter der Diakonie inhaftiert wurden...].<br />

13 Stasi-Information<br />

Auszug aus der monatlichen Berichterstattung der BV Leipzig des MfS, Abteilung XX/AuI (unterzeichnet<br />

von Oberstleutnant Wallner), für den Monat November 1983 (vom 05.12.1983), an das Ministerium für<br />

Staatssicherheit Hauptabteilung XX <strong>und</strong> AKG, aufgr<strong>und</strong> eines Schreibens des Leiters der HA XX vom<br />

07.01.1983 (Tgb.-Nr. XX/AKG/397/83), mit Informationen zu den Demonstrationen in Leipzig. Der<br />

Gesamtbericht umfaßt 27 mit der Maschine engbeschriebene Seiten (BStU Leipzig Abt. XX MB Nov. 1983).<br />

1. Ergebnisse der politisch-operativen Arbeit zur Verhinderung, Aufklärung <strong>und</strong> Bekämpfung politischer<br />

Untergr<strong>und</strong>tätigkeit im Verantwortungsbereich.<br />

[...] In der Zeit vom 5. - 18. November 1983 kam es im Stadtgebiet von Leipzig wiederholt zu<br />

öffentlichkeitswirksamen Ansammlungen Jugendlicher <strong>und</strong> Jungerwachsener, die mit brennenden Kerzen<br />

„ihre Angst um den Frieden“ bek<strong>und</strong>en wollten. Ein Teil dieser Personen hat Verbindung zur kirchlichen<br />

Jugendarbeit, einige sind wegen rechtswidriger Ersuchen auf Übersiedlung, wegen des Tragens<br />

pazifistischer Symbole oder wegen krimineller Delikte bereits aufgefallen. Diese Handlungen in der<br />

Öffentlichkeit stehen in engem Zusammenhang mit der sogenannten Friedensdekade der Evangelischen<br />

Kirchen, die vom 6.-16.11.83 abgehalten wurde <strong>und</strong> in deren Verlauf täglich in der Zeit von 18.00 - 18.30<br />

Uhr ein Friedensgebet in der Leipziger Nikolai-Kirche durchgeführt wurde.<br />

Erstmals wurde eine derartige Ansammlung von Jugendlichen/Jungerwachsenen am 5.12.83 gegen 18.15<br />

Uhr auf dem Markt am Alten Rathaus festgestellt. R<strong>und</strong> 50 Personen setzten sich im Kreis auf den Platz<br />

<strong>und</strong> zündeten Kerzen an. Durch die schnelle Auflösung der Ansammlung konnten nur 12 Personen durch<br />

63 Die Jenaer Friedensgruppen haben aufgr<strong>und</strong> ihrer besonders effektiven Öffentlichkeitsarbeit <strong>und</strong> Orientierung auf<br />

innergesellschaftliche Gr<strong>und</strong>probleme (MfS <strong>und</strong> Mauer) 1981-83 zu einer deutlichen Verunsicherung des Staates<br />

geführt. Am 24.11. fand ein Gespräch zwischen Stadtrat Sabatowska <strong>und</strong> den Superintendenten statt, bei dem<br />

Sabatowska behauptete, daß hinter der „Aktion sowohl arbeitsscheue <strong>und</strong> kriminelle Elemente als auch<br />

systemfeindliche aus dem Bereich Jena <strong>und</strong> Berlin stünden“ (so Bericht J. Richter, in:<br />

Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 210).<br />

64 C. Wonneberger war u.a. aufgr<strong>und</strong> des Aufrufs zum „Sozialen Friedensdienst“ zu einem vom Staat besonders<br />

gefürchteten Pfarrer geworden.<br />

55


eintreffende Kräfte der VP namentlich festgestellt werden. Bereits am 7.11.83 fanden sich in der Zeit von<br />

18.45 Uhr bis 18.55 Uhr erneut r<strong>und</strong> 30 Personen im Alter zwischen 15 <strong>und</strong> 21 Jahren am Markt mit<br />

brennenden Kerzen ein, 20 Personen konnten namentlich festgestellt werden. Darunter befand sich die<br />

Tochter des [... geschwärzt] der Landeskirche Sachsen, [... geschwärzt] sowie die Person [... geschwärzt]<br />

der Verbindung zur „Initiativgruppe Nikaragua“ hat.<br />

Am 9.11.83 wurden am Gedenkstein für die ehemalige Jüdische Synagoge in der Gottschedstraße<br />

insgesamt 32 Personen namentlich festgestellt, die im Zusammenhang mit dem Jahrestag der<br />

„Kristallnacht“ an dieser Stelle Kerzen entzündeten. Die Personen waren zu unterschiedlichen Zeiten<br />

(erste Gruppe 18.00 Uhr, zweite Gruppe 18.55 Uhr) festgestellt worden.<br />

Ein weiteres Ereignis dieser Art war am 12.11.83 festzustellen, daß anläßlich der Ökumenischen<br />

Begegnungstage65 zahlreiche kirchenleitende Personen des In- <strong>und</strong> Auslandes sowie die Vertreter<br />

westlicher Massenmedien in Leipzig weilten. Bereits kurz vor 18.00 Uhr bildeten r<strong>und</strong> 30 Personen einen<br />

Kreis auf dem Markt <strong>und</strong> zündeten Kerzen an. Durch eingesetzte gesellschaftliche Kräfte66 <strong>und</strong> DVP<br />

wurde die Ansammlung aufgelöst, die Beteiligten begaben sich zum überwiegenden Teil zur<br />

Nikolaikirche, um an dem „Friedensgebet“ teilzunehmen. Nach dessen Abschluß versuchten wiederum ca.<br />

30 Personen zum Markt zu gelangen <strong>und</strong> dort Kerzen anzuzünden67 . Sie konnten durch eingesetzte Kräfte<br />

daran gehindert werden, 11 Personen wurden zum VPKA zugeführt. Sie hatten sich der polizeilichen<br />

Aufforderung nach Auflösung der Ansammlung widersetzt. Dazu gehörte auch der Diakon der<br />

Thomaskirche, [... geschwärzt], der aktiv in der Initiativgruppe „Hoffnung Nikaragua“ mitarbeitet sowie<br />

die freischaffende Philosophin [... geschwärzt], die bereits im Oktober durch einen inoffiziellen Hinweis<br />

der BV Dresden im Zusammenhang mit einer geplanten Provokation durch negativ-feindliche Kräfte mit<br />

kirchlichen Bindungen bekannt wurde. Diese Provokationen sollten am Nationalfeiertag in Leipzig<br />

durchgeführt werden, indem Teile der Verfassung der DDR symbolisch „zu Grabe getragen werden<br />

sollten.“ Bei der Auflösung der Ansammlung auf dem Markt am 12.11.83 geriet der in Leipzig weilende<br />

Korrespondent der „Frankfurter R<strong>und</strong>schau“, [... geschwärzt] in die Kontrollmaßnahmen der VP. Die<br />

ökumenischen Begegnungstage wurden von dem Vorfall nicht negativ beeinflußt 68.<br />

Unmittelbar nach dem Ereignis vom 5.11.83 wurde durch abgestimmte Maßnahmen des<br />

Zusammenwirkens mit den zuständigen Organen direkter Einfluß auf die Superintendenten genommen,<br />

damit diese in die Disziplinierung der negativ-feindlichen Kräfte einbezogen werden. Beide Leipziger<br />

Superintendenten <strong>und</strong> auch andere Amtsträger ließen in den folgenden Tagen das intensive Bemühen<br />

erkennen, eine weitere Belastung des Verhältnisses Staat-Kirche nicht zuzulassen <strong>und</strong> Störungen der<br />

öffentlichen Ordnung nicht zu dulden.<br />

Diese Bemühungen der Superintendenten wurden jedoch durch [... geschwärzt] <strong>und</strong> [... geschwärzt] nicht<br />

65 Die Ökumenischen Begegnungstage waren Teil der Feierlichkeiten anläßlich des 500. Geburtstages M. Luthers<br />

<strong>und</strong> fanden vom 10.-13.11.1983 in Leipzig im Anschluß an den Feiern in Eisleben statt.<br />

66 Zu „gesellschaftlichen Kräften“ s. Anhang S. 359<br />

67 Der Leiter der „Informationsgruppe“ zu den „Ökumenischen Begegnungstagen“ A. Müller berichtete in seinem<br />

Tagesrapport: „Nach Beendigung des Friedensgebetes zündeten Jugendliche in der Kirche <strong>und</strong> im Vorraum der<br />

Kirche Kerzen an. Auf Betreiben eines harten Kerns (Gammler) wurden die Jugendlichen angehalten <strong>und</strong><br />

ermutigt, mit den brennenden Kerzen in die Öffentlichkeit in Form einer Gruppierung in Richtung Markt zu<br />

gehen.“ (StAL BT/RdB 20707) Teile der b<strong>und</strong>esdeutschen Friedensbewegung hatte im Herbst 1983 ohne Plakate<br />

<strong>und</strong> Transparente, jedoch mit Kerzen <strong>und</strong> Kreuzen für Abrüstungen demonstriert, um ihre Gewaltfreiheit zu<br />

dokumentieren (z.B. Friedenskreuzzug in München am 16./17.11.1983).<br />

68 Im Abschlußbericht des Sekretariats der SED-BL zu den „Ökumenischen Begegnungstagen“ hieß es: „Nachdem<br />

die Mehrzahl der Veranstaltungen bereits in korrekter Weise abgelaufen war, versuchten bekannte negative<br />

Kräfte durch provokative Handlungen (in Gegenwart von Vertretern der Westpresse) den guten Gesamteindruck<br />

zu stören. (Versuch einer Demonstration von ca. 50 Personen) Diese Aktion hatte keine Wirkung auf den<br />

Gesamtverlauf der 'Ökumenischen Begegnungstagen' <strong>und</strong> fand keinen Widerhall in der Öffentlichkeit.“ (Vorlage<br />

für das Sekr. der SED-BL vom 16.11.1983 - StAL SED IV E-2/3/106) In der Rede der SED-SL am 13.12.1983<br />

sagte jedoch der SED-Sekr. Müller: „Wir wenden uns aber gegen solche, wie die kleine Gruppe der Naiven <strong>und</strong><br />

ihrer Inspiratoren, die denken, sie könnten mit einer Kerze den Frieden sichern, anstatt unsere sozialistische<br />

Heimat durch ergebnisreiche, fleißige Arbeit zu stärken.“ (StAL SED IV E-5/01/058)<br />

56


in der erforderlichen Weise unterstützt, das Auftreten beider Personen in „Friedensgebeten“ sei nach<br />

Einschätzung der Superintendenten angetan gewesen, vorhandene Emotionen der Jugendlichen „noch<br />

anzuheizen“. Inoffizielle Quellen bestätigen dies in ihren Berichten zu einzelnen Veranstaltungen der<br />

Friedensdekade. Inoffiziell wurde bekannt, daß eine Reihe Jugendlicher eine weitere Zusammenrottung<br />

mit brennenden Kerzen für den 18.11.83 zur Eröffnung der Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche [kurz Dok-<br />

Woche] am „Capitol“ planten. Dieses Vorhaben wurde mit einem am 18.11.83 an den Veranstalter der<br />

Dok-Woche gerichteten Brief bestätigt69 , der als Durchschlag der Abt. Inneres beim Rat der Stadt <strong>und</strong><br />

beiden Superintendenten übermittelt wurde.<br />

Verfasser dieses Briefes sind [... geschwärzt (A. Rothe, M. Lösche, B. Weismann, H.-F. Fischer, K. Hinze,<br />

H.-J. Döring)]. Sie motivierten ihren Brief damit, daß „sie es nicht verantworten können, den Dingen ihren<br />

Lauf zu lassen, weil sie Angst haben müssen, daß den Jugendlichen mit unangemessener Härte begegnet<br />

wird.“ Deshalb boten sie ein stündliches Friedensgebet in der Nikolaikirche an. Beide Superintendenten<br />

sprachen den Unterzeichnern des Briefes die Kompetenz ab, im Namen der „kirchlichen Mitarbeiter“ zu<br />

sprechen, wie das im Brief erfolgte.<br />

Am 18.11.83 versammelten sich gegen 19.07 Uhr r<strong>und</strong> 25 Personen an der Filmbühne „Capitol“ <strong>und</strong><br />

versuchten, einen Kreis zu bilden <strong>und</strong> Kerzen anzuzünden. Insgesamt wurden 17 Personen zugeführt, die<br />

Ansammlung war gegen 19.15 Uhr aufgelöst. Unter den Zugeführten befanden sich vier Mitglieder der<br />

„Initiativgruppe Hoffnung Nikaragua“, zwei Töchter des [... geschwärzt] zwei rechtswidrig Ersuchende<br />

<strong>und</strong> Personen mit anderen operativ-interessanten Merkmalen.<br />

Im Ergebnis der durchgeführten Befragungen wurden gegen sieben Personen Ermittlungsverfahren mit<br />

Haft gemäß Paragraph 217 StGB eingeleitet:<br />

− [... geschwärzt 70]<br />

(RE, Punker-Anhänger) - erf. f. KD Stadt<br />

− [... geschwärzt] (RE, SOFD), OPK „Platz“ - KD Stadt<br />

− [... geschwärzt] - erf. f. BV Berlin, Abt. XX/7<br />

− [... geschwärzt] - OPK „Platz“ - KD Stadt<br />

− [... geschwärzt] (Punker) OPK „Stern“ - KD Stadt<br />

− [... geschwärzt] - erf. f. BV Halle [... geschwärzt]<br />

Gegen die [... geschwärzt] wurde ein EV ohne Haft eingeleitet.<br />

Im Zusammenhang mit dem Vorkommnis am 18.11.83 ist folgender Zwischenfall am 20.11.83 im<br />

Abendgottesdienst in der Thomaskirche zu sehen: Als der an der Gestaltung des Gottesdienstes beteiligte<br />

[... geschwärzt] die Fürbitte sprechen wollte, kamen zwei Jugendliche (Punker) mit brennenden Kerzen in<br />

der Hand durch das Kirchenschiff gelaufen. Da [... geschwärzt] eine abwartende Haltung einnahm,<br />

konnten sie sich das Mikrofon nehmen; danach brachten sie sinngemäß zum Ausdruck: „Während ihr hier<br />

vom lieben Gott redet, werden junge Leute auf der Straße wegen ihres Friedensbekenntnisses von<br />

Staatssicherheit <strong>und</strong> Polizei verfolgt, inhaftiert <strong>und</strong> gefoltert. Sie werden 26 St<strong>und</strong>en <strong>und</strong> länger durch die<br />

Staatssicherheit festgehalten“. Dieser Vorfall erregte bei den anwesenden Gläubigen starkes Mißfallen.<br />

[... Es folgen Berichte über b<strong>und</strong>esdeutsche Initiativen, die die DDR-Opposition im Raum Leipzigs<br />

unterstützten, Berichte zu einzelnen OVs <strong>und</strong> zum Beispiel der Hochschulgruppe der PLO an der<br />

Leipziger Universität (S. 8-21)]<br />

3.7. Sicherungsbereich Kirche/Religionsgemeinschaften<br />

[...]<br />

Im Zeitraum vom 6.-16. November 1983 wurde die sogenannte Friedensdekade der Evangelischen<br />

Kirchen der DDR unter dem Thema „Frieden schaffen aus der Kraft der Schwachen“ durchgeführt. Zum<br />

Verlauf der „Friedensdekade 1983“ wird durch interne <strong>und</strong> auch offizielle Quellen übereinstimmend<br />

eingeschätzt, daß kirchenleitende Personen bestrebt waren,<br />

− die vielfältigen Luther-Ehrungen in der DDR für Aktivitäten gegen die Militär-, Sicherheits- <strong>und</strong><br />

Bildungspolitik auszunutzen <strong>und</strong> die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR auch international zu<br />

69 s. Dok. 14, Anlage 2<br />

70 Inhaftiert wurden wegen ihrer Teilnahme an den Kerzendemonstrationen: Olaf Schubert, Bernd Starcke, Anke<br />

Castillo, Klaus Fiedler, Sven Wetzig <strong>und</strong> Bettina Münzberg (s. Amnesty International (1992), 59 <strong>und</strong> Spiegel Nr.<br />

49/1983, 52).<br />

57


diskreditieren, wobei jedoch die zentralen Veranstaltungen der „Ökumenischen Begegnungstage“ auch<br />

kirchlicherseits als Erfolg anerkannt wurden;<br />

− Keine Verantwortung für provokativ-demonstrative Handlungen feindlich-negativ beeinflußter<br />

Jugendlicher <strong>und</strong> Jungerwachsener im Anschluß oder vor Beginn der Friedensgebete zu übernehmen<br />

<strong>und</strong><br />

− im Ergebnis unmißverständlicher Warnungen staatlicherseits erkennen ließen, daß ihnen nicht an einer<br />

offenen Konfrontation mit den Staatsorganen gelegen ist.<br />

In der Stadt Leipzig <strong>und</strong> in den Kreisgebieten kam es zu vielfältigen Aktivitäten, insbesondere in Form<br />

von jugendspezifischen Veranstaltungen, Gottesdiensten, Ausstellungen <strong>und</strong> „Friedensminuten“-<br />

Glockengeläut, wovon ein Teil - neben ohnehin vielfach pseudopazifistischen Äußerungen <strong>und</strong><br />

Bek<strong>und</strong>ungen - durch versteckte <strong>und</strong> auch offene Angriffe gegen einzelne Seiten der sozialistischen<br />

Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung, speziell die Militär-, Sicherheits- <strong>und</strong> Bildungspolitik der DDR<br />

gekennzeichnet war.<br />

Besonders hervorzuhebende Veranstaltungen mit negativen Akzenten sind: [... Kurzberichte über vier<br />

Veranstaltungen]<br />

Abschluß <strong>und</strong> Höhepunkt zahlreicher kirchlicher Veranstaltungen im Bezirk während der<br />

„Friedensdekade 1983“ bildete der sog. Friedensgottesdienst in der Nikolaikirche am 16.11.83, 19.40 Uhr<br />

bis gegen 21.30 Uhr, in dem [... geschwärzt] /Dresden die Predigt hielt <strong>und</strong> an welchem neben kirchlichen<br />

Amtsträgern <strong>und</strong> Mitarbeitern ca. 1300 Jugendliche <strong>und</strong> Jungerwachsene teilnahmen. [/] Dieser<br />

Gottesdienst machte von Anbeginn deutlich, einerseits das Befolgen der den [... geschwärzt] <strong>und</strong> [...<br />

geschwärzt] in mehreren Aussprachen durch den Stellvertreter für Inneres des Rates des Bezirkes,<br />

Genossen Dr. Reitmann, <strong>und</strong> den Stellvertreter des OBM für Inneres, Genossen Sabatowska, mit<br />

Nachdruck erteilten Auflagen zur unbedingten Gewährleistung der öffentlichen Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit<br />

im Zusammenhang mit dieser Abschlußveranstaltung; andererseits Versuche, diese Auflagen zur<br />

emotionalen Aufheizung von Teilnehmern zu nutzen sowie den beachtlichen Grad von Manipuliertheit<br />

derselben <strong>und</strong> deren offenk<strong>und</strong>ige Bereitschaft zu weiteren mannigfaltigen Aktivitäten im Sinne der von<br />

feindlichen Zentren <strong>und</strong> Kräften gelenkten <strong>und</strong> ihnen hörigen kirchlichen Amtsträgern realisierten<br />

politisch-ideologischen Diversion. [/] Auf eine Mitteilung, daß die ‘heutige Kollekte für die Leute bzw.<br />

deren Angehörige bestimmt ist, die wegen ihres Einsatzes für den Frieden in Schwierigkeiten geraten<br />

sind’ wurde mit Beifall reagiert. [/] Die von [... geschwärzt] gehaltene Predigt stand unter dem Thema<br />

„Ein Denkmal für den Frieden“ <strong>und</strong> enthielt keine offenen Angriffe gegen die sozialistische Staats- <strong>und</strong><br />

Gesellschaftsordnung. [/] Nach dieser Predigt wurden ‘Fürbitten’ gesprochen, in denen sich die<br />

gegenwärtigen Angriffsrichtungen gegen unsere Militär-, Sicherheits- <strong>und</strong> Bildungspolitik widerspiegeln:<br />

[/] „Wir bitten Dich, Herr, für alle in unserem Land, die sich für Gerechtigkeit <strong>und</strong> Abrüstung einsetzen<br />

<strong>und</strong> die keine Waffen mehr in die Hände nehmen. Besonders bitten wir dich, sich (hier wurde eine Reihe<br />

Namen genannt) anzunehmen, die deswegen inhaftiert worden sind. Auch bitten wir Dich für die, die den<br />

Wehrdienst mit der Waffe ableisten. Sei ihnen nah, daß sie nicht Schaden nehmen an Geist, Seele <strong>und</strong><br />

Leib!“ [/] „Wir bitten Dich für alle, die sich um den kleinen Frieden zu Hause <strong>und</strong> im täglichen Leben<br />

bemühen, für alle, die sich öffentlich als Christen zu erkennen geben <strong>und</strong> für alle, die das eine oder das<br />

andere nicht schaffen“. [/] „Wir bitten Dich für die Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen an den POS, EOS, Berufs-<br />

<strong>und</strong> Fachschulen, für die Studenten an den Hochschulen <strong>und</strong> Universitäten, daß Wehrerziehung, GST-<br />

Lager <strong>und</strong> Zivilverteidigung in ihnen nicht eine Ideologie der Gewalt hervorrufen. Gib ihnen Kraft, daß<br />

wir Spannungen in Familie, Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft gewaltfrei lösen.“ [/] „Wir bitten Dich für die<br />

Politiker in Ost <strong>und</strong> West, besonders auch für unsere Regierung, die sich für weniger Waffen abmühen.<br />

Laß sie nicht allein in ihren Sachzwängen. gib ihnen Phantasie, Einfallsreichtum <strong>und</strong> Fähigkeit zum<br />

Weiterverhandeln.“ [/] „Wir bitten Dich, daß keine neuen Raketen in der BRD stationiert <strong>und</strong> das<br />

vorhandene Raketenübergewicht in der Sowjetunion, wie angeboten, reduziert werden, damit die<br />

eingesparten Mittel zum Schutz der Umwelt eingesetzt werden, damit wir friedlich miteinander leben <strong>und</strong><br />

innere <strong>und</strong> äußere Nöte der Menschen beseitigt werden können. Bewahre uns vor Angst <strong>und</strong> laß uns die<br />

nötigen Schritte tun“.<br />

Unter den Anwesenden kursierte ein Text als ‘Anregung’ zu einer „Aktion Abrüstung von unten“, wobei<br />

auf den Abschluß sog. persönlicher Friedensverträge zwischen Bürgern aus Staaten des Warschauer<br />

58


Vertrages <strong>und</strong> der NATO orientiert wird 71 . Als Adressen für die Zusendung solcher Verträge wurden für<br />

Bürger des NSA ein [... geschwärzt], 4930 Detmold, <strong>und</strong> für DDR-Bürger die B<strong>und</strong>essynode 1040 Berlin,<br />

Auguststr. 80, genannt. [/] Abschließend betonte [... geschwärzt], daß er eine Mitteilung mit einem<br />

Wortspiel einleiten müsse, damit man es besser schlucken kann: [/] „Messer, Gabel, Schere, Licht [/] sind<br />

für kleine Kinder nicht“ [/] „Kerzen, Blumen <strong>und</strong> lila Tücher [/] sind nichts für Jugendliche“ [/] „Und nun<br />

im Klartext: Vor dem Gottesdienst ist uns eröffnet worden, daß es heute Abend nicht nur mit<br />

Aufschreiben abgeht. Wer heute Abend mit Kerzen, Blumen oder Lila Tüchern außen gesehen wird, der<br />

wird heute zur Kasse gebeten (Buh-Rufe, Pfiffe). Ihr habt es gehört <strong>und</strong> wißt, wo die Kerzen brennen<br />

können <strong>und</strong> dürfen. Man wird es draußen sehen, in unserer Nikolaikirche ist es licht. (Beifall)“ [/] Im<br />

Abschluß an diesen Friedensgottesdienst gab es keine öffentlichen Provokationen.<br />

Zur Gewährleistung eines die öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit nicht beeinträchtigenden Verlaufs aller<br />

kirchlichen Veranstaltungen zur „Friedensdekade 1983“ wurden sowohl in deren Vorbereitung als auch in<br />

der weiteren Folge durch verantwortliche Mitarbeiter der zuständigen örtlichen Staatsorgane verstärkt<br />

Aussprachen mit kirchenleitenden Personen <strong>und</strong> anderen Amtsträgern geführt. [/] Zum Auftreten [...<br />

geschwärzt Jugendpfarrer Gröger] während des Abschlußgottesdienstes am 16.11.83 vertrat<br />

Superintendent Magirius die gleiche Auffassung wie die staatlichen Organe. [... geschwärzt] hätte<br />

„unnötig die Emotionen der Jugendlichen geweckt.“ [/] Wenn er dies vorher gewußt hätte, hätte er die<br />

abschließenden Worte selbst gehalten. Er informierte, daß er zu dieser Problematik am 17.11.83 mit [...<br />

geschwärzt] ein persönliches Gespräch führen werde. (In seiner Predigt am 14.11.83 in der Nikolaikirche<br />

hatte Magirius zur Besonnenheit aufgerufen <strong>und</strong> dazu aufgefordert, mit brennenden Herzen statt mit<br />

brennenden Kerzen aus der Kirche zu gehen).<br />

Die Analysierung der von reaktionären kirchlichen Kräften im Zusammenhang mit der „Friedensdekade<br />

1983“ <strong>und</strong> in der Folgezeit entwickelten Aktivitäten bestätigt, daß einerseits weiterhin innerkirchliche<br />

Auseinandersetzungen mit extremen Provokationen inspirierenden <strong>und</strong> Vorschub leistenden Kräften im<br />

Gange sind <strong>und</strong> sich unter kirchlichen Amtsträgern wie auch Laien ein komplizierter<br />

Differenzierungsprozeß vollzieht, andererseits jedoch reaktionäre kirchliche Kräfte unvermindert<br />

zielstrebig alle sich ihnen bietenden Möglichkeiten <strong>und</strong> „Freiräume“ zur Verwirklichung ihrer subversiven<br />

Absichten zu nutzen versuchen, wobei Bestrebungen sichtbar werden, feindlich-negative Kräfte zu<br />

formieren <strong>und</strong> öffentlichkeitswirksam werden zu lassen.<br />

Am 25.11.83 kam es auf Ersuchen des [... geschwärzt] des Landeskirchenamtes Dresden, [... geschwärzt],<br />

zu einem Gespräch mit ihm durch den Stellvertreter für Inneres beim Rat des Bezirkes Leipzig, Genossen<br />

Dr. Reitmann, an welchem [... geschwärzt] teilnahm 72 . Im Verlauf dieses Gesprächs wurde den<br />

kirchenleitenden Personen eine Reihe Fakten dargelegt, welche eindeutig die konfrontativen Positionen<br />

verantwortlicher kirchlicher Amtsträger des Bezirkes Leipzig belegen. [... geschwärzt] war über diese<br />

Fakten schockiert <strong>und</strong> brachte zum Ausdruck, daß ihm klar sei, daß so etwas nicht geht. Bezüglich der<br />

Inhaftierten fragte er, ob es nicht einen Weg gäbe, diese Sache lautlos zu regeln. Er bat ausdrücklich<br />

darum, Milde walten zu lassen <strong>und</strong> nach Möglichkeit geringe Strafen auszusprechen bzw. überhaupt<br />

davon abzusehen.<br />

14 Staatlicher Ereignisbericht<br />

Auszug aus einer Information vom Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig (H.<br />

Reitmann, i.V. unleserlich) vom 12.12.1983 „zur Staatspolitik in Kirchenfragen“. Die Information trägt<br />

71 Die Idee der „persönlichen Friedensverträge“ ist verschieden gestaltet worden. Sie sollten zeichenhaft<br />

vorwegnehmen, was man von den Staaten erhoffte. Sie zeugten von dem Wunsch, etwas Verbindliches für den<br />

Frieden zu tun <strong>und</strong> dienten zuerst eigener Versicherung <strong>und</strong> der Kommunikation über die Mauer hinweg.<br />

Unterstützung fand diese Initiative u.a. von Bischof Scharf, R. Eppelmann, H. Falcke, DIE GRÜNEN. Der<br />

Naumburger Friedensarbeitskreis verbreitete 1983 einen Aufruf zu dieser „Abrüstung von unten“, der<br />

offensichtlich der Hintergr<strong>und</strong> dieser MfS-Information ist (vgl. Meckel/Gutzeit, 88-90 u. A. Schaller, Die<br />

Persönlichen Friedensverträge, in: Spuren).<br />

72 s. Dok. 12<br />

59


Bearbeitungsspuren <strong>und</strong> einen Eingangsstempel des Staatssekretärs für Kirchenfragen vom 14.12.1983<br />

(BArch O-4 1116).<br />

[...] Die Friedensdekade der Evangelischen Kirchen vom 6.-16.11.83 zeigte in den Kirchen des Bezirkes<br />

Leipzig durchweg Veranstaltungen mit pazifistischen Tendenzen sowie Verhaltensorientierungen für die<br />

Gläubigen anhand des Evangeliums, wobei besonders die Bergpredigt im Mittelpunkt stand.<br />

Provokatorische Ausfälle <strong>und</strong> destruktive Äußerungen in den Veranstaltungen gab es überwiegend in der<br />

Stadt Leipzig durch die geistlichen Pfarrer Rothe, Michaelis, Pfarrer Meckert, Marienkirche, Pfarrer<br />

Führer, Pfarrer Gröger sowie durch den Katholischen Kaplan Dietrich von der Dominikaner-<br />

Niederlassung <strong>und</strong> Pfarrkirche St. Albert Leipzig (siehe Anlage 1).<br />

Der Prozeß der Zurückdrängung der negativen <strong>und</strong> feindlichen Verhaltensweisen stellte einen absoluten<br />

Schwerpunkt in der Gesprächstätigkeit mit den Kirchlichen Amtsträgern dar. [/] Im Verlauf der Gespräche<br />

mit den Superintendenten Richter <strong>und</strong> Magirius im Vorfeld <strong>und</strong> während der Friedensdekade wurden<br />

diese auf die Wahrnehmung ihrer persönlichen Verantwortung zur Einflußnahme auf konkret benannte<br />

Pfarrer ihrer Ephorie hingewiesen73 . Zur Zurückdrängung gesetzwidriger öffentlichkeitswirksamer<br />

Verhaltensweisen (§ 217 StGB74 ) <strong>und</strong> das demonstrative Abbrennen von Kerzen auf konfessionell<br />

geb<strong>und</strong>enen Jugendlichen, nahm nach entsprechender Einflußnahme durch die staatlichen Organe<br />

Superintendent Magirius am 13. <strong>und</strong> 14.11.83 während des Friedensgebetes in der Nikolaikirche Leipzig<br />

seine Verantwortung wahr, indem er gegen o.g. Handlungsweise in der Öffentlichkeit als Symbolhandlung<br />

<strong>und</strong> Zusammenrottung auftrat.<br />

In einem Schreiben, datiert vom 18.11.83 wandten sich hauptamtliche Vertreter der kirchlichen<br />

Jugendarbeit in provokatorischer Weise an das Präsidium der 26. Internationalen Dokumentar- <strong>und</strong><br />

Kurzfilmwoche (siehe Anlage 2). Dieses Schriftstück ist inhaltlich eine Verletzung gr<strong>und</strong>sätzlicher<br />

Prinzipien des Verhältnisses von Staat <strong>und</strong> Kirche <strong>und</strong> verleumdet die gesetzlich gesicherten<br />

Verhaltensweisen der Sicherheitsorgane bei entsprechender strafrechtlicher Relevanz gegen Personen <strong>und</strong><br />

Gruppen einzuschreiten. Bei Konfrontation dieses Sachverhaltes an die Superintendenten der Stadt<br />

Leipzig stellten sich diese vor die Unterzeichner o.g. Schriftstückes 75.<br />

[...]<br />

[gez.] Dr. Reitmann<br />

Anlage 1:<br />

Friedensgottesdienst in der Nikolaikirche Leipzig 16.11.83<br />

In der Begrüßung wies Pfarrer Führer darauf hin, daß die Kollekte für die bestimmt sei, die sich für den<br />

Frieden eingesetzt haben <strong>und</strong> jetzt materielle Not leiden. „Ihr versteht mich schon“. Zum Abschluß dieses<br />

Gottesdienstes formulierte Pfarrer Gröger: „Messer, Schere, Licht, Gabel ist nicht für kleine Kinder,<br />

Blumen, Lila Tücher, Kerzen sind nichts für Jugendliche. Es sei wahrscheinlich gewollt, daß man sich als<br />

graues unscheinbares Mäuschen in der Öffentlichkeit bewegen soll. Hier in der Kirche <strong>und</strong> in der<br />

Wohnung ist das Kerzen anzünden aber noch möglich.“<br />

Jugendgottesdienst, Michaeliskirche Leipzig 13.11.83<br />

Pfarrer Rothe: „Die Zeit des Schweigens ist vorbei. Zwischen Kirche <strong>und</strong> Staat ist es nicht zu einem<br />

Burgfrieden gekommen, das Verhältnis hat eine Zuspitzung erfahren. Es sei das Verdienst des<br />

Landesbischof Dr. Hempel, daß man jetzt offensiver auftreten könne.“<br />

Friedensgottesdienst, Versöhnungskirche Gohlis 13.11.83<br />

Kaplan Dietrich von der Dominikaner-Niederlassung <strong>und</strong> Pfarrkirche St. Albert formulierte: „Die<br />

Mächtigen der Welt dulden keine Meinung neben der ihren. Auch in unserem Leben ist das so. Daß jeder<br />

Jugendliche in der DDR einen Lehrberuf hat, entspricht nicht der Wahrheit. Die Ausübung der Lehre wird<br />

an Bedingungen geknüpft, die mit unserem Gewissen nicht immer vereinbar sind. Lehrverträge werden<br />

nur dann abgeschlossen, wenn der Jugendliche an der vormilitärischen Ausbildung teilnimmt. Bei<br />

Nichtteilnahme wird der Lehrvertrag gelöst, dies ist Berufsverbot. Die Eltern dieser Jugendlichen werden<br />

73 s. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 203-208<br />

74 s. Anm. 60<br />

75 vgl. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 209f.<br />

60


durch die Betriebe in Ausübung ihrer Gewissensfreiheit bedroht. Ich fühle mich zu schwach, den<br />

Jugendlichen zu sagen, daß sie den Waffendienst ablehnen <strong>und</strong> dafür auf den Beruf verzichten.“<br />

Gottesdienst Marienkirche 13.11.83<br />

Pfarrer Meckert: „Wie lange wollen wir uns gefallen lassen, daß man uns ein falsches Feindbild<br />

aufzwingt. Wir wissen alle, daß es falsch ist, aber wir wählen den bequemen Weg <strong>und</strong> schweigen dazu.<br />

Wir dulden, daß unter dem Deckmantel Frieden aufgerüstet wird, dabei wissen wir genau, jeder will nur<br />

der Stärkere sein. Wir dulden, daß Frieden mißbraucht wird“.<br />

[handschriftlich:] Anlage 2:<br />

Abschrift<br />

An das Präsidium der 26. Internationalen Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche 76<br />

Wir schätzen die bedeutsame lokale <strong>und</strong> internationale Rolle, welche die Dokumentar- <strong>und</strong><br />

Kurzfilmwoche im Hinblick auf die allgemeine Bewußtheit bleibenden Friedens <strong>und</strong> sozialer<br />

Gerechtigkeit wahrnimmt. Deshalb halten wir es für unsere Pflicht, Sie über Folgendes zu informieren:<br />

Auch in der DDR wächst unter vielfältigen gesellschaftlichen Gruppen die persönliche Betroffenheit <strong>und</strong><br />

Sorge darüber, daß der Frieden immer mehr gefährdet wird, namentlich durch die neue Stationierung<br />

nuklearer Massenvernichtungsmittel beiderseits auf deutschem Boden. Im Zusammenhang der jährlich<br />

stattfindenden Friedensdekade der Evangelischen Kirchen in der DDR haben zahlreiche Jugendliche das<br />

allabendliche Friedensgebet in der Nikolaikirche zu Leipzig mit brennenden Kerzen verlassen. Diese<br />

Hoffnungslichter sind von staatlichen Ordnungsorganen als provokativ mißverstanden <strong>und</strong> behandelt<br />

worden. Daraufhin hat sich auch unter kirchlichen Jugendlichen spontan die Idee gebildet, am Freitag,<br />

dem 18.11.83, still mit Kerzen vor dem Filmtheater „Capitol“ zu stehen, um so Öffentlichkeit<br />

herzustellen. Die kirchlichen Mitarbeiter - zu denen auch die Unterzeichnenden gehören - glauben aber, es<br />

nicht verantworten zu können, den Dingen ihren Lauf zu lassen, weil sie Angst haben müssen, daß den<br />

Jugendlichen mit unangemessener Härte begegnet wird. Sie bieten deshalb zur gleichen Zeit <strong>und</strong> als<br />

aktuelle Verlängerung der Friedensdekade, Treffpunkt <strong>und</strong> stündliches Friedensgebet in der Nikolaikirche<br />

an. Mit dieser Information denken wir sowohl dem Hoffnungszeichen der Jugendlichen als auch Ihnen als<br />

möglichen Adressaten gerecht zu werden.<br />

Leipzig, am 18.11.1983<br />

Verteiler:<br />

Präsidium der D.u.K. 1983 gez. Hinze<br />

Rat der Stadt Leipzig, Abt. Inn. gez. Weißmann [Weismann]<br />

Superintendent J. Richter gez. Döring<br />

Superintendent F. Magirius gez. Rothe<br />

gez. Fischer<br />

gez. Lösche 77<br />

15 Friedensgebetstexte<br />

Kopie des Textentwurfs von L. Stellmacher zum Friedensgebet am 19.12.1983. Typoskript (ABL H 55).<br />

Wir sind zum Friedensgebet zusammengekommen <strong>und</strong> sehen das als Möglichkeit zur Besinnung. Wir<br />

hoffen, daß Ihr einen Teil eurer Zweifel <strong>und</strong> Ängste hier abladen könnt.<br />

- Musik<br />

- Was für Vorstellungen hast du vom Frieden? (Packpapier, Filzer)<br />

− Musik<br />

− Beim Nachdenken über diese Frage ist uns aufgefallen, daß (auch) uns Begriffe eingefallen sind, die<br />

76 Westliche Cineasten bildeten ein Komitee, daß gegen die Inhaftierung am 18.11.1983 protestierten <strong>und</strong><br />

organisierten ein Debatte mit dem stellvertretenden DDR-Kulturminister H. Pehnert im Leipziger Hotel „Astoria“<br />

zu dieser Verhaftung (s. Spiegel 49/1983, 52).<br />

77 ursprünglich stand hier „Marten (?)“ oder „Merten (?)“. Dies wurde handschriftlich in „Lösche“ korrigiert.<br />

61


etwas verneint <strong>und</strong> abgelehnt haben.<br />

− Musik<br />

− Wir haben überlegt, ob: Keine Armee, keine Waffen - ist das automatisch Frieden?<br />

− Reicht es aus, nur abzulehnen <strong>und</strong> zu verneinen, meine Angst, Unmut <strong>und</strong> Opposition zu äußern?<br />

− Müßte es nicht noch einen Schritt weitergehen?<br />

− Sind wir so selbstkritisch, um zu erkennen, daß wir uns oft nicht friedlich verhalten?<br />

− Bemühen wir uns, verstanden zu werden?<br />

Bemühen wir uns, den anderen zu verstehen?<br />

− Wir haben nach Begriffen gesucht, die Bausteine zum Frieden sein können: Sehen, Arbeiten, Fragen,<br />

Bewahren, Verstehen, Entscheiden, Streiten, Handeln, Vertrauen, Fühlen, Kämpfen, Lachen, Hoffen,<br />

Denken, Wachen, Wagen, Hören, Urteilen, Reden, Lernen<br />

Es ist eine Fülle von Begriffen, so, wie sich auch Frieden auf verschiedene Weise realisieren läßt. [/]<br />

Aber doch gehören sie untrennbar zusammen. Erst im Ganzen schaffen sie Frieden. [/] Vieles von<br />

diesen Begriffen machen wir schon (teils bewußt, teils unbewußt), was uns fehlt (der Rest) muß noch<br />

gelernt werden. [/] Wir geben euch einen Begriff mit nach Hause, zum drüber Nachdenken <strong>und</strong> bitten<br />

Euch, dann mit anderen ins Gespräch zu kommen. [/] (Kollekte verkehrt - ihr kriegt was mit nach<br />

Hause)<br />

− Musik<br />

− Gebet: Vater unser [...]<br />

16 Friedensgebetstexte<br />

Text des Friedensgebetes vom 11.11.1984, welches von der AG „Friedensdienst“ während der<br />

Friedensdekade gestaltet wurde. Typoskript, die Namen der Sprecher wurden mit Hand eingefügt (ABL H<br />

55).<br />

Begrüßung (einleitende Worte zur Dekade <strong>und</strong> zum heutigen Abend):<br />

Schönen guten Abend!<br />

Herzlich willkommen zu dem ersten Friedensgebet der diesjährigen Friedensdekade, die ja heute<br />

begonnen hat. Bereits am ganzen Tag fand die Friedensproblematik in besonderer Weise Aufnahme in<br />

unseren Gottesdiensten. Aber nicht nur in unserem Land, sondern auch in anderen Ländern wird in diesen<br />

Tagen Friedensdekade gehalten. Wir wissen uns also in einem großen Kreis von Christen, die aufgr<strong>und</strong><br />

ihres Glaubens sich in dieser Zeit besonders für die Friedensproblematik engagieren.<br />

Hier in der Nikolaikirche findet wieder täglich ein Friedensgebet um 18.00 Uhr statt, das von den<br />

unterschiedlichsten kirchlichen Gruppen gestaltet wird. Wir werden also ein breites Spektrum von Leuten<br />

<strong>und</strong> von deren Arbeit kennenlernen können.<br />

Diesen Abend gestalten wir als Arbeitsgruppe Friedensdienst des Jugendpfarramtes aus.<br />

Das Thema für die gesamte Dekade lautet: „Leben gegen den Tod“. Ein sehr anspruchsvolles <strong>und</strong><br />

vor allem problembeladenes Thema. Dabei soll die Sintflutgeschichte aus dem ersten Buch der Bibel, in<br />

der es um Noah <strong>und</strong> die Arche geht, den Ernst der Situation <strong>und</strong> evtl. Hoffnungen aufzeigen.<br />

Der Text für heute ist der Beginn der Sintflutgeschichte. Dieser will uns den Ernst, ja besser den<br />

Todernst unserer Lage vor Augen führen.<br />

Friedenslied (Brigitte [Moritz])<br />

Bibeltext 1. Mose 6,5+6 (Helmut N[itzsche])<br />

1. Sketch (Braunkohle) [der Text war den Herausgebern nicht verfügbar]<br />

Instrumentalmusik<br />

2. Sketch (Mutter <strong>und</strong> Sohn)<br />

S.: Mutti, kommst du mal bitte?<br />

M.: Ja, was ist denn?<br />

S.: Ich brauch’ dich hier, weil der Bagger sonst nicht arbeitet.<br />

Baggerst du bitte mal mein Auto voll?<br />

62


M.: Ach, weißt du, das geht jetzt nicht. Ich bin gerade von der Arbeit gekommen, muß noch im<br />

Haushalt was machen <strong>und</strong> hab noch so viel tun. Du mußt schon alleine spielen.<br />

S.: Ja, ja. Das sagst du so oft <strong>und</strong> niemand hat Zeit für mich!<br />

(40 Jahre später am Telefon)<br />

M.: Guten Tag, Junge.<br />

S.: Guten Tag Mutter, na wie geht es dir?<br />

M.: Na ja, nicht so besonders. Ich bin den ganzen Tag so allein hier. Raus kann ich nicht mehr groß<br />

<strong>und</strong> vorbei kommt auch fast niemand.<br />

S.: Ich denke, Frau Krause kommt dich öfters besuchen?<br />

M.: Auch immer seltener. Komm du doch mal wieder her, ich möchte so gern mit dir bißchen reden.<br />

S.: Ach, weißt du, das geht jetzt nicht. Ich bin gerade von der Arbeit gekommen, muß noch im<br />

Haushalt mithelfen <strong>und</strong> hab noch so viel zu tun. Du mußt schon alleine zurecht kommen.<br />

M.: Ja, ja. Das sagst du so oft <strong>und</strong> niemand hat Zeit für mich.<br />

Instrumentalmusik<br />

3. Sketch (Schießübung)<br />

Befehl: „Legt an! Feuer!“<br />

Schuß<br />

Warum schießen Sie?<br />

Ich bin Bürger eines hochindustrialisierten, demokratischen Staates <strong>und</strong> habe einen Eid geleistet, der<br />

mich zu unbedingtem <strong>und</strong> bedingungslosem Gehorsam verpflichtet.<br />

Sri Lanka - Befehl - Schuß<br />

Kennen Sie dieses Land?<br />

Nein, ich führe Befehle aus!<br />

Liechtenstein - Befehl - Schuß<br />

Haben Sie einen Fre<strong>und</strong> in diesem Land?<br />

Nein, ich führe Befehle aus!<br />

Herr X - Befehl - Schuß<br />

Kennen Sie diesen Menschen?<br />

Nein, ich führe Befehle aus!<br />

Frau Y - Befehl - Schuß<br />

Wissen Sie, ob Frau Y Kinder hat?<br />

Nein, ich führe Befehle aus!<br />

Ich - Befehl - Schuß<br />

(starr stehen bleiben, Musik)<br />

Instrumentalmusik<br />

Bibeltext 1. Mose 6, 5-7 (Helmut N.)<br />

Friedenslied (Brigitte)<br />

Gebet <strong>und</strong> Vaterunser (Helmut N.)<br />

Informationen (Paketaktion 78 u.a.) (Helmut N.)<br />

Lied „Verleih uns Frieden...“ 79<br />

17 Innerkirchliche Mitteilung<br />

Abschrift eines Briefes der Arbeitsgruppe „Frauen für den Frieden“ von Anfang Februar 1985 an den Sozialethischen<br />

Ausschuß der Sächsischen Landessynode 80 . Als Unterzeichnerinnen des Briefes werden genannt:<br />

G. Heide <strong>und</strong> U. Kämpf (ABL H 2).<br />

78 In diesem Gottesdienst wurde zu Paketsendungen an eine Äthiopische Hilfsorganisation <strong>und</strong> an Schwestern der<br />

Mutter Theresa aufgerufen. Wie aus einem R<strong>und</strong>brief des Jugendpfarramtes vom 14.02.1985 zu entnehmen ist,<br />

wurden daraufhin 19 Pakete aus Leipzig nach Äthiopien gesendet (ABL H 44/1).<br />

79 Nr. 139 im Evangelischen Kirchengesangbuch<br />

80 Eine Reaktion auf diesen Brief durch die Synode gab es nicht.<br />

63


Sehr verehrte Synodale!<br />

Wir möchten uns mit unserem Brief an Sie wenden, um Sie aus nächster Nähe mit den Problemen unseres<br />

Engagements für verständnisvolles Miteinander bei den Friedensbemühungen aller bekanntzumachen.<br />

Unsere Information hierbei stützt sich auf Erkenntnisse beim Besuch verschiedenster Foren zum Thema<br />

„Friedenspolitik“ 81 , des weiteren auf Erfahrungen bei der Arbeit mit unserem Friedenskreis <strong>und</strong> unseren<br />

kirchlichen übergeordneten Stellen. Zur Untermauerung unserer Meinung schicken wir Ihnen 3 Protokolle<br />

dieser Veranstaltungen als Anlage zum Brief mit. Wir haben diese Veranstaltungen besucht, um zu hören,<br />

was unser Staat zu Themen der Friedenspolitik sagt, die auch uns berühren. Besonders interessant war für<br />

uns, daß wir als Christen dabei nicht die Zielgruppe waren, dies war besonders beim Forum über<br />

Pazifismus zu bemerken. Die Auswahl der Referenten bestätigte die Wichtigkeit, die unser Staat diesen<br />

Bemühungen beimißt. Aus den drei Veranstaltungen ergeben sich folgende Schlußfolgerungen: Um es mit<br />

den Worten aller Vortragenden zu sagen, wir befinden uns in einer Situation verschärfter Widersprüche.<br />

Das zeigt sich in der Tatsache, daß wir in keinem der Foren mit unserer Ansicht der Probleme von Krieg<br />

<strong>und</strong> Frieden aus der Sicht der Bergpredigt ein Dialogpartner waren. Nachdem wir die ersten Fragen<br />

gestellt hatten <strong>und</strong> klar war, wo wir standen, wurden wir im ersten Forum zu Staatsfeinden abgestempelt,<br />

im zweiten Forum unausgesprochen zu armen Idealisten auf verlorenem Posten herabqualifiziert, <strong>und</strong><br />

beim Staatssekretär Gysi waren wir nur noch eine kleine Gruppe von Querulanten, die sich sowohl mit<br />

dem Staat als auch mit ihrer eigenen Kirche in Schwierigkeiten bringen. Dieser uns zugewiesene Standort<br />

(extrem, aggressiv, vereinzelt, mißverstanden) steht im krassen Widerspruch zu der Wichtigkeit der<br />

Problematik.<br />

Wir möchten mit diesen Protokollen darauf hinweisen, wie sich die politische Ideologie an der Basis<br />

darstellt <strong>und</strong> wie sie dort praktiziert wird. Wir haben die große Befürchtung, daß man mit kirchlichen<br />

Amtsträgern anders spricht <strong>und</strong> damit die Spaltung von der Basis erreicht. Wir kennen aus unserem<br />

Erleben in Theorie <strong>und</strong> Praxis, daß für unsere pazifistisch-christlichen Friedensbestrebungen weder<br />

Verständnis, Platz noch Achtung erbracht werden, man wendet sich gegen unsere Friedensideale. Deshalb<br />

können wir in keinster Weise von einem gewachsenen Gr<strong>und</strong>vertrauen reden 82.<br />

Nun möchten wir Ihnen einiges schildern, was wir innerkirchlich bei unserer Arbeit erlebt haben.<br />

Unsere Gruppe ist sehr spontan im Frühjahr 1984 entstanden. Da wir eine Gruppe sind, in der keine<br />

Amtsträger eine betreuende Funktion haben, was wir sehr bedauern, fanden wir beim Jugendpfarramt<br />

fre<strong>und</strong>liche Aufnahme. Nach kurzer Zeit trübte sich das Verhältnis <strong>und</strong> es wurde uns mitgeteilt, daß wir<br />

auf Gr<strong>und</strong> unseres Durchschnittalters (30) nicht mehr tragbar für das Jupfa sind. Wir hatten uns aber von<br />

Anfang an als Frauengruppe <strong>und</strong> nicht als Jugendgruppe zusammengef<strong>und</strong>en. Auf der Suche nach einem<br />

neuen Träger mußten wir sehr enttäuschende Erfahrungen machen. Wir mußten uns gegen ausgesprochene<br />

<strong>und</strong> unausgesprochene Vorwürfe wehren, z.B. daß wir keine Extremisten, sondern Christen sind. Alle<br />

Frauen der Gruppe sind katholische <strong>und</strong> evangelische Gemeindemitglieder... Was für eine Sorte Frauen<br />

möge sich dort wohl treffen, mag sich mancher kirchliche Würdenträger gefragt haben?!... Trotz unserer<br />

zahlreichen Bemühungen haben wir bis heute noch keinen Träger gef<strong>und</strong>en. Zurzeit sind wir Gast bei der<br />

Nikolaigemeinde, wofür wir sehr dankbar sind. Es ist für uns sehr schockierend, daß wir uns bei unserer<br />

Suche nach einem Träger wie ein Hausierer mit schlechter Ware vorkommen müssen. Durch all diese<br />

Schwierigkeiten beschränkt sich unsere Arbeit nur auf gruppeninterne Dinge, so daß schon von daher kein<br />

Anlaß zu irgendwelchen Äußerungen Anstoß besteht [sic!]. Es stellt sich somit für uns die Frage, ist allein<br />

die Tatsache, daß wir uns für Frieden engagieren wollen, etwas, was kirchlicherseits Anstoß erregt. Sollte<br />

die Aussage des Staatssekretärs Gysi stimmen, daß sich die Kräfte der kirchlichen Friedensarbeit bei der<br />

Auseinandersetzung mit dem Staat <strong>und</strong> der kirchlichen Obrigkeit verbrauchen? Unsere <strong>und</strong> die<br />

Erfahrungen anderer Friedensgruppen bei der Herausgabe von Informationen, bei der Vorbereitung von<br />

81 Foren zur Friedenspolitik waren Propagandaveranstaltungen, die die „Wehrbereitschaft“ in der Bevölkerung<br />

fördern sollten <strong>und</strong> der Nachwuchsgewinnung für militärische Berufe dienten.<br />

82 Die KKL hatte in ihrem Bericht vor der B<strong>und</strong>essynode in Greifswald (1984) von einem Gr<strong>und</strong>vertrauen zwischen<br />

Staat <strong>und</strong> Kirche gesprochen. Die Mehrheit der Synodalen teilten die Einschätzung jedoch nicht. Da Bischof<br />

Hempel sich als Vorsitzender des B<strong>und</strong>es hinter diese Formulierung stellte, wurde der Begriff zu einem Reizwort<br />

zwischen Kirchenleitung <strong>und</strong> Basis (s.a. R. Henkys, „Gr<strong>und</strong>vertrauen“ in: KiS 5/84, 7f.).<br />

64


Veranstaltungen etc. lassen uns befürchten, daß uns nicht mehr die volle Unterstützung der offiziellen<br />

Kirche bei der Friedensarbeit zuteil wird.<br />

18 Veranstaltungseinladung<br />

R<strong>und</strong>brief von J. Förster, C. Kelz, M. Lösche <strong>und</strong> U. Schreiber vom Sommer 1985 an die Leipziger<br />

Gemeinden, in dem zur Mitarbeit an den Friedensgebeten aufgerufen wurde. Der R<strong>und</strong>brief wurde mit<br />

Lizenznummer SLO 36/85/35 vervielfältigt (ABL H 35).<br />

Liebe Mitarbeiter!<br />

Am 2. September 1985 beginnt wieder regelmäßig jeden Montag um 17 Uhr das Friedensgebet in der<br />

Nikolaikirche. Wir bitten Sie ganz herzlich, in Ihrer Gemeinde dazu einzuladen <strong>und</strong> das kleine beigefügte<br />

Plakat gut sichtbar aufzuhängen 83 . Unser Friedensgebet ist bisher von verschiedenen Gemeinden <strong>und</strong><br />

Gruppen getragen <strong>und</strong> gestaltet worden. So soll es auch in Zukunft bleiben. Darum würden wir uns freuen,<br />

wenn Sie mit einer Gruppe aus Ihrer Gemeinde ein Friedensgebet übernehmen könnten. Denn das Gebet<br />

um den Frieden darf keine Angelegenheit von Experten werden, sondern soll seinen Platz in der Mitte<br />

unserer Stadt für alle beibehalten. Themen- <strong>und</strong> Terminvorschläge stimmen Sie bitte mit der Trägergruppe<br />

ab. Ihre Zusage übermitteln Sie bitte an die [/] Ev.-Luth. Superintendentur [/] Leipzig-Ost [/] 7010<br />

Leipzig, Nikolaikirchhof 3 [/] Tel. 28 11 80<br />

Joachim Förster, Christoph Kelz, Martin Lösche, Uwe Schreiber<br />

19 Staatlicher Ereignisbericht<br />

Auszug aus der Gesamteinschätzung des Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig,<br />

Arbeitsbereich Kirchenfragen, vom 22.11.1985 über die Friedensdekade 1985 in Leipzig. Die Information<br />

wurde am 25.11.1985 an den Staatssekretär für Kirchenfragen gesandt. Das Exemplar des Leiters des<br />

Referates XX/4 der BV des MfS, K. Conrad, wurde von Jakel unterzeichnet <strong>und</strong> trägt Bearbeitungsspuren<br />

(ABL H 53 auch: BA O-4 770).<br />

[...] Die Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung der Friedensdekade im Territorium des Bezirkes Leipzig durch<br />

die Kirchgemeinden beweist, daß eine rechtzeitige, kontinuierliche <strong>und</strong> konsequente Einflußnahme der<br />

staatlichen Organe zur ordnungsgemäßen Durchführung von Veranstaltungen verfassungsrechtlich<br />

gesicherter religiöser Belange <strong>und</strong> Artikulation eigenmotivierten kirchlichen Friedensengagements sich<br />

generell bewährt hat, öffentlich wirksame negative Vorkommnisse nicht aufgetreten sind. Es konnte<br />

wiederum festgestellt werden, daß die Teilnahme der Gläubigen an den Veranstaltungen der<br />

Friedensdekade eine rückläufige Tendenz aufweist. Die Ursachen für diese Einschätzung liegen u.a. darin<br />

begründet, daß bei der Erarbeitung des Vorbereitungsmaterials, welches den Kirchen als Richtlinie<br />

ausgegeben wurde, realistische Vertreter theologischen <strong>und</strong> politisch-progressiven Denkens die Linie<br />

bestimmen <strong>und</strong> eine Einordnung kirchlichen Friedenswirkens in zum Teil konstruktiven<br />

Friedensaktivitäten erreichen konnten. Mit dem Vorbereitungsmaterial konnte ohne politische Wertung,<br />

nur durch Gegenüberstellung objektiver Fakten der Nachweis für eine gerechte <strong>und</strong> kompromißlose<br />

Entwicklungshilfe der sozialistischen Staaten gegeben werden. Damit wurde gleichzeitig auch die<br />

Möglichkeit weitgehend verringert, subjektiven <strong>und</strong> negativen Interpretationen Freiräume zu verschaffen.<br />

Die Herausgabe kirchlicher Druckerzeugnisse zur Friedensdekade in Absprache mit zentralen staatlichen<br />

Dienststellen schränkte die Eigenanfertigung von Plakaten ein <strong>und</strong> ermöglichte eine Kontrolle darüber.<br />

83 Auf dem Plakat ist das Denkmal „Schwerter zu Pflugscharen“ skizziert. Darunter steht: „FRIEDENSGEBET.<br />

Montag, 17 Uhr in Nikolaikirche“ (s. Anm. 50). Daneben ist eine Grafik, die zwei stilisierte aufeinander<br />

gerichtete Panzer zeigt, zwischen denen das Wort „Frieden“ geschrieben wurde. Daneben <strong>und</strong> darunter wurde mit<br />

Hand der Text geschrieben: „Anstatt die Jungen Soldaten spielen zu lassen, sollte man die jungen Soldaten<br />

spielen lassen.“ Ein Text von S. Mrotzek, der in der DDR-Friedensbewegung öfter verwendet wurde (s. z.B.:<br />

Spiegel 27/1982, 51).<br />

65


Wiederum ist eine Reihe von Geistlichen aufgetreten, die sich in den mit ihnen geführten Gesprächen<br />

gegen ein „nur dekadenhaftes Friedensengagement“ wandte mit dem Argument, daß das gesamte Sinnen<br />

<strong>und</strong> Trachten eines evangelischen Geistlichen immer auf Frieden gerichtet ist (Pfarrer Haeffner, Leipzig,<br />

Pfarrer Schubert, Markkleeberg u.a.m.). Es konnte festgestellt werden, daß solche Positionen ebenfalls<br />

gegen spezielle ökologische Aktivitäten kirchlicher Kreise gerichtet werden, eine Dezidierung besonderer<br />

Aktivitäten durch gewisse kirchliche Kräfte von dieser Reihe der Geistlichen auch politisch abgelehnt<br />

wird. Durch die Gespräche mit kirchenleitenden Kräften, Amtsträgern <strong>und</strong> Geistlichen war zu erkennen,<br />

daß seitens der Kirchenleitungen versucht wird, auf die innerkirchliche Lage einzuwirken, um den<br />

erreichten Stand der Beziehungen von Staat <strong>und</strong> Kirche keinesfalls zu gefährden. Gleichfalls wurde aber<br />

auch deutlich, daß Auffassungen vorhanden sind, wo konfrontative Kräfte nicht erkannt werden bzw.<br />

deren Auftreten verharmlost wird.<br />

Der Verlauf der kirchlichen Veranstaltungen im Territorium des Bezirkes Leipzig zeigt, daß die<br />

inhaltliche Gestaltung der meisten Veranstaltungen ordnungsgemäß <strong>und</strong> ohne Vorkommnisse verlief; sich<br />

die Gemeinden überwiegend an die seitens des BEK gegebenen Impulse, Hinweise, Richtlinien <strong>und</strong><br />

Empfehlungen gehalten haben, negative politische Positionen nicht aufgekommen sind.<br />

Einige Aktivitäten kirchlicher Kräfte in der Stadt Leipzig müssen von dieser o.g. Einschätzung abgehoben<br />

werden <strong>und</strong> lassen sich in eine differenzierte Einschätzung zur Kräftepolarisierung innerhalb der Kirchen<br />

einordnen. Im Rahmen von Diskussionsr<strong>und</strong>en, Friedensabenden, Auftreten von Arbeitsgruppen,<br />

Seminaren, Symposien u.a. Aktivitäten in Kirchen der Stadt Leipzig wurde das gesamte Spektrum von<br />

neutralistischen, pazifistischen <strong>und</strong> auch gesellschaftsgefährdenden Stimmungen <strong>und</strong> Meinungen einiger<br />

Geistlicher, Jugendarbeiter <strong>und</strong> negativer Gruppierungen sichtbar, gleichzeitig aber auch die Tatsache, daß<br />

negative <strong>und</strong> staatsfeindliche Positionen von Besuchern der Veranstaltungen nicht unwidersprochen<br />

hingenommen werden.<br />

1. Am 13.11.1985 wurde dem Rat der Stadt Leipzig bekannt, daß in der Nikolaikirche ein Material<br />

ausliegt, wo „Frauen aus Ost <strong>und</strong> West an die Bürger Europas“ appellieren84 , u.a. gegen die<br />

Militarisierung der Gesellschaft aufzutreten <strong>und</strong> sich dagegen zu wenden, daß in Genf „über unsere<br />

Köpfe hinweg verhandelt wird“. Eine sofortige Rücksprache mit Sup. Richter ergab eine Distanzierung<br />

des Richter vom Inhalt des offenen Briefes, er verwies aber darauf, keine Maßnahmen einleiten zu<br />

können, da der zuständige Sup. Magirius auf Dienstreise in der BRD weilt, erst am 15.11. 1985<br />

zurückkomme. Am 15.11. 1985 äußerte Sup. Magirius sein Unverständnis <strong>und</strong> seinen Unwillen über<br />

das Anliegen des Staates <strong>und</strong> er erbat Bedenkzeit.<br />

Erst nach „dringender Bitte“ des OBM der Stadt Leipzig war er gewillt, das Material zu entfernen,<br />

gleichzeitig ersuchte er um ein Gespräch für sich <strong>und</strong> Sup. Richter beim OBM der Stadt Leipzig.<br />

2. In der Paul-Gerhardt-Kirche <strong>und</strong> der Nikolaikirche wurden Gesprächsr<strong>und</strong>en zur Friedenserziehung im<br />

Kindergarten durchgeführt <strong>und</strong> Aussagen gegen die staatliche Erziehungsarbeit durch die AG „Frauen<br />

für den Frieden“ initiiert:<br />

− gegen frühzeitige politische Erziehung im Kindergarten,<br />

− gegen positive Haltung zur NVA <strong>und</strong> der Partei,<br />

− Aufruf, Elternabende zu nutzen, gegen diese Erziehung aufzutreten.<br />

− man muß die Kinder dem staatlichen Einfluß entziehen, sie in den kirchlichen Kindergarten<br />

schicken, oder die Mütter sollten zuhause bleiben.<br />

(Diese Meinung ist durch Teilnehmer heftig widersprochen worden).<br />

3. Am 10.11.1985 wurde ein Symposium in der katholischen Kirche Leipzig-Grünau durchgeführt unter<br />

der Leitung des Kaplans Fischer, der wiederum an der Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung der<br />

Friedensdekade beteiligt war. Bei dieser Veranstaltung stand eine Argumentationshilfe „gegen die<br />

Sprache des Hasses“ im Mittelpunkt. (siehe Anlage)<br />

84 Einige Mitglieder der „Frauen für den Frieden“ hatten eine sogenannte Ost-West-Partnerschaft initiiert, d.h., sie<br />

arbeiteten mit Frauen aus Westdeutschland zusammen <strong>und</strong> trafen sich zu „Arbeitswochen“ auf dem Lande. Über<br />

diese Begegnungen berichteten sie auf einer Schautafel in der Nikolaikirche <strong>und</strong> riefen in einem Brief dazu auf,<br />

ähnliches selber zu machen. Eigentlich sollten auch ihre westdeutschen Fre<strong>und</strong>innen eine Andacht in der FD<br />

mitgestalten, doch ihnen wurde erklärt, daß dies nicht möglich sei.<br />

66


Im Präsidium saßen neben Kaplan Fischer ein ehemaliger Bausoldat <strong>und</strong> zwei ehemals Inhaftierte<br />

wegen Wehrdienstverweigerung.<br />

4. Pfarrer Wonneberger, Lukaskirche Leipzig, äußerte im Gottesdienst am 17.11.1985,<br />

− daß man sich nicht durch Lohnstreifen vom Staat kaufen lassen dürfe.<br />

− wir erfahren durch Behörden, Schulen <strong>und</strong> Betriebe sehr viel Unrecht.<br />

− als Christ müsse man oft auf die eigene Karriere verzichten.<br />

(Pfarrer Wonneberger ist auch Mitunterzeichner eines offenen Briefes, der zum<br />

Abschlußgottesdienst am 20.11.1985 in der Nikolaikirche verteilt wurde.)<br />

(Siehe Anlage)<br />

Gemessen an diesen negativen Beispielen <strong>und</strong> der angegebenen Position des Sup. Magirius zu dem in der<br />

Nikolaikirche ausgelegten Brief der Frauen, kann eingeschätzt werden, daß Sup. Magirius in der<br />

Vorbereitung der Friedensdekade seine Hauptverantwortung wahrgenommen hat. In der Zeit der<br />

Durchführung der Dekade auf Dienstreise in der BRD war, nach kurzem Aufenthalt in Leipzig in<br />

Budapest weilte <strong>und</strong> erst zum Abschlußgottesdienst wieder in Leipzig eintraf. Anknüpfend an die<br />

positiven Erfahrungen in der Arbeit mit Sup. Magirius sind differenzierte Maßnahmen durchzuführen, die<br />

Rolle <strong>und</strong> Funktion des Sup. Magirius zu erfassen <strong>und</strong> seine Positionen im Rahmen der Friedensdekade zu<br />

ermitteln.<br />

Am 19.11.1985 informierte Pfarrer Gröger in einem Gespräch mit den leitenden Mitarbeitern für<br />

Kirchenfragen des Rates der Stadt <strong>und</strong> des Bezirkes über die Gestaltung des Gottesdienstes am<br />

20.11.1985, wobei er anführte, daß der Abschlußgottesdienst in Form eines ökumenischen Gottesdienstes<br />

durchgeführt wird, wobei ein Großteil katholischer Jugendlicher teilnehmen werde. Der Gottesdienst<br />

werde durch die zweite Ebene verantwortet, also durch ihn <strong>und</strong> den Kaplan Gerlach (katholische St.<br />

Liebfrauengemeinde). [/] Siehe Anlage [/] (Verlauf des Gottesdienstes - Informationsbericht des<br />

Stadtbezirkes Mitte).<br />

Schlußfolgerungen:<br />

1. Die Einschätzung der Friedensdekade ist mit allen Stellvertretern Inneres <strong>und</strong> Mitarbeiter<br />

Kirchenfragen auszuwerten.<br />

2. Die negativen Vorkommnisse sind zu analysieren <strong>und</strong> in geeigneter Form den kirchenleitenden Kräften<br />

vorzubringen, um bekanntgewordene Konfrontationsstandpunkte zurückzudrängen.<br />

3. Zur Weiterführung der politisch-ideologischen Arbeit <strong>und</strong> zur Stabilisierung der innerkirchlichen Lage<br />

sind mit den bekanntgewordenen negativen Kräften Gr<strong>und</strong>satzgespräche zu führen. Hierzu ist es<br />

notwendig, progressive Geistliche <strong>und</strong> Laien zu mobilisieren, negative Personen innerkirchlich<br />

weitgehend zu isolieren. Dazu ist in der Berichterstattung Staatspolitik in Kirchenfragen regelmäßig zu<br />

informieren.<br />

4. In Zusammenarbeit mit der Abteilung Staat <strong>und</strong> Recht der SED-Bezirksleitung Leipzig sind die<br />

gegenwärtigen Einflüsse negativer Kräfte auf die Jugend zu analysieren <strong>und</strong> umfassende Mittel <strong>und</strong><br />

Methoden zur Zurückdrängung konfrontativer Personen <strong>und</strong> Gruppierungen festzulegen.<br />

[gez.] Jakel<br />

[Anlage 1] Abschrift<br />

gegen eine Sprache des Hasses - für eine friedliche Sprache<br />

Eine Argumentation - Hilfe für Eltern + Schüler, Erwachsene + Kinder; Lehrlinge + Studenten ...<br />

Bisher galt in der DDR der Gr<strong>und</strong>satz: „Friedliche Koexistenz zwischen Ost <strong>und</strong> West“ in Politik <strong>und</strong><br />

Wirtschaft: JA! „Friedliche Koexistenz“ in der geistigen (ideologischen) Auseinandersetzung: NEIN! [/]<br />

Wir meinen: die Verständigung zwischen den Völkern Europas, besonders zwischen den getrennten<br />

Deutschen fängt bei der fre<strong>und</strong>lichen <strong>und</strong> friedlichen Sprache an. [/] Wir sagen etwas gegen den<br />

ideologischen Haß, gegen die Verteufelung der sogenannten „imperialistischen Länder“. Wir sind für<br />

„ideologische Abrüstung!“<br />

Neuerdings haben wir einige Äußerungen des Generalsekretärs der KPdSU Michail Gorbatschow auf<br />

unserer Seite. Wir sollten dafür sorgen, daß sich die Ansichten Michail Gorbatschows auch auf unterster<br />

Ebene (Lehrer, Direktoren, Wandzeitungen, Reden im Betrieb etc.) herumsprechen <strong>und</strong> durchsetzen.<br />

Michail Gorbatschow: „.. leben <strong>und</strong> leben lassen. Wir nennen das friedliche Koexistenz“. (in:<br />

67


Times-Interview, ND vom 3.9.1985, S. 5) [/] „Geschimpfe kann einer guten Sache nicht helfen“. (ebd.) [/]<br />

„Wozu ohne Gr<strong>und</strong> die Muskeln spielen lassen, lärmende Shows inszenieren <strong>und</strong> die Methoden des<br />

internen politischen Kampfes auf die Beziehungen zwischen zwei Kernwaffenmächten übertragen? In<br />

ihnen ist die Sprache der Gewalt nutzlos <strong>und</strong> gefährlich“. (ebd.) [/] „... wir sind der Ansicht, daß man die<br />

Richtigkeit seiner Ideologie <strong>und</strong> die Vorzüge jener Ordnung, die jedes Volk nach eigenem Willen gewählt<br />

hat, nicht mit Waffengewalt, sondern einzig <strong>und</strong> allein durch die Kraft des Beispiels beweisen muß.“ (vor<br />

französischen Parlamentariern, ND vom 4.10.1985, S. 1) [/] „Ich denke, daß es in der gegenwärtigen<br />

Situation besonders wichtig ist, die ideologischen Differenzen nicht wie mittelalterliche Fanatiker auf die<br />

zwischenstaatlichen Beziehungen zu übertragen“. (ebd S. 2) [/] „Kein einziges Volk, kein einziger Staat<br />

ist imstande, die bestehenden Probleme im Alleingang zu lösen. Sich zusammenzuschließen aber<br />

verhindert das alte Gepäck der Uneinigkeit, der Konfrontation <strong>und</strong> des Mißtrauens ... [/] Wir alle sind<br />

Hüter des von den vorangegangenen Generationen überlieferten Feuers des Lebens“. (ebd.)<br />

[Anlage 2]<br />

VERZICHTSERKLÄRUNG<br />

Weil ich zu denen gehöre, die im Überfluß leben (<strong>und</strong> dadurch an Lebensintensität, -aktivität <strong>und</strong> -<br />

bewußtsein verloren haben), weil ich vom Elend vieler Menschen in der „3. Welt“ betroffen bin, weil ich<br />

weiß, daß ich allein niemals die Strukturen der Ungerechtigkeit zerstören kann, aber trotzdem das mir<br />

Mögliche tun muß<br />

− weil ich glaube, daß niemand auf dieser Erde das Recht hat, mehr zu beanspruchen als seine<br />

Mitmenschen<br />

− weil ich mich schuldig fühle als einer, der zu den Reichen gehört<br />

− weil ich mich dem Vorwurf, ein Mörder zu sein, so gut wie möglich entziehen will (Geht das<br />

überhaupt?)<br />

− weil ich es als meine Pflicht ansehe, zu helfen, wo ich helfen kann<br />

übernehme ich in der Hoffnung, nicht allein zu bleiben<br />

− weil ich weiß, daß ich allein schnell resignieren werde<br />

− weil ich ein Gefühl der Stärke brauche <strong>und</strong> durch Solidarität bekommen kann<br />

− weil nur wir zusammen Veränderungen im Bewußtsein <strong>und</strong> schließlich im Handeln in<br />

gesellschaftlichen Dimensionen erreichen)<br />

folgende Verpflichtungen. Ich erkläre mich bereit:<br />

− meinen Nahrungsmittelkonsum zu senken<br />

− fleischfreie Gerichte am Wochenende (nach 5 Kantinentagen)<br />

− Senken des Wurstverbrauchs um 50 %<br />

− Besuche von teuren Restaurants reduzieren<br />

− kein Einkauf in Delikatläden<br />

− Essen als notwendiger Energie- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsspender, nicht als Freizeitbeschäftigung<br />

− meinen Genußmittelkonsum zu senken<br />

− Senken des Zigarettenverbrauchs um 50 %<br />

− kein sinnloser Kaffee-, Schokoladen-, Wein-, Bierverbrauch<br />

(Überdenken der Gewohnheiten. Muß jedes Fest mit Alkohol abgesichert sein?)<br />

− auf eine kostenaufwendige Fassade zu verzichten<br />

− kein Einkauf in Exquisitläden<br />

− kein Kauf von Textilien, weil sie gerade „modern“ sind.<br />

Kauf, wenn sie zum Tragen benötigt werden (Wer ohne größere Abwechslung seiner Kleidung nicht<br />

auskommt, muß nicht sofort in den Laden rennen, sondern kann sich selbst neue bauen, alte umbauen,<br />

von <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n die Kleiderschränke mitnutzen ...)<br />

Waschen statt Deo, Verzicht auf die Chemodüfte von Luxusseifen <strong>und</strong> Weichspülern, kein Spray<br />

(Öko-Gruppen haben verschiedene Hefte über alternative Düfte, Reinigungsmittel usw.<br />

herausgegeben)<br />

− Verzicht auf teure Frisuren, teuren Schmuck<br />

68


− meinen Wasser-, Energie-, Rohstoffverbrauch zu senken<br />

− kollektive Ausnutzung von Waschmaschinen<br />

− Duschen statt Baden<br />

− in Stadtzentren zur Benutzung von Nahverkehrsmitteln, Fahrrad<br />

− Ausnutzung der vollen Kapazität von Autos (Mitnehmen von Trampern)<br />

− kein Wegwerfen von: Altstoffen, Altpapier, Verpackungsmaterialien aus Plaste, Metall<br />

− Bücher ausleihen statt Kaufen. (Logisch, daß es Bücher gibt, die man „besitzen“ muß ...)<br />

− 10% meines monatlichen Einkommens als Spende abzugeben<br />

[(] 10% sind durch Einhaltung des Katalogs geschätzte Einsparungen)<br />

− mich regelmäßig über die Situation in der sog. 3. Welt zu informieren (an Informationsmöglichkeiten<br />

mangelt es nicht).<br />

− die Ideen dieses Katalogs in meinem persönlichen Umfeld (Familie, <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>, Arbeitskollegen) zu<br />

verbreiten.<br />

Das aus meinem „Verzicht“ gewonnene Geld überweise ich an ein ganz bestimmtes Projekt in einem<br />

Land der sog. 3. Welt.<br />

(Andere Möglichkeiten:<br />

− Unterstützung von Studenten, Lehrlingen u.a. aus diesen Ländern, die in unserem Land leben<br />

− Überweisung des Geldes auf große Konten AfH [Arbeitsgemeinschaft für die Hungernden],<br />

INKOTA z.B.<br />

− Unterstützung der „3.-Welt-Arbeit“ in der DDR.<br />

[Anlage 3]<br />

Friedensdekade - Nikolaikirche am 20.11.1985 (Abschlußveranstaltung)<br />

Zeit: 19.30 - 21.30 Uhr<br />

Teiln.: ca. 800 Personen<br />

davon 95% Jugendliche<br />

Äußerer Rahmen: Kirche war bunt geschmückt<br />

eine Beatgruppe (die Gruppe Freilauf aus Halle) lieferte musikalische Umrahmung<br />

Ein Pfarrer der Jugendkirche begrüßte alle Anwesenden der unterschiedlichen Glaubensrichtungen sehr<br />

herzlich. [/] „genauso herzlich begrüße ich die Vertreter des Staates hier in unserem Hause“.<br />

−<br />

Daraufhin applaudierten <strong>und</strong> lachten die versammelten Jugendlichen.<br />

Er führte kurz aus, daß sie gemeinsam mit der katholischen Gemeinde die Veranstaltung vorbereitet haben<br />

<strong>und</strong> begrüßte einen Kaplan. [/] Ich möchte allen Anwesenden die herzlichen Grüße des Westberliner<br />

Altbischofs Dr. Scharf überbringen, der heute zu uns sprechen wollte, aber leider von den Behörden<br />

unseres Staates keine Einreise erhielt85 . [/] Ich hoffe, daß Ihr unser Programm nicht als Ersatz dafür<br />

anseht.<br />

− Die Jugendlichen reagierten nicht darauf.<br />

− Zu Beginn gab der Pfarrer (wahrscheinlich Pfarrer Führer) den Jugendlichen ein Wort zum<br />

Nachdenken:<br />

„Die alte Generation hat alles falsch gemacht, mit dieser Jugend heute ist kein Krieg zu gewinnen“ - na<br />

hoffentlich:<br />

Danach ging ein Jugendlicher mit Mikrofon durch den Raum <strong>und</strong> spielte einen Reporter einer<br />

renommierten Zeitung <strong>und</strong> fragte die Jugendlichen, was sie für Probleme haben.<br />

4 Jugendliche standen mit Plakaten auf 4 Säulenfüßen <strong>und</strong> stellten ihre Probleme vor:<br />

1. Plakat: „Ich will mehr Raum“<br />

− bin 21 Jahre, lebe mit meinem Bruder in einem Zimmer bei meinen Eltern, kein Stück Raum für<br />

85 Bischof Kurt Scharf war der erste DDR-Bürger, der durch die DDR-Organe nach dem Mauerbau 1961<br />

ausgewiesen wurde. Er durfte erst im Juni 1986 nach Leipzig kommen. So nahm er am Gottesdienst der AG<br />

Umweltschutz zum Weltumwelttag am 5. Juni 1986 teil <strong>und</strong> unterhielt sich im Anschluß an dem Gottesdienst mit<br />

Gruppenmitgliedern (s. Bericht in „Kontakte“ Sept. 86, 3f. - ABL H 2/Z2).<br />

69


mich - nebenan hat eine alte Frau eine 4-Zimmer-Wohnung - Ungerechtigkeit -<br />

2. Plakat: „Ich will mehr Gelegenheiten“<br />

− wenn ich am Wochenende zur Disko will, komme ich nicht rein, für uns Jugendliche wird zu wenig<br />

geboten. Man muß sich nach Karten prügeln.<br />

3. Plakat: „Ich will mehr Beziehungen“<br />

− hier in der DDR kann man nur gut leben, wenn man Westgeld <strong>und</strong> Beziehungen hat - ich habe<br />

keine.<br />

Außerdem kann ich nicht reisen, wohin ich will.<br />

4. Plakat: „Ich will weniger Bindung“<br />

− ich habe mir eine Lehrstelle gesucht, hier bekommt jeder eine, das ist richtig, aber die Betriebe<br />

nehmen lieber die Jugendlichen, die FDJ-Sekretäre waren, die gesellschaftlich aktiv waren, die<br />

anderen müssen das nehmen, was „gesellschaftlich notwendig“ ist <strong>und</strong> nicht, was sie individuell<br />

wollen.<br />

− Vor dem Altarraum war eine Waage aufgehängt, dort wurden 4 Plakate mit den Aufschriften auf die<br />

eine Waagschale gelegt, so daß sie sich nach unten neigte.<br />

− Nach der Beatgruppe war die Predigt<br />

− ein Thema der Friedensdekade - Frieden durch Gerechtigkeit<br />

− er konnte dem zentralen Anleitungsmaterial der Kirche nicht folgen, wo drin stand, daß es<br />

Ungerechtigkeit nur außerhalb des Sozialismus gäbe, daß es in der DDR Gerechtigkeit gäbe 86.<br />

− „Ihr habt es gesehen, auch wir haben unsere Ungerechtigkeiten“<br />

− Auch wenn wir hier die Ungerechtigkeiten unserer Behörden angesprochen haben, vergeßt nicht die<br />

Ungerechtigkeiten in unserer Kirche, ich weiß, wie meine katholischen Brüder <strong>und</strong> Schwestern auf die<br />

Bischöfe schimpfen, ich merke es tagtäglich, wie zerrissen unsere evangelische Kirche ist durch<br />

Besserwisserei. (Zersplitterung der Meinungen)<br />

− Frieden durch Gerechtigkeit, dafür müssen wir alle etwas tun, hier bei uns in unserem Staat.<br />

− Jugendliche traten abwechselnd ans Mikrofon <strong>und</strong> riefen zur Solidarität mit den Menschen der<br />

restlichen Welt auf, der 2/3 Welt.<br />

− sie propagierten die Aktion des Weltb<strong>und</strong>es der Kirche 87 , 2% von den Einkünften monatlich zu<br />

spenden (2%-Marke wurde ausgegeben, um sich immer daran zu erinnern) für die 2/3-Welt, für<br />

Nairobi, Kolumbien <strong>und</strong> andere Staaten.<br />

− ein Jugendlicher erklärte, daß die 2% Aktion man auch so verstehen müßte - 2% der aktiven Zeit am<br />

Tag wären 20 min.<br />

86 Das Arbeitsmaterial für die FD der evangelischen Kirchen in der DDR - 10.-20. November 1985 unter dem<br />

Thema „Frieden wächst aus Gerechtigkeit“ wurde von einer Gruppe aus Vertretern der KKL, der<br />

Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen <strong>und</strong> der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Jugend erarbeitet. In der<br />

Materialsammlung wurde Gerechtigkeit unter dem Aspekt einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung behandelt.<br />

Im Einleitungstext heißt es: „Friede wächst aus Gerechtigkeit auch in unserer Gesellschaft. Gerade in einer<br />

Gesellschaft, die angetreten ist, Ungerechtigkeit strukturell <strong>und</strong> generell zu beseitigen, müssen wir darauf bedacht<br />

sein, daß wir dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren. Es besteht immer wieder die Gefahr, daß wir hinter das<br />

schon Erreichte zurückfallen <strong>und</strong> sich alte Verhaltensweisen unversehens wieder einschleichen. Es liegt nahe, das<br />

auszusprechen, was wir als Christen in unserer Gesellschaft als Unrecht empfinden - <strong>und</strong> wir sollten es tun.<br />

Vordringlich ist es aber, danach zu fragen, wo Menschen in unserer Nähe ihr Recht zu leben <strong>und</strong> sich zu entfalten<br />

vorenthalten wird. Und das zuerst in unserer Gemeinde <strong>und</strong> dann auch in der Gesamtgesellschaft.“ (S. 6)<br />

87 Die 2%-Initiative für kirchliche Haushaltsmittel wurde 1968 auf der EKD-Synode in Spandau beschlossen<br />

(Beschluß über einen höheren kirchlichen Beitrag zur Bekämpfung der Not in der Welt, in: E. Wilkens (Hg.) Die<br />

Zukunft der Kirche <strong>und</strong> die Zukunft der Welt, München 1968, 179f.). Die Weltkirchenkonferenz in Uppsala 1968<br />

verabschiedete einen Appell, in dem die Kirchen aufgerufen wurden, mindestens 1% ihres Einkommens für<br />

Hilfsprojekte in Entwicklungsländern zu geben (Bericht der Sektion IV, Auf dem Wege zu Gerechtigkeit <strong>und</strong><br />

Frieden in internationalen Angelegenheiten, in: Uppsala spricht, Genf 1968, 45-57, 54). Die B<strong>und</strong>essynode 1985<br />

in Dresden rief auch zu einer Abgabe von 2% der kirchlichen Haushalte auf, um diese den Ärmsten der Welt zur<br />

Verfügung zu stellen. Im Arbeitsmaterial für die FD 1985 der evangelischen Kirchen in der DDR: „Frieden<br />

wächst aus Gerechtigkeit“ waren 6 von 47 Seiten dieser Problematik gewidmet.<br />

70


Nehmen wir 20 min. am Tag <strong>und</strong> setzen wir uns für Frieden durch Gerechtigkeit ein.<br />

− zum Abschluß wurde das Vaterunser gebetet <strong>und</strong> eine Kollekte eingesammelt.<br />

Am Ende der Veranstaltung wurde ein offener Brief an Staatsratsvorsitzenden, Genossen Honecker <strong>und</strong><br />

B<strong>und</strong>eskanzler Kohl ausgegeben. Dieser Brief wurde von der Gemeinde Volkmarsdorf entworfen.<br />

[Absender:] Leipziger Fastenstafette „Frieden wächst aus Gerechtigkeit“ 88<br />

Offener Brief<br />

An den Vorsitzenden<br />

des Staatsrates der<br />

Deutschen Demokratischen Republik<br />

Herrn Erich Honecker<br />

An den B<strong>und</strong>eskanzler<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

Herrn Helmut Kohl<br />

Sehr geehrter Herr Staatsratsvorsitzender!<br />

Sehr geehrter Herr B<strong>und</strong>eskanzler!<br />

Während der Friedensdekade der evangelischen Kirchen, 10.-20. November 1985, sind wir in der<br />

Lukaskirche Leipzig zu einer Fastenstafette zusammengekommen. Jeder von uns hat sich in den<br />

vergangenen zehn Tagen durch ein 24stündiges Wachen, Beten <strong>und</strong> Fasten gesammelt, geprüft <strong>und</strong> darauf<br />

vorbereitet, als einzelner verantwortlich zu leben. [/] Wir haben dabei deutlicher als bisher erfahren, wie<br />

Frieden aus Gerechtigkeit wachsen kann. Dabei sind wir den Menschen in der Zweidrittel-Welt einen<br />

kleinen Schritt näher gekommen, die unseren „östlichen“ <strong>und</strong> „westlichen“ Sicherheitsinteressen täglich<br />

geopfert werden. Unser Lebensstil <strong>und</strong> seine immer kostspieliger werdende Verteidigung kostet die das<br />

Leben, die uns Schwestern <strong>und</strong> Brüder geworden sind. [/] Bei unserem Fasten ist uns deutlicher geworden,<br />

wie sehr wir selbst daran beteiligt <strong>und</strong> wie unausweichlich mitverantwortlich wir dafür sind. Diese<br />

Erkenntnis beschämt <strong>und</strong> erschüttert uns. [/] Um diesen Preis wollen wir nicht länger unseren Lebensstil<br />

<strong>und</strong> unsere Interessen verteidigen <strong>und</strong> durch neue R<strong>und</strong>en des Wettrüstens schützen lassen. Eher wollen<br />

wir auf eine vernünftige Art eingeschränkt leben, um allen Menschen Leben zu ermöglichen. [/] Mit<br />

unseren Hoffnungen <strong>und</strong> Gebeten begleiten wir das gegenwärtig in Genf stattfindende Gipfeltreffen. Die<br />

Regierungen der UdSSR <strong>und</strong> der USA haben eine große Verantwortung zu tragen. Weil aber der Friede<br />

unteilbar ist, tragen kleinere Staaten, gesellschaftliche Kräfte <strong>und</strong> einzelne Menschen dafür Verantwortung<br />

mit. [/] Sie als verantwortliche Repräsentanten unserer beiden deutschen Staaten bitten wir dringend:<br />

1. Nutzen Sie den Entscheidungsspielraum innerhalb Ihres jeweiligen Bündnisses. Entwickeln Sie eigene<br />

Initiativen zum Spannungsabbau zwischen den politischen <strong>und</strong> militärischen Blöcken in Europa (z.B.<br />

einseitige kalkulierte Abrüstungsschritte). Verdichten <strong>und</strong> konkretisieren Sie schon Begonnenes (z.B.<br />

88 Während der FD fand in der Lukaskirche r<strong>und</strong> um die Uhr eine Fastenstaffete statt. Pf. Wonneberger hatte dazu<br />

ein Thesenpapier „Warum wir fasten...“ verfaßt <strong>und</strong> vervielfältigt. Darin heißt es u.a.: „1. In der biblischen<br />

Tradition ist das Fasten Ausdruck tiefer innerer Betroffenheit <strong>und</strong> Erschütterung eines Menschen [...] 2. Von der<br />

biblischen Tradition herkommend gibt es einen engen Zusammenhang von Wachen, Beten, Fasten. Das Wachen<br />

bezeichnet seinen Anteil an einer Gesamtsituation, seine Aufmerksamkeit für das, was um mich herum passiert,<br />

meinen Versuch, die Umwelt, in der ich lebe, möglichst genau zu analysieren. Das Beten ist u.a. meine<br />

Möglichkeit, mich an gelungenem Leben zu orientieren, mich <strong>und</strong> meine Umwelt daraufhin zu befragen. Gott -<br />

die „Fülle des Lebens“ selbst - sowie Beispiele gelungenen Lebens helfen mir, für mein Denken <strong>und</strong> Handeln<br />

Ziel <strong>und</strong> Perspektive [zu] gewinnen. Das Fasten markiert meinen ganz eigenen Anteil, die Unausweichlichkeit<br />

meines Beteiligtseins <strong>und</strong> die Übernahme der Verantwortung für mein Handeln einschließlich der Bereitschaft<br />

zum Leiden. 3. Fasten ist ein zeichenhaftes Handeln in Richtung Abrüstung. [...] 4. Fasten ist ein zeichenhaftes<br />

Handeln in Richtung Gerechtigkeit. [...] 5. Fasten ist ein Handeln, dem Grenzen gesetzt sind. Es ist kein<br />

unmittelbar politisches Handeln. Es verändert zuerst einmal nichts als mich selbst <strong>und</strong> ist nicht geeignet zur<br />

unmittelbaren Einflußnahme auf meine Umwelt, auch wenn sein soziales <strong>und</strong> politisches Anliegen deutlich zu<br />

machen ist. 6. Fasten darf nicht zur Demonstration eigener Frömmigkeit (auch politischer Frömmigkeit)<br />

mißbraucht werden. Es bedarf aber der Öffentlichkeit, damit es nicht als Privatangelegenheit abgetan werden<br />

kann. 7. Eine mögliche Fasten-Erfahrung: Ich bin nicht ohnmächtig. Ich bin belastbar, nicht nur mit dem Kopf,<br />

sondern als ganzer Mensch. Ich kann etwas (er)tragen.“ (ABL H 1)<br />

71


gefechtsfeldbezogene A-Waffen/C-Waffen).<br />

2. Verzichten Sie auf eine weitere Mobilisierung aller Reserven angesichts geburtenschwacher Jahrgänge<br />

Wehrpflichtiger in beiden deutschen Staaten. Nutzen Sie vielmehr diese Gelegenheit zu einer<br />

Vereinbarung über eine Truppenreduzierung der Nationalen Volksarmee <strong>und</strong> der B<strong>und</strong>eswehr. Beleben<br />

<strong>und</strong> befruchten Sie die Wiener Verhandlungen durch einen solchen Impuls.<br />

3. Nutzen Sie die so frei werdenden Mittel zur schrittweisen Erweiterung <strong>und</strong> spürbaren Verstärkung<br />

staatlicher Entwicklungshilfe für die Zweidrittel-Welt. Diese Entscheidung für mehr Gerechtigkeit<br />

kann zu mehr Frieden führen.<br />

Die Mehrzahl der Unterzeichner hat sich entschieden - dem Appell des Ökumenischen Rates der Kirchen<br />

von 1968 (Uppsala) <strong>und</strong> 1983 (Vancouver) folgend - 2% ihrer persönlichen Haushaltsmittel für die<br />

Zweidrittel-Welt zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus werden wir in Kirchgemeinden <strong>und</strong> bei<br />

Kirchenleitungen für eine solche Entscheidung werben <strong>und</strong> eintreten.<br />

Leipzig, am 20. November 1985<br />

D. Kühne, U. Wonneberger, M. Albrecht, A. Ludwig, M. Scholz, R. Marlow, M. Böhm, K. Sengewald, D.<br />

Bauer, C. Bauer, S. Wünsch, T. Woik, R. Krötzsch, M. Kämpf, A. Unger, C. Wonneberger<br />

20 Synodalausschußprotokoll<br />

Mitteilung von Pf. Berger an Sup. Magirius vom 27.02.1986, in dem über die Bildung des<br />

Bezirkssynodalausschusses berichtet wird. Vorlage ist eine Xerokopie des Typoskripts ohne Unterschrift<br />

(ABL H 35).<br />

Zur Information des Herrn Superintendenten<br />

(Besprechung der Leitung des B[ezirks]-synodalausschusses : Frau Lucke, Dr. Mühlmann, Dr. Berger<br />

89 90 )<br />

- 27.02.86<br />

1. Als Name des Ausschusses wird „Ausschuß für Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ vorgeschlagen - unter<br />

diesen Begriffen ist sowohl Schutz der Natur als auch 3. Welt <strong>und</strong> event[uell] Gruppen mit sozialem<br />

Anliegen zu fassen.<br />

2. Kontakte bestehen bisher zu:<br />

− AG Frieden [AGF]<br />

− Frauen für den Frieden<br />

− Südl. Afrika (Lesotho)<br />

− IHN<br />

− Umweltgruppe Connewitz, Jugendpfarramt [AG Umweltschutz]<br />

Das Jugendpfarramt ist zur Mitarbeit im Ausschuß bereit.<br />

Kein Kontakt konnte zur Friedensgruppe der ESG hergestellt werden. Der Herr Superintendent wird<br />

gebeten, mit der ESG zu klären, ob eine Beteiligung der dortigen Friedensgruppe <strong>und</strong> auch der Gruppe<br />

für Homosexualität im Ausschuß im Blick auf eine zukünftige Absicherung aller Gruppierungen in<br />

Leipzig nicht sinnvoll wäre. In der nächsten Ausschußsitzung soll überlegt werden, ob das<br />

Friedensgebet in Nikolai organisatorisch effektiver gestaltet werden kann.<br />

3. Plakatmöglichkeiten in Nikolai <strong>und</strong> Thomas: Ergebnis des Gesprächs zwischen den Superintendenten<br />

soll abgewartet werden.<br />

4. Sollte die Gruppe „Frauen für Frieden“ bei ihrer Tagung eine Ausstellung beabsichtigen, ist diese<br />

89 s. Anhang „Bezirkssynodalausschuß“, S. 355<br />

90 Wie die Operativinformation Nr. 189/84 <strong>und</strong> 209/84 der KD Leipzig Stadt des MfS zeigt (in: Besier/Wolf 420-<br />

424), hatte Superintendent Magirius schon 1984 den Verdacht, daß Pfarrer Dr. Berger für das MfS arbeitete.<br />

OLKR Auerbach gab in einem Gespräch das Jahr 1985 als Beginn eines Verdachtes gegenüber M. Berger an (zur<br />

Tätigkeit des IMB „Carl“ siehe Besier/Wolf 420, Anm. 231). Heute ist nicht mehr nachvollziehbar, daß nicht<br />

schon eher Verdacht geschöpft wurde, da M. Berger die Möglichkeit erhielt, neben seinem Amt als<br />

Gemeindepfarrer ein Jurastudium zu absolvieren (1979-81, s. BStU Leipzig XIII 489/78 <strong>und</strong> StAL BT/RdB<br />

21405).<br />

72


vorher von der Ausschußleitung zu besichtigen <strong>und</strong> dem Superintendenten eine Stellungnahme<br />

vorzulegen.<br />

5. Ein Kurzbericht bei der Bezirkssynode 91 wird von Dr. Berger vorgelegt, event[uell] auch eine Liste mit<br />

den vertretenen Gruppierungen.<br />

6. Es wird festgestellt, daß die Gruppierungen über ihre Vorhaben den Ausschuß noch nicht von sich aus<br />

informieren. Der Vorschlag des Superintendenten, daß alle Einladungen <strong>und</strong> Drucksachen der Leitung<br />

des Ausschusses vor der Vervielfältigung zur Kenntnis gegeben werden sollten, wurde nicht beachtet<br />

(s. Anlage 92) . Die beigefügten Einladungen erhielt der Ausschuß erst nach ihrer Verteilung. Der<br />

Superintendent wird gebeten, dieses Problem mit der Vervielfältigungsstelle zu klären (Einladungen<br />

mit Zeichen SLO).<br />

21 Friedensgebetstext<br />

Zwei mit der Maschine geschriebene Blätter (A5), die als Manuskript der Rede dienten <strong>und</strong> handschriftlich<br />

überarbeitet wurden. Überschrieben wurde der Text mit: „Reflexionen zur Friedensdekade ‘86“. Die Rede<br />

wurde am Ende des Abschlußgottesdienstes der Friedensdekade 1986 am 19.11. in der Nikolaikirche<br />

gehalten 93 (beim Autor).<br />

Friede sei mit Euch94 , dieses Angebot <strong>und</strong> diesen Auftrag rufe ich Ihnen auch am letzten Abend der<br />

Friedensdekade in der Nikolaikirche zu.<br />

Ich wollte, dieses „Friede sei mit Euch“ würde genauso die 100 000 erreichen, die sich eben jetzt 3 km<br />

von hier im Zentralstadion versammeln, ebenso wie die Millionen, die sich in einer 1/2 St<strong>und</strong>e über<br />

Eurovision <strong>und</strong> Intervision dazu einschalten. - Geht es doch nicht nur im Fußball um europäische<br />

Qualifikation. - Auf dem Spiel stehen Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung.<br />

Lassen Sie mich im Bild des Fußballs eine kurze Bilanz der letzten 10 Tage ziehen, in 10 Sätzen:<br />

1. Die älter gewordene <strong>und</strong> ersatzgeschwächte Stammbesetzung, vor allem aus Frauengruppe <strong>und</strong><br />

Friedensdienst95 , bewies gestalterische Kraft. Junioren wurden stärker ins Spiel einbezogen, z.B.<br />

Sellerhausen, Anger-Crottendorf, Nikolai 96.<br />

2. Weitere Vereine 97 kamen aus dem Abseits, gestalteten das Spiel farbiger <strong>und</strong> bereicherten die<br />

Mannschaft. 98<br />

3. Eine Mann-schaft gibt es nicht mehr. Frauen sind stärker ins Spiel gekommen 99.<br />

4. Innenverteidiger <strong>und</strong> Sturmspitzen hatten zwar besseren Blickkontakt [handschriftlich: „als früher“] -<br />

aber immer noch Berührungsängste. Steilpässe waren selten.<br />

91 s. Strukturplan S. 361<br />

92 Die Anlage wurde von den Herausgebern nicht gef<strong>und</strong>en.<br />

93 Der BSA hatte am 26.09.1989 beschlossen, daß Pf. Wonneberger im Abschlußgottesdienst „eine<br />

Zusammenfassung aller Friedensgebete an(bringt)“ (Protokoll von Pf. Berger - ABL H 35). Im Protokoll des<br />

BSA zur Auswertung der FD vom 23.11.1986 heißt es zur Rede Pf. Wonnebergers: „Wonnebergers 10 Punkte zu<br />

verschlüsselt. [...] Wonnebergers Zusammenfassung zu solistisch.“ (Protokoll Führer - ebenda).<br />

94 Das Motto der FD 1986 war „Friede sei mit Euch“. Für die Koordinierung <strong>und</strong> Vorbereitung der verschiedenen<br />

Veranstaltungen in Leipzig hatte der BSA Pf. Wonneberger bestimmt. In der Nikolaikirche gab es täglich ein<br />

„Friedenscafé“, eine „Antikriegsausstellung“ <strong>und</strong> eine Ausstellung der IHN. Größere Veranstaltungen fanden<br />

auch in anderen Kirchen Leipzigs statt (s. Chronik).<br />

95 Gemeint sind „Frauen für den Frieden“ <strong>und</strong> AGF.<br />

96 Am 15.11. gestaltete eine Gemeindegruppe aus Anger-Crottendorf einen Eltern-Kinder-Nachmittag („Frieden<br />

wachsen lassen“) <strong>und</strong> am 18.11. fand in Sellerhausen ein „Regionaler Kindernachmittag“ statt.<br />

97 Gruppen, die sich außerdem an der Gestaltung der FD beteiligten waren: CFK, der katholische Gesprächs- bzw.<br />

Friedenskreis Grünau-Lindenau, die Friedensgruppe <strong>und</strong> der Homosexuellenkreis der ESG, die Landeskirchliche<br />

Gemeinschaft <strong>und</strong> die IHN.<br />

98 Es folgt mit Hand: „35 Pakete sind auf d. Weg nach Ghana + Mosambique“<br />

99 Am 17.11. fand in der Peterskirche ein Frauenseminar statt, außerdem gestalteten die „Frauen für den Frieden“<br />

den „Abend für den Frieden“ mit.<br />

73


5. Das Mittelfeld stand vielfach im Abseits oder hat geschlafen. Das hemmte den Spielfluß. An vielen<br />

Gemeinden <strong>und</strong> Christen ist die Friedensdekade wieder einmal vorbeigegangen.<br />

6. Linksaußen gibt es Besetzungsschwierigkeiten. Wahrscheinlich wegen der Strafraumnähe.<br />

7. Wenn alle Funktionäre gleichzeitig auch Vorstopper spielen, kommen wir nicht über die eigene<br />

Spielhälfte hinaus. Hier hilft nur gemeinsames Training.<br />

8. Wenn weiter Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung auf dem Spiel stehen, können wir<br />

den Gegner nicht ausschalten, sondern nur zu gewinnen suchen.<br />

9. Werbeflächen müssen zum Mitspielen einladen. Zuschauer bringen nichts. Im Gegenteil: Je mehr<br />

Zuschauer, desto teurer wird uns alles zu stehen kommen.<br />

10. In 90 Minuten oder 10 Tagen ist nichts entschieden. Das Zusammenspiel hat gut angefangen. Wir<br />

fühlen uns verb<strong>und</strong>en. Wir wollen es noch verbindlicher. Gemeinsames FRIEDENSGEBET steht auf<br />

dem Trainingsprogramm.<br />

Wir pfeifen nicht ab. Wir gehen in die Verlängerung.<br />

Zum Zeichen dafür zeige ich Ihnen - - - die grüne Karte.<br />

22 Stasi-Information<br />

Auszug aus der Quartalseinschätzung IV/86 der BV für Staatssicherheit Leipzig, Abteilung XX/9 (Queitzsch)<br />

über die Gruppe „Frauen für den Frieden Leipzig“ vom 23.12.1986 (ABL H 10).<br />

1.<br />

TV 1 zum ZOV „Wespen“ - Reg.-Nr. XIII 121/86<br />

− zwei DDR-Bürgerinnen<br />

− Paragr. 100, 106 <strong>und</strong> 218 StGB<br />

− eingeführte IM - IMS „Elfi“ (Ref. XX/7)<br />

− IMS „Mario“ (Ref. XX/9)<br />

− eingesetzte IM - IMB „Carl“ (KD Leipzig-Stadt)<br />

− IMB „Junge“ (Ref. XX/4)<br />

− IMS „Fuchs“ (Ref. XX/4)<br />

− IMS „Wilhelm“ (Ref. XX/4)<br />

− gültiger Maßnahmeplan vom 09.05.1986 sowie vom 27.06.1986 (Sachstandsbericht zum TV)<br />

festgelegte Maßnahmen zur weiteren Bearbeitung des TV<br />

2.<br />

Im Berichtszeitraum richteten sich die operativ bedeutsamen Aktivitäten der bearbeitenden<br />

Führungskräfte des Arbeitskreises „Frauen für Frieden“ Leipzig vor allem auf die Vorbereitung <strong>und</strong><br />

Durchführung der Veranstaltungen der „Friedensdekade 1986“ sowie auf die aktive Teilnahme an den<br />

Vorbereitungsmaßnahmen zu dem geplanten „Friedensseminar - Konkret für den Frieden V“ in der Zeit<br />

vom 27.02. - 01.03.1987 in der „Paul-Gerhardt-Kirche“ Leipzig-Connewitz.<br />

Im Zusammenhang mit der „Friedensdekade“ beteiligten sich die Kämpf, Ute (TV „Wespen“, XX/9), die<br />

Moritz, Brigitte (OV „Julia“, XX/4) sowie auch die Heide, Gabriele (TV „Wespen“, XX/9) aktiv an der<br />

unmittelbaren Durchführung von Veranstaltungen. Dabei zeichnete sich erneut ab, daß insbesondere die<br />

bearbeiteten Personen Kämpf <strong>und</strong> Moritz um aktive Einflußnahme auf Verlauf <strong>und</strong> Inhalt der<br />

Veranstaltungen der „Friedensdekade“ bemüht waren <strong>und</strong> sich aus diesem Gr<strong>und</strong> regelmäßig an den<br />

Arbeitsberatungen des sogenannten Vorbereitungskreises zur „Friedensdekade 1986“ unter Leitung des<br />

evangelischen Pfarrers Führer (XX/4) beteiligten. [... Bericht über Friedensdekade]<br />

Der Arbeitskreis „Frauen für Frieden“ Leipzig gestaltete zur „Friedensdekade“ gemeinsam mit anderen<br />

sogenannten „Basisgruppen“ eine „Friedensausstellung“ <strong>und</strong> beteiligte sich mit ausgewählter Literatur an<br />

der sogenannten „Friedensbibliothek“ in der Nikolaikirche Leipzig, wobei auf Initiative der feindlichnegativen<br />

Führungskräfte erneut Angriffe gegen die Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungsarbeit des sozialistischen<br />

Staates ausgingen.<br />

Die feindlich-negativen Führungskräfte um die Kämpf nutzten die „Friedensdekade“ erneut, um ein<br />

74


Zusammentreffen mit den Vertretern einer sogenannten „Arche Gemeinschaft“ aus der BRD<br />

durchzuführen.<br />

Dabei handelt es sich um den bereits bekannten Personenkreis, der unter Mißbrauch des Einreiseverkehrs<br />

in die DDR an einem Treffen in Trockenborn, Krs. Stadtroda, im August diesen Jahres teilgenommen<br />

hatte. Trotz vorbeugend eingeleiteter Maßnahmen über die Hauptabteilung VI [Paßkontrolle, Tourismus,<br />

Interhotel] konnte die Einreise der BRD-Personen nicht verhindert werden.<br />

Über inoffizielle Schlüsselpositionen konnte jedoch die von der Kämpf <strong>und</strong> Moritz angeregte aktive<br />

Teilnahme in Form eigenständiger „Friedensgebete“ sowie der Durchführung eines Forums mit den BRD-<br />

Personen verhindert werden. Die Einladung <strong>und</strong> Einbeziehung der BRD-Personen in die<br />

„Friedensdekade“ 1986 sowie die durchgeführten Zusammenkünfte in der Wohnung der Kämpf sowie bei<br />

Pfarrer Wonneberger sind als weiterer Versuch zur Organisierung <strong>und</strong> Stabilisierung blockübergreifender<br />

Aktivitäten im Sinne des sogenannten „Ost-West-Dialoges“ zu werten.<br />

Damit wollen die feindlich-negativen Führungskräfte des Arbeitskreises „Frauen für Frieden“ im Sinne<br />

des konziliaren Prozesses, wie er von der Moritz während der „Friedensdekade“ dargestellt wurde,<br />

wirksam werden, der alle Christen im Weltmaßstab in einem Konzil des Friedens vereinigen soll, um über<br />

ein gemeinsames Herangehen an Abrüstung, Friedensführung <strong>und</strong> Lösung des Nord-Süd-Konfliktes zu<br />

beraten. Unter Ausnutzung dieses Prozesses will man sich verstärkt mit Basisgruppen der BRD in<br />

Verbindung setzen, um von unten Druck gegen vorgesetzte Kirchenleitungen auszuüben, um die offizielle<br />

Kirchenpolitik auch in bezug auf das Verhältnis Staat/Kirche zu beeinflussen bzw. zu verändern. In<br />

diesem Zusammenhang wurden auch Bemühungen der Moritz <strong>und</strong> Kämpf bekannt, im Zeitraum vom<br />

kirchlichen Friedensseminar „Konkret für den Frieden V“ in der „Paul Gerhardt Kirche“ Leipzig, erneut<br />

ein Treffen mit diesen BRD-Personen durchzuführen, <strong>und</strong> im Sommer 1987 das Treffen in<br />

Trockenborn/Krs. Stadtroda bei dem Vikar Bächer (AOV „Zersetzer“) zu wiederholen.<br />

Nach bekanntgewordenen Einschätzungen kirchenleitender Persönlichkeiten verliefen die Veranstaltungen<br />

der „Friedensdekade“ nicht zufriedenstellend, da verschiedene Leute immer wieder auf bestimmten<br />

Problemen herumhacken, um sich selbst zu bestätigen, aber bei Veranstaltungsbesuchern nicht die<br />

erhoffte Wirkung erzielen. Damit bezieht man sich auch auf die feindlich[-]negativen Führungskräfte des<br />

Arbeitskreises „Frauen für Frieden“, wie die Kämpf, die ihre Zielstellung<br />

− Druck auf die Kirchenleitung ausüben <strong>und</strong> in Konfrontation zum Staat zu bringen,<br />

− <strong>und</strong> feindlich[-]negative Aktivitäten unter den Teilnehmern der „Friedensdekade“ auszulösen <strong>und</strong><br />

Öffentlichkeitswirksamkeit zu erzielen<br />

nicht erreichen konnten.<br />

Es ist den feindlich-negativen Kräften nicht gelungen, den Nachweis zu erbringen, daß solche<br />

kirchenleitenden Gremien wie der Synodalausschuß der Bezirkssynode Leipzig-Ost nicht in der Lage ist<br />

[sic!], die Arbeit der sogenannten „Basisgruppen“ anzuleiten <strong>und</strong> zu koordinieren <strong>und</strong> deren Forderung<br />

nach mehr Eigenständigkeit <strong>und</strong> mehr Verantwortung Nachdruck zu verleihen.<br />

Die feindlich-negativen Führungskräfte des Arbeitskreises „Frauen für Frieden“ nutzten die<br />

„Friedensdekade“ zur Gewinnung neuer Mitglieder.<br />

Es zeichnet sich ab, daß der Arbeitskreis zu einer kontinuierlicheren Arbeitsweise kommen will, ohne daß<br />

dazu jedoch bereits konzeptionelle Vorstellungen vorliegen bzw. Gedanken geäußert wurden.<br />

Dieser Umstand wurde genutzt, um entsprechend getroffener operativer Festlegungen zur Gewährleistung<br />

der weiteren zielgerichteten <strong>und</strong> effektiven Vorgangsbearbeitung unter Ausnutzung der Veranstaltungen<br />

zur „Friedensdekade 1986“ die IM „Elfi“ <strong>und</strong> „Mario“ in den Arbeitskreis „Frauen für Frieden“<br />

einzuführen. Die genannten IM nahmen bereits an der ersten planmäßigen Beratung des Arbeitskreises am<br />

01.12.1986 sowie einer weiteren Zusammenkunft am 15.12.1986 teil <strong>und</strong> sind in dessen Arbeit integriert<br />

worden.<br />

Entsprechend der von dem neu eingesetzten IM getroffenen Feststellungen befindet sich der Arbeitskreis<br />

gegenwärtig aufgr<strong>und</strong> des Neuzuganges von Teilnehmern im Prozeß der Neuformierung. Eine<br />

konzeptionelle Arbeit der Gruppe ist gegenwärtig nicht zu erkennen. Durch die feindlich-negativen Kräfte<br />

Kämpf, Moritz <strong>und</strong> Heide wird die aktive Mitarbeit des Arbeitskreises in Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung<br />

von „Konkret für den Frieden V“ angestrebt. In der Gruppe wurde die mögliche Durchführung eines<br />

„Abends für den Frieden“ zur Diskussion gestellt. Entsprechend inzwischen vorliegender inoffizieller<br />

75


Informationen von IM der Abteilung 26/A 100 wurde durch den Fortsetzungsausschuß für „Konkret V“<br />

sowie durch den Superintendenten Magirius diese Vorstellung abgelehnt. Durch die Kämpf <strong>und</strong> die<br />

Moritz ist in Absprache mit kirchenleitenden Personen vorgesehen, dieses „Friedensgebet“ am 06.03.1987<br />

durchzuführen. Es kann vermutet werden, daß bewußt dieser Termin ausgewählt wurde, da sich zu diesem<br />

Zeitpunkt erneut das Gespräch des Genossen Honecker mit Vertretern der Kirchenleitung jährt.<br />

Insgesamt ist im Ergebnis der durchgeführten politisch-operativen Maßnahmen einzuschätzen, daß der<br />

Arbeitskreis „Frauen für Frieden“ trotz aller Bemühungen der feindlich-negativen Führungskräfte auch<br />

weiterhin sporadisch <strong>und</strong> ohne klare Zielstellung arbeitet.<br />

Die jetzt wieder begonnenen kontinuierlichen Zusammenkünfte des Arbeitskreises wurden am 15.12.1986<br />

genutzt, um die Personifizierung des Arbeitskreises, insbesondere der neuen Teilnehmer der Beratungen<br />

weiterzuführen <strong>und</strong> abzuschließen.<br />

Dazu wurden Beobachtungskräfte der Abt. VIII [Beobachtung/Ermittlung] eingesetzt, durch die die<br />

Teilnehmer der genannten Veranstaltung fotografisch dokumentiert wurden. Im Rahmen der<br />

Vorgangsbearbeitung wurden entsprechend dem Maßnahmeplan weitere Maßnahmen zur differenzierten<br />

Verunsicherung <strong>und</strong> Disziplinierung der Mitglieder des Arbeitskreises „Frauen für Frieden“ durchgeführt.<br />

3.<br />

Zur Gewährleistung der weiteren zielgerichteten <strong>und</strong> effektiven Vorgangsbearbeitung ist in Vorbereitung<br />

auf das „Friedensseminar - Konkret für den Frieden V“ 1987 ein neuer Sachstandsbericht zu erarbeiten<br />

<strong>und</strong> auf dessen Gr<strong>und</strong>lage der Maßnahmeplan zu erarbeiten. Durch den zielgerichteten Einsatz der in die<br />

Vorgangsbearbeitung einbezogenen inoffiziellen Quellen ist der ständige Überblick über die von den<br />

bearbeiteten Personen ausgehenden feindlich-negativen Pläne, Absichten sowie dabei angewandte Mittel<br />

<strong>und</strong> Methoden zu gewährleisten <strong>und</strong> offensive Maßnahmen zur vorbeugenden Verhinderung feindlicher<br />

Angriffe insbesondere mit geplanter Öffentlichkeitswirksamkeit durchzusetzen.<br />

Die begonnenen Maßnahmen der differenzierten Verunsicherung <strong>und</strong> Disziplinierung der Mitglieder des<br />

Arbeitskreises sind zielgerichtet zur Einschränkung des Einflusses der feindlich-negativen Führungskräfte<br />

im Arbeitskreis „Frauen für Frieden“ weiterzuführen <strong>und</strong> im Zusammenhang mit „Konkret V“ zu<br />

forcieren.<br />

Die inoffizielle Absicherung des Arbeitskreises <strong>und</strong> die operative Bearbeitung der feindlich-negativen<br />

Vorgangspersonen ist durch geeignete Werbungen weiter zu verbessern.<br />

23 Stasi-Information<br />

Operativ-Information Nr. 136/86 der BV für Staatssicherheit Leipzig, Abteilung XX, Referat 4 (schä-gr) zu<br />

Pf. Wonneberger vom 30.12.1986. Die Information wurde von Tinneberg in Vertretung für Wallner<br />

unterzeichnet. Die handschriftliche Abkürzung „ZPDB“ auf der ersten Seite über dem Datum läßt vermuten,<br />

daß das Original der vom Bürgerkomitee angefertigten Kopie dort gelegen hat (ABL H 10).<br />

Durch den zielgerichteten Einsatz einer zuverlässigen Quelle unserer DE wurden zu o.g. Pfarrer folgende<br />

Hinweise erarbeitet: [/] Während eines Zusammentreffens kirchlicher „Friedenskräfte“ am 15.12.1986 in<br />

der Lukaskirche Leipzig wurde unter Leitung von Pfarrer Wonneberger im Zusammenhang mit der<br />

Vorbereitung künftig geplanter „Friedensgebete“ eine Einschätzung zum Verlauf der „Friedensdekade<br />

1986“ sowie des Abschlußgottesdienstes vorgenommen 101 . [/] W. bezeichnete die inhaltlich<br />

aufgegriffenen Problemstellungen allgemein als zu loyal <strong>und</strong> oberflächlich <strong>und</strong> von der Aussage <strong>und</strong><br />

100 Diese Formulierung verweist auf das Abhören von Telefongesprächen, wofür die Abteilung 26/A der BV des<br />

MfS zuständig war.<br />

101 Der BSA hatte am 23.11.1986 die FD ausgewertet. Im Protokoll zu dieser Sitzung von C. Führer heißt es u.a.:<br />

„D) Die laufenden Friedensgebete [/] Wonnebergers Gedanken, die Gruppen regelmäßig am Friedensgebet zu<br />

beteiligen, wird gr<strong>und</strong>sätzlich bejaht. [/] CFK, ESG, AG Friedensdienst erklären ihre Bereitschaft. [/] Grüne [AG<br />

Umweltschutz], Homos <strong>und</strong> Frauen f. d. F. sind am Überlegen bzw. wollen es noch klären.“ (ABL H 35) Die<br />

AGU erklärte auch in ihrer Informationszeitschrift „Streiflichter“ den Wunsch, die FG mitzugestalten (Nr. 37<br />

Dez. 86 - ABL Box 6)<br />

76


Wirkung zu unwirksam. Er vertrat den Standpunkt, daß von Leipzig zu wenig Aggressivität ausgeht <strong>und</strong><br />

zuviel vorhandene Einsichten in staatliche Zwänge vorhanden wären. [/] Mit Blickrichtung auf künftige<br />

Aktivitäten kirchlicher Friedensarbeit äußerte W. folgende Vorstellungen:<br />

− In Zukunft sollten engere Kontakte zu Friedenskreisen in Dresden gesucht werden, um dortige<br />

Erfahrungswerte zur Verbesserung eigener Initiativen nutzen zu können.<br />

− Auch zwischen den Friedensdekaden müssen entsprechende Aktivitäten ausgelöst werden, um die<br />

Wirksamkeit ständig zu erhöhen.<br />

− Als Schwerpunkte sollen Probleme der Menschenrechte, der allseitigen Abrüstung <strong>und</strong> Erscheinungen<br />

des sich abzeichnenden Sozialabbaus in der DDR behandelt werden.<br />

− Es muß eine hemmungslose Aufdeckung von vorhandener Schlamperei <strong>und</strong> Mißwirtschaft<br />

durchgesetzt werden, auch mit dem Risiko einer evtl. Entlassung aus dem vorhandenen<br />

Arbeitsrechtsverhältnis.<br />

− (Als Beispiel nannte W. die ständig steigenden Preise sowie mangelhafte Sozialleistung für ältere<br />

Menschen)<br />

− Christen sollten auch mit Plakaten gegen die Delikatläden auftreten <strong>und</strong> ihren Protest in der<br />

Öffentlichkeit anderweitig zum Ausdruck bringen. Dabei sollte man auch vor evtl. kurzfristigen<br />

Inhaftierungen nicht zurückschrecken.<br />

− Echte Christen sollten keine Zuschauer sein <strong>und</strong> die wahre Auffassung zur Veränderung vorhandener<br />

Mißstände offen ansprechen.<br />

− Die Kirche braucht keine Zuschauer, sondern aktive Helfer. Trotzdem sollte man gegenüber fremden<br />

Personen eine erforderliche Distanz einnehmen.<br />

− Weiterhin gab W. zu verstehen, daß er sich aufgr<strong>und</strong> seines Engagements zur Durchsetzung einer<br />

wirksamen kirchlichen Friedensarbeit bereits bei der Kirchenleitung in Mißkredit gebracht hat. Seine<br />

gemachten Fehler in Dresden waren für ihn Anlaß zum Umdenken <strong>und</strong> zugleich Lehre in bezug auf<br />

Verhaltensweisen gegen bestimmte Leute.<br />

− U.a. erklärte W., daß solche Leute wie Pfarrer [...] weggedrückt werden müssen, <strong>und</strong> er selbst über<br />

Dresden dazu seinen Beitrag leistete.<br />

− Superintendent [...] sei zu alt <strong>und</strong> verstehe die Politik nicht mehr. Er sei aus seinem Amt zwar nicht<br />

abzuschieben, müsse demzufolge ausgeklammert werden von geplanten Aktivitäten.<br />

− Die künftige Friedensarbeit muß im Rahmen der Ökumene erfolgen, um aus der einseitigen Talsohle<br />

herauszukommen.<br />

− Besonders die Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche, vorrangig der Liebfrauengemeinde<br />

(Oratorium), welche keine Angst vor dem Bischof hat, sollte verstärkt in Angriff genommen werden.<br />

Alles andere sei bzw. bleibe für ihn nur Mittelfeld.<br />

Die „Friedensgebete“ sollen wöchentlich durch die vorhandenen kirchlichen AK (AK<br />

„Friedensdienst“, „Frauen für den Frieden“, AG Umweltschutz, „Hoffnung Nikaragua“) gestaltet<br />

werden. Eine entsprechende Abstimmung wird jeweils einmal monatlich für den nachfolgenden Monat<br />

vorgenommen. [/] Nach Auffassung von W. sollte Leipzig künftig als Konsultationspunkt für andere<br />

Bezirke bezüglich der Durchführung solcher oder ähnlicher Veranstaltungen ausgebaut werden. [/] In<br />

diesem Falle sei auch ein allseitiger Informationsaustausch <strong>und</strong> Sichtung von entsprechender BRD-<br />

Literatur <strong>und</strong> innerkirchlicher Dok. möglich.<br />

Im Zusammenhang mit der Vorbereitung der geplanten kirchlichen Veranstaltung „Konkret für den<br />

Frieden“ 102 für 1987 erklärte W., daß für die ges. Vorbereitungsphase in Leipzig der<br />

Bezirkssynodalausschuß Leipzig/Ost verantwortlich zeichnet. [/] Durch W. ist geplant, über seine Stimme<br />

den AK „Friedensdienst“ vorrangig für die Vorbereitung o.g. Veranstaltung vorzuschlagen. W.<br />

bezeichnete den o.g. Ausschuß als einmaliges Gremium in der DDR, welches man vom gegenwärtig<br />

102 „Konkret für den Frieden“ bzw. „Frieden konkret“ war ein jährliches Treffen der Vertreter politisch-alternativer<br />

Gruppen innerhalb der evangelischen Kirche der DDR. Das erste Treffen fand 1983 in Berlin statt. Beim Treffen<br />

1985 wurde eine „Fortsetzungsausschuß“ (Art Vorstand) eingesetzt. Dazu fanden alljährlich Wahlen statt.<br />

Getragen wurde die Arbeit des Fortsetzungsausschusses vor allem von H.-J. Tschiche <strong>und</strong> W. Schnur.<br />

77


vorhandenen Mittelmaß als Art Funktionalorgan der Kirche entwickeln sollte. Von W. wurde außerdem<br />

die Ansicht vertreten, daß man zur Hebung der Gesamtaktivitäten künftig auch den Aufbau kleinerer<br />

Familienkreise wieder anstreben sollte. [/] Er selbst hätte vor, einen Arbeitskreis aufzubauen, in dem<br />

Mitglieder unterschiedlicher Blockparteien (sog. Inaktive oder Mitläufer) verankert sind. [/] Am<br />

13.01.1987, 19.30 Uhr, ist ein weiteres Treffen bei Pfarrer Wonneberger geplant, wo u.a. eine<br />

Berichterstattung der einzelnen AK bezüglich des Standes ihrer Vorbereitung zur Gestaltung der<br />

Friedensgebete erfolgen soll. [/] Das Friedensgebet am 02.02.1987 soll unter Verantwortlichkeit der ESG<br />

bzw. des Oratoriums Leipzig <strong>und</strong> das Friedensgebet am 16.02.1987 vom Arbeitskreis „Friedensdienst“<br />

durchgeführt werden.<br />

Am genannten Treffen nahmen namentlich unbekannte Vertreter der ESG (2), der christlichen<br />

Friedenskonferenz (2), der katholischen Kirche (2), des AK „Homosexualität“ (1) sowie Pfarrer<br />

Wonneberger teil. [/] Der weitere Einsatz der Quelle ist gewährleistet. [/] Die Quelle berichtete bisher<br />

ehrlich <strong>und</strong> zuverlässig. [/] Es ist unbedingter Quellenschutz zu gewährleisten.<br />

24 Friedensgebetstexte<br />

Blatt 1 <strong>und</strong> Blatt 5 aus der Mappe, die Pf. Wonneberger für die Gruppen, die die Friedensgebete gestalteten,<br />

zusammenstellte (s. Dok. 25). Die Mappe hat A5-Format <strong>und</strong> war so geheftet, daß sie laufend erweitert<br />

werden konnte. Außen steht „Friedensgebet“ darauf. In der Mappe befindet sich ein Ablauf-Vorschlag, fünf<br />

verschieden Kyrie-Vorschläge (mit Noten 103) , das Friedensgebet des Franz von Assisi <strong>und</strong> Text <strong>und</strong> Noten<br />

eines „polnischen Friedensliedes“ („Unfriede herrscht auf der Erde...“). Die Texte <strong>und</strong> liturgischen Stücke<br />

waren ohne Vervielfältigungsgenehmigungsnummer im Bezirkskirchenamt xerokopiert worden (beim Autor).<br />

Friedensgebet Ablauf - Vorschlag<br />

1. Begrüßung (Vorschlag): Wir kommen aus dem Betrieb des Tages <strong>und</strong> wünschen uns ein Stück bewußt<br />

erlebte Zeit. Wir kommen aus dem Unfriede unseres Lebens <strong>und</strong> fragen, was zum Miteinander gut ist.<br />

Wir kommen aus der Friedlosigkeit unserer Welt <strong>und</strong> suchen nach dem, was zum Frieden hilft. Der<br />

Friede Gottes sei mit uns allen.<br />

2. Kyrie mit einfließenden Reflexionen der vergangenen Woche (Zeitungszitate, Erlebnisse, Erfahrungen,<br />

Gesehenes, Gehörtes usw.)<br />

3. evtl. Lied/Kanon (siehe Mappe)<br />

4. Lesung freier Text oder bibl. Text<br />

5. freie Gestaltung Meditation, Gedanken, Gespräch, Fürbitte, Selbstbesinnung, Buße, Bild, Spiel,<br />

Information o.ä.<br />

6. evtl. Lied/Kanon (siehe Mappe)<br />

7. Friedensgebet im Wechsel gesprochen (siehe Textmappe)<br />

8. Vaterunser<br />

9. Geste der Gemeinsamkeit (Vorschlag dazu):<br />

Wir ergreifen die Hände <strong>und</strong> wünschen uns Frieden. Wir ergreifen die Hand, die uns angeboten wird,<br />

damit der Friede Christi mit Händen zu greifen ist. Wir vertrauen einander, weil er uns seinen Frieden<br />

anvertraut.<br />

Der Friede, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen <strong>und</strong> Sinne in Jesus Christus.<br />

10. Informationsaustausch Berichte/Planungen/Einladungen/Termine (auch anstelle von 5 denkbar)<br />

[Blatt 5]<br />

Friedensgebet des Franz von Assisi 104<br />

O Herr,<br />

mach mich zum Werkzeug deines Friedens,<br />

103 In den FG durchgesetzt hatte sich in der Folge ein Kyrie der Taizé-Bruderschaft.<br />

104 Dieses Gebet des Begründers des Franziskaner-Ordens sollte im Wechsel gesprochen werden. Hektographierte<br />

Blätter mit diesem Text hinterlegte Pf. Wonneberger in größerer Stückzahl beim Kirchner der Nikolaikirche, so<br />

daß sie an die FG-Gemeinde verteilt werden konnten.<br />

78


dass ich Liebe übe, wo man sich hasst,<br />

dass ich verzeihe, wo man sich beleidigt,<br />

dass ich verbinde, da, wo Streit ist,<br />

dass ich die Wahrheit sage, wo der Irrtum herrscht,<br />

dass ich den Glauben bringe, wo der Zweifel drückt,<br />

dass ich die Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält,<br />

dass ich ein Licht anzünde, wo die Finsternis regiert,<br />

dass ich Freude mache, wo der Kummer wohnt.<br />

Herr, lass mich trachten:<br />

nicht nur, dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste;<br />

nicht nur, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe;<br />

nicht nur, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.<br />

Denn wer da hingibt, der empfängt;<br />

wer sich selbst vergisst, der findet;<br />

wer verzeiht, dem wird verziehen;<br />

<strong>und</strong> wer stirbt, erwacht zum ewigen Leben.<br />

Amen<br />

25 Veranstaltungseinladung<br />

Dieser Brief vom 09.01.1987 wurde per Schreibmaschinendurchschlag vervielfältigt. Das vorliegende<br />

Exemplar war an den Friedenskreis der ESG gegangen <strong>und</strong> trägt den handschriftlichen Vermerk „lesen +<br />

zurück!“ (beim Autor).<br />

Liebe <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>!<br />

Aufgr<strong>und</strong> eines Versehens überschneidet sich der mit einigen von uns vereinbarte Termin zur Weiterarbeit<br />

am „FRIEDENSGEBET 87“ mit der [Sitzung des] Synodalausschusses F-U-G am 13.1.87. Nach kurzer<br />

Rücksprache mit einigen von Euch lade ich Euch deshalb jetzt für Dienstag, 20.1.87, 19.30 Uhr zu mir<br />

ein. Bitte macht das Kommen eines Vertreters Eurer Gruppe möglich.<br />

Für die noch nicht Beteiligten:<br />

Ab 2. Febr. ‘87 beginnt als gemeinsames Unternehmen der (F)riedens- (U)mwelt- <strong>und</strong><br />

(G)erechtigkeitsgruppen in Leipzig das wöchentliche FRIEDENSGEBET, montags 17 Uhr in der<br />

Nikolaikirche. Dafür liegt ein 10-Elemente-Ablaufvorschlag vor, der den notwendigen Arbeitsaufwand<br />

der gestaltenden Gruppe in Grenzen hält (je 2 Exemplare/Gruppe am 20.1.). Danach jeweils<br />

Gesprächsmöglichkeit in der Jugendkapelle.<br />

Jeden 1. Montag/Monat Friedensgebet mit anschließendem erweiterten TREFF der FUG-Gruppen in der<br />

Jugendkapelle. Das 1. Mal am 2.2.<br />

Bitte überlegt, falls Ihr noch nicht beteiligt seid, ob <strong>und</strong> wann Ihr Euch als Gruppe in das Unternehmen<br />

noch einklinken könnt. Für alle Beteiligten würde das einen reduzierten Aufwand bedeuten. Außerdem die<br />

Vernetzung auf Stadtebene befördern.<br />

Am 20.1.: Vorbereit. Mappen-Vervollständigung [/] Werbung (bitte Plakat-Vorschläge) [/]<br />

Terminvereinbarungen ab März<br />

Herzlichen Gruß <strong>und</strong> guten Start ‘87 Euch <strong>und</strong> uns<br />

[gez.] Chr. Wonneberger<br />

26 Innerkirchliche Information<br />

Brief von Pf. Führer für den Kirchenvorstand von St. Nikolai an den Vorsitzenden des<br />

Bezirkssynodalausschusses Pf. Berger vom 06.10.1987 mit dem Briefkopf der Nikolaikirchgemeinde. Die<br />

Vorlage ist eine Xerokopie (ABL H 35).<br />

79


Der Kirchenvorstand hat in seiner Sitzung am 5.X.1987 dem Antrag des Synodalausschusses nach einer<br />

Informationstafel 105 in St. Nikolai unter folgenden Voraussetzungen zugestimmt:<br />

1. Der Antragsteller muß gestalterisch den anderen Aufstellern passend einzufügen sein <strong>und</strong> dem<br />

Qualitätsanspruch der Kirche genügen.<br />

2. Die Informationen für diesen Aufsteller sind in der Kanzlei abzugeben, werden vom Vorsitzenden des<br />

Kirchenvorstandes abgezeichnet <strong>und</strong> von unseren Mitarbeitern angebracht.<br />

27 Stasi-Information<br />

Operativinformation 260/87 (Hinweis- <strong>und</strong> Merkmalskomplex 2) des Leiters der KD Leipzig-Stadt des MfS<br />

(Oberst Schmidt i.V. unleserlich Ref. XX/2 grie-hpl) vom 14.11.1987 an die Abt. XX <strong>und</strong> AKG der BV<br />

Leipzig zum Gespräch zwischen dem Sektorenleiter Kirchenfragen des RdS Leipzig <strong>und</strong> Sup. Magirius, in<br />

dem es um die Veranstaltung „Der Friede muß unbewaffnet sein“ ging. Die Information ging laut Verteiler an<br />

die Abteilungen XX <strong>und</strong> AKG der BV <strong>und</strong> die Referate AuI <strong>und</strong> XX/2 der KD Leipzig. AKG als konkreter<br />

Adressat ist in der Vorlage unterstrichen worden. Am rechten oberen Rand der Information wurde<br />

handschriftlich „ZPDB“ vermerkt. Außerdem wurden hinter mehreren Personennamen handschriftlich die<br />

Stasi-interne Speichernummer eingetragen. Die Operativinformation wurde in: Dokumente zur Kirchenpolitik<br />

in Sachsen, herausgegeben von „IFM e.V./Forschungszentrum zu den Verbrechen des Stalinismus“<br />

veröffentlicht.<br />

Verlauf der Friedensdekade - 13.11.87106 Durch die Organe des Zusammenwirkens107 unserer DE wurde bekannt, daß am 13.11.87 durch den<br />

Sektorenleiter Kirchenfragen des Rates der Stadt Leipzig ein Gespräch mit Superintendent Magirius,<br />

Friedrich [...] geführt wurde. Gegenstand des Gespräches war die durch Pfarrer Wonneberger, Christoph<br />

[...] geplante Veranstaltung „Der Frieden muß unbewaffnet sein“ am 16.11.1987 in der Reformierten<br />

Kirche. Dem Superintendenten wurde zur Kenntnis gegeben, daß durch Wonneberger geplant ist, im<br />

Rahmen der Veranstaltung Unterschriften für eine Eingabe an den Staatsratsvorsitzenden, Gen. Erich<br />

Honecker, zu sammeln108 . Der Superintendent reagierte darauf sichtlich betroffen <strong>und</strong> legte dar, daß er<br />

nun die Rolle des Wonnebergers immer deutlicher erkenne. Wonneberger würde keinerlei politisches<br />

Geschick besitzen <strong>und</strong> durch sein Verhalten Spannungen in das Verhältnis Staat-Kirche hineintragen. Der<br />

Superintendent wird Wonneberger eine Unterschriftensammlung untersagen. Da er selbst am 16.11.87<br />

keine Zeit habe, werde er seinen Vertreter, Pfarrer Wugk, Manfred [...] zum Besuch der Veranstaltung<br />

auffordern. Es kann eingeschätzt werden, daß durch die Gespräche mit Superintendenten Magirius <strong>und</strong> das<br />

Aufzeigen der belastenden Rolle des Pfarrers Wonneberger auf das Verhältnis Staat-Kirche der<br />

Differenzierungsprozeß im innerkirchlichen Bereich fortgesetzt wurde 109.<br />

An dem sogenannten Friedensabend der Nikolaikirche am 13.11.87 von 18.00 - 24.00 Uhr nahmen ca. 400<br />

Personen teil. 90 % davon waren Jugendliche zwischen 18 <strong>und</strong> 25 Jahren. Der Abend war in vier Teile<br />

105 Am 4.10. hatte Pf. Berger aufgr<strong>und</strong> eines Beschlusses des BSA vom 28.09.1987 um die Aufstellung von<br />

Informationstafeln in der Nikolaikirche gebeten. In dem Brief hieß es: „Auf dieser Tafel sollen die im<br />

Bezirkssynodalausschuß vertretenen Gruppen die Möglichkeiten erhalten, über ihre Veranstaltungen zu<br />

informieren. Herr Superintendent Magirius wird dem KV dazu nähere Erläuterungen geben können.“ (ABL H 35)<br />

106 Solche Berichte gab es nicht nur für diesen Tag der FD 1987. Auch die staatlichen Stellen berichteten regelmäßig<br />

„nach oben“ über Veranstaltungen im Rahmen der FD. So gibt es auch ein IN-Telegramm von H. Reitmann (i.A.<br />

Jakel) vom 16.11.1987 an das StfK über das FG am 13.11.1987 (BArch O-4 1435).<br />

107 Gemeint waren staatliche Stellen oder Organisationen, die regelmäßigen Kontakt zum MfS pflegten.<br />

108 Diese Eingabe zum SoFD wurde an verschiedene Stellen gerichtet, ohne daß es zu konstruktiven staatlichen<br />

Reaktionen kam (Briefwechsel ABL H 1). Es wurden ca. 60 Unterschriften während der Veranstaltung<br />

gesammelt.<br />

109 H. Reitmann berichtete über dieses Gespräch: „Im Gespräch mit den Staatsorganen äußerte Superintendent<br />

Magirius, daß er den Ärger mit Pfarrer Wonneberger satt habe <strong>und</strong> Maßnahmen einleiten wolle, da dieser das<br />

Verhältnis Staat-Kirche enorm gefährde. Es sei seine Absicht, zusammen mit Bischof Hempel eine Aussprache<br />

mit Wonneberger zu führen.“ (BArch O-4 1435)<br />

80


untergliedert, die durch St<strong>und</strong>engebete unterbrochen waren.<br />

Im 2. Teil [sic!] fanden in unterschiedlichen Räumen der Kirche statt:<br />

− Auftritt eines Liedermachers Kluge (weitere Angaben nicht bekannt)<br />

− Diskussionsr<strong>und</strong>e „Friedensfre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Staatsgewalt“ mit einer Gruppe Jugendlicher aus der BRD<br />

(Nähe Tübingen)<br />

− Diskussionsr<strong>und</strong>e „Wehrdienstverweigerung“ mit Dr. Gräber (weitere Angaben nicht bekannt)<br />

− Die Initiativgruppe Hoffnung Nicaragua bot Kaffee <strong>und</strong> Kuchen zum Kauf an. Der Erlös soll für<br />

Nicaragua gespendet werden. Gleichzeitig wurde eine Paketsammlung für Mosambique durchgeführt.<br />

Im 2. Teil fand statt:<br />

− Fortsetzung der Diskussionsr<strong>und</strong>e unter Leitung der CFK mit den BRD-Bürgern<br />

− Diskussionsr<strong>und</strong>e „Frauen <strong>und</strong> Gewalt“<br />

− Auftritt des Liedermachers Jankowski (weitere Angaben nicht bekannt)<br />

Im 3. Teil fand statt:<br />

− Diskussionsr<strong>und</strong>e „Amnestie - Was nun?“<br />

− Bilderdiskussion „Kerstins Bilder“<br />

− Erziehung wozu - für was?<br />

− Fortsetzung der Diskussionsr<strong>und</strong>e unter Leitung der CFK<br />

Im 4. Teil zeigte die „Michaelisspielschar“ das Pantomimenstück „Drei Tage im Leben von Charly“.<br />

Inhaltlich wurde zu den einzelnen Teilen des Friedensabends folgendes bekannt:<br />

In der Diskussionsr<strong>und</strong>e „Friedensfre<strong>und</strong>e“ <strong>und</strong> „Staatsgewalt“, in der zunächst die Tübinger Gruppe über<br />

ihre Erfahrungen mit der Polizei <strong>und</strong> den BRD-Gerichten berichtete, konzentrierte sich die Diskussion auf<br />

die Frage, wie weit man gehen könne. Der Gr<strong>und</strong>tenor beim Publikum war, daß der Staat die Hand<br />

gereicht hat <strong>und</strong> man mit dem Staat auch weiter reden will. Ein Diskussionsredner berichtete von seiner<br />

Aktion auf dem Karl-Marx-Platz mit einem Plakat zur Großk<strong>und</strong>gebung für die Opfer des Faschismus.<br />

Dieser Diskussionsbeitrag wurde durch die Diskussionsleitung nicht unterstützt <strong>und</strong> geschickt überspielt.<br />

In der weiteren Diskussion wurde die Frage des Sinns von Gewalt angesprochen. Durch einen der BRD-<br />

Jugendlichen wurde als Antwort das Beispiel von 2 Polizistenmorden in [sic!] Demonstrationen in der<br />

BRD angeführt <strong>und</strong> daß dafür jetzt die Grünen verantwortlich gemacht werden. Gewalt sei also nutzlos.<br />

Viel besser sei, dort, wo zahlenmäßige Überlegenheit besteht, wenn immer 2 Leute einen Polizisten in<br />

ablenkende Diskussionen verwickeln.<br />

Im 2. Teil der Diskussionsr<strong>und</strong>e wurde ein englischer Pfarrer vorgestellt. Die Diskussionsr<strong>und</strong>e wurde<br />

durch einen historischen Abriß der CFK eingeleitet. Über die Darstellung, daß die CFK Bausoldaten zu<br />

beeinflussen sucht, mit Waffe zu dienen, entwickelte sich eine Diskussion. Hier trat ein Matthias<br />

Hegewald (phon.) auf, der selbst, nach seinen Ausführungen, Bausoldat gewesen ist. Er beschrieb, wie<br />

schwer der Entschluß, Bausoldat zu werden, für ihn war. Durch den englischen Pfarrer wurde die Frage<br />

aufgeworfen, wie der Faschismus hätte bekämpft werden können, ohne daß Christen eine Waffe in der<br />

Hand gehabt haben. Insgesamt kann eingeschätzt werden, daß diese Diskussionen keine offenen Angriffe<br />

auf die Politik unseres Staates enthielten. In der Diskussionsr<strong>und</strong>e „Amnestie - was nun?“ berichteten 2<br />

Amnestierte über ihre Schwierigkeiten. Diese seien, nach ihrer Darstellung, vor allem die Probleme in<br />

ihren Betrieben bei der Einfügung in die Arbeitskollektive. Das durch die Spielschar der Michaeliskirche<br />

vorgeführte Pantomimenstück handelt davon, wie sich Bürger einer Stadt an eine Bombe gewöhnen. Es<br />

war in den USA angesiedelt, aber es wurden kurzzeitig Möglichkeiten suggestiert [sic!], daß es natürlich<br />

jede andere Stadt sein könne. Nachdem sich alle Bürger der Stadt an den Anblick der Bombe gewöhnt<br />

haben, explodiert diese <strong>und</strong> alle sterben. Das Pantomimenstück wurde vom Publikum begeistert<br />

aufgenommen.<br />

Außerhalb des Programmablaufes war in der Kirche eine Ausstellung aufgebaut. Hier wurden zu ca. 50 %<br />

Fotos vom Olof-Palme-Marsch 110 gezeigt. Diese Fotos waren sowohl Abbildungen der mitgeführten<br />

Losungen als auch Bilder von Sicherheitskräften.<br />

Weiterhin hing neben dieser Ausstellung eine Art Wandzeitung aus. Sie beinhaltete einen „offenen Brief“<br />

110 s. Anhang, S. 375<br />

81


an das Publikum. Sinngemäß wurde hier behauptet, jeder Bürger sei in sich gespalten. Auch der Staat<br />

wäre in sich gespalten, <strong>und</strong> deshalb gebe es kaum Identifikation mit diesem Staat. Diese Aufspaltung hätte<br />

verschiedene Phasen. Abgeleitet davon wurde die Behauptung, der Staat würde seine Bürger einmauern,<br />

im Sinne von geistig <strong>und</strong> körperlich einmauern. Es gäbe keinen freien Meinungsaustausch. In diesem<br />

Zusammenhang wird aufgefordert, daß Christen keinen Übersiedlungsantrag stellen sollen. Nur hier<br />

könnten sie etwas ändern. Andererseits soll jeder Christ Übersiedlungssuchenden helfen. Ein neues<br />

Denken sei jetzt angebracht. Weiterhin wurde in diesem „offenen Brief“ aufgefordert, viele BRD-<br />

Kontakte zu knüpfen, um der Einmauerung zu entgehen. Im Zeitraum von 18.00 - ca. 22.00 Uhr wurde an<br />

einem Stand eine Unterschriftensammlung 111 durchgeführt. Der Text dieser Unterschriftensammlung<br />

entspricht der in der Laurentiuskirche am 25.10.1987 durchgeführten (Operativinformation 238/87 112) .<br />

Die ausgelegten Blätter wurden von ca. 100 bis 150 Personen unterzeichnet. Von den anwesenden<br />

Personen konnten eindeutig identifiziert werden Wonneberger, Christoph [...] <strong>und</strong> Lux, Petra [...]. Die L.<br />

äußerte sich der Quelle gegenüber enttäuscht vom Verlauf des Friedensabends. Ergänzungen zum Inhalt<br />

<strong>und</strong> Personifizierung der Teilnehmer erfolgen noch.<br />

28 Stasi-Information<br />

Operativinformation Nr. 268/87 (Hinweis- <strong>und</strong> Merkmalskomplex 2) des Leiters der KD Leipzig-Stadt des<br />

MfS (Oberst Schmidt i.V. unleserlich Ref. XX/2 grie-do) vom 21.11.1987 an den 1. Stellv. des Leiters der BV<br />

Leipzig (Oberst Eppisch) <strong>und</strong> an die Abteilungen XX <strong>und</strong> AKG der BV Leipzig zu einem Gespräch zwischen<br />

R. Sabatowska <strong>und</strong> Sup. Magirius, in dem es erneut um die Veranstaltung „Der Friede muß unbewaffnet sein“<br />

ging. Die Information ging laut Verteiler an Eppisch <strong>und</strong> die Abteilungen XX <strong>und</strong> AKG der BV <strong>und</strong> die<br />

Referate AuI <strong>und</strong> XX/2 der KD Leipzig. AKG als konkreter Adressat ist in der Vorlage unterstrichen worden.<br />

Am rechten oberen Rand der Information wurde handschriftlich „ZPDB“ vermerkt. Außerdem wurden hinter<br />

mehreren Personennamen handschriftlich die Stasi-interne Speichernummer eingetragen. Die<br />

Operativinformation wurde in: Dokumente zur Kirchenpolitik in Sachsen, herausgegeben von „IFM<br />

e.V./Forschungszentrum zu den Verbrechen des Stalinismus“ veröffentlicht.<br />

Am 20.11.1987 wurde durch den 1. Stellvertreter des OBM, Genossen Sabatowska <strong>und</strong> dem<br />

Sektorenleiter Kirchenfragen beim Rat der Stadt Leipzig, in Abstimmung mit der KD Leipzig-Stadt <strong>und</strong><br />

Koordinierung mit der Abteilung XX/BV Leipzig ein Gespräch mit dem Superintendenten des<br />

Kirchenbezirkes Leipzig-Ost Magirius, Friedrich [...] in Auswertung des Verlaufes der Friedensdekade im<br />

Verantwortungsbereich, insbesondere der durch den Pfarrer Wonneberger, Christoph [...] am 16.11.1987<br />

in der Reformierten Kirche initiierten Veranstaltung „Der Frieden muß unbewaffnet sein“ (siehe<br />

Operativinformation 262/87 113 der KD Leipzig-Stadt) geführt114<br />

. Superintendent Magirius hatte um<br />

dieses Gespräch zur Klärung von Fragen des Baugeschehens an der Nikolaikirche ersucht. M. äußerte sich<br />

zufrieden über den Verlauf der Friedensdekade. Die Veranstaltung in der Reformierten Kirche sei jedoch<br />

aus dem Rahmen gefallen <strong>und</strong> stellt einen Tiefpunkt dar. Besonders peinlich für ihn ist, daß diese<br />

Veranstaltung nicht in einer ev.-luth. Kirche stattfand, sondern an die Reformierte Kirche vermittelt wurde<br />

<strong>und</strong> die Leitung der Reformierten Kirche nicht über den Inhalt der Veranstaltung informiert war. M.<br />

111 Der Brief an Honecker, in dem u.a. die Abschaffung des Schießbefehls an der Mauer gefordert wurde, ist<br />

abgedruckt in: „Grenzfall“ 8/87 (ABL Box 2).<br />

112 Kopie der Operativinformation 238/87 im ABL.<br />

113 Die Operativinformation 262/87 ist den Herausgebern nicht bekannt.<br />

114 Nach dem Telegramm von Reitmann (i.A. Jakel) an das StfK vom 17.11. fand die „Absprache der betreffenden<br />

Organe“ am 17.11.1987 statt. Anlaß war die Veranstaltung „Der Friede muß unbewaffnet sein“ vom 16.11.1987.<br />

Diese wurde von H. Reitmann als „politisch-konfrontativ“ eingeschätzt (BArch O-4 1435). Die Veranstaltung<br />

hatte folgenden Aufbau: 1. vom Band: Marschmusik, Sirenengeheul, startende Raketen, 2. Kästner „Land der<br />

Kanonen“, 3. Pf. Wonneberger über die Geschichte von SoFD, 4. vom Band: A. Heller „Nachbemerkungen“, 5.<br />

Ein Anspiel der AGM bei dem ein Totalverweigerer, ein Bausoldat <strong>und</strong> ein Soldat auf 3-Jahre dargestellt wurden,<br />

6. Vorstellen der Eingabe, 7. Pf. Berger - Erläuterungen zur rechtlichen Gr<strong>und</strong>lage der Eingabe, 8. mehrere<br />

Diskussionsgruppen.<br />

82


achte zum Ausdruck, daß man sich bei der „Schwesterkirche“ entschuldigen will. M. sei durch den<br />

Pfarrer Dr. Berger, Matthias [/] geb. [.../] Vorsitzender des Synodalausschusses [/] Abteilung XII erfaßt<br />

für KD Leipzig-Stadt über den Verlauf der Veranstaltung <strong>und</strong> die Vorkommnisse informiert worden. Dr.<br />

Berger besuchte die Veranstaltung im Auftrag von Superintendenten Magirius. Das Auftreten von Pfarrer<br />

Wonneberger <strong>und</strong> die initiierte Eingabenaktion wird von Magirius abgelehnt. Er schätzt ein, daß<br />

Wonneberger dadurch provozieren will <strong>und</strong> Reizpunkte im Verhältnis Staat-Kirche schafft. Mit durch<br />

Pfarrer Wonneberger organisierten Veranstaltungen wurden ohnehin nur bestimmte Leute angesprochen.<br />

Magirius drückte die Vermutung aus, daß Wonneberger in seinen Aktivitäten durch seine Verbindungen<br />

nach Berlin unterstützt wird. Mit Wonneberger sei darüber nicht zu reden, zumal Wonneberger den<br />

Magirius als Gesprächspartner nicht akzeptiert. [/] Durch den Superintendenten Magirius wurde der<br />

Landesbischof der ev.-luth. Landeskirche Sachsen Hempel, Johannes über die Vorkommnisse in der<br />

Reformierten Kirche informiert.<br />

Die Vorfälle sind der Anlaß für einen Besuch des Landesbischofs im Dezember 1987 in Leipzig, wo sich<br />

mit Pfarrer Wonneberger auseinandergesetzt werden soll. Magirius gab jedoch zu bedenken, daß man bei<br />

Wonneberger eine bewußtseinsmäßige Veränderung herbeiführen <strong>und</strong> keine administrativen Strafen<br />

anwenden will. Falls sich bei Pfarrer Wonneberger keine bewußtseinsmäßige Veränderung vollzieht, dann<br />

sei es auch in der Kirche möglich, sich von solchen Leuten zu trennen. [/] In Abstimmung zwischen der<br />

KD Leipzig-Stadt <strong>und</strong> dem Sektor Kirchenfragen wird ein Gespräch mit dem Pfarrer der Reformierten<br />

Kirche Sievers, Hans-Jürgen [...] vorbereitet, um diesen noch vor dem Besuch des Landesbischofs Hempel<br />

in Leipzig zu positionieren <strong>und</strong> ihn aktiv in den Auseinandersetzungsprozeß mit Pfarrer Wonneberger<br />

einzubeziehen. Der Verlauf <strong>und</strong> die Wertung der Gespräche mit Superintendent Magirius lassen die<br />

Einschätzung zu, daß die durch die KD Leipzig-Stadt in Abstimmung mit der Abteilung XX eingeleiteten<br />

Maßnahmen wesentlich den innerkirchlichen Auseinandersetzungsprozeß mit Pfarrer W. forcierten.<br />

29 Stasi-Information<br />

Operativinformation 290/87 (Hinweis- <strong>und</strong> Merkmalskomplex 2) des Leiters der KD Leipzig-Stadt des MfS<br />

(Ref. XX/2 grie-wi) vom 15.12.1987 an Abt. XX <strong>und</strong> AKG der BV Leipzig zum Friedensgebet am<br />

14.12.1987 in der Nikolaikirche. Unterzeichnet i.V. für Oberst Schmidt unleserlich (ABL H 10).<br />

Durch zielgerichteten IM-Einsatz der KD Leipzig-Stadt konnten folgende Erkenntnisse zum sog.<br />

Friedensgebet am 14.12.87, 17.00 Uhr in der Nikolaikirche erarbeitet werden. Am Friedensgebet, welches<br />

durch die „Menschenrechtsgruppe“ des Pfarrers Wonneberger, Christoph [...] gestaltet wurde, nahmen ca.<br />

20 Personen teil. [/] Identifiziert wurde [...4 Namen] [/] Der Küster der Nikolaikirche Peterson [richtig:<br />

Petersohn115] <strong>und</strong> eine männliche Person [...] vom katholischen Friedenskreis Leipzig-Grünau. Inhaltlich<br />

beschäftigte sich das Friedensgebet mit „zwischen Mauern leben...“ Es kann eingeschätzt werden, daß<br />

Pfarrer Wonneberger versucht, sich <strong>und</strong> seine Menschenrechtsgruppen im Rahmen der Friedensgebete<br />

weiter zu profilieren. Im Rahmen des Friedensgebetes kam das sog. SoFD-Papier116, welches bereits zur<br />

Veranstaltung am 16.11.87 „Der Frieden muß unbewaffnet sein“ zur Diskussion gestellt wurde, zur<br />

Verteilung. Die Aussagen während des Friedensgebetes werden als offener Angriff auf die Politik von<br />

Partei <strong>und</strong> Regierung der DDR bewertet. Eine interne Diskussion im Anschluß an das Friedensgebet fand<br />

nicht statt. Inoffiziell wurde weiterhin bekannt, daß am 17.12.87 im Gemeindehaus der Lukaskirche ein<br />

internes Treffen des Wonneberger, Christoph [... 3 Namen von Leipziger Basisgruppenmitgliedern]<br />

stattfindet. Dabei soll ein Schreiben an die Landessynode der Ev.-luth. Kirche Sachsens mit der Forderung<br />

einer Umweltbibliothek 117 für Leipzig erstellt werden. Dieses Schreiben soll dann im Jugendpfarramt<br />

115 T. Petersohn war inoffizieller Mitarbeiter des MfS (IMB „Wilhelm“, s. Besier/Wolf, 696ff.)<br />

116 Gemeint ist ein Flugblatt (Ormig-Vervielfältigung beim Jugendpfarramt) mit einem Konzept zur Einrichtung<br />

eines zivilen Ersatzdienstes (ABL H 2), welches von einer Ad-hoc-Gruppe erarbeitet worden war.<br />

117 In Leipzig gab es schon eine Umweltbibliothek (bei der AGU im Jugendpfarramt). Die von der AGM<br />

gewünschte Umweltbibliothek sollte eher eine Bibliothek zu Menschenrechtsfragen sein. Ein Jahr später wurde<br />

dies in Form einer „Gemeindebibliothek“, die die AGM <strong>und</strong> der AKG betreuten, in der Lukas-Gemeinde<br />

83


Leipzig ausgelegt werden, um weitere Personen <strong>und</strong> alternative Gruppierungen zu inspirieren, derartige<br />

Schreiben an die Landessynode zu senden.<br />

Bei Auswertung der Information ist Quellenschutz zu beachten.<br />

30 SED-Information<br />

Durchschlag des chiffrierten Fernschreiben vom 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Leipzig an das Mitglied<br />

des Politbüros <strong>und</strong> Sekretär des ZK der SED H. Dohlus mit Informationen über das Friedensgebet am<br />

25.01.1988 in Leipzig vom 26.01.1988 (10.00 Uhr), unterzeichnet von H. Schumann (StAL SED A 5867).<br />

Den Sicherungsorganen des Bezirkes wurde bekannt, daß für den 25. Januar 1988 eine Gruppe von<br />

bekannten Leuten, die in Verbindung stehen mit der sogenannten Umweltbibliothek der Zionskirche<br />

Berlin, in der Nikolaikirche Leipzig eine Zusammenkunft durchführen wollten, um auch in Leipzig<br />

öffentlichkeitswirksame Maßnahmen der DDR gegen Staatsfeinde durchzuführen118. Dazu sollte das<br />

regelmäßig montags stattfindende Friedensgebet am 25.1. genutzt werden. Das Gebet findet jeden Montag<br />

17.00 Uhr für ca. 30 Minuten statt <strong>und</strong> hat in Abhängigkeit auch des Predigers geringeren oder stärkeren<br />

Zulauf. Am gestrigen Tage haben ca. 160 Personen119 das Friedensgebet besucht. Unter diesen Besuchern<br />

befanden sich bekannte Leute, die diese Beziehung zur Zionskirche haben. Nach Beendigung des Gebets<br />

gegen 17.30 Uhr fand von einer Reihe Teilnehmern des Gebets in der Kirche eine Diskussion statt, was<br />

man als Protest gegen die staatlichen Maßnahmen in Berlin machen könne. Gegen 19.00 Uhr hat sich<br />

diese Gruppe ohne eine Störung der öffentlichen Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung aufgelöst. Es kam also zu<br />

keinerlei Vorfällen in der Öffentlichkeit. Mit den Sicherheitsorganen sind die erforderlichen Maßnahmen<br />

gegen diesen Kreis besprochen <strong>und</strong> gewährleistet.<br />

Horst Schumann [/] 1. Sekretär<br />

DH [Diensthabender] der BL [Bezirksleitung] meldet: [/] Gegen 13.00 Uhr heute wurde von einer VP<br />

[Volkspolizei]-Streife im Schaukasten der Nikolaikirche ein Aufruf des Bischofs von Berlin festgestellt.<br />

Neben anderen kirchlichen Punkten stand dort: [/] „Täglich 17.00 Uhr Friedensgebet für die Freilassung<br />

der Inhaftierten von der Demonstration am 17.1.88 in Berlin“ 120.<br />

31 Stasi-Information<br />

Durchschlag einer Information von der Abteilung XX der BV für Staatssicherheit Leipzig (Major Conrad)<br />

vom 27.01.1988 über ein Gespräch zwischen H. Reitmann, Sup. Magirius <strong>und</strong> Sup. Richter am 27.01.1988<br />

über die Ereignisse in Leipzig in Zusammenhang mit den Verhaftungen in Berlin - ohne Unterschrift aber mit<br />

Bearbeitungsspuren (ABL H 53).<br />

Am 27.1.88 erfolgte durch den Stellvertreter Inneres beim Rat des Bezirkes Leipzig, Genossen Dr.<br />

realisiert. Sie wurde Vorläufer der Bibliothek <strong>und</strong> des Archivs der IFM in Leipzig.<br />

118 Dieser Satz wurde von H. Schumann per Hand abgeändert in: „... um auch in Leipzig öffentlichkeitswirksam<br />

gegen Maßnahmen der DDR gegen Staatsfeinde zu [... nicht zu entziffern].“<br />

119 J. Richter berichtet von 200 Teilnehmern (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 239).<br />

120 In der Erklärung des Bischofs der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Ost), G. Forck, hieß es: „1. Die<br />

Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg tritt für die Freilassung aller Inhaftierten ein, die im Zusammenhang<br />

mit der Demonstration am 17.1.1988 in Untersuchungshaft sind. [...] 6. Das Stadtjugendpfarramt ist beauftragt,<br />

bis zur Klärung der anstehenden Probleme zu Fürbittandachten einzuladen. Die Kirchenleitung wird sich daran<br />

beteiligen, die Anwälte einladen <strong>und</strong> für Gelegenheit zu Rückfragen <strong>und</strong> Aussprachen sorgen. 7. Im<br />

Einvernehmen mit dem Generalsuperintendenten von Berlin wird ein Kontaktbüro ab 22.1.1988, 8.00 Uhr,<br />

ständig unter der Telefonnummer 5592734 erreichbar sein.“ (in: „Fussnote3“, Dok. II/4). Der Berliner Bischof<br />

hatte in seiner Erklärung jedoch das Stadtjugendpfarramt von Ostberlin gemeint! Sie sandte G. Forck in einem<br />

vertraulichen Brief, in dem er sich für die Freilassung der Inhaftierten einsetzte, an E. Honecker (SAPMO-BArch<br />

IV B 2/14/57, 59)<br />

84


Reitmann, in der Zeit von 15.00 bis 16.30 Uhr im Rat des Bezirkes Leipzig eine Gesprächsführung mit<br />

den beiden Leipziger Superintendenten Magirius <strong>und</strong> Richter121 . [/] Die Zielstellung des Gesprächs<br />

bestand darin, die staatliche Forderung nach einer verstärkten Einflußnahme beider kirchlicher Amtsträger<br />

zur Zurückdrängung politisch-negativer Aktivitäten im Rahmen kirchlicher Veranstaltungen im<br />

Zusammenhang mit den Ereignissen in Berlin (Zuführungen <strong>und</strong> Festnahmen) auszusprechen, sowie die<br />

Erwartungshaltung, daß kirchliche Objekte nicht Ausgangspunkt für feindlich-negative<br />

öffentlichkeitswirksame Aktivitäten werden.<br />

Genosse Dr. R. [Reitmann], der anfangs beiden Amtsträgern zur Kenntnis gab, daß er kurz vorher mit dem<br />

Präsidenten des Landeskirchenamtes, Domsch, ein Gespräch [per Telefon] hatte <strong>und</strong> mit ihm<br />

übereinstimmte in der Wahrnehmung gemeinsamer Verantwortung zur Vermeidung von Konflikten, die<br />

das Staat-Kirche-Verhältnis belasten könnten, schilderte die bisherige Entwicklung politisch-negativer<br />

Aktivitäten in Zusammenhang mit stattgef<strong>und</strong>enen kirchlichen Veranstaltungen in der Stadt Leipzig <strong>und</strong><br />

forderte mit Nachdruck, daß die Kirche nicht Ausgangspunkt für strafbare Handlungen werden darf.<br />

Ausgehend von der aktuellen Lageeinschätzung, die Dr. R. gab, wurde durch ihn offensiv die staatliche<br />

Erwartungshaltung gegenüber den kirchlichen Verantwortungsträgern zum Ausdruck gebracht. Beide<br />

Superintendenten brachten zum Ausdruck, daß sie in der Beurteilung der Lage übereinstimmen <strong>und</strong> kein<br />

Interesse daran haben, daß es zu Konfrontationen zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche komme <strong>und</strong> daß vorhandene<br />

aufgezeigte politisch-negative Aktivitäten nicht weiter eskalieren dürfen.<br />

In der nachfolgenden Diskussion brachten die beiden Superintendenten u.a. folgende<br />

Meinungen/Haltungen zum Ausdruck122: Sup. Magirius<br />

− Es herrsche Übereinstimmung darüber, daß es in unserem Staat große Schwierigkeiten mit<br />

Übersiedlungsersuchenden gibt, auch in der Kirche. Für die Lösung diese Problems habe er keine<br />

Lösung parat.<br />

− Man müsse sich staatlicherseits darüber im Klaren sein, daß Berlin eine Sogwirkung hat.<br />

− In der Kirche gäbe es neuerdings Gruppen, die unter dem Stichwort „Glasnost“ Offenheit in der Kirche<br />

suchen, weil sie das in der Gesellschaft nicht finden würden. Diese stellen jetzt Grenzen sowohl in der<br />

Gesellschaft als auch in der Kirche fest. Die Grenzen in der Kirche haben der Kirche bisher von diesen<br />

Personen viel Kritik eingebracht.<br />

− Ein Verbot derartiger Veranstaltungen würde sich gegen die Kirche selbst richten, es gelte jedoch diese<br />

stärker theologisch auszurichten.<br />

− Ausgehend davon, daß man in einem Boot sitze, gilt es beiderseits, die volle Verantwortung<br />

wahrzunehmen.<br />

Sup. Richter<br />

− In seiner 30jährigen Tätigkeit in der Kirche hat er es jetzt erstmals mit Leuten zu tun, die weder in die<br />

Kirche noch in die Gesellschaft „einpaßbar sind“.<br />

− Jeder Pfarrer müsse wissen, auf welchem Felde er sich bewegt.<br />

− Es gäbe in der DDR Probleme, die die DDR-Bürger bewegen <strong>und</strong> teilweise frustrieren. In<br />

Zusammenhang damit sprach er die Rede von Genossen Kurt Hager (ND vom ...) 123,<br />

die<br />

121 vgl. Nachschrift dieses Gespräches von J. Richter, in: Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 242-245. Ein Vergleich zeigt,<br />

daß der Bericht des MfS aufgr<strong>und</strong> der deutlichen Differenzen nicht protokollarisch sein kann. Er geht vermutlich<br />

auf einen Bericht des GMS „Rat“ (W. Jakel) zurück. Das MfS hatte im Januar/Februar 1988 bei der<br />

Gesprächsführung der Abteilung Innere Angelegenheiten mit Kirchenvertretern eine wichtige Funktion (s.<br />

Gesprächskonzeption den MfS vom 30.01.1988 in: Besier/Wolf, 529-532). Die zentrale Einweisung der<br />

stellvertetenden Vorsitzenden der RdB für Inneres zu diesen Gesprächen fand erst am 28.01.1988 statt (ebenda,<br />

530).<br />

122 Nach der Nachschrift von J. Richter haben die Superintendenten u.a. darauf hingewiesen, daß sie über das<br />

„Auftauchen von Ausreisekandidaten“ genauso überrascht seien wie der Staat. Weiter heißt es dort: „Wir stünden<br />

jetzt in einer nicht mit anderen Situationen vergleichbaren Situation, daß es tatsächlich Gruppen gibt, die weder<br />

mit dem Staat noch mit der Kirche etwas im Sinne hätten.“ (ebenda, 243 <strong>und</strong> 244)<br />

123 Gemeint ist die Ablehnung von Reformen (Perestroika) in der DDR mit den Worten: „Würden Sie [...] wenn Ihr<br />

85


Reiseproblematik Ungarn-CSSR124 <strong>und</strong> die Verleihung des Karl-Marx-Ordens an den Rumänischen<br />

Präsidenten 125 an.<br />

− Die Tätigkeit der Kirche sei klar umrissen vom üblichen Zeugnis her <strong>und</strong> das bildet auch den Rahmen<br />

für die Tätigkeit eines Pfarrers. Ein Pfarrer, der über die Grenzen seines Verantwortungsbereiches<br />

hinausgeht, muß wissen, was er tut <strong>und</strong> entsprechende Verantwortung tragen.<br />

− Ohne dem Staat eine Schuldzuweisung zu geben, wäre es notwendig, sich die Frage zu stellen, warum<br />

diese Leute so geworden sind. Diese Fragen solle man sich staatlicherseits intern stellen.<br />

− Die Kirche könnte es sich einfach machen <strong>und</strong> die Probleme auf den Staat zu schieben, was sie jedoch<br />

nicht mache, sondern nimmt selbst Verantwortung wahr, damit die Probleme nicht noch größer<br />

werden.<br />

− Als Aufsichtsbehörde für die Studentengemeinde müsse er Kenntnis darüber erlangen, ob z.B. während<br />

der Veranstaltungen Handzettel gefertigt wurden oder außerhalb der Kirche, um entsprechend in<br />

Aktion treten zu können.<br />

− Es sei ihm bewußt, daß es in dieser bewegten politischen Zeit sowohl „Stromschnellen“ <strong>und</strong><br />

„Untiefen“ gäbe. In der jetzigen Zeit gehe es darum, „die Kuh vom Eis zu holen“.<br />

Im Ergebnis des Gesprächs wurden folgende Punkte festgehalten:<br />

1. Die staatliche Forderung, daß innerhalb der Kirchen „keine neuen Türen aufgemacht werden“.<br />

(Offensichtlich werden die weiteren Friedensgebete in der ESG oder einer anderen Randkirche, jedoch<br />

nicht im Stadtzentrum, durchgeführt.) 126<br />

2. In den Veranstaltungen müssen die theologischen Aussagen das Primat haben.<br />

3. Ausgehend von gleichen Interessen nehmen beide Superintendenten verschärft ihre Verantwortung<br />

wahr. [/] Beide Superintendenten wollen dem nachgehen, ob ihnen genannte öffentlichkeitswirksame<br />

Aktivitäten ihren Ausgangspunkt in der Veranstaltung der ESG hatten. [/] Beide Superintendenten<br />

nehmen Einfluß darauf, daß kirchliche Mittel nicht für politisch-negative Zwecke mißbraucht werden<br />

(z.B. Vervielfältigungsgeräte).<br />

4. Die Begleitung des Studentenpfarrers Bartels soll kirchlicherseits künftig verstärkt werden.<br />

Das gesamte Gespräch verlief in einer offenen <strong>und</strong> sachlichen Atmosphäre.<br />

32 Staatliche Einschätzung<br />

Auszug aus einer Information des Rates der Stadt Leipzig vom Stellv. des OBM für Inneres über die<br />

Staatspolitik in Kirchenfragen im Berichtszeitraum Dezember 87/Januar 1988 vom 01.02.1988. Die<br />

Information wurde von Sabatowska unterzeichnet. Reitmann unterzeichnete den Empfangsstempel (StAL<br />

BT/RdB 21396).<br />

1. Zur politischen Situation in den Kirchen<br />

[...]<br />

6. Fallinformation 127<br />

Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren.“<br />

(Stern 9.4.1987; ND vom 10.4.1987).<br />

124 Seit 15. Januar 1988 gab es einen Umtausch-Höchstsatz für Touristen in die CSSR <strong>und</strong> nach Ungarn, die<br />

Individualreisen nahezu ausschlossen.<br />

125 Die Verleihung eines der höchsten Auszeichnungen der DDR an Nicolea Ceausescu ist von der Opposition in der<br />

DDR sehr sensibel vermerkt worden. Sie wurde als zynische Sympathieerklärung an den Despoten <strong>und</strong> Diktator<br />

verstanden, welche die leidende Bevölkerung verhöhnte <strong>und</strong> Rückschlüsse auf mögliche Entwicklungen in der<br />

DDR nahelegte. Den Orden erhielt Ceausescu anläßlich seines 70. Geburtstages am 26.01.1988.<br />

126 In der Gegenüberlieferung heißt es: „... wir möchten darauf hinwirken, daß die Gebetsgottesdienste dieser Art<br />

nicht in die Innenstadt, sprich: Nikolaikirche zurückkehrten. Wir haben diese Bitten entgegengenommen, dabei<br />

aber auf die tatsächlichen Grenzen unserer Einflußmöglichkeiten verwiesen.“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 144f.)<br />

127 Diese „Fallinformation“ wurde teilweise wörtlich in den Informationsbericht 1/88 des RdB, Kirchenfragen, vom<br />

08.02.1988 übernommen (BArch O-4 1117).<br />

86


Es wurde bekannt, daß am 22.1.1988, 20.00 Uhr im Gemeindesaal der Michaeliskirche unter der<br />

Verantwortung der Arbeitsgemeinschaft „Umweltschutz“ beim Jugendpfarramt Leipzig eine<br />

Veranstaltung unter dem Thema „Was geschah im November 1987 in der Zionskirche?“ stattfinden<br />

würde. Aus diesem Anlaß wurde durch den Bereich Kirchenfragen beim Rat der Stadt ein Gespräch mit<br />

dem zuständigen Jugendpfarrer Kaden durchgeführt. Dabei war zu erfahren, das Anliegen sei die<br />

Information an interessierte Jugendliche durch direkt Betroffene aus der Umweltbibliothek in Berlin. Pf.<br />

Kaden äußerte, daß es nicht um die Erzeugung von Konfrontation bei den Jugendlichen gehe, obwohl alle<br />

diese Fragen eminent politisch seien. Seine Hauptaufgabe sehe er darin, die Diskussion auf sachlicher<br />

Ebene zu führen, da überhaupt kein Interesse an einer Eskalation dieser Frage bestehe. Als Jugendpfarrer<br />

möchte Kaden ein gutes Verhältnis zum Staat. Nur im Miteinander sei eine Weiterentwicklung dieses<br />

Verhältnisses denkbar. In diesem Sinne werde er seine Verantwortung bei diesen Veranstaltungen<br />

wahrnehmen. Er rechnet mit einer Teilnehmerzahl von 70-80 Jugendlichen.<br />

An der Veranstaltung am 22.1.1988 nahmen dann aber 300-350 Interessierte teil, so daß nicht wie<br />

vorgesehen der Gemeindesaal benutzt werden konnte, sondern die Veranstaltung dann in der<br />

Michaeliskirche selbst stattfand. Unter den Teilnehmern befanden sich 4 Pfarrer (Pf. Kaden, Pf.<br />

Krumbholz, Pf. Berger <strong>und</strong> Pf. Lösche). Ein „direkt Betroffener“ aus Berlin war nicht anwesend. Ein<br />

Sprecher informierte über die Ereignisse in Berlin. In der Diskussion wurden „Protestschreiben“ einzelner<br />

Anwesender verlesen. Ein Brief der Teilnehmer der Veranstaltung wurde erarbeitet <strong>und</strong> zur Unterschrift<br />

ausgelegt128 . Die anwesenden Pfarrer (außer Pf. Lösche) bezogen öffentlich Position <strong>und</strong> distanzierten<br />

sich deutlich vor einem Mißbrauch kirchlicher Gebäude zu gesetzwidrigen Handlungen. Am Ende<br />

konstituierte sich eine „Arbeitsgruppe“ von ca. 20 Personen, deren nächste Aktion das Friedensgebet in<br />

der Nikolaikirche am 25.1.1988 war 129.<br />

Zu diesem Friedensgebet am 25.1.1988 versammelten sich ca. 200 Personen unter dem Motto „Für die<br />

Freilassung der in Berlin Verhafteten“. Unter den Teilnehmern befanden sich Superintendent Magirius,<br />

Pfarrer Führer <strong>und</strong> Pfarrer Lösche. Es wurde die Stellungnahme des Bischofs der ev. Kirche Berlin-<br />

Brandenburg, Bischof Forck, verlesen, in der er sich mit den Verhafteten solidarisierte 130 . Durch<br />

Teilnehmer <strong>und</strong> durch Mitglieder der evangelischen Studentengemeinde wurden Angriffe gegen die<br />

sächsische Kirchenleitung geführt, da sie sich nicht mit den Festgenommenen solidarisiert. Der zuständige<br />

Superintendent Magirius <strong>und</strong> Pfarrer Führer bezogen eine positive Haltung. Pf. Führer, als<br />

verantwortlicher Pfarrer der Nikolaikirche, lehnte ab, die Nikolaikirche für weitere solche Veranstaltungen<br />

zur Verfügung zu stellen. Demonstrative Handlungen schlossen sich nicht an. Es wurde beschlossen, diese<br />

„Gebete“ nunmehr täglich durchzuführen.<br />

Der Raum für diese täglichen „Friedensgebete“ wird durch die evangelische Studentengemeinde in der<br />

Alfred-Kästner-Str. 11 bereitgestellt. Daraufhin wurde durch den Bereich Kirchenfragen des Rates der<br />

Stadt mit Studentenpfarrer Bartels eine Aussprache am 26.1.1988 durchgeführt. In dieser Aussprache<br />

bekannte sich Pfarrer Bartels zu seiner Verantwortung als Veranstalter, ließ aber auch eine deutliche<br />

solidarische Haltung zu Liedermacher Krawczyk u.a. erkennen.<br />

Im Verlauf des 26.1. tauchten an drei Stellen in der Stadt (Nikolaikirche, Michaeliskirche <strong>und</strong><br />

Genezarethkirche) Plakate mit Aufforderungen zur Teilnahme an den Friedensgebeten in der ev.<br />

Studentengemeinde sowie (Michaeliskirche) zur Solidarität mit Krawczyk auf.<br />

An der Veranstaltung am 26.1. zum Friedensgebet in der ev. Studentengemeinde beteiligten sich ca. 100<br />

Personen. Während dieser Zusammenkunft wurden 2 Übersichten angefertigt (auf einem Zettel sollten<br />

sich alle eintragen, die mit Sanktionen gegen sich rechnen, auf einem zweiten Zettel alle die, die bereit<br />

128 In einem Protestbrief an Honecker hieß es u.a.: „Werter Herr Staatsratsvorsitzender, setzen Sie sich für die<br />

Freilassung der Verhafteten ein <strong>und</strong> sichern Sie das Recht <strong>und</strong> den Schutz der Teilnahme an öffentlichen<br />

Demonstrationen.“ (ABL H 1)<br />

129 Aus dieser Gruppe bildete sich nach dem FG am 25.01. die Kontaktgruppe „Friedensgebet für die Inhaftierten“.<br />

130 Die Stellungnahme der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg vom 30.01.1988 ist<br />

abgedruckt in: Rein 1990, 63-65. Beim Gespräch am 02.02.1988 mit Sabatowska erklärte Sup. Magirius diese<br />

Erklärung zur Gr<strong>und</strong>lage des Agierens der Leipziger Superintendenten (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 248). Als<br />

Ephoralr<strong>und</strong>schreiben 2/88 versandte er sie am 02.02.1988 an alle Pfarrer der Superintendentur Leipzig-Ost.<br />

87


sind, an einer Mahnwache teilzunehmen). Dazu erklärten sich ca. 15 Personen bereit.<br />

In der Nacht vom 26. zum 27.1.1988 tauchten in der Stadt an mehreren Stellen Flugblätter mit dem Inhalt<br />

[/] „Freiheit für Krawczyk“ [/] „Leipziger, kämpft um Eure Menschenrechte <strong>und</strong> solidarisiert Euch mit<br />

den Berliner Inhaftierten“ [/] „Tägliche Informationen <strong>und</strong> Mahnwachen in der ev. Studentengemeinde“<br />

[/] auf.<br />

Am 28.1.1988 wurde im Schaukasten an der Markusgemeinde, Str. d Befreiung 59, folgende<br />

Veranstaltung angekündigt: [/] 2.2.1988 - 19.30 Uhr [/] „Vom Hexenprozeß zur politischen Anklage“ [/]<br />

Diese Veranstaltung findet aus aktuellem Anlaß im oberen Saal über der Markuskapelle (Str. d. Befreiung<br />

59) statt. [/] Unterschrift Pf. Turek [...]<br />

33 Kirchenvorstandsprotokoll<br />

Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 26. Sitzung des Kirchenvorstands der Nikolaikirchgemeinde<br />

vom 01.02.1988. Das Protokoll wurde von W. Hofmann angefertigt <strong>und</strong> von drei Vorstandsmitgliedern<br />

unterzeichnet (ABL H 54).<br />

[...] Zu 5.) Pf. Führer gibt einen Bericht über die Vorgänge in Berlin. Verlesung des Wortes der Kirche<br />

vom 30.1.88 (Berlin-Brandenburg) 131 . Dazu Berichte über die Durchführung der letzten Friedensgebete in<br />

der Nikolaikirche, aber auch Bedenken über die Durchführung von Veranstaltungen. Eine Aussprache des<br />

Kirchenvorstandes schließt sich an. Als Antrag liegt vor, das Friedensgebet täglich auf vier Wochen in der<br />

Nikolaikirche zu halten. Der Kirchenvorstand stimmt dem Antrag zu, das wöchentliche Friedensgebet an<br />

den Tagen Montag, Dienstag, Donnerstag, Freitag in der Zeit vom 2.-26. Februar 1988 zu halten. Das<br />

montäglich stattfindende Friedensgebet ist von dieser zeitlichen Begegnung nicht betroffen. [... eine Zeile<br />

geschwärzt] Dem Antrag auf Durchführung des Friedensgebetes am 13.2.1988, 19.30 Uhr mit<br />

anschließendem Lieder- <strong>und</strong> Musikprogramm der Kontaktgruppe Friedensgebet 132 wird vom KV nicht<br />

zugestimmt. [... eine Zeile geschwärzt] Im Anschreiben des KV soll die Michaelis- oder Thomaskirche<br />

vorgeschlagen werden. Der KV beschließt weiterhin, bei Ablehnung durch die dortigen KV die<br />

Nikolaikirche bereitzustellen.<br />

34 Kirchenbucheintragung<br />

Handschriftliche Eintragungen im Gästebuch III der Nikolaikirche, die zwischen dem 29.01. <strong>und</strong> 05.02.1988<br />

gemacht wurden 133 (Nikolaikirchgemeinde).<br />

Leistet Solidarität mit den Inhaftierten. Betet für sie, gebt ihnen Mut <strong>und</strong> Kraft. Denkt so wie sie <strong>und</strong> sagt<br />

die Wahrheit! Äußert Eure Meinungen offen! [Daneben wurde geschrieben:] Und warum sind Sie dann<br />

anonym geblieben?? 28.4.88<br />

29.1.88 Frieden der Welt. Vertraut auf Gott.<br />

Frieden daß was Gott uns gab soll erhalten bleiben Gott Amen 29.1.88 [... Unterschrift nicht zu entziffern]<br />

Denkt an die Inhaftierten, sie kämpfen auch für uns.<br />

Gottes Segen allen Menschen die guten Willens sind. H. Bauersfeld<br />

Wir können das Bestehende nur ändern, wenn wir dagegen ankämpfen. [... Unterschrift nicht zu<br />

entziffern]<br />

30.01.88 [/] Meine Kinder, kann mir Gott auch nicht wiedergeben [/] Chr. Jäger, [... Leipziger Adresse]<br />

Solidarität mit den Inhaftierten ? - Ja! Ich teile nicht ihre politische Ansichten - mich empört jedoch der<br />

Umgang mit politisch Andersdenkenden in diesem Staat! [/] Weg mit den „Reise-Verboten“ in der DDR.<br />

131 s. Anm. 130<br />

132 s. Anhang S. 388<br />

133 Die Rechtschreibung wurde nicht verändert. Jeder Schriftwechsel wird mit einem Absatzwechsel kenntlich<br />

gemacht.<br />

88


[/] ein Gast aus dem Norden der DDR 1/2.88<br />

Abbau von Gewalt & Feindbildern tut not. Für Solidarität mit den Verhafteten. [/] 1.2.88 J-C Böttger,<br />

Berlin-O<br />

Die schönsten Denkmäler sind <strong>und</strong> bleiben die Kirchen! [/] 1.2.88 [/ ... nicht zu entziffernde Unterschrift]<br />

Freiheit für die noch Inhaftierten vom 17. Januar! Schluß mit diesen Terrorurteilen gegen<br />

Andersdenkende. Handlungen [?] in diesem Regime die an die Praxis des Volksgerichtshofes im<br />

Naziregime erinnern!! [/] dies schrieb ein Christ [?]<br />

Freiheit für die Inhaftierten vom 17. <strong>und</strong> 25.1.88. Entgegenkommen für Andersdenkende <strong>und</strong> bitte kein<br />

Rückfall in die Stalin- <strong>und</strong> Ulbrichtzeit. [/] Alice Tante<br />

Freiheit <strong>und</strong> Frieden für alle! [/ Unterschrift nicht zu entziffern]<br />

Bin derselben Meinung. [Pfeil nach oben /] Aber ob mit Gott zu rechnen ist?! Der Mensch muß auf seine<br />

eigene Kraft bauen, sonst schaffen wir es nie!!! Katrin Schüssler [/] Petm. 1597 [Neben diesem Absatz<br />

steht mit gleicher Handschrift:] Gibt es Gott? [/] Beweise!<br />

[es folgt ebenfalls am Rand <strong>und</strong> später zwischen den beiden vorhergehenden Eintragungen als Reaktion<br />

auf die vorhergehende:] Nein aber den Glauben u. die Bibel d. frohen Botschaft! Versuch es doch mal!! [/]<br />

Natürlich müssen wir als Menschen etwas tun uns rühren für die Gerechtigkeit auf Erden (aber nur mit<br />

seiner Hilfe ist’s zu schaffen!! Dagmar Holz, Ebersbach 7231<br />

Freiheit den Inhaftierten vom 17. Januar. Solidarität mit den Andersdenkenden sowie Einhaltung der<br />

elementarsten Menschenrechte in Berufung auf die Schlußakte von Helsinki (Ausreisepraktiken in der<br />

DDR!) 2.2.88 [es folgen vier Unterschriften]<br />

Freiheit, freie Meinungsäußerung für Andersdenkende! Wohin diese Mißachtung gr<strong>und</strong>legender<br />

Menschenrechte führen kann, das wissen wir in beiden Deutschlands nur zu gut. Heinz Neumann [?]<br />

Für Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> eine neue Demokratie hat Rosa Luxemburg gekämpft <strong>und</strong> ist dafür<br />

gestorben. Dieses Vermächtnis gilt es, mit Leben zu erfüllen. [Unterschrift nicht zu entziffern]<br />

− Ein Märtyrer wie Christus -<br />

− Wann befreit uns die SU das zweite mal??? M. Stephan [Kommentar daneben:]<br />

Super! Michaela Ziegst<br />

134<br />

Wehe unsern Kindern, sollten jemals Heuchler <strong>und</strong> Ignoranten über uns die Macht ergreifen - ihre<br />

Toleranz wäre Inquisition. Spätestens nach dem Mord an Rosa Luxemburg, Juden, Christen, Marxisten<br />

u.a. ist der behauptete Ausspruch „Freiheit ist die Freiheit der Andersdenkenden“ ad absurdum geführt.<br />

Hier wird eine Kirche zur politischen [später wurden hier dahinter zwei Fragezeichen gesetzt] Plattform<br />

gemacht für Menschen, die nicht unbedingt Christen, wohl aber Opositionelle [sic!] sind. Ein Januskopf<br />

für die, die „Christen im Sozialismus“ sein wollen. [/] Jörg Frensel<br />

[Kommentar zum vorhergehenden:] Nein - aber Sein Reich komme!!! dessen bin ich gewiß!<br />

Freiheit, Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit alles was uns verfassungsrechtlich zugesichert ist,<br />

müssen wir in Anspruch nehmen dürfen. Die Kirche wird zum politischen bewegt. Wir alle müssen<br />

aufwachen. [/] Roland Lampella [/] Peter Meineck [... Karl-Marx-Städter Adressen]<br />

[neben dem Vorhergehenden steht:] Wir schließen uns der Meinung an: Silke Pietsch Christiane Pilz<br />

Petra Seifert<br />

Es ist weit gekommen - die Kirche ist wieder einmal zum Podium der freien Meinungsäußerung<br />

geworden. Wo sonst kann man sagen, was man denkt. PF<br />

Freiheit den Inhaftierten des Januar 88. An diese Tage werden wir lange zurück denken können, da es nur<br />

ein kleines Flämmchen war was zu lodern begann. [/] M.G aus Leipzig<br />

Ich bin ein seltener Gast, obwohl ich denke zu euch zu gehören. Ich bin für die Freiheit der<br />

andersdenkenden deshalb bleibt die Forderung Freiheit für die Inhaftierten des Januar 88 nicht aus. [/] R.<br />

Rüdiger Lippold [... Leipziger Adresse]<br />

Mit der Inhaftierung bewies die Staatsmacht ihre Schwäche u. innere Zerrissenheit (Fäulnis!). Damit ist<br />

wieder einmal die vielgepriesene Demokratie, Achtung der Menschenwürde u. Freiheit (laut Verfassung!<br />

der DDR!) hier in diesem Land des „real existierenden“ Sozialismus vergewaltigt u. mit Füßen getreten<br />

134 Diese Eintragung wurde für das MfS zu Anlaß, Maßnahmen gegen diese beiden Jugendliche zu eröffnen (BStU<br />

Leipzig AB 1158, u.ö.)<br />

89


worden. Wer dies nicht sieht o. sehen will ist polit. blind. Neben grausamen u. finsteren Regimes wie<br />

Chile, Südafrika etc. gibt es noch die DDR die gleiches o. ähnliches praktiziert. Wer beweist mir das<br />

Gegenteil? Wer friedliche Demonstranten die für das mit [ei]nem Plakat unterstreichen wofür Rosa<br />

Luxemburg u. Karl-Liebknecht gekämpft, gelebt haben u. dafür umgebracht worden sind, verhaftet<br />

handelt würdelos. Deshalb ist diese Gesellschaft in diesem Lande für mich verlogen [später darunter<br />

gesetzt: + heuchlerisch] u. auf dem besten Wege zum Polizeistaat zu werden! [/] S. Reichel aus Böhlen [/]<br />

G. Böttger aus Leipzig<br />

Der Herr sei mit allen Unterdrückten u. Verfolgten in diesem Regime!<br />

[... es folgen eine russische, eine georgische <strong>und</strong> eine unleserliche Eintragung]<br />

Die Kirche ist <strong>und</strong> bleibt der Ort des Friedens im Innern wie im Äußeren. M.P. [/] 5.2.88<br />

Dieser Meinung schließe ich mich an. [/] K. Siech u. Kathrin Liebrenz<br />

Ich denke, es ist ein großer Beweis der Verdummung (??? Dummheit ???) in diesem Staat, alles was jetzt<br />

in Berlin geschieht <strong>und</strong> in den Zeitungen reflektiert wird. Papier ist geduldig. gerade aus dem Bewußtsein<br />

dieser Gefahr heraus ist es so wichtig zu zeigen, daß viele sich durchaus mit den Inhaftierten verb<strong>und</strong>en<br />

fühlen. Ich vermute nur, daß wir versumpfen, wenn es beim Reden bleibt. Warum bringen wir nicht den<br />

Mut auf, auf die Straße zu gehen, uns zu zeigen (auch ich nicht)? Im Friedensgebet am Montag (1.2.)<br />

wurde für mich völlig neu, aber sehr logisch das Verhalten Kains analysiert, der die negative Reaktion<br />

Gottes = NICHTACHTUNG mit einer noch negativeren Tat beantwortet = SCHWEIGEN. Der Mord an<br />

Abel ist nichts als eine Verzweiflungstat. Droht uns nicht auch ein Mord - ein Selbstmord, wenn wir<br />

schweigen, statt aus unserem guten Gewissen heraus tätig zu werden, uns zu zeigen <strong>und</strong> damit das<br />

Kartenhaus umzustoßen, das man als die Gesellschaft >>soz.


− Hervorzuheben war die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung in Form von Diskussionsbeiträgen<br />

während der Veranstaltungen<br />

− Die Ausreiseproblematik wurde von der Kirchenleitung offen als Problem anerkannt, wobei von der<br />

jetzigen Lage der Dinge hierzu neue Überlegungen erforderlich sind<br />

Im Rahmen der Friedensgebete konnte nicht erreicht werden:<br />

− Eine wirkliche <strong>und</strong> offene <strong>und</strong> effektive Zusammenarbeit außerhalb der Basisgruppen <strong>und</strong> der<br />

Vorbereitungsgruppe für die Veranstaltungen wurde kaum erreicht. Leider blieben die meisten<br />

Teilnehmer der Informationsgottesdienste nur Informationskonsumenten.<br />

− Des weiteren ist es möglich, daß es aufgr<strong>und</strong> der veränderten Rechtslage in der DDR zu einer<br />

Wiederholung dieser Situation kommt<br />

− Die von uns geforderte Entlassung der Inhaftierten in der DDR, welche die DDR nicht verlassen<br />

wollten, wurde nicht erreicht<br />

− Auch die Richtigstellung der in den Medien verbreiteten Vorwürfe gegenüber den Basisgruppen <strong>und</strong><br />

somit der Kirche wurde bis auf den heutigen Tag nicht erreicht<br />

Nach diesen nicht erreichten Veränderungen stellt sich die Frage, wie sich der Staat aus der recht heiklen<br />

Affäre gezogen hat. Wohlgemerkt, um nicht sein Gesicht zu verlieren. Wir denken, daß sich nach dem<br />

Medienspektakel in unserem Land für den „normalen“ DDR-Bürger folgendes Bild ergeben hat:<br />

− Die Kirche hat sich mit kriminellen Elementen eingelassen <strong>und</strong> wurde somit selbst zur kriminellen<br />

Vereinigung<br />

− In der Weitergabe von Informationen ist die Kirche auf westliche Medien angewiesen <strong>und</strong> nutzt diese<br />

aus<br />

− Da sich die Kirche für die Ausreise <strong>und</strong> Abschiebung in die BRD engagierte, akzeptiert sie die<br />

staatliche Praxis von Abschiebung <strong>und</strong> Menschenhandel.<br />

Um eine Verfälschung der vergangenen Ereignisse zu vermeiden, sollte so schnell wie möglich ein<br />

Informationsheft mit der genauen Geschichte, den Fakten <strong>und</strong> Hintergründen der Ereignisse in Berlin<br />

herausgegeben werden137 . Aufgr<strong>und</strong> der Tatsache, daß noch geraume Zeit vergehen dürfte, bis ein von<br />

uns gefordertes Kommunikationszentrum eingerichtet wird138 , ist es unbedingt erforderlich, daß die bisher<br />

arbeitende Kontaktgruppe weiterhin besteht beziehungsweise sich eine neue Kontaktgruppe bildet. Die<br />

Gruppe müßte sich mit folgenden Problemen beschäftigen:<br />

− Die Herausgabe des bereits erwähnten Informationsheftes zu den Berliner Ereignissen<br />

− Aufbau eines Informationsnetzes in der DDR, gegen die regionale Isolierung der Basisgruppen<br />

innerhalb der Städte <strong>und</strong> Gemeinden<br />

139<br />

− Vorbereitungsarbeiten für die Einrichtung des Kommunikationszentrums<br />

Ihr seid alle ganz herzlich eingeladen weiter über dieses Themen zu diskutieren <strong>und</strong> in einer solchen<br />

Gruppe mitzuarbeiten.<br />

Frank Sellentin, Detlev Körner<br />

Eigentlich wollten wir mit dem beiliegenden Diskussionsbeitrag den Meditationsgottesdienst vom 13.02.<br />

bereichern.<br />

Da dies nicht möglich war, möchten wir mit unserem Anliegen vorerst auf diese Weise an die „Basis“<br />

137 Mitglieder der Initiative Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte gaben im Mai 1988 einen Reader („Fussnote 3 “) heraus, der<br />

sehr genau die Vorgänge Anfang 1988 dokumentiert.<br />

138 Zur Geschichte der Idee eines Kommunikationszentrums (KOZ), s. Anhang, S. 369. Die Forderung nach solchen<br />

Kommunikationszentren war zu diesem Zeitpunkt weit verbreitet. So wurde am 27.01.1988 in Zwickau anläßlich<br />

einer kirchlichen Veranstaltung die Einrichtung einer „Umweltbibliothek“ angeregt. Sie wurde im Herbst 1988<br />

eingeweiht.<br />

139 Auf der Tagung von Frieden Konkret in Cottbus Anfang Februar 1988 legte H.-J. Tschiche einen Entwurf einer<br />

Basiserklärung der politisch-alternativen Gruppen vor (Teilhabe statt Ausgrenzung. Wege zu einer solidarischen<br />

Lebens- <strong>und</strong> Weltgestaltung - ABL H 6), der ebenfalls den Versuch einer weiteren Vernetzung der Gruppen<br />

darstellte. Der erfolgreichste Versuch der Koordinierung <strong>und</strong> Zusammenfassung verschiedener Initiativen war<br />

jedoch die „Ökumenische Versammlung in der DDR“. Ihre erste Vollversammlung fand vom 12.-15.02.1988 in<br />

Dresden statt.<br />

91


treten. In diesem Sinn möchten wir Euch bitten, den Beitrag in den Gruppen mit <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n oder auch allein<br />

durchzuarbeiten <strong>und</strong> vielleicht auch zu vervollkommnen. Um dieses Thema aktiv in die Gruppenarbeit-<br />

bzw. Zusammenarbeit einzubeziehen wäre es erforderlich, daß Mitarbeiter(innen) jeder Gruppe in Form<br />

einer Diskussionsr<strong>und</strong>e zusammentreffen. Die Diskussion soll außerhalb des Synodalausschusses geführt<br />

werden, um den darin nicht vertretenen Gruppen die Chance zuteil werden zu lassen, sich zu diesem<br />

Thema einzubringen. Als Termin schlagen wir den 21.03. nach dem Friedensgebet der IGL vor (bisher nur<br />

unverbindlich). Weiterhin sind wir der Meinung, daß es außerordentlich wichtig ist, eine<br />

Informationsveranstaltung über die Anliegen, Arbeitsweise, Zusammensetzung <strong>und</strong> Ziele aller in Leipzig<br />

arbeitenden Gruppen auszugestalten. Denn auch hierzu wurde der Meditationsgottesdienst den<br />

Anforderungen nicht gerecht.<br />

Anfragen <strong>und</strong> Ergänzungen sind zu richten an: Frank Sellentin [... Adresse]<br />

36 Stasi-Information<br />

Information vom Leiter der Bezirkskoordinierungsgruppe der BV für Staatssicherheit Leipzig (Oberstleutnant<br />

Fischer BKG/AuI/sch-hf) vom 25.02.1988 an die Kreisdienststelle Leipzig-Stadt über ein Mitglied der<br />

Gruppe „Staatsbürgerschaftsrecht“. Diese Information ist Teil der Akte des OV „Anstifter“ (ABL H 10).<br />

Inoffiziell wurde durch die Abt. XX/4 der BV Leipzig bekannt, daß der für Ihre DE erfaßte Sonntag,<br />

Frank Wolfgang [...] Teilnehmer des am 22.2.1988 in der Nikolaikirche stattgef<strong>und</strong>enen Friedensgebetes<br />

war. Nach dem offiziellen Teil des Friedensgebetes brachte S. im Rahmen der Gespräche- bzw.<br />

Diskussionsgruppen ca. 150 Exemplare eines an den Rechtsausschuß der Volkskammer gerichteten<br />

Schreibens (siehe Anlage) zur Verteilung 140 . Im Zusammenhang mit dieser Aktion kam es zwischen S.<br />

<strong>und</strong> dem anwesenden Superintendenten Magirius zu einer Kontroverse, da M. die Unterlassung derartiger<br />

Handlungen verlangte <strong>und</strong> S. zum Verlassen der Kirche aufforderte 141 . [hierauf folgt handschriftlich]<br />

kann offz. verwendet werden, da viele Pers. anwesend<br />

Darüber hinaus wurde durch eine Quelle der KD Altenburg, welche am [...] 2.1988 142 ein namentlich<br />

bekanntes Mitglied der Gruppe „Staatsbürgerschaftsrecht der DDR“ in Berlin aufsuchte, bekannt, daß sie<br />

von dieser Person an nachfolgende Kontaktadresse vermittelt wurde: [/] Arbeitsgemeinschaft [/]<br />

Staatsbürgerschaft Leipzig [/] Wolfgang Sonntag [...]<br />

Wir bitten um Kenntnisnahme <strong>und</strong> operative Einordnung in die weitere Bearbeitung des S.<br />

Leiter der BKG [/] Fischer [/] Oberstleutnant<br />

[Anlage]<br />

Volkskammer der DDR<br />

Rechtsausschuß<br />

Karl-Marx-Platz<br />

1020 Leipzig, den [Datum war offengelassen]<br />

Betr.: Gesetzliche Regelung der Ausreise<br />

Bezugnehmend auf die Meldung im ND [„Neues Deutschland“] vom 3.2.1988<br />

„Die im Zusammenhang mit ihren landesverräterischen Beziehungen inhaftierten Stefan Krafczyk [sic!]<br />

<strong>und</strong> Freya Klier haben entsprechend ihrem Antrag <strong>und</strong> unter Beachtung der erforderlichen gesetzlichen<br />

Bestimmungen am Dienstag die DDR auf dem Wege in die BRD verlassen.“ [/] <strong>und</strong> vom 6./7.2.1988<br />

„Die wegen landesverräterischen Beziehungen inhaftierten Ralf Hirsch, Wolfgang <strong>und</strong> Regina Templin,<br />

140 Am Rand wurde handschriftlich vermerkt: „Woher kennt IM die Summe?“<br />

141 Dieser Satz wurde unterstrichen. F. Sonntag behauptet dazu: „Als ich die Flugblätter verteilt habe, kam Magirius<br />

auf mich zugerannt <strong>und</strong> schrie: 'Hören Sie auf! Das ist nicht genehmigt. Steigen Sie von der Bank <strong>und</strong><br />

verschwinden Sie.' Damit hat er den anwesenden Stasi-Spitzeln gezeigt, daß die Kirche nicht hinter mir steht. Das<br />

muß ihm klar gewesen sein. Die Folgen hat er billigend in Kauf genommen.“ (Interview mit A. Teske, in:<br />

„Leipziger Morgenpost“, vom 18.10.1993) F. Sonntag wurde vor dem FG der nächsten Woche inhaftiert <strong>und</strong> erst<br />

nach internationalen Protesten 14 Tage später wieder freigelassen.<br />

142 Die ersten Ziffern des Datums fehlen auf der Kopie des BStU.<br />

92


Bärbel Bohley <strong>und</strong> Werner Fischer sind entsprechend ihrem Ersuchen <strong>und</strong> in Übereinstimmung mit den<br />

gesetzlichen Bestimmungen der DDR in die BRD ausgereist“ [/] ergeben sich für mich/uns folgende<br />

Fragen:<br />

Seit... 143 Jahren/Monaten betreibe ich/betreiben wir meine/unsere Entlassung aus der Staatsbürgerschaft<br />

der DDR <strong>und</strong> die Übersiedlung in die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland. Trotz umfangreicher Bemühungen<br />

werden wir von der sich zuständig erklärenden Stelle beim Rat des Stadtbezirkes hingehalten. Wir<br />

erhalten keinerlei Auskunft über den Bearbeitungsstand <strong>und</strong> Bearbeitungsdauer. Während dieser ganzen<br />

Zeit habe ich/haben wir wie auch zuvor die Gesetze der DDR genau beachtet. Nach Lesen der obigen<br />

Zeilen im ND drängt sich die Vermutung auf, daß man sich erst „Landesverräterischer Beziehungen“ oder<br />

anderer Gesetzesübertretungen schuldig machen muß, damit der Antrag zügig bearbeitet wird <strong>und</strong> man<br />

wie gewünscht die DDR verlassen kann. Um diesen unerhörten Zustand zu beseitigen, bitte ich/bitten wir<br />

Sie deshalb dringend, Rechtssicherheit für die Ausreise aus der DDR herzustellen. Dazu ist meiner/unserer<br />

Vorstellung nach erforderlich, daß eine verbindliche rechtliche Gr<strong>und</strong>lage mit Gesetzeskraft für die<br />

Übersiedlung aus der DDR in andere Staaten in Übereinstimmung mit der internationalen<br />

Rechtssprechung geschaffen wird.<br />

Dieses Gesetz müßte folgendes festschreiben:<br />

1. Benennung der tatsächlich Entscheidung treffenden zuständigen Behörden (Verantwortlichkeit <strong>und</strong><br />

Instanzenweg)<br />

2. Einspruchsmöglichkeiten (Beschwerdeweg)<br />

3. Genaue Kriterien, wann die Ausreise in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht zu versagen<br />

ist, z.B. für<br />

− Antragsteller, welche mit Schulden belastet sind<br />

− Antragsteller, gegen die ein Strafverfahren läuft<br />

− Antragsteller, die Geheimnisträger sind. [/] (Die aus Geheimhaltungsgrad abgeleisteten Sperrfristen<br />

sind festzuschreiben)<br />

Mit diesem Gesetz würde auch die Voraussetzung geschaffen, daß ungerechtfertigte Behandlungen der<br />

Antragsteller durch staatliche Organe <strong>und</strong> Betriebe in Zukunft unterbleiben. Mit diesem Gesetz würde ein<br />

dringendes Problem seiner Regelung zugeführt.<br />

Verteiler: Volkskammer der DDR, Rechtsausschuß [/] der DDR, Vorsitzender [/] Absender<br />

37 SED-Information<br />

144<br />

Information zur Abforderung des Fernschreibens Nr. 32 der Bezirksleitung vom 25.2.1988 der SED-SBL<br />

Leipzig-Mitte vom 26.02.1988 unterzeichnet von H. Günther (2. Sekretär) (StAL SED IV-F-5/02/059).<br />

Sofort nach Erhalt des Fernschreibens des Gen. Erich Honecker vom 18.2.1988 wurden die Genossen des<br />

Sekretariates, die zuständigen Mitarbeiter der Abteilung Inneres des Rates des Stadtbezirkes,<br />

Parteisekretäre unserer Schwerpunktbetriebe <strong>und</strong> Einrichtungen sowie politische Mitarbeiter des<br />

Apparates durch den 1. Sekretär, Gen. Heinz Fröhlich, mit dem Inhalt vertraut gemacht <strong>und</strong> ihnen die<br />

erforderlichen Maßnahmen erläutert. [/] Darüber hinaus nutzten wir die Stadtbezirksleitungssitzung <strong>und</strong><br />

Parteiaktivtagung am 24.2.1988, um die Position, wie im Fernschreiben deutlich dargelegt, mit den<br />

Genossen zu beraten, ihnen Argumente für das gezielte Auftreten in Partei- <strong>und</strong> Arbeitskollektiven <strong>und</strong><br />

besonders unter der Jugend mit der Hauptstoßrichtung „Gebt der Kirche was der Kirche <strong>und</strong> des Staates<br />

was des Staates eigen ist“ zu geben 145 . [/] Die zuständigen Mitarbeiter des Rates des Stadtbezirkes<br />

aktivierten auftragsgemäß ihre Bemühungen zur Gesprächsführung mit kirchlichen Amtsträgern. [/]<br />

143 Hier sollte jeder seine individuelle Wartezeit einsetzen.<br />

144 Die SED-BL gab entsprechend des zentralen „Informationsbedarfs“ die Anweisung an die ihr untergebenen SED-<br />

Leitungen, bis zu einem bestimmten Termin umfassende Informationen zu konkreten Vorgängen zu übersenden.<br />

Oft waren es Reaktionen „der Bevölkerung“ auf Veröffentlichungen des Generalsekretärs E. Honecker. Die<br />

konkrete „Anforderung“ war nicht unter den Unterlagen der SED-BL zu finden.<br />

145 Protokoll der Parteiaktivtagung StAL SED N 2556<br />

93


Ausgehend von den in den letzten Wochen im Stadtbezirk Mitte verstärkten provokatorischen<br />

Veranstaltungen innerhalb von Kirchen, ausgelöst von Ereignissen in Berlin <strong>und</strong> Dresden, wurden<br />

persönliche Gespräche mit kirchlichen Würdenträgern geführt, so u.a. mit Pfarrer Führer. Deutlich wurde<br />

dabei, daß betreffende kirchliche Amtsträger nicht bereit waren, bestimmte Veranstaltungen wie die<br />

Zusammenkunft mit Antragsstellern in der Nikolaikirche abzusetzen. [/] Eine Weiterführung der<br />

Gespräche mit Pfarrer Führer wurde von diesem abgelehnt, da er erst nach Auswertung des Briefes an den<br />

B<strong>und</strong> der evangelischen Kirchen im Landeskirchenamt Dresden am 23.2.1988 sowie nach dem erfolgten<br />

Spitzengespräch zwischen Gen. Jarowinsky <strong>und</strong> Landesbischof Leich bereit sei, seine Position vor dem<br />

Staatsorgan darzulegen 146.<br />

[/] Gleiche Positionen bezogen auch Mitglieder der Kirchenvorstände.<br />

Einzelne nicht berechtigte Übersiedlungsersuchende aus unserem Stadtbezirk erklärten in geführten<br />

Gesprächen offen, daß sie sich mit Krawczyk solidarisieren <strong>und</strong> drohen mit Demonstrativhandlungen.<br />

Aktivisten des Personenkreises, der unter dem Freiraum der Kirche agiert, sind namentlich bekannt <strong>und</strong><br />

liegen dem Rat der Stadt vor. U.a. betrifft dies Hartmann, Manfred, Diplomfotografiker <strong>und</strong> Initiator für<br />

die am 22.2.1988 in der Reformierten Kirche geplante Solidaritätsveranstaltung für<br />

Übersiedlungsersuchende. Oder Dr. Kind, Steffen, Dipl. Ingenieur, beide Konsultationspartner für<br />

Übersiedlungsersuchende.<br />

Auf den Mitgliederversammlungen der Gr<strong>und</strong>organisationen mit APO legten die Parteisekretäre am 22.<br />

Februar ihre Position zum Verhalten der evangelischen Kirche bezüglich der jüngsten Ereignisse in Berlin<br />

<strong>und</strong> Dresden, analog des im Fernschreiben übermittelten Standpunktes, dar. In Reaktionen der Genossen<br />

wurde deutlich, daß dieser Standpunkt voll <strong>und</strong> ganz unterstützt wird. Diskussionen in vielen Kollektiven<br />

des Kombinates ORSTA-Hydraulik zeigen die Erwartung nach eindeutiger Klarstellung der Rolle der<br />

Kirche im Sozialismus <strong>und</strong> daß ein Abgleiten in oppositioneller Richtung durch unseren Staat nicht länger<br />

geduldet wird. Dabei werden Parallelen zur Rolle der Kirche in der VR Polen bezogen <strong>und</strong> die Meinung<br />

vertreten, daß sich eine derartige Entwicklung bei uns in keiner Weise vollziehen darf. [/] Vielfach wurde<br />

auch in den unterschiedlichsten Bereichen der Erwartung Ausdruck verliehen, daß Partei <strong>und</strong> Regierung<br />

rechtzeitiger auf solche Erscheinungen reagieren sollten. Dies bekräftigt auch die Analyse des<br />

vorliegenden Meinungsbildes aus allen Bereichen zu o.g. Ereignissen, die auf eine gewisse Unsicherheit<br />

unter den Genossen, insbesondere im Zusammenhang mit den Reaktionen unseres Staates im Nachgang<br />

zu den Verhaftungen am 17.1. in Berlin hinweist. Differenziert betrachtet, zeigen sich folgende<br />

Tendenzen: [/] Ältere Genossen verstehen nicht, warum wir nicht zur Lösung der auftretenden Probleme<br />

zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche, aber vor allem gegen Kräfte, die die Gesetze der DDR verletzen bzw. mit<br />

westlichen Geheimdiensten zusammenarbeiten, härter durchgreifen bis hin zu der Frage, warum<br />

strafrechtlich Verurteilte, wie die Wollenberger, die Möglichkeit eingeräumt bekommen, wieder in die<br />

DDR zurückzukehren. Meinungen, wir weichen dem Druck, müssen mehr Flagge zeigen, sind hier weit<br />

verbreitet. [...] Vielfach ist hier das Argument zu hören, wer nicht in der DDR leben will, soll für immer<br />

gehen, wer gegen die Gesetze verstößt, muß ins Gefängnis.<br />

Jüngere Genossen, denen die Kampferfahrungen der 50iger Jahre fehlen, treten in der Mehrheit für ein<br />

flexibles Herangehen ein, ziehen die internationale Lage, die konkrete Situation unseres Landes an der<br />

Trennlinie zweier Gesellschaftssysteme in Betracht. Sie verstehen die Verurteilung <strong>und</strong> Ausweisung der in<br />

Berlin Verhafteten auch in ihrer Differenziertheit als flexible Reaktion unseres Staates, mit der der Boden<br />

für weitere Aktivitäten solcher Gruppen entzogen werden soll. [/] Jugendliche <strong>und</strong> Schüler beziehen<br />

teilweise Haltungen, die auf eine offene Diskussion mit allen Gruppen hinzielen. [/] So bewegte u.a.<br />

Schüler der Lessing-Oberschule im Rahmen eines Jugendforums:<br />

− Warum wurde Krawczyk ausgewiesen, hatte die DDR Angst vor einem offiziellen Prozeß?<br />

− Sind da nicht auch Leute dabei, die Vernünftiges wollen?<br />

− Warum wird in unserer Presse erst lange nach westlichen Medien zu bestimmten Fragen informiert<br />

oder manche Probleme gar nicht angesprochen?<br />

Auf die durch unsere Genossen dargelegten Positionen gingen die Jugendlichen mit großer Bereitschaft<br />

ein, setzten sich mit überzeugenden Argumentationen auseinander <strong>und</strong> akzeptierten diese. Diese Foren mit<br />

Jugendlichen setzen wir verstärkt <strong>und</strong> gezielt fort.<br />

146 vgl. Dok. 40<br />

94


Abschließend können wir einschätzen, daß bei aller Differenziertheit des Meinungsbildes bezüglich des<br />

Herangehens an die Lösung der auftretenden Probleme zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche <strong>und</strong> des Umgangs mit<br />

staatsfeindlichen Kräften allen Genossen die Überlegung gemeinsam ist, daß die Parteiorganisationen <strong>und</strong><br />

alle gesellschaftlichen Kräfte weit mehr Initiativen entwickeln müssen, um alle Bürger in den<br />

gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß direkt einzubeziehen, die FDJ-Organisation wirklich zu einer<br />

politischen Heimat aller Jugendlichen zu machen, um den gegnerischen Kräften keinen Spielraum zu<br />

lassen. Dabei schließen sie die volle Ausschöpfung aller gesellschaftlichen Möglichkeiten sowie die<br />

offensive Nutzung des gesamten Instrumentariums der Agitation <strong>und</strong> Propaganda der Partei ein. [/]<br />

Ausgehend von der gegenwärtigen Situation ist die Sorge der Genossen weit verbreitet, wie geht es weiter,<br />

was wird mit dem 1. Mai? Dabei steht hier die Frage nach dem „wie“ bzw. nach konkreter Aktion im<br />

Mittelpunkt, um dem Anspruch der Rede des Generalsekretärs vor den 1. Kreissekretären - alle<br />

staatsfeindlichen Umtriebe zu unterbinden <strong>und</strong> die Staatsordnung zu sichern - gerecht zu werden.<br />

38 SED-Information<br />

Information vom 1. Sekretär der SED-Stadtleitung Leipzig (J. Prag) vom 26.02.1988 über die Situation in<br />

Leipzig „auf der Gr<strong>und</strong>lage des Fernschreibens des Genossen Erich Honecker vom 18. Februar 1988“ 147<br />

(StAL SED A 5126 <strong>und</strong> N 933).<br />

Das Sekretariat der Stadtleitung hat in der Sitzung am 19.02.1988 zum Fernschreiben des Generalsekretärs<br />

des ZK unserer Partei, Genossen Erich Honecker, Stellung genommen, in Anwesenheit des Stellv. des<br />

OBM Inneres <strong>und</strong> des Leiters der Kreisdienststelle <strong>und</strong> [sic!] Maßnahmen eingeleitet, die sicherten, daß in<br />

der Stadt Leipzig bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine ernsthaften Ausschreitungen staatsfeindlicher<br />

Kräfte gegen Staat <strong>und</strong> Gesellschaft auftreten. [/] Die verantwortlichen staatlichen Funktionäre wurden<br />

beauftragt, auf der Gr<strong>und</strong>lage der Vereinbarungen zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche am 06.03.1978 Gespräche<br />

mit den zuständigen kirchlichen Amtsträgern <strong>und</strong> Mitgliedern von Kirchenvorständen zu führen <strong>und</strong> in<br />

diesen Gesprächen keinen Zweifel darüber zuzulassen, daß der Staat in keinem Augenblick zulassen wird,<br />

unter dem Schirm der Kirche staatsfeindliche Tätigkeiten auszuüben. [/] In der Stadtleitungssitzung am<br />

22. Februar 1988 wurde in dem Abschnitt der politischen Massenarbeit zu dem Inhalt <strong>und</strong> dem politischen<br />

Anliegen des Fernschreibens durch den 1. Sekretär der Stadtleitung, Genossen Joachim Prag, Stellung<br />

genommen. [/] Er unterstrich, daß unser sozialistischer Staat mit hoher Kontinuität zur Gewährleistung der<br />

Menschenrechte <strong>und</strong> der Gr<strong>und</strong>freiheiten eintritt. [/] Im Zusammenhang mit den Staatsbesuchen des<br />

Genossen Erich Honecker in der BRD, den Niederlanden, Belgien, Schweden <strong>und</strong> in Frankreich wurde<br />

unterstrichen, daß die Dialogpolitik nicht verwechselt werden darf mit der Preisgabe der staatlichen <strong>und</strong><br />

öffentlichen Ordnung. Wir werden jeden Versuch, die Arbeiter-<strong>und</strong>-Bauern-Macht anzutasten, nicht<br />

zulassen. [/] Wir diskutieren mit jedem, so hob der Redner hervor, wenn es sein muß Tag <strong>und</strong> Nacht.<br />

Leute, die die sozialistische Macht in Frage stellen, von Jenseits bezahlt <strong>und</strong> ins Rennen geschickt werden,<br />

für sie gilt die Kraft unserer sozialistischen Gesetze. Alle Diskussionsredner teilten diesen Standpunkt.<br />

Genosse Harry Panzer, 1. Sekretär der Stadtbezirksleitung Südwest, teilte mit, daß zahlreiche Partei- <strong>und</strong><br />

Arbeitskollektive im Stadtbezirk zum Ausdruck bringen, daß die Ausschreitungen in der Hauptstadt <strong>und</strong><br />

in Dresden, die von reaktionären Kräften aus der BRD <strong>und</strong> Berlin (West) gesteuert <strong>und</strong> provoziert werden.<br />

Vereinzelt gibt es Unverständnis, daß trotz strafrechtlicher Verfolgung die Möglichkeit gegeben wurde,<br />

die DDR zu verlassen. Nicht wenige Bürger gibt es, die die Meinung vertreten, Provokateure müssen hart<br />

bestraft werden. [/] Diese Positionen wurden unter anderem auch von Genossen Peter Zetzsche, Genossen<br />

Dieter Pöhland <strong>und</strong> Genossen Alex Wilke vertreten.<br />

Analog der Maßnahmen des Sekretariats der Stadtleitung wurden in den Sekretariaten der<br />

Stadtbezirksleitungen Maßnahmen eingeleitet <strong>und</strong> durchgeführt. [/] In den bisher durchgeführten<br />

Stadtbezirksleitungssitzungen <strong>und</strong> Stadtbezirksparteiaktivtagungen zur Auswertung der Rede des<br />

Generalsekretärs vor den 1. Sekretären der Kreisleitungen der SED in Mitte, Nordost, West, Süd <strong>und</strong><br />

Südwest wurden in den Referaten der Sekretariate prinzipiell zu den Machenschaften der Hintermänner<br />

147 s. Anm. 154<br />

95


dieser Provokationen sowie klassenmäßige Standpunkte <strong>und</strong> überzeugende Argumente vermittelt. [/] Auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage der einheitlichen Information unserer Partei wurden in den letzten Tagen <strong>und</strong> Wochen<br />

durch verantwortliche Genossen des Rates der Stadt <strong>und</strong> der Räte der Stadtbezirke über 70 Gespräche mit<br />

leitenden kirchlichen Amtsträgern, Pfarrern <strong>und</strong> Theologen geführt. [/] Schwerpunkte waren dabei jene<br />

Kirchen <strong>und</strong> Gruppen, wo Kräfte wirksam wurden, die versuchten, die Kirche in eine Oppositionshaltung<br />

zu unserem Staat zu bringen (Nikolaikirche, Michaeliskirche, Evangelische Studentengemeinde,<br />

Jugendpfarramt).<br />

Besonderer Wert wurde auf die Gespräche mit den Superintendenten Richter <strong>und</strong> Magirius gelegt, um zu<br />

erreichen, daß sie selbst sich an die Vereinbarungen vom 06.03.1978 halten <strong>und</strong> darüber hinaus selbst<br />

Einfluß auf alle anderen kirchlichen Amtsträger nehmen. Beide Superintendenten brachten zum Ausdruck,<br />

daß sie gewillt sind, ihre Verantwortung zur Versachlichung der Situation wahrzunehmen148 . [/] Im<br />

Gespräch mit Pfarrer Sievers zur bevorstehenden Grafik-Auktion in der Ev.-Reform. Kirche am<br />

28.02.1988 erklärte er, schon vor 5 Jahren habe es bei ihm eine derartige Veranstaltung gegeben, die sehr<br />

erfolgreich verlaufen sei. Den Vorschlag von Gemeindemitgliedern, wiederum eine Grafik-Auktion<br />

durchzuführen, habe er angesichts der gegenwärtigen Lage gern aufgegriffen. Er sei erfreut, daß sein<br />

Vorhaben unter den angesprochenen Künstlern ein solches Echo gef<strong>und</strong>en habe. Bis jetzt habe man ca. 80<br />

Arbeiten von r<strong>und</strong> 40 Künstlern, darunter 3 Nationalpreisträger, erhalten. [/] Der Erlös werde wie folgt<br />

aufgeteilt:<br />

− 1/3 für die Abdeckung der Ausgaben der ökumenischen Versammlung in Dresden<br />

− 1/3 für Unterstützung Leipziger „Basisgruppen“<br />

− 1/3 zur Unterstützung von Personen, die bei ihrer Berufsausübung eingeengt sind<br />

Von ihm war zu hören, daß er die volle Verantwortung für die Veranstaltung übernimmt. Er habe Einfluß<br />

darauf genommen, daß keine Bilder mit staatsfeindlichem Inhalt angenommen werden bzw. zur<br />

Versteigerung kommen. Er ist gewillt, keine politische Konfrontation zuzulassen. [/] Die überwiegende<br />

Mehrheit der kirchlichen evangelischen Amtsträger bekennt sich nach wie vor zur bewährten Politik des 6.<br />

3. 78. [/] Mit den Würdenträgern der katholischen Kirche gibt es keine besonderen Probleme. Sie<br />

verhalten sich sachlich <strong>und</strong> ruhig.<br />

In Abstimmung mit dem Rat der Stadt, der Räte der Stadtbezirke <strong>und</strong> den Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorganen<br />

wurden folgende Maßnahmen festgelegt 149:<br />

− Erfassung der gesamten kirchlichen Veranstaltungstätigkeit im Territorium (Kontrolle der<br />

Schaukästen, gründliche Auswertung kirchlicher Mitteilungsblätter <strong>und</strong> Aushänge, persönliche<br />

Gespräche mit Pfarrern).<br />

− ausgehend von diesen Erkenntnissen werden zielgerichtet politische Gespräche mit ausgewählten<br />

kirchlichen Amtsträgern geführt, wobei die besondere Aufmerksamkeit den Schwerpunktkirchen in der<br />

Stadt <strong>und</strong> in den Stadtbezirken gilt. Diese Gespräche sind bis zum Beginn der Leipziger<br />

Frühjahrsmesse abzuschließen.<br />

− Unter Nutzung der Arbeitsgruppe „Christliche Kreise“ <strong>und</strong> mit Unterstützung der <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> der CDU<br />

gilt es, die Kenntnisse über die personelle Zusammensetzung der Kirchenvorstände zu<br />

vervollkommnen. Ziel ist, eine progressive Basis in den Kirchenvorständen zu schaffen, um gestützt<br />

auf sie wirksam die politische Auseinandersetzung mit einzelnen Pfarrern zu führen.<br />

Anlage 1-3 150<br />

[gez.] Joachim Prag [/] 1. Sekretär<br />

148 Protokoll des Gesprächs zwischen Sabatowska, Richter <strong>und</strong> Magirius von J. Richter in:<br />

Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 247-249<br />

149 Zur engen Zusammenarbeit des MfS mit der SED <strong>und</strong> der besonderen Rolle des MfS in diesen Tagen, s. Mielke-<br />

R<strong>und</strong>schreiben 18/88, in: Besier/Wolf, 532-534. Es gab eine „kontinuierliche, wenn notwendig tägliche<br />

Abstimmung“ zwischen Rat des Bezirkes <strong>und</strong> MfS (Bericht der Leitung des BV des MfS Leipzig vom Juni 1988,<br />

ebenda 555-561, dort 558).<br />

150 Die Anlagen waren nicht in den Akten zu finden.<br />

96


39 SED-Information<br />

Information „Nr. 1“ vom Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig vom 26.02.1988 zur<br />

staatlichen Kirchenpolitik. Diese Information war Teil der durch das ZK der SED <strong>und</strong> dem StfK<br />

angeforderten Berichte nach der Jarowinsky-Erklärung am 19.02.1988. Sie wurde von Reitmann<br />

unterzeichnet (StAL BT/RdB 21727).<br />

Die einheitliche Leitung der Staatspolitik in Kirchenfragen ist im Bezirk wirkungsvoll gewährleistet. [/]<br />

Es wird intensiv an der Umsetzung der Festlegungen des 1. Sekretärs der Bezirksleitung der SED zur<br />

differenzierten Gesprächsführung mit kirchenleitenden Persönlichkeiten vom 19.2.1988 gearbeitet 151 .<br />

Unter der Leitung der 1. Sekretäre der Kreisleitungen der SED wurde die Effektivität der Maßnahmen der<br />

Staatspolitik in Kirchenfragen in den letzten Wochen eingeschätzt 152 . Es wurde dabei weiter an der<br />

differenzierten Einschätzung der kirchlichen Amtsträger gearbeitet. [/] Für das einheitliche Herangehen an<br />

die Lageeinschätzung <strong>und</strong> Aufgabenstellung wurden die durch das Sekretariat der Bezirksleitung der SED<br />

im 2. Halbjahr 1987 herausgearbeiteten Gr<strong>und</strong>sätze der Staatspolitik in Kirchenfragen im Bezirk genutzt.<br />

Im Bezirk am 23.2.1988 <strong>und</strong> differenziert in der Stadt Leipzig <strong>und</strong> in den Kreisen haben die „Kleinen<br />

Kollektive“ 153 Beratungen durchgeführt <strong>und</strong> das komplexe Zusammenwirken der staatlichen Organe, der<br />

Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane <strong>und</strong> der Arbeitsgruppe „Christliche Kreise“ der Nationalen Front<br />

organisiert. Die Abstimmung mit dem Vorsitzenden des Bezirksverbandes der CDU ist erfolgt. Der Rat<br />

des Bezirkes wird am 26.2.1988 weitergehende Maßnahmen beraten. Auf der Gr<strong>und</strong>lage des Schreibens<br />

des Generalsekretärs der SED 154 <strong>und</strong> der Aufgabenstellung des 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung wird<br />

im Bezirk einheitlich an der Lösung folgender Schwerpunktaufgaben gearbeitet:<br />

1. Es darf in keinem Territorium eine weitere Eskalation der Erscheinungen zugelassen werden. Es ist zu<br />

verhindern, daß es zu einer Konfrontation zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche kommt. Es ist alles zu tun, damit<br />

151 Diese Festlegung ist unter den Akten der SED nicht zu finden. Am 18.02. fand eine SED-BL statt, auf der H.<br />

Schumann u.a. sagte: „Sicherung des Friedens, das bedeutet in der Beziehung zwischen der DDR <strong>und</strong> der BRD<br />

auch vor allem Anerkennung der Unverletzlichkeit der Grenzen, der territorialen Integrität <strong>und</strong> der Souveränität,<br />

die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Anderen. Hier tun sich gewisse Kreise der BRD mehr<br />

als schwer. Das sind Kräfte, denen der ganze Kurs auf Frieden <strong>und</strong> Entspannung nicht paßt. Deshalb provozieren<br />

sie in alter Manier an den Grenzen zur DDR, verbreiten althergebrachtes nationalistisches <strong>und</strong> revanchistisches<br />

Vokabular, versuchen sich in unsere Angelegenheiten einzumischen, in unserem Land eine sogenannte<br />

Opposition zu schaffen, sie von außen zu steuern <strong>und</strong> zu unterstützen. Worum geht es diesen Kräften? Sie wollen<br />

mit gezielten Provokationen ideologischer Diversion Ergebnisse sozialistischer Friedenspolitik in Frage stellen,<br />

die Dialogpolitik der DDR international in Mißkredit bringen. Ihr Ziel ist es, die führende Rolle der Partei<br />

anzugreifen <strong>und</strong> zum Widerstand gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR aufzuwiegeln.<br />

Offensichtlich geht es ihnen um das revanchistische Offenhalten der deutschen Frage <strong>und</strong> den Versuch, ein<br />

kapitalistisches Deutschland in den Grenzen von 1937 zu errichten. Damit stehen sie auf Kriegsfuß mit den<br />

völkerrechtlichen Verträgen.“ (Protokoll S. 9f., StAL SED A 4758) „Erstens ist der untrennbare Zusammenhang<br />

von Sozialismus <strong>und</strong> Frieden immer wieder überzeugend bewußt zu machen. Ich hätte jetzt beinahe gesagt, die<br />

Kirche kämpft seit 2000 Jahren angeblich um den ewigen Frieden. Was haben sie fertig gebracht bis jetzt? Kann<br />

man einige Pfarrer bei uns fragen.“ (ebenda S. 13)<br />

152 vgl. Dok. 38; Mielke zweifelte am Erfolg der staatlichen Drohgebärde, da die staatlichen Stellen nicht<br />

„differenziert“ genug die Konzeption durchzusetzen versuchten (Mielke am 25.2.1988, in: Besier/Wolf, 534f.,<br />

dort 535). Da die staatlichen Maßnahmen kurz nach dem Ende der 1. Vollversammlung der Ökumenischen<br />

Versammlung in Dresden (12.-15.02.1988) stattfanden, dachten einige Kirchenvertreter, dies sei auch eine<br />

Reaktion auf die Ökumenische Versammlung. Eine „Gesprächskampagne“, d.h. Einladungen an kirchliche<br />

Mitarbeiter durch staatliche Stellen, CDU bzw. Nationale Front begann in Leipzig am 02.03.1988 aufgr<strong>und</strong> einer<br />

Lageeinschätzung <strong>und</strong> Anweisung von H. Reitmann (Gesprächskonzeption - ABL H 53)<br />

153 s. Anhang S. 367<br />

154 Gemeint ist das sogenannte Jarowinsky-Papier (veröffentlicht u.a. in epd-Dok. 43/1988 (17.10.1988), S. 61-65),<br />

welches aufgr<strong>und</strong> eines Politbürobeschlusses vom 16.02.1988 von Jarowinsky, Bellmann <strong>und</strong> K. Gysi angefertigt<br />

wurde (SAPMO-BArch J IV 2/2/2260, PB-Beschluß ist abgedruckt in: Przybylski (1992), 95ff.). Am 19.02.<br />

stellte Jarowinsky dieses Papier als SED-Position Landesbischof Leich (für den BEK) vor (vgl. a. Dok. 39 <strong>und</strong><br />

Dok. 75; Besier/Wolf 532-535, 542-550).<br />

97


sich die sogenannten „emanzipatorischen“ Gruppen der Kirchen von den Ausreiseersuchenden<br />

distanzieren.<br />

2. Die bewährten Mittel der Staatspolitik in Kirchenfragen sind unter den aktuellen Erfordernissen zu<br />

aktivieren, d.h. Forcierung des Differenzierungsprozesses unter den kirchenleitenden Persönlichkeiten<br />

mit der Herausarbeitung von glaubhaften Stimmen progressiver Kirchenleute zu den Ereignissen.<br />

Unter diesem Gesichtspunkt haben alle gegenwärtig vorbereiteten Gespräche stattzufinden. Wir gehen<br />

davon aus, daß keine Aktionen organisiert werden, sondern normale geplante Gespräche stattfinden.<br />

Die Rolle der Kirchenvorstände <strong>und</strong> die Arbeit mit den Mitgliedern der Kirchenvorstände sind unter<br />

diesem Gesichtspunkt stärker zu beachten.<br />

3. Bei allen Veranstaltungen, die gegenwärtig im Umfeld von Kirchen stattfinden, ist die politische<br />

Wachsamkeit zu vergrößern <strong>und</strong> mit Sorgfalt sind Details der Vorbereitung dieser Maßnahmen zu<br />

betrachten. Es wird in den nächsten Tagen eine ganze Reihe von Einladungen aus dem alternativen<br />

Bereich der Kirchen an Vertreter des Staates geben zu Gesprächen. Unsere Linie dazu ist eindeutig,<br />

daß der Staat nicht zur Kirche geht. Gesprächsbereit für sachliche Auseinandersetzungen im<br />

innerkirchlichen Bereich sind geeignete Vertreter der befre<strong>und</strong>eten Parteien <strong>und</strong> Wissenschaftler, die<br />

über entsprechende Kenntnisse verfügen.<br />

4. Zur Erreichung der Zielstellung der Trennung von Basis- <strong>und</strong> Übersiedlungsgruppen ist es vor allen<br />

Dingen wichtig, daß sich die Basisgruppen nicht zu Reformgruppen entwickeln.<br />

5. Das Zusammenwirken mit allen Verantwortungsträgern der Staatspolitik in Kirchenfragen ist zu<br />

aktivieren.<br />

Insbesondere in den sogenannten „kleinen Kollektiven“ sind Absprachen über das konkrete Vorgehen<br />

im Einzelfall zu treffen.<br />

Die tägliche Abstimmung zwischen den Stellvertretern Inneres <strong>und</strong> den Leitern der Kreisdienststellen<br />

[der Staatssicherheit] wurde angewiesen.<br />

6. Den Arbeitsgruppen „Christliche Kreise“ ist Unterstützung bei der Durchführung von Veranstaltungen<br />

zu geben. Dabei ist zu beachten, daß aus heutiger Sicht nicht empfohlen wird, Veranstaltungen unter<br />

der Überschrift „10 Jahre 6.3.1978“ 155 durchzuführen. Natürlich ist dieser Inhalt in den<br />

Veranstaltungen zu bewältigen.<br />

Bei der Umsetzung dieser Aufgaben wurde folgender Zwischenstand erreicht:<br />

1. In der Stadt Leipzig <strong>und</strong> in den Kreisen wurden die Pläne der Gesprächsführung mit kirchenleitenden<br />

Persönlichkeiten präzisiert.<br />

Es ist in keinem Territorium zu einer „Aktion von Gesprächen“ gekommen.<br />

Besonders hervorzuheben ist die planmäßige Arbeit in der Stadt Leipzig, im Landkreis Leipzig <strong>und</strong> in<br />

anderen Territorien.<br />

2. In der gesamten Woche hat es im Bezirk eine Vielzahl von Gesprächen mit kirchlichen Amtsträgern<br />

gegeben. An der Spitze stehen die Gespräche des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des<br />

Bezirkes für Inneres<br />

− mit dem Präsidenten des Landeskirchenamtes Sachsens Dr. Domsch<br />

− mit dem Leiter des Landeskirchenamtes der Thüringer Kirche Oberkirchenrat Kirchner <strong>und</strong><br />

−<br />

mit den Leipziger Superintendenten Magirius <strong>und</strong> Richter.<br />

Gespräche mit Superintendenten hat es durch den Rat der Stadt Leipzig <strong>und</strong> durch den Vorsitzenden<br />

des Rates des Kreises Oschatz am Beginn dieser Woche gegeben.<br />

Gespräche mit den Superintendenten von Wurzen <strong>und</strong> Döbeln stehen unmittelbar bevor.<br />

In Geithain wird ein großes Gruppengespräch planmäßig vorbereitet.<br />

Durch das Gespräch mit Präsident Dr. Domsch konnte maßgeblicher Einfluß auf die Unterbindung der<br />

Beratung von Antragstellern auf Übersiedlung in die BRD in der Nikolaikirche genommen werden.<br />

Durch Eingreifen des Präsidenten des Ev. Landeskirchenamtes Sachsens <strong>und</strong> der Leipziger<br />

Superintendenten wurde es möglich, die Betreuung von Ersuchstellern auf die Form individueller<br />

Seelsorge festzulegen 156.<br />

Dabei wirkte der offene Brief des Berliner Generalsuperintendenten Dr.<br />

155 s. Anhang, S. 377<br />

156 s. dazu Bericht des MfS über das FG am 22.02.1988 in: Besier/Wolf 556, Anm. 281, nach dem Sup. Magirius<br />

98


Krusche 157 zur Abgrenzung kirchlichen Handelns von konfrontativen Kräften unterstützend.<br />

Durch direkte Einflußnahme des Präsidenten Dr. Domsch sind der Leiter des Jugendpfarramtes<br />

Leipzig, der ESG-Studentenpfarrer <strong>und</strong> der Pfarramtsleiter der Nikolaikirche Leipzig am 23.2.1988<br />

zum Landeskirchenamt nach Dresden bestellt worden 158 , wo mit ihnen ein disziplinierendes Gespräch<br />

geführt wurde <strong>und</strong> somit der Versuch unterb<strong>und</strong>en ist, innerhalb der Kirche ein Büro für Ersuchsteller<br />

zu errichten 159 .<br />

Das Gespräch mit OKR Kirchner kam auf dessen Bitte in Gang (telefonisch). Er informierte im<br />

Auftrag von Bischof Dr. Leich über einen Beschluß des Landeskirchenamtes der Thüringer Kirche,<br />

wonach die Superintendenten ab sofort zu keinem Gespräch mit staatlichen Organen bereit sind 160 . Der<br />

Bischof halte es für einen großen Vertrauensbruch, auf welche Weise in Gera, Erfurt <strong>und</strong> Suhl die<br />

Superintendenten zur Stellungnahme zu dem „Ministerratspapier“ genötigt worden seien. Der Bischof<br />

wäre davon ausgegangen, daß das Gespräch mit Genossen Jarowinsky internen Charakter trage 161 . In<br />

dem Zitieren großer Abschnitte aus dem Papier sieht er das Vertrauen zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche<br />

verletzt. Die Landeskirchenleitung ersucht dringend um ein neues Gespräch zwischen Jarowinsky <strong>und</strong><br />

Leich. [/] Kirchner wolle vor allem wissen, ob es im Bezirk Leipzig auch zu solchen Aktionen<br />

gegenüber den Superintendenten kommt. [/] Beide Seiten zeigten sich an einer Intensivierung der<br />

Kontakte zwischen dem Rat des Bezirkes <strong>und</strong> der Thüringer Kirche interessiert <strong>und</strong> es sollte zu einem<br />

neuen Spitzengespräch auf Bezirksebene kommen.<br />

eine „Gruppenseelsorge“ von Ausreisewilligen abgelehnt hatte. In der ZK-Informationszusammenfassung<br />

(Information über Verlauf <strong>und</strong> Ergebnisse der bisher geführten Gespräche mit Amtsträgern der Evangelischen<br />

Kirchen in der DDR auf der Gr<strong>und</strong>lage des Fernschreibens des Genossen Erich Honecker vom 18. 2. 1988 der<br />

Abt. Parteiorgane des ZK vom 29.02.1988 - BStU Ha XX/4 838, 91-98) heißt es: „Das mit ihm [Dr. Domsch] in<br />

Leipzig geführte Gespräch bewirkte, die Betreuung von Antragstellern auf die Form individueller Seelsorge zu<br />

begrenzen. Durch seinen Einfluß wurde der Versuch von Pfarrern, im Wirkungsbereich der Leipziger<br />

Nikolaikirche ein Büro für Antragsteller zu eröffnen, unterb<strong>und</strong>en.“ (dort, S. 6 bzw. 96)<br />

157 Günther Krusche hatte am 4.2.1988 im Berliner Fürbittengebet erklärt: „Die evangelische Kirche in der DDR ist<br />

keine Agentur für die Ausbürgerung aus der DDR.“ Dennoch bot er eine Beratung <strong>und</strong> seelsorgerliche Begleitung<br />

der Antragsteller in der Superintendentur von Berlin an (Die Kirche, 14.02.1988, S. 2). Dies wurde von<br />

H<strong>und</strong>erten in den nächsten Tagen in Anspruch genommen. Da in der Superintendentur die Berliner<br />

Koordinierungsgruppe für die Fürbittgebete <strong>und</strong> Solidaritätsaktionen ihr Domizil hatte, war damit deren Arbeit<br />

lahmgelegt. G. Krusche hatte mit seinem Angebot also faktisch die Ausreiseantragsteller gegen die<br />

„Basisgruppen“ ausgespielt. Am 08.02. teilte er das u.a über das Berliner SED-Organ (!) „Berliner Zeitung“ mit,<br />

daß die Betreuung der Ausreiseantragsteller durch die Generalsuperintendentur beendet sei, „weil das Büro sich<br />

vor Ausreisewilligen nicht mehr retten konnte“ (G. Thomas, in: Die Kirche, 21.02.1988, S. 1). Das Angebot der<br />

Seelsorge wurde aber erneuert. Die KKL erklärte nach ihrer Klausurtagung im März 1988: „Seelsorge kann vom<br />

Auftrag der Kirche her nicht auf bestimmte Gruppen oder Anlässe eingegrenzt werden. Besondere Kontakt- oder<br />

Seelsorgestellen für Personen, die einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR gestellt<br />

haben, werden deshalb nicht eingerichtet. Vielmehr kommt es darauf an, daß Menschen in dieser Lage in alle<br />

Lebensformen der Gemeinde integriert bleiben oder integriert werden.“ (abgedruckt in: KiS 2/88, 43f.; s.a. epd-<br />

Dok 9/88) Zur Auseinandersetzung zwischen Gruppen <strong>und</strong> Ausreisern in Berlin s. Rüddenklau 228-230<br />

158 s. Dok. 40<br />

159 In der ZK-Information (s. oben, Anm. 156) heißt es dazu: „In der Stadt Leipzig fanden Gespräche mit Personen<br />

statt, die sich als Ausreiseberater im Auftrag des Jugendpfarramtes in der Nikolaikirche bezeichneten. Sie wurden<br />

aufgefordert, ihre Tätigkeit einzustellen, <strong>und</strong> über die straf- <strong>und</strong> ordnungsrechtlichen Folgen ihrer Handlungen<br />

belehrt.“ (dort S. 7 bzw. 97)<br />

160 Mielke wertete diesen Schritt Bischof Leichs als „Untergrabung der Staatsautorität“ (so Dienstbesprechung am<br />

25.02.1988, in: Besier/Wolf, 535). In der ZK-Informationszusammenfassung (s. Anm. 156) heißt es jedoch: „In<br />

Leipzig informierte Oberkirchenrat Kirchner im Auftrag von Landesbischof Dr. Leich [... wörtliches Zitat aus<br />

dem dokumentierten Bericht]. Ungeachtet dessen ignorierten alle Superintendenten im Bezirk Erfurt bis auf einen<br />

das Verbot des Landesbischofs <strong>und</strong> brachten ihre Zustimmung zum Standpunkt der Staatsführung zum<br />

Ausdruck.“ (dort S. 2 bzw. 92)<br />

161 Das Papier sollte von der Kirche vertraulich behandelt werden. Von der SED wurde das Papier in Form eines<br />

„Briefes“ an die Ersten Sekretäre der Bezirks- <strong>und</strong> Kreisleitungen gesandt, mit der Aufforderung, „diese<br />

Darlegung des Staat-Kirche-Verhältnisses“ umzusetzen (SAPMO-BArch IV B 2/14/19, s.a. Anm. 154 <strong>und</strong> 241).<br />

99


3. Gespräche mit Pfarrern, die aktiv Bittgottesdienste <strong>und</strong> Beratungen von Ausreiseproblemen in Kirchen<br />

organisiert haben.<br />

Im Zusammenhang mit den Veranstaltungen am 19.2.1988 in der Nikolaikirche zum Thema „Leben<br />

<strong>und</strong> Bleiben in der DDR“ <strong>und</strong> dem Friedensgebet am 22.2.1988 162 in der Nikolaikirche fanden<br />

Gespräche mit den Pfarrern [/] - Führer [/] - Kaden u.a. [/] statt. [/] Im Ergebnis dieser Gespräche<br />

wurde sichtbar, daß solche Pfarrer nur durch die Dienstaufsicht des Landeskirchenamtes noch<br />

disziplinierbar sind. Ebenso wurde deutlich, daß die Einbeziehung der Kirchenvorstände durch die<br />

staatlichen Organe in Logistik <strong>und</strong> Inhalt noch stärker beherrscht werden muß. Die Gespräche haben<br />

im Sinne des Differenzierungsprozesses eindeutig erbracht, daß es sich bei Führer <strong>und</strong> Barthel [richtig:<br />

Bartels] um reaktionäre Kräfte handelt, mit denen die Arbeit forciert werden muß. Disziplinierende<br />

Gespräche aus konkretem Anlaß wurden auch in Borna geführt.<br />

4. In den Räten der Stadtbezirke wurden Gespräche mit den Personen geführt, die sich als Ausreiseberater<br />

im Auftrag des Jugendpfarramtes in der Nikolaikirche vorgestellt haben. Die Gespräche wurden mit<br />

dem Ziel geführt, die Handlungen dieser Leute einzustellen <strong>und</strong> sie über die strafrechtliche <strong>und</strong><br />

ordnungsrechtliche Relevanz ihrer Handlungen zu belehren. Diese Personen stehen unter der Kontrolle<br />

der Sicherheitsorgane.<br />

Schlußfolgerung:<br />

1. Am 29.2.1988 findet eine erneute Beratung mit den Stellvertretern der Vorsitzenden für Inneres statt. In<br />

dieser Beratung werden die Ergebnisse der Gesprächsführung ausgewertet. Bereits jetzt wird sichtbar,<br />

daß es richtig war, keine „Gesprächsaktion“ herbeizuführen.<br />

2. Durch die Bereiche Inneres des Rates des Bezirkes <strong>und</strong> des Rates der Stadt Leipzig wird im<br />

Zusammenwirken mit den Sicherheitsorganen intensiv an der Vorbereitung der Maßnahmen der<br />

Staatspolitik in Kirchenfragen im Zusammenhang mit der Leipziger Messe gearbeitet.<br />

40 Stasi-Information<br />

Operativinformation 50/88 (Hinweis- <strong>und</strong> Merkmalskomplex 2) der Kreisdienststelle Leipzig-Stadt des MfS<br />

(unterzeichnet Oberst Schmidt, wald-wl) vom 04.03.1988 über eine Beratung im Landeskirchenamt Dresden<br />

am 23.02.1988. Verteiler: 1. Stellvertreter der BV, Stellvertreter Operativ, Abt. XX, Abt. AKG <strong>und</strong> die<br />

Operative Lagegruppe der BV Leipzig zur Weiterinformation an HA XX, BV Dresden, Referate AuI <strong>und</strong><br />

XX/2 der KD Leipzig-Stadt <strong>und</strong> IM-Akte des IMB „Carl“. In der wiedergegebenen Vorlage wurde XX/2<br />

unterstrichen (ABL H 8).<br />

Durch zielgerichteten Einsatz eines zuverlässigen IMB unserer Diensteinheit konnten nachstehende<br />

Erkenntnisse über eine am 23.02.88 in Dresden stattgef<strong>und</strong>ene Beratung leitender kirchlicher Amtsträger<br />

der Kirchenbezirke Leipzig-Ost <strong>und</strong> West beim stellvertretenden Bischof der Landeskirche Sachsens<br />

inoffiziell erarbeitet werden. [/] Die Beratung hatte strengen internen Charakter <strong>und</strong> diente der<br />

Auswertung des am 18.02.88 stattgef<strong>und</strong>enen Spitzengespräches des Genossen Jarowinsky <strong>und</strong> des<br />

Staatssekretär für Kirchenfragen mit dem Vorsitzenden der Konferenz der Kirchenleitung des B<strong>und</strong>es der<br />

Evangelischen Kirchen in der DDR, Landesbischof Dr. Werner Leich 163 . [/] An der Beratung in Dresden<br />

nahmen teil: [es folgen 10 Namen, u.a. Dr. K. Domsch, Fr. Magirius, Chr. Wonneberger, M. Berger]<br />

Nach Informationen des IMB „Carl“ 164 waren alle o. g. Personen auf Wunsch des Landesbischofs der<br />

Evangelischen Landeskirche Sachsens, Bischof Dr. Hempel, zu dieser Beratung persönlich geladen<br />

worden. [/] Das Anliegen der Beratung bestand darin, das am 18. 02. 88 stattgef<strong>und</strong>ene Gespräch mit<br />

Vertretern der Regierung der DDR zu Problemen des Verhältnisses Staat/Kirche auszuwerten, eine<br />

Analyse der Ereignisse der vergangenen Wochen im kirchlichen Bereich Leipzig vorzunehmen <strong>und</strong><br />

gr<strong>und</strong>legende Festlegungen der innerkirchlichen Arbeit für die künftige Zeit im Bereich der Landeskirche<br />

Sachsens festzulegen. [/] Seitens der Vertreter der Kirchenleitung der Landeskirche Sachsens wurde im<br />

162 s. Anm. 156<br />

163 s. Anm. 161<br />

164 Der inoffizielle Mitarbeiter „Carl“ war Dr. Berger, s. Anm 90<br />

100


Geprächsverlauf betont, daß man bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht den vollen Umfang der<br />

Probleme <strong>und</strong> Ereignisse kirchlicher Tätigkeit in Leipzig nach den Ereignissen um die Berliner<br />

Zionskirche <strong>und</strong> dem 17. Januar 1988 in Berlin gekannt hätte. [/] Erst nach Gesprächen mit staatlichen<br />

Organen sei man jetzt zu der generellen Feststellung gekommen, daß in Leipzig nach Berlin die<br />

schwerwiegendsten <strong>und</strong> umfangreichsten Aktivitäten alternativer kirchlicher Gruppen sichtbar geworden<br />

sind.<br />

Es würde seitens der Landeskirchenleitung die Einschätzung getroffen, daß in keiner vergleichbaren Stadt<br />

der Landeskirche Sachsens - genannt wurden Dresden <strong>und</strong> Karl-Marx-Stadt, eine so große Anzahl von<br />

kirchlichen Gruppen existieren würden.<br />

Positiv werte man, daß es trotz aller Schwierigkeiten, die aus der Lage entstanden seien, in Leipzig zu<br />

keinen größeren Problemen gekommen sei, die das Verhältnis der Kirche zum Staat übergebührend<br />

belastet hätten. Dies wird als Ergebnis einer guten innerkirchlichen Arbeit, aber auch dem besonnenen<br />

Verhalten der zuständigen staatlichen Organe des Bereiches Kirchenfragen zugeschrieben, die es<br />

vermieden hätten, unnötige Reizmomente zu setzen. Durch Superintendent Magirius wurde zu dieser<br />

Problematik erklärt, daß das Umfeld dieser alternativen Gruppen seit längerer Zeit unter günstiger<br />

Beratung steht <strong>und</strong> es in Leipzig Personen gibt, die unter diesem Personenkreis auch Autorität besitzen. In<br />

Leipzig wäre insbesondere durch den Synodalausschußvorsitzenden Dr. Berger beruhigend auf diesen<br />

Personenkreis eingewirkt worden, was zu dieser positiven Entwicklung geführt hätte. Nur so wäre es<br />

möglich gewesen, daß nicht solche chaotischen Zustände wie in Berlin eingetreten sind.<br />

Durch den [A...] wurde die Auswertung des Gespräches mit Vertretern der Regierung der DDR vom<br />

18.02.88 vorgenommen, wobei betont wurde, daß man staatlicherseits im Gespräch der Kirche zu<br />

verstehen gegeben hätte, daß die Basis im Verhältnis Staat/Kirche vom 06.03.78 165 kurz vor dem<br />

Zusammenbruch stünde <strong>und</strong> bei Fortführung der in den letzten Wochen eingenommenen kirchlichen<br />

Haltungen schwerwiegende Konfrontationen im Verhältnis Kirche/Staat unvermeidbar wären. Diese<br />

Einschätzung hätte man kirchlicherseits zur Kenntnis genommen.<br />

Es wurde betont, daß man innerkirchlich eine Analyse der Vorkommnisse vorgenommen hätte, in deren<br />

Ergebnis man nachfolgende Wertung treffen kann:<br />

− Die Kirche sei schwer enttäuscht, daß ihr in einer schwierigen innenpolitischen Situation in der DDR<br />

eine falsche Rolle vom Staat zugespielt worden sei. Man vertrete die Auffassung, daß die Ursachen für<br />

diese Entwicklung im Bereich des Staates <strong>und</strong> der Partei liegen würden. Aus verschiedenen<br />

Gesprächen mit zuständigen staatlichen Organen hätte man den Eindruck gewonnen, daß es<br />

staatlicherseits auch Kräfte gibt, denen das bestehende Verhältnis Staat/Kirche nicht gefällt <strong>und</strong> die<br />

bewußt an einer Verschärfung der Lage interessiert seien. Was insbesondere die Problematik der<br />

Ausreisewilligen <strong>und</strong> deren Kontaktsuche zur Kirche betrifft, wo es zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche die<br />

größten Meinungsunterschiede gäbe, vertrete man die Auffassung, daß dieses Problem außerhalb der<br />

Kirche entstanden ist <strong>und</strong> man sich diese Leute nicht in die Kirche geholt hätte. Die Kirche habe nur<br />

versucht, in dieser schwierigen Lage zu reagieren, was vom Staat mißverstanden wurde.<br />

Aus der jetzigen vorgenommenen Analyse wurden nachfolgende kirchliche Standpunkte abgeleitet:<br />

− Es ist <strong>und</strong> bleibt stets kirchliches Anliegen, Menschen, die in Konflikt geraten sind <strong>und</strong><br />

seelsorgerischen Beistand benötigen, Unterstützung zu geben. Von diesem Selbstverständnis<br />

kirchlicher Arbeit wird man auch künftig nicht abrücken. Dabei steht auch nicht das Anliegen der<br />

Ausreise aus der DDR im Mittelpunkt kirchlicher Betreuung, sondern der Mensch mit seinen Sorgen<br />

<strong>und</strong> Nöten, die auch durch einen gestellten Ausreiseantrag entstanden sein können. Es ging <strong>und</strong> geht<br />

der Kirche nicht um die Bearbeitung <strong>und</strong> Beförderung von Ausreiseanträgen, da dies kein kirchliches<br />

Problem ist <strong>und</strong> die Kirche ja generell die Auffassung vertritt, daß der Platz eines Christen hier in der<br />

DDR ist, unabhängig bestehender Probleme. Die Kirche hätte die Erfahrung gemacht, daß eine<br />

Vielzahl von Bürgern der DDR durch ihre Ausreiseanträge in menschliche Konflikte geraten sind, um<br />

die sich auch die Kirche aufgr<strong>und</strong> ihres religiösen Auftrages kümmern muß. Der Staat hat in dieser<br />

Frage, dies wisse man, eine andere Betrachtungsweise. Auslösende Fakten für Ausreisebestrebungen<br />

<strong>und</strong> die daraus entstandenen menschlichen Konflikte sind durch den Staat in seiner Betrachtungsweise<br />

165 s. Anhang S. 377<br />

101


mit kirchlicher Tätigkeit verb<strong>und</strong>en worden, was falsch wäre <strong>und</strong> womit man der Kirche die Schuld für<br />

die entstandenen Reibungen zuschieben möchte. Dagegen verwahre man sich kirchlicherseits.<br />

− Die Kirche ist verw<strong>und</strong>ert, daß der Staat keine realistische Analyse <strong>und</strong> Kenntnis der Situation unter<br />

Ausreisewilligen hat. Die Kirche hat den Eindruck, daß der Staat ebenso wie die Kirche von den<br />

Ereignissen überrascht worden ist. Aus Gesprächen mit Antragstellern auf Übersiedlung hätte die<br />

Kirche die Überzeugung gewonnen, daß viele Übersiedlungsersuchende durch die unqualifizierte<br />

Arbeit untergeordneter Staatsorgane auf Kreis- <strong>und</strong> Stadtbezirksebene äußerst verärgert wären, da dort<br />

nicht oder ungenügend zu den Problemen gesprochen würde. Hier wird der Ausweg der<br />

Gesprächsführung in der Kirche gesucht. Begünstigend für den großen Unmut unter Ausreisewilligen<br />

sei die <strong>und</strong>urchsichtige Rechtspraxis bei Genehmigungen zur Übersiedlung. Dies bezieht sich auf<br />

territorial unterschiedlich gehandhabte Übersiedlungsverfahren, unterschiedliche Wartezeiten bei<br />

Genehmigungen bis hin zu unterschiedlichen Auskünften von Mitarbeitern der Abt. Innere<br />

Angelegenheiten zu gleichgelagerten Problemstellungen. Diese Situation, die nach Meinung der Kirche<br />

nur durch klare Rechtsgestaltung behoben werden kann, ist alleinig Aufgabe des Staates <strong>und</strong> falle nicht<br />

in den Zuständigkeitsbereich der Kirche. Man betrachte als Kirche die eingetretene Situation nicht<br />

zuallererst als Fehlentwicklung der „großen“ Politik, sondern der Fehlleistung untergeordneter<br />

örtlicher Organe, die nicht mit den Menschen arbeiten können.<br />

Aus dieser Analyse werden für die künftige Arbeit der Kirche nachfolgende Schlußfolgerungen gezogen:<br />

Die Kirche beabsichtigt nicht, sich in staatliche Angelegenheiten einzumischen. Es wird die Auffassung<br />

vertreten, daß der Staat selbst mit diesen Problemen fertig werden muß. [/] Dem Staat sollen durch die<br />

Kirche keine Fehler vorgehalten werden, man will aber mit ihm über das bestehende Problem sprechen. [/]<br />

Die Kirche ist sehr enttäuscht, daß der Staat nicht sieht <strong>und</strong> einschätzt, daß die Kirche in der<br />

gegenwärtigen Situation versucht hat, diesen Personenkreis der Übersiedlungsersuchenden zu<br />

kanalisieren. Es war Motiv dieser kirchlichen Arbeit, die entstandenen großen Emotionen dieser Personen<br />

abzubauen <strong>und</strong> nicht abzuwürgen, da man der Meinung ist, daß sonst auch öffentlichkeitswirksame<br />

unkontrollierte Handlungen größeren Ausmaßes von diesen Personengruppen der Antragsteller ausgehen<br />

könnten. Die Bereitschaft dazu, so schätzt man innerkirchlich ein, ist von seiten der Ausreisewilligen sehr<br />

groß. [/] Es wurde auch für die künftige kirchliche Arbeit die Orientierung gegeben, daß sich die Kirche in<br />

einer Vermittlerfunktion zwischen Bürger <strong>und</strong> Staat sieht. Im seelsorgerischen Gespräch mit den<br />

Antragstellern sollte erreicht werden, daß Menschen nicht durch unbedachte Schritte in Konflikt mit dem<br />

Gesetz geraten <strong>und</strong> daß es nicht zu einer Ausweitung der Probleme im internationalen ökumenischen<br />

Bereich kommt. [/] Die durch kirchliche Amtsträger vorzunehmende Arbeit mit diesem Personenkreis soll<br />

so angelegt werden, daß man diesen Personen den Rat gibt, sich nicht an Organisationen außerhalb der<br />

DDR zu wenden, um ihr Übersiedlungsersuchen durchzusetzen.<br />

Generell vertritt die Kirche die Auffassung, daß sie nicht zur Untergr<strong>und</strong>bewegung oder politischen<br />

Organisation gegen den Staat werden darf. Ein Mißbrauch der Kirche durch bestimmte Personen, die nur<br />

ihr persönliches Anliegen unter Nutzung der Kirche durchsetzen wollen, darf nicht zugelassen werden.<br />

Die Kirche versteht sich nicht als Sprachrohr dieser Personen in der Öffentlichkeit. Für den Bereich der<br />

Landeskirche Sachsens wurde festgelegt, daß es im innerkirchlichen Bereich keine Etablierung von sog.<br />

„Staatsbürgerschaftsrechtsgruppen“ 166 geben wird. In Berlin, so wertet man, sei diese Frage gegen den<br />

166 Staatsbürgerschaftsrechtsgruppen waren Gruppen, die sich um die Rechte der Ausreiseantragsteller kümmerten<br />

<strong>und</strong> gleichzeitig den Antragstellern aus der Vereinzelung halfen. In Berlin entstand solch eine Gruppe im Herbst<br />

1987. Sie veröffentlichte zum Tag der Menschenrechte, 10.12.1987, eine Erklärung, die die Rechtsverstöße der<br />

DDR-Regierung detailliert auflistete (abgedruckt u.a. in: Ost-/West-Diskussionsforum Nr. 2, 3f.). Diese Gruppe<br />

hatte im Dezember 1988 großen Zulauf. Am 6. Januar 1988 rief sie zur Teilnahme an der offiziellen Luxemburg-<br />

Liebknecht-Demonstration am 17.01.1988 mit eigenen Transparenten auf (s. Die Luxemburg-Affäre, in:<br />

„Umweltblätter“ vom 12.02.1988, Rüddenklau, 203-209 <strong>und</strong> ebenda, 122-124). Die meisten „am Rande“ der<br />

Demonstration Verhafteten <strong>und</strong> wenige Tage später gen B<strong>und</strong>esrepublik Abgeschobenen gehörten vermutlich zu<br />

dieser Gruppe bzw. waren Ausreiseantragsteller. Da die Mitarbeit in solch einer Gruppe bzw. Demonstrationen<br />

mit „Ausbürgerung belohnt“ wurden, versuchten viele Ausreiseantragsteller in der Folge eine Wiederholung. In<br />

Leipzig gab es verschiedene Versuche der Vernetzung <strong>und</strong> politischen Artikulation der Ausreiseantragsteller. Die<br />

erste Leipziger Solidaritäts- bzw. Protestveranstaltung (am 22.01.) nach den Berliner Inhaftierungen wurde u.a.<br />

102


Willen der Kirche durch andere Umstände anders entschieden worden.<br />

Für die kirchlichen Amtsträger wurden nachfolgende Arbeitsorientierungen gegeben:<br />

1. Übersiedlungsersuchende sind durch sachgemäße Information vor unüberlegten Handlungen zu<br />

bewahren. Dies ist Sinn <strong>und</strong> Zweck der Beratung.<br />

2. Die Kirche wird sich auch weiterhin darum bemühen, humanitäre <strong>und</strong> Problemfälle im sachlichen<br />

Gespräch mit dem Staat ohne große Publizität zu lösen. Hier wird auch die Bereitschaft des Staates<br />

erwartet.<br />

3. Schwerpunkt der Arbeit mit Antragstellern besteht im seelsorgerischen Gespräch nicht der<br />

Antragstellung wegen, sondern um menschliche Konfliktsituationen abzubauen.<br />

Für die praktische Umsetzung dieser Orientierung wurde durch die Vertreter der Landeskirchenleitung<br />

Sachsens betont, daß man die gespannte Lage stets realistisch einschätzen müsse <strong>und</strong> man auch<br />

Verständnis dafür aufbringt, daß es für den Staat in der gegenwärtigen Situation sehr belastend ist, wenn<br />

kirchliche Großveranstaltungen durchgeführt werden sollen. [/] Diese staatliche Sorge will man<br />

dahingehend respektieren, indem man in nächster Zeit auf derartige Großveranstaltungen im kirchlichen<br />

Bereich verzichten will. [/] Gleichfalls sollen keine kirchlichen Veranstaltungen unter dem Thema der<br />

Ausreiseproblematik durchgeführt werden. Als vorrangig wird das Einzelgespräch mit Antragstellern<br />

angesehen. Es wurde angekündigt, daß in diesem Zusammenhang eine Orientierung an alle Pfarrer der<br />

Landeskirche gegeben wird. [/] Bei in den Gemeinden stattfindenden Gesprächskreisen, wo<br />

Ausreisewillige mit anwesend sind, sollen die Gesprächskreise nicht über 40 Personen ausgedehnt<br />

werden, <strong>und</strong> das Gesprächsthema ist auf religiöse Bezugspunkte zu begrenzen. Möglichst sind nicht die<br />

Kirchen zur Durchführung von derartigen Gesprächskreisen zu nutzen, sondern die Gemeinderäume, um<br />

den Personenkreis überschaubar zu halten. [/] Es wurde betont, daß man kirchlicherseits auch Probleme<br />

sieht, die einer Normalisierung entgegenstehen oder sie zumindest erschweren. Zu diesem Punkt wurde<br />

die Berichterstattung der Pressemedien der DDR zur Rolle der Kirche bei den Ereignissen um den 17.<br />

Januar 1988 in Berlin genannt, wo nach Meinung der Kirche falsche Anschuldigungen verb<strong>und</strong>en mit<br />

einer aufheizenden Wortwahl gegen die Kirche dazu geführt haben, Stimmung zu machen.<br />

Weiterhin hat man die Aktivitäten des MfS <strong>und</strong> der Partei verfolgt, wo nach Meinung der Kirche in vielen<br />

innerkirchlichen Veranstaltungen durch „diese Mitarbeiter“ mittels Zwischenrufe <strong>und</strong> anderer Aktivitäten<br />

die Stimmung provozierend angeheizt worden sei. [/] Innerkirchlich hätte man auch weiterhin beobachtet,<br />

daß ehemalige Mitarbeiter der SED, die sich jetzt um eine Ausreise aus der DDR bemühen, den besonders<br />

aggressiven Kern der Gruppen bilden würden, mit denen die Kirche nichts zu tun haben will. An der<br />

kirchlichen Basis in den Gemeinden bestünde kein Verständnis dafür, daß sich die Kirche für diese<br />

Personen einsetzt.<br />

Eine offizielle Verlautbarung der Kirchenleitung zu o.g. Problemen soll innerkirchlich nicht erfolgen, da<br />

man einschätzt, daß 90 % der kirchlichen Amtsträger in den Gemeinden der Landeskirche gar nicht oder<br />

sehr oberflächlich über diese Probleme informiert sind <strong>und</strong> eine offizielle Verlautbarung der<br />

Kirchenleitung nur eine unbeherrschbare Diskussion im innerkirchlichen Bereich zur Folge hätte. Dies sei<br />

nicht Anliegen der gegenwärtigen Entwicklung. [/] Auch nach dem ernsten Gespräch mit dem Staat will<br />

man am kirchlichen Selbstverständnis der Arbeit festhalten. Es wurde geäußert, daß wenn der Staat von<br />

der Kirche die Aufgabe ihrer Position für alle Menschen dazusein, verlangt, man dem nicht entsprechen<br />

wird <strong>und</strong> auch alle Konsequenzen daraus tragen wird. [/] Bezogen auf das Verhältnis Staat/Kirche nach<br />

dem 06.03.78 äußerte [A...], daß „Wenn das Haus zerstört werden solle, man es nicht ändern kann.“<br />

Es wurde im Gespräch jedoch auch die Bereitschaft erklärt, das positive Verhältnis Staat/Kirche nicht zu<br />

verlassen. [/] Es bestünde vielmehr die Aufgabe, die „Reizelemente“ auf beiden Seiten abzubauen, was<br />

auch im Interesse des Staates liegen müßte. [/] Die Kirche stünde auch zukünftig allen Menschen offen,<br />

die Probleme hätten. Es wäre kirchlicherseits nicht beabsichtigt, vor Veranstaltungen die Ausweise zu<br />

kontrollieren, um zu sehen, welche Personen sich an religiösen Veranstaltungen beteiligen wollten. Als<br />

wichtig wurde betont, daß man sich an den kirchlichen Rahmen der Veranstaltung halten sollte <strong>und</strong><br />

von einem Ausreiseantragsteller organisiert. Dieser durfte/mußte aus diesem Gr<strong>und</strong> am 21.01.1988 die DDR<br />

verlassen. Im März 1988 gab es ca. 10 Ausreise(selbsthilfe)gruppen in Leipzig. Weitere wichtige Gruppen gab es<br />

zu dieser Zeit in Görlitz, Jena, Naumburg <strong>und</strong> Wismar.<br />

103


auftretende Probleme nicht hochgespielt werden.<br />

Nach Einschätzung des IMB „Carl“ zielt die gegebene Orientierung auf eine Lösung der Probleme<br />

zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche. [/] Der eingeladene Personenkreis kam nach Wertung des IM dadurch<br />

zustande, da die anwesenden kirchlichen Amtsträger aus Leipzig im wesentlichen mit dieser Problematik<br />

in der tagtäglichen Arbeit konfrontiert worden sind. Disziplinierende Momente z.B. für die Pfarrer<br />

Wonneberger oder Führer waren nicht zu erkennen. Seitens dieser beiden Personen wurde im<br />

Gesprächsverlauf keine Meinung zur Gesamtproblematik geäußert. Beide verhielten sich nach<br />

Einschätzung des IM sehr reserviert. [/] Der IMB „Carl“ wird weiter zu innerkirchlichen Reaktionen im<br />

Zusammenhang mit der Umsetzung der Orientierung der Landeskirchenleitung Sachsens im Bereich<br />

Leipzig berichten. [/] Die Information ist offiziell nicht auswertbar. Aufgr<strong>und</strong> des strengen internen<br />

Charakters der Zusammenkunft ist bei Auswertung unbedingter Quellenschutz zu gewährleisten.<br />

Um Kenntnisnahme der Information wird gebeten.<br />

41 Friedensgebetstexte<br />

Texte, die zum Friedensgebet am 14.03.1988 in der Nikolaikirche von E. Dusdal (AKSK) vorgetragen<br />

wurden. Die Texte wurden mit der Maschine geschrieben <strong>und</strong> handschriftlich überarbeitet. Xerokopie (ABL<br />

H 1).<br />

[Predigt:] Ich, Jeremia 167 , habe eigentlich Angst. Ich bin besorgt um mein Leben. Die Sicherheit meiner<br />

vier Wände - ich weiß sie zu schätzen. Ich kenne das Gefühl: Bloß nicht einmischen. Was geht mich das<br />

überhaupt an. Wer weiß, wo das noch hinführt.<br />

Und ich, Jeremia, kenne die Gesetze meines Landes: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Das Übliche tun.<br />

Das, was wir schon immer getan haben. Doch mich, Jeremia, trifft die Stimme Gottes. Sie reißt mich<br />

heraus aus dem Alltagstrott. Ich vernehme den Anspruch Gottes auf mein Leben. Ich weiß: Auch die<br />

Minister, der Staat, erheben durch ihre Gesetze Anspruch auf mein Leben. Auch sie wollen über mich,<br />

Jeremia, verfügen. Gott <strong>und</strong> König kämpfen um meine Unterordnung. Doch ich, Jeremia, muß Gott<br />

wählen. Er zwingt mich zu tun, wovor ich Angst habe. Er heißt mich aufstehen <strong>und</strong> auftreten gegen<br />

Ungerechtigkeit, Willkür <strong>und</strong> Maulkorbgesetze, wo ich sie doch zu schätzen weiß, die Ruhe <strong>und</strong><br />

Sicherheit meiner vier Wände. Ich versuchte es auch anfangs mich vor Gott <strong>und</strong> meinem Gewissen<br />

herauszureden: „Ach Jahwe, sieh ich weiß nicht zu reden, ich bin zu jung“. Doch Gott antwortete mir:<br />

„Sag nicht: Ich bin zu jung, sondern: wohin immer ich dich sende, dahin wirst du gehen <strong>und</strong> was immer<br />

ich dich heiße, das wirst du reden. Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin mit dir um dich zu retten.<br />

(1,6ff) Tritt auf <strong>und</strong> sag ihnen alles, was ich dich heiße. Hab keine Angst vor ihnen damit ich dir keine<br />

Angst einjage vor ihren Augen (1,17f). Und so begab ich mich auf den Markt <strong>und</strong> vor die Tore der Stadt,<br />

wo die Richter ihre ungerechten Urteile fällen, stelle mich in den Tempel <strong>und</strong> beginne zu reden: Warum<br />

seid ihr nur so verstockt, ihr Herrschenden? Warum macht ihr euch nur so unnahbar? Wovor schützt ihr<br />

euch? Vor der Wahrheit oder vor der Veränderung? Seht ihr nicht das Volk mit seinen Nöten? Daß es<br />

gehört werden will, daß es gehört werden muß? Seht ihr nicht die vielen, die sich w<strong>und</strong>gerieben haben in<br />

ihren Bemühungen um Veränderung? Die sich Sorgen machen, um die Bewahrung der Schöpfung <strong>und</strong><br />

durch eure Gesetze daran gehindert werden? Die sich mehr Freiheit wünschen in der Gestaltung ihres<br />

Lebens? Die aufbegehren, gegen das Unrecht in unserem Land? Die keine Lust mehr haben, eine Waffe<br />

zu tragen <strong>und</strong> sinnlosen Drill zu erdulden? Die nicht mehr nur: Ja Herr Lehrer sagen wollen. Seht ihr<br />

nicht, daß sie das Land fre<strong>und</strong>licher, daß sie es fröhlicher machen wollen? Und seht ihr nicht die vielen<br />

anderen, die die bereits resigniert haben? die sich abgef<strong>und</strong>en haben, mit all dem hier, die fertig sind, die<br />

die Schnauze voll haben <strong>und</strong> sagen: Es hat ja doch alles keinen Sinn mehr hier. Die nur noch warten um<br />

weg zu können, aus welchen Gründen auch immer. Die die Resignation blind gemacht hat auf einem<br />

Auge, so daß sie nur noch Mauern um sich sehen.<br />

Und Jeremia spricht weiter: Kehrt um, ihr die ihr oben sitzt <strong>und</strong> hart seid, <strong>und</strong> ihr, die ihr verhärtet <strong>und</strong><br />

167 Gemeint ist der Prophet Jeremia. Die Rede war eine Auslegung des alttestamentlichen Berichts über die Berufung<br />

Jeremias (Jer. 1,4-10 <strong>und</strong> 17-19).<br />

104


festgefahren seid, all ihr Resignierten, die ihr die hoffnungsvollen Zeichen nicht mehr sehen wollt. Kehrt<br />

um <strong>und</strong> laßt uns alle gemeinsam nach neuen Wegen suchen.<br />

Fürbitten:<br />

I. Herr, wir haben in den letzten Monaten auf langsame Veränderungen gehofft, wir haben um<br />

Besonnenheit auf beiden Seiten gebetet. Hab Dank, daß die ersten Verhafteten entlassen sind; schenke<br />

Du uns Zuversicht <strong>und</strong> Phantasie für das Weitergehen. - Viele von uns bringt die Angst hierher <strong>und</strong> die<br />

Ungewißheit über unsere gegenwärtige Situation, manchen auch Ungeduld, Unwille, wohl auch<br />

Sensationsstimmung <strong>und</strong> berufliche Wißbegier. Die Ungewißheit über das Leben <strong>und</strong> Bleiben <strong>und</strong><br />

auch über das Verlangen der DDR lassen uns resignieren. Du Gott der Vergangenheit <strong>und</strong> Zukunft, gib<br />

unserer dumpfen Spannung <strong>und</strong> Unklarheit Dein einredendes Wort, gib, daß sich die Angst in<br />

Zuversicht wendet. Hilf Du denen, die bleiben wollen 168 , hilf denen, die nicht mehr bleiben können,<br />

hilf auch den Zuschauern <strong>und</strong> Beobachtern aus ihrer Not.<br />

II. Herr, wir denken an die, die noch inhaftiert sind. Wir sind betroffen über Festnahmen <strong>und</strong> st<strong>und</strong>enlange<br />

Verhöre 169 . Lasse Du Gespräch werden, was Verhör war, gib Du denen, die Verantwortung tragen,<br />

Einfühlungsvermögen <strong>und</strong> gerechte Entscheidungen. Wir denken an die Angehörigen. Gib ihnen Halt,<br />

laß sie Liebe <strong>und</strong> Güte erfahren. Wir bitten Dich für die Kinder bedrängter Eltern, daß sie keinen<br />

Schaden nehmen. Hilf jedem der Inhaftierten durch Deine Nähe <strong>und</strong> unser Eintreten. Und gib auch den<br />

Mitarbeitern des Strafvollzugs Gesten der Mitmenschlichkeit.<br />

III. Herr, wir wissen oft nicht, wie wir verantwortlich als Christen <strong>und</strong> als Kirche hier im Lande leben<br />

können. Hilf, daß wir uns nicht untereinander entzweien, daß wir redlich miteinander umgehen, hilf,<br />

daß wir an Deinem Wort bleiben <strong>und</strong> die Sinne dafür schärfen. Gib, daß wir uns immer wieder von Dir<br />

unterbrechen lassen. Laß uns erfahren, daß wir nie sicher, aber immer geborgen sind.<br />

IV. Herr, wir bringen unsere Situation vor Dich, daß Du uns hilfst <strong>und</strong> unterbrichst in unseren Gedanken.<br />

Gib uns, die wir beten, Zuversicht <strong>und</strong> Gemeinsamkeit. Segne Du alles Eintreten der Kirchenleitungen.<br />

Gib denen, die die Verhaftungen verantworten, klare Sicht <strong>und</strong> Mut zur Korrektur. Hindere Du<br />

unfruchtbare Machtbeweise, gib daß die Freiheit größer wird als die Sicherheit. Laß uns klar <strong>und</strong> fest<br />

werden gegenüber Gewalt <strong>und</strong> Provokation. Führe Du die, die ihre Meinung nicht sagen, dazu, nach<br />

ihrem Gewissen zu handeln. Herr, der Du die Welt unterbrichst, schaffe, daß wir Dir Raum lassen.<br />

42 Stasi-Information<br />

Information Nr. 143/88 des Ministers für Staatssicherheit über das Friedensgebet am 14.03.1988 in Leipzig<br />

vom 15.03.1988. Der Verteiler der Information war u.a.: Krenz, Jarowinsky, Bellmann, Gysi, Mittig, Leiter<br />

der HA XX, Leiter der BV Leipzig, HA XX/4. Die Information trägt den Aufdruck: „Streng geheim! Um<br />

Rückgabe wird gebeten!“. Als Vorlage diente das nicht weitergeleitete Exemplar 11 (BStU ZAIG 3660, 1-8).<br />

Information über ein sogenanntes Friedensgebet in der Nikolaikirche in Leipzig am 14. März 1988 mit<br />

anschließender Personenbewegung im Stadtzentrum von Leipzig 170<br />

Am 14. März 1988, 17.00 Uhr (Zeitraum der Leipziger Frühjahrsmesse) fand in der Nikolaikirche Leipzig<br />

ein traditionelles Friedensgebet statt. Unter den insgesamt ca. 800 Teilnehmern befanden sich kirchliche<br />

Amtsträger des Territoriums, Führungskräfte <strong>und</strong> Mitglieder kirchlicher Basisgruppen sowie<br />

Übersiedlungsersuchende. (Dem MfS war entsprechend vorliegenden internen Hinweisen bekannt, daß<br />

diese Veranstaltung von hinlänglich bekannten Kräften zu provokatorisch-demonstrativen Handlungen<br />

168 Ursprünglich: „Hilf Du uns, die wir bleiben wollen.“<br />

169 Im Vorfeld des Messemontags wurden eine Vielzahl Ausreisewilliger (zumindest) kurzzeitig inhaftiert <strong>und</strong> vom<br />

MfS „belehrt“, an keiner Demonstration teilzunehmen.<br />

170 Am 15.03.1988 (8.45 Uhr) bat Mielke den Leiter der BV Leipzig darum, daß H. Schumann (1. Sekretär der SED-<br />

BL) E. Honecker informiert (so Notiz Hummitzsch in: BStU Leipzig AB 3845). Die SED-Information konnten<br />

die Herausgeber in den untersuchten Akten nicht finden. Die Einschätzung der BV Leipzig der Staatssicherheit<br />

ist abgedruckt in: Besier/Wolf, 555-561, dort 556f. H. Reitmann (RdB) informierte das StfK per Telefon über die<br />

Vorgänge (Aktenvermerk Heinrich - BArch O-4 973).<br />

105


mißbraucht werden soll171 .) Den Gebetsteil der Veranstaltung, der von Mitgliedern der neu formierten<br />

Regionalgruppe Leipzig des Arbeitskreises „Solidarische Kirche“ gestaltet wurde, enthielt - ausgehend<br />

von einem biblischen Gleichnis - aktuelle Bezüge zur „Ausreiseproblematik“.<br />

Der hinlänglich bekannte Pfarrer Wonneberger/Leipzig, dessen Ausführungen mit Applaus aufgenommen<br />

wurden, hob u.a. hervor, er sehe die Gründe, die DDR zu verlassen u.a. darin, daß „eine eigene Meinung<br />

in diesem Land nicht gefragt“ sei; die Menschen hier hätten das „Gefühl der Entmündigung <strong>und</strong> der<br />

Vorenthaltung von Informationen“. Er - Wonneberger - konstatierte „Einschränkungen der persönlichen<br />

Bewegungsfreiheit <strong>und</strong> Bevorm<strong>und</strong>ung durch die Behörden“. Die Menschen in der DDR hätten das<br />

„Gefühl mangelnder Freiheit“ <strong>und</strong> würden mit der Tatsache konfrontiert, daß „Hoffnung auf<br />

Veränderungen nicht besteht“. Wege der Veränderung der Situation sehe er im offenen Dialog über die<br />

entstandenen Probleme <strong>und</strong> in der Einbeziehung aller Bürger in deren Lösung. Wonneberger erhob in<br />

diesem Zusammenhang u.a. die Forderung nach Gleichberechtigung <strong>und</strong> Toleranz sowie nach mehr<br />

Rechtssicherheit in Form von Gesetzen <strong>und</strong> Durchführungsbestimmungen, die unter Einhaltung<br />

internationaler Konventionen zu erarbeiten seien. Die von mehreren Personen vorgetragenen Fürbitten<br />

enthielten u.a. folgende beachtenswerte Aussagen: Hoffnung auf Veränderungen der gegenwärtigen<br />

Situation; Ungewißheit über die Entwicklung der Lage; Betroffenheit über Festnahmen <strong>und</strong> st<strong>und</strong>enlange<br />

Verhöre; Dank für die Freilassung von Inhaftierten172 ; Zuversicht hinsichtlich des Willens der<br />

Verantwortlichen zur Korrektur von Verhaftungen; Gemeinsamkeit mit dem Ziel, „damit die Freiheit<br />

größer werde als die Sicherheit“, Hoffnung, „daß Sicherheit wachse gegenüber Gewalt <strong>und</strong> Provokation“;<br />

Zuversicht, „daß Gott die Übersiedlungsersuchenden im Blick behalte“.<br />

In die Gestaltung der Fürbitten waren Oberkirchenrat Auerbach/Landeskirchenamt der Ev.-Luth.<br />

Landeskirche Sachsens <strong>und</strong> Pfarrer Wugk/Stellvertreter des Superintendenten, einbezogen. Im Verlauf des<br />

Friedensgebetes führte der Pfarrer der Nikolaikirche, Führer, aus, die Kirche könne nur das verantworten,<br />

was unter ihrem Dach geschehe. Bezugnehmend auf die gegenwärtig stattfindende Leipziger<br />

Frühjahrsmesse betonte er, Aktionen in der Öffentlichkeit würden gegenwärtig unweigerlich zur<br />

Konfrontation mit der Polizei führen.<br />

Oberkirchenrat Auerbach empfahl den Anwesenden im Anschluß daran, einen „Mittelweg zwischen<br />

Aggression <strong>und</strong> Resignation zur Lösung der aktuellen Probleme“ zu beschreiten <strong>und</strong> formulierte: „Ich<br />

bitte Sie, besonnen zu sein <strong>und</strong> Geduld zu haben, sich untereinander anzufassen <strong>und</strong> einen gemeinsamen<br />

Weg zu gehen.“ Wie weiter festgestellt wurde, waren zum Zeitpunkt der Veranstaltung in der<br />

Nikolaikirche ca. 400 Exemplare eines im Durchschlagverfahren vervielfältigten 3seitigen Pamphlets<br />

ausgelegt worden, dessen Inhalt als „Orientierungshilfe“ für Übersiedlungsersuchende zum Verfassen von<br />

Eingaben an den Rechtsausschuß der Volkskammer dienen soll. U.a. werden darin angebliche<br />

Verletzungen der Menschenrechte in der DDR postuliert <strong>und</strong> davon ausgehend massive Forderungen zur<br />

Änderung von Rechtsvorschriften in der DDR im Zusammenhang mit der Ausreiseproblematik erhoben.<br />

Am Ende der Veranstaltung wurden nur noch wenige Exemplare festgestellt. Es ist davon auszugehen,<br />

daß dieses Pamphlet in erheblicher Stückzahl zur Verbreitung gelangte. (1 Exemplar wird als Anlage<br />

beigefügt.)<br />

Nach Abschluß der Veranstaltung - ca. 18.10.Uhr - versammelten sich ca. 100 bis 120 Personen vor der<br />

Nikolaikirche. Von dort aus begaben sie sich ohne Mitführung von Transparenten, Gegenständen oder<br />

Symbolen in Richtung Thomaskirche, wo sie sich auf dem Vorplatz der Kirche an den Händen faßten <strong>und</strong><br />

einen Kreis bildeten. Anschließend ging diese Gruppierung, aufgelöst in kleineren Gruppen, zur<br />

Nikolaikirche zurück, wobei auf dem Markt nochmals kurzzeitig eine Kreisbildung erfolgte 173.<br />

Die Personenansammlung löste sich gegen 19.00 Uhr ohne Vorkommnisse auf. Anwesend gewesene<br />

171 Das MfS wußte seit mindestens 3 Wochen zuvor, daß dieser Schweigemarsch geplant war. Unter dem 22.02.1988<br />

steht im Arbeitsbuch eines Mitarbeiters der KD des MfS: „IM teilt mit, daß Messemontag Schweigemarsch“<br />

(BStU Leipzig AB 780).<br />

172 Am 10.03. durften F.W. Sonntag <strong>und</strong> M. Kunze die Stasi-Untersuchungshaft verlassen.<br />

173 Am 16.03.1988 fragte der Stellvertretende Stasi-Minister R. Mittig beim Leiter der BV Leipzig unter Verweis auf<br />

die „Westpresse“ an, ob Lieder gesungen wurden (BStU Leipzig AB 3845).<br />

106


Sicherheitskräfte sowie gesellschaftliche Kräfte174 kamen nicht zum Einsatz 175.<br />

Internen Feststellungen zufolge setzten sich die Teilnehmer der Personenansammlung zum überwiegenden<br />

Teil aus Übersiedlungsersuchenden sowie weiteren politisch negativen Personen zusammen. Intern<br />

bekanntgewordenen Äußerungen dieses Personenkreises zufolge soll eine ähnliche Aktion, von der man<br />

sich mehr Öffentlichkeitswirksamkeit verspricht, am Montag, dem 21. März 1988 in Leipzig wiederholt<br />

werden.<br />

Westliche Korrespondenten verfolgten das Geschehen vor, während <strong>und</strong> nach dem sogenannten<br />

Friedensgebet. Erkannt wurden Korrespondenten von „ARD“, „ORF/FS“, der „Westfälischen R<strong>und</strong>schau“<br />

<strong>und</strong> des „Spiegel“. Bereits vor Veranstaltungsbeginn war ein Kamerateam des „ZDF“ am Nikolaikirchhof<br />

postiert. Die Korrespondenten begleiteten z.T. die vorgenannte Personenbewegung in der Innenstadt.<br />

Durch das MfS wurden entsprechende Maßnahmen zur vorbeugenden Verhinderung weiterer<br />

öffentlichkeitswirksamer provokatorisch-demonstrativer Aktivitäten Übersiedlungsersuchender<br />

eingeleitet.<br />

Der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für Inneres führte am 15. März 1988 in<br />

Auswertung der Vorkommnisse ein Gespräch mit dem Präsidenten des Landeskirchenamtes Dresden,<br />

Domsch, <strong>und</strong> mit Superintendenten Magirius/Leipzig, in dem die provokativen Aussagen gegen die<br />

Politik von Partei <strong>und</strong> Regierung während des sogenannten Friedensgebetes, die Verteilung von<br />

Pamphleten (siehe Anlage) sowie die Sammlung von Personen vor der Kirche zum Zwecke<br />

provokatorisch-demonstrativer Handlungen zurückgewiesen wurden.<br />

Beiden kirchlichen Amtsträgern gegenüber wurde unmißverständlich die staatliche Erwartungshaltung<br />

zum Ausdruck gebracht, künftig derartige feindlich-negative Aktivitäten zu unterbinden <strong>und</strong> erklärt, daß<br />

bei Nichteinhaltung der staatlichen Auflagen keine Gesprächsbereitschaft zur weiteren Vorbereitung des<br />

im Jahre 1989 geplanten Kirchentages in Leipzig erwartet werden kann.<br />

Nachdem seitens der kirchlichen Amtsträger anfänglich versucht wurde, die Geschehnisse während <strong>und</strong><br />

nach dem sogen. Friedensgebet am 14. März 1988 zu bagatellisieren <strong>und</strong> in der Öffentlichkeit gestellte<br />

Forderungen von Übersiedlungsersuchenden zu rechtfertigen - was zurückgewiesen wurde -, sicherten sie<br />

entsprechend der staatlichen Erwartungshaltung ihre Einflußnahme - auch bezogen auf die für den 21.<br />

März 1988 vorgesehene kirchliche Veranstaltung in Leipzig - zu.<br />

Anlage zur Information Nr.143/88<br />

Volkskammer der DDR<br />

- Rechtsausschuß -<br />

Marx-Engels-Platz<br />

Berlin<br />

1020 Leipzig, im März 1988<br />

Aufgr<strong>und</strong> meiner Erfahrungen als Ausreiseantragsteller wie auch der derzeit entstandenen Turbulenzen<br />

zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche sehe ich mich veranlaßt, als Christ <strong>und</strong> Staatsbürger zu folgenden Problemen<br />

Stellung zu nehmen. [/] Im Gegensatz zu offiziellen Erklärungen von Repräsentanten der DDR-Regierung,<br />

wonach die Menschenrechte in ihrer Gesamtheit von zivilen, politischen, sozialen <strong>und</strong> kulturellen Rechten<br />

in der DDR ihre Verwirklichung finden, komme ich zu dem Ergebnis, daß sowohl völkerrechtlich<br />

verbriefte Menschenrechte als auch innerstaatliches Recht verletzt werden. Im besonderen meine in die<br />

174 s. Anhang S. 359<br />

175 „Aufgr<strong>und</strong> der operativen Erkenntnisse, daß damit eine öffentlichkeitswirksame Provokation der<br />

Sicherheitsorgane geplant war <strong>und</strong> ein Eingreifen von den bereits in den Handlungsräumen anwesenden BRD-<br />

Fernsehteams für Hetzsendungen am gleichen Tag in westlichen Medien genutzt werden sollte, wurde das<br />

erforderliche taktische Verhalten festgelegt <strong>und</strong> eine 'medienwirksame Dokumentation' vermieden.“<br />

(Lageeinschätzung der Leitung der BV des MfS vom Juni 1988, in: Besier/Wolf 555-561, dort 557) Der Einsatz<br />

der Sicherheitskräfte wurde durch Eppisch, Schmidt <strong>und</strong> durch den Leiter der KD Leipzig-Stadt geführt. Beteiligt<br />

waren auch zentrale Einsatzkräfte des MfS (BStU Leipzig AB 1161, 13). Mielke teilte am 15.03., 7.15 Uhr, per<br />

Telefon mit (Aufzeichnung von Hummitzsch), daß die „Entscheidung, nicht einzugreifen, völlig richtig“ war<br />

(BStU Leipzig AB 3845).<br />

107


von den staatlichen Organen angewandte Rechtspraxis hinsichtlich des Genehmigungsverfahrens<br />

„Wohnsitzwechsel“, sowie die Strafgesetze der DDR.<br />

1. Obwohl die Verfassung der DDR (Art. 19/4) eindeutig festlegt, daß die Bedingungen für den Erwerb<br />

<strong>und</strong> den Verlust der Staatsbürgerschaft der DDR durch Gesetze bestimmt werden, begründen die<br />

staatlichen Organe für Innere Angelegenheiten ihre Bearbeitungsweise von Anträgen auf Zustimmung<br />

zum Wohnsitzwechsel entweder gar nicht oder mit nicht öffentlichem innerstaatlichem Recht<br />

(Dienststellenrecht, Sondergenehmigungen, Sondergesetze). Dies geschieht unter Mißachtung der<br />

allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 13/2, 15/2), der Internationalen Konvention über<br />

zivile <strong>und</strong> politische Rechte (Art. 2, 5, 12, 16, 18 <strong>und</strong> 26), der Schlußakte von Helsinki <strong>und</strong> dem<br />

abschließenden Dokument des Madrider KSZE-Folgetreffens sowie der Verfassung der DDR (Art. 4,<br />

8/1, 19, 20/1 <strong>und</strong> 89/3). [/] Mit dieser Praxis verweisen die staatlichen Organe die gesetzlich<br />

berechtigten Antragsteller in einen gesetzlosen Raum <strong>und</strong> entziehen ihnen damit die legitime<br />

Rechtsfähigkeit wie auch den garantierten Rechtsschutz (Art. 19/1). Die staatlichen Organe erklären<br />

sich in diesen Angelegenheiten für allein zuständig <strong>und</strong> verweigern jedem Antragsteller das<br />

Mitspracherecht. Die Entscheidung in Staatsbürgerschaftsangelegenheiten wird zu einer allein<br />

staatsrechtlichen Angelegenheit erklärt, d.h., ich als Staatsbürger der DDR muß mich als Eigentum des<br />

Staates verstehen. Die Praxis des Eingaberechts wird damit für mich als Rechtsmittel gegenstandslos.<br />

Vielfältige Diskriminierungen <strong>und</strong> Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Antragstellern sind die<br />

Folge:<br />

- Antragsteller müssen in der Regel jahrelang auf die Entscheidung der staatlichen Organe warten,<br />

ohne jemals konkrete Anhaltspunkte über den Stand der Bearbeitung ihres Anliegens zu erfahren.<br />

- Objektive Kriterien für die Entscheidungsfindung werden ihnen nicht mitgeteilt, auch das erfolgt<br />

ohne Benennung gesetzlicher Gr<strong>und</strong>lagen.<br />

- Die Freizügigkeit innerhalb der DDR wird eingeschränkt 176 ; Reiseverbote ins Ausland werden<br />

ausgesprochen bzw. willkürlich gehandhabt.<br />

- Die wachsende Ausweglosigkeit, in die Antragsteller mit zunehmender Wartezeit gedrängt werden,<br />

macht die meisten psychisch <strong>und</strong> physisch krank, provoziert Kurzschlußhandlungen <strong>und</strong> führt zu<br />

Rechtsverletzungen.<br />

- Gesellschaftliche Ausgrenzung <strong>und</strong> Isolation (z.B. Berufliche Benachteiligung bis hin zu<br />

Berufsverbot, Einschränkungen sozialer Leistungen, Nichtgewährung von Bildungsmöglichkeiten)<br />

verschärfen die Situation.<br />

2. Kein Bürger hat den gesetzlichen Anspruch zur freien Aus- <strong>und</strong> Einreise. Trotz der Erweiterung von<br />

Reisemöglichkeiten ist die Genehmigungspraxis weiterhin durch Privilegien, Treuebekenntnisse <strong>und</strong><br />

Verwandtschaftsnachweis gekennzeichnet. Abgelehnte Reiseanträge werden nicht begründet, auch gibt<br />

es keine gesetzlichen Festlegungen, die eine unabhängige Prüfung der Entscheidung der staatlichen<br />

Organe ermöglicht.<br />

3. Aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassene Staatsbürger, die jetzt in der BRD bzw. West-Berlin<br />

leben, dürfen in der Regel nicht mehr in die DDR einreisen. Obwohl diese Praxis eindeutig im<br />

Widerspruch zu den Menschenrechtserklärungen <strong>und</strong> den KSZE-Dokumenten von Helsinki <strong>und</strong><br />

Madrid steht, hebt die DDR-Regierung ihre ungerechtfertigten Einreiseverbote nicht auf. Diese Praxis<br />

steht den Zusicherungen des Staatsratsvorsitzenden der DDR, Herrn Erich Honecker, im September<br />

1987, während seines Staatsbesuches in der BRD entgegen.<br />

4. Folgende Strafgesetze der DDR § 99, 100, 106, 107, 214, 217, 218, 219 <strong>und</strong> 220 können so interpretiert<br />

werden, daß die Inanspruchnahme ziviler <strong>und</strong> politischer Rechte weitgehend eingeschränkt wird.<br />

Deshalb ist es an der Zeit, die Legitimität dieser Strafgesetze unter dem Aspekt der in der DDR<br />

176 So erteilte die Abteilung Inneres bei den kommunalen Räten willkürlich sogenannte „Berlin-Verbote“.<br />

Vermutlich um das Aufsuchen der Ständigen Vertretung der B<strong>und</strong>esregierung <strong>und</strong> von Veranstaltungen in Berlin<br />

zu erschweren. Als Reaktion auf die Mahnwachen <strong>und</strong> Fürbittgebete im Januar/Februar 1988 wurden auch<br />

Auflagen erteilt, Kirchen nicht zu betreten. Massive Behinderungen geschahen z. B. am 06.03.1988 vor der<br />

Berliner Sophienkirche, in der sich Ausreiseantragsteller anläßlich eines Gottesdienstes treffen wollten. In den<br />

Frühjahrssynoden in Schwerin <strong>und</strong> Wittenberg wurde diese Praxis kritisiert.<br />

108


garantierten Verwirklichung aller Menschenrechte zu hinterfragen.<br />

Der Unterzeichner dieses Schreibens ist der Auffassung, daß die Menschenrechte, wie sie in der UNO-<br />

Menschenrechtserklärung vom 10.12.87 177 proklamiert wurden, zu den Gr<strong>und</strong>rechten <strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong>freiheiten jedes Staatsbürgers zählen <strong>und</strong> für die Legitimität jeder Staatsordnung - einschließlich<br />

ihrer Gesetzgebung - unerläßlich sind. Die Anerkennung <strong>und</strong> Wahrung aller Menschenrechte ist die<br />

Voraussetzung für den Schutz menschlicher Würde <strong>und</strong> Freiheit des Einzelnen wie auch für das<br />

friedliche Zusammenleben der Völker.<br />

Ich appelliere daher an alle, die in diesem Land gesellschaftliche <strong>und</strong> politische Verantwortung tragen,<br />

folgende Vorschläge anzuerkennen <strong>und</strong> zu unterstützen:<br />

- Enttabuisierung der Ausreiseproblematik z.B. durch öffentliche Diskussion, um ihre Ursachen zu<br />

analysieren <strong>und</strong> abzubauen.<br />

- Präzisierung des Staatsbürgerschaftsgesetzes der DDR dahingehend, daß für Anträge auf<br />

Wohnsitzwechsel neue gesetzliche Regelungen geschaffen werden, mit folgendem Inhalt:<br />

1. Benennung der tatsächlich Entscheidung treffenden zuständigen Organe (Verantwortlichkeit <strong>und</strong><br />

Instanzenweg)<br />

2. Bearbeitungsfristen<br />

3. Einspruchsmöglichkeiten <strong>und</strong> Beschwerdeweg, Revision<br />

4. Genaue Kriterien, wann die Ausreise in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht zu versagen<br />

ist, z.B. für<br />

− Antragsteller mit Schulden<br />

− Antragsteller, gegen die ein Strafverfahren läuft<br />

− Antragsteller, die Geheimnisträger sind (die aus dem Geheimhaltungsgrad abgeleiteten Sperrfristen<br />

sind festzuschreiben)<br />

− Einführung einer gesetzlichen Fristenregelung, die das Entlassungsverfahren aus der<br />

Staatsbürgerschaft der DDR für alle Antragsteller gleichberechtigt regelt.<br />

− Die Gewährung gegenseitiger Kontakt- <strong>und</strong> Besuchsmöglichkeiten von <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n <strong>und</strong> Verwandten.<br />

− Erarbeitung gesetzlicher Regelungen für alle DDR-Bürger unabhängig vom Alter, beruflicher<br />

Stellung, familiären Verhältnissen, einschließlich ihrer politischen <strong>und</strong> religiösen Überzeugung,<br />

sowie ihres gesellschaftlichen Engagements, Reiseverbote müssen rechtskräftig begründet werden<br />

<strong>und</strong> einklagbar sein.<br />

− Die juristische Gleichrangigkeit, damit der Staatsbürger seinen Anspruch auf alle Rechte gegenüber<br />

staatlichen Organen durchsetzen kann. Das schließt einen für den Staatsbürger überschaubaren<br />

Mechanismus zur Entscheidung bei Rechtsstreitigkeiten mit staatlichen Organen ein. Deshalb halte<br />

ich die Einführung unabhängiger Verwaltungsgerichte für dringend erforderlich.<br />

− Die Verwirklichung der Menschenrechte kann nicht nur Angelegenheit des Staates sein. Meines<br />

Erachtens gehören dazu die gleichberechtigte Mitwirkung aller Staatsbürger, das ungeschminkte<br />

Aufzeigen vorhandener Defizite, der offene Dialog mit Andersdenkenden <strong>und</strong> gesellschaftlicher<br />

Freiraum für die uneingeschränkte Arbeit unabhängiger Friedens- <strong>und</strong> Menschenrechtsgruppen.<br />

Mit fre<strong>und</strong>lichem Gruß<br />

43 Ereignisbericht<br />

Bericht über die Demonstration am 14.03.1988, welchen M. Arnold für die Samisdat-Zeitschrift „Umweltblätter“<br />

(Berlin) verfaßte. Der Artikel erschien jedoch nicht in den „Umweltblättern“ (beim Autor).<br />

Demonstration in der Messe-Metropole der DDR<br />

Nach Abschluß des Friedensgebetes in der Nikolaikirche am Montag, 14.3.1988, an dem sich ca. 900<br />

Leipziger beteiligten, versammelte sich ein Großteil der Teilnehmer auf dem Kirchhof <strong>und</strong> füllte ihn<br />

nahezu aus. Nach zwanzigminütigem Beieinanderstehen <strong>und</strong> unter fortlaufenden Diskussionen zu immer<br />

177 Gemeint vermutlich: 10.12.1948.<br />

109


noch ungeklärten Fragen, die durch das Friedensgebet zwar angesprochen wurden, doch sicher noch nicht<br />

für den Großteil verständlich genug abgeklärt wurden, begann sich eine Gruppe der Teilnehmer in<br />

Richtung Stadtzentrum in Bewegung zu setzen. Immer mehr, der auf dem Kirchhof Versammelten,<br />

schlossen sich dem Zug an, so daß ca. 400 Friedensgebetsteilnehmer begannen, in Richtung Thomas-<br />

Kirche zu laufen. Der so spontan gebildete Umzug führte vorbei an einem Spalier von zivilen<br />

Sicherheitsbeamten, Schaulustigen, Interessierten <strong>und</strong> Besuchern der Frühjahrsmesse. Eine eindrucksvolle<br />

Demonstration als Ausdruck des Protestes gegen die Inhaftierung zweier Leipziger, Karin Moran <strong>und</strong><br />

Hans-Joachim Pfeifer, aus Protest gegenüber dem „Schaufensterfrieden“ in Leipzig anläßlich der<br />

Frühjahrsmesse <strong>und</strong> um in der Öffentlichkeit auf die Ausreiseproblematik aufmerksam zu machen. Eine<br />

gewisse Ratlosigkeit von seiten der Staatssicherheit, wie man diesen Marsch zum Anhalten <strong>und</strong> Auflösen<br />

bringen könne, ohne Aufsehen <strong>und</strong> etwaigen Argwohn unter den Messebesuchern zu erregen, war nicht zu<br />

übersehen. An der Thomas-Kirche angelangt, bildeten die Demonstranten einen Kreis. Dabei wurde<br />

versucht, eine Gruppe Sicherheitsbeamter in das Kreisinnere einzuschließen. Diese ergriffen sofort die<br />

Flucht, in der weisen Ahnung, dann dem offenen Spott preisgegeben zu sein. Auch bei dem Versuch, jene<br />

Beamten in die Gemeinschaft einzubeziehen, flohen diese vor entgegengestreckten Händen. Nachdem der<br />

Kreis geschlossen wurde, in Form einer Kette, begannen die Teilnehmer des Friedensgebetes den Vers zu<br />

singen „Hewenu Schalom elächem“ (Wir bringen euch Frieden). Die Gruppe lief dann zurück zum<br />

Leipziger Markt unter fortlaufendem Gesang, bildete auch dort einen Hand-zu-Hand-Ring <strong>und</strong> lief weiter<br />

in einer Kette zurück zur Nikolai-Kirche. Auf diesem Weg, vom Markt zur Nikolai-Kirche, forderte<br />

erstmalig ein Polizei-Streifenwagen die Demonstranten auf, den Marsch aufzulösen. Ungeachtet dessen<br />

lief die Gruppe singender Demonstranten zurück zum Nikolai-Kirchhof <strong>und</strong> lösten sich erst dort nach<br />

einigen Minuten auf.<br />

Ohne einen direkten Aufruf, einfach aus einer inneren Übereinstimmung heraus gelang es seit langem, in<br />

Leipzig auch außerhalb der Kirche Gemeinschaft zu bilden <strong>und</strong> in Form des Marsches Protest zu<br />

bek<strong>und</strong>en. Am Marsch waren nicht allein Ausreisewillige beteiligt, sondern auch Vertreter der<br />

Basisgruppe Initiativgruppe Leben <strong>und</strong> weitere Menschen, die sich für die Durchsetzung der<br />

Menschenrechte in der DDR einsetzen. Eine erstes gutes Zeichen dafür, daß das Recht auf freie Wahl des<br />

Wohnsitzes nicht allein ein Problem <strong>und</strong> Aufgabe der jeweiligen Antragsteller ist, sondern, daß sich<br />

gerade auch Menschen mit den Ausreisewilligen solidarisieren, die nicht das Land verlassen wollen, wohl<br />

aber das Menschenrecht anerkennen <strong>und</strong> endlich gemeinsam mit den betreffenden Antragstellern aktiv<br />

dafür eintreten. Ein gutes Zeichen auch dafür, daß nicht mehr geduldet wird, daß Menschen, die den Sinn<br />

ihres Lebens in einem anderen Land finden wollen, nicht länger Ausgestoßene unseres Landes sein<br />

dürfen. Letztlich muß noch hervorgehoben werden, daß es dieses Mal zu keinen Ausschreitungen von<br />

seiten der Polizei als auch von den Demonstranten gekommen ist, so daß dieser Umzug einen guten<br />

Abschluß des Friedensgebets bildete. Dieses primitive Recht, solch einen friedlichen Umzug zu gestalten,<br />

daß an jenem Montag widerrechtlich zu den DDR-Gesetzen einfach in Anspruch genommen worden ist,<br />

muß Inhalt unserer weiteren Arbeit bleiben.<br />

Initiativgruppe Leben (IGL/Leipzig)<br />

44 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Information vom Rat des Bezirkes Leipzig, Referat Kirchenfragen, vom 15.03.1988 [in der Vorlage fälschlich<br />

14.03.1988] über ein Gespräch zwischen Reitmann, Dr. Domsch <strong>und</strong> Sup. Magirius, in dem es vor allem um<br />

die Demonstration nach dem Friedensgebet am 14.03.1988 ging. Zwei maschinengeschriebene Seiten mit<br />

Unterschrift Reitmanns (StAL BT/RdB 21130).<br />

Der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für Inneres, Genosse Dr. Reitmann,<br />

führte am 14.3.1988 178 ein Gespräch mit dem Präsidenten des Ev.-Luth. Landeskirchenamtes Sachsens<br />

178 Wenn das Gespräch am 14.03. stattgef<strong>und</strong>en hat, dann nach 18.30 Uhr. Vermutlich fanden das Gespräch <strong>und</strong> die<br />

Abfassung des Berichts am 15.03. statt. Das MfS legte den Gesprächstermin zumindest auf den 15.03. (s. Seite<br />

107) <strong>und</strong> Heinrich (StfK) vermerkte, daß „heute, 15.03.1988, ein weiteres Gespräch mit Präsident Domsch“<br />

110


Dr. Domsch <strong>und</strong> dem Superintendenten Magirius. [/] Zielstellung des Gesprächs war es, den kirchlichen<br />

Amtsträgern das außerordentliche Befremden der Staatsorgane über das Friedensgebet in der<br />

Nikolaikirche am 14.3.1988 zum Ausdruck zu bringen, welches Ausgangspunkt einer „schwerwiegenden<br />

Provokation gegen gesellschaftliche Ordnung“ gebildet hat (ca. 300 Teilnehmer am Gottesdienst führten<br />

einen Marsch von der Nikolaikirche durch die Innenstadt zur Thomaskirche durch 179).<br />

Genosse Dr. Reitmann enthüllte in seinen Ausführungen den gesamten Hintergr<strong>und</strong> der gegenwärtigen<br />

Pläne <strong>und</strong> Absichten konfrontativer Kräfte, die in der Nikolaikirche Platz <strong>und</strong> Gelegenheit bekommen<br />

haben, ihre Positionen zu artikulieren. Darin sehe er ein Nichteinhalten des Versprechens, das Präsident<br />

Dr. Domsch ihm noch vor wenigen Tagen gegeben habe, einzuwirken, daß es zu keinen provokativen<br />

Handlungen im Zusammenhang mit kirchlichen Veranstaltungen kommt. [/] In seiner Entgegnung gab<br />

Domsch hierzu an, daß bei dem Friedensgebet OKR Auerbach anwesend war <strong>und</strong> versucht habe<br />

einzuwirken. „Wenn Leute von einer Kirche zur anderen gehen, kann man doch nichts machen. Es waren<br />

doch keine Kerzen <strong>und</strong> Symbole dabei. Es kann niemandem verboten werden, einen Gottesdienst<br />

aufzusuchen. Gottesdienst ist nicht illegal“. [/] Superintendent Magirius ergänzte hierzu, daß von den<br />

tausend Gottesdienstteilnehmern der größte Teil nach Abschluß weggegangen ist <strong>und</strong> dies doch eine Folge<br />

ihrer Bemühungen sei.<br />

Im weiteren Verlauf des Gesprächs gelang es, diese abschwächenden <strong>und</strong> auch abschweifenden<br />

Standpunkte, die besonders Domsch immer wieder zu artikulieren versuchte, eindeutig zurückzuweisen<br />

<strong>und</strong> ihren nicht das Problem benennenden Inhalt zu widerlegen. [/] So erhielt Domsch Einsicht in ein<br />

während des Gottesdienstes ausgelegtes Material 180 , von dessen hetzerischem Inhalt <strong>und</strong> die [sic!] Form<br />

des Auslegens sich Domsch distanzierte; Superintendent Magirius, der zum Gottesdienst anwesend war,<br />

habe es nicht bemerkt. [/] Zunehmend deutlicher war festzustellen, daß Präsident Domsch keine<br />

Argumente mehr gegenüber den Positionen des Stell. d. Vors. anbringen konnte. [/] „Es sind uns Leute<br />

zugelaufen, was sollen wir nur machen!“<br />

Domsch akzeptierte, daß ein Auftreten von OKR Auerbach theologisch gemeint, gute Absicht verfolgen<br />

wollte, aber nicht ausreichend artikuliert war <strong>und</strong> die Schlußfolgerung beinhalten müsse, so zu reden, daß<br />

es nicht mehrdeutig aufgefaßt werden kann. [/] Superintendent Magirius, der im Verlauf des Gesprächs<br />

mehrmals den Ausführungen von Gen. Dr. Reitmann zustimmte, brachte zum Ausdruck, daß unter dem<br />

Schutz der Gebete eine Formation vor sich gegangen ist, zu welcher man ein deutliches Wort sagen<br />

müsse. Er schloß sich, wie auch Domsch der Feststellung des Genossen Dr. Reitmann an, daß es höchste<br />

Zeit ist, die Kirche zu verteidigen, Anfängen zu wehren.<br />

1. Es kann eingeschätzt werden, daß dieses Gespräch sehr deutlich <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>sätzlich die staatliche<br />

Position zu den gegenwärtigen Ereignissen zum Ausdruck brachte, denen keine Argumente von seiten<br />

des Präsidenten entgegengebracht werden konnten.<br />

2. Es wurde verstanden, daß unter den gegenwärtigen Umständen bei einer unentschlossenen Haltung der<br />

verantwortlichen kirchlichen Kräfte gegenüber konfrontativen Plänen <strong>und</strong> Absichten unter Ausnutzung<br />

von Kirche <strong>und</strong> Religion keine Verhandlungen zum beabsichtigten Kirchentag 181 in Leipzig mit den<br />

Staatsorganen geführt werden.<br />

3. Es wurde erreicht, die Erkenntnis zu setzen, daß ein Lösungsweg nur darin bestehen kann, die volle<br />

Verantwortung für Inhalt <strong>und</strong> Form kirchlicher Veranstaltungen zu tragen <strong>und</strong> dazu die Notwendigkeit<br />

besteht, kirchliche Kräfte zu disziplinieren <strong>und</strong> sich verbal deutlicher von Ersuchstellern abzugrenzen.<br />

4. Kulminationspunkt <strong>und</strong> Wertmaßstab für Positionierung der kirchlichen Kräfte wird das am Montag,<br />

dem 21.3.1988, stattfindende Friedensgebet in der Nikolaikirche sein.<br />

45 Stasi-Information<br />

Bericht des MfS über das Friedensgebet am 21.03.1988 <strong>und</strong> die Sicherheitsmaßnahmen der Leipziger<br />

geführt würde (BArch O-4 973).<br />

179 Das MfS 'zählte' „ca. 100 bis 120 Personen“ (Dok. 42).<br />

180 s. Dok. 42<br />

181 s. Anhang S. 362 ff.<br />

111


Sicherheitsbehörden. Der Bericht wurde von Berliner Mitarbeiter des MfS am 21.03.1988 verfaßt. Vermutlich<br />

entstand der Bericht im Zusammenhang mit einer Kontrolle der Leipziger Sicherheitsorgane 182 . Die<br />

Information wurde Ende 1989 durch das MfS „vorvernichtet“ <strong>und</strong> durch Mitarbeiter des BStU rekonstruiert<br />

(BStU HA XX/4 1608).<br />

1. Gegen 16.45 Uhr wurde die Kirche erreicht. Sie war am Eingang zur Jugendkapelle (Nikolaistraße)<br />

geöffnet. Ein Plakat an einem Bauzaun forderte zum Betreten auf: „St. Nikolai offen für alle“. Vor dem<br />

Eingang waren ca. 50 bis 60 Personen versammelt, die einzeln oder in Gruppen standen. Am<br />

Kirchturm werden gegenwärtig Bauarbeiten durchgeführt. Der Turm ist eingerüstet, es standen zwei<br />

Traktoren <strong>und</strong> 3 Anhänger vor der Kirche. Ein Bauzaun trennte die Zone der Baumaßnahmen ab. In<br />

unmittelbarer Nähe der Kirche (Schumachergasse/Ecke Nikolaistraße) war ein VW-Kleinbus einer<br />

Autovermietung abgestellt. Er hatte das amtliche BRD-Kennzeichen [/] SHG - CT 292. [/]<br />

Sicherungsmaßnahmen waren nicht erkennbar. VP war nicht aufgezogen bzw. eingesetzt.<br />

2. Gegen 16.55 Uhr wurde die Kirche betreten. Es waren schon ca. 500 Personen anwesend. Bis 17.07<br />

Uhr, dem verspäteten Beginn der Veranstaltung, kamen noch ca. 300 Personen hinzu. Die Sitzbänke im<br />

„Parkett“ waren fast sämtlich belegt, einige Gäste nahmen deshalb im „Rang“ Platz. [/] Die<br />

Anwesenden waren Personen beiderlei Geschlechts im Alter von überwiegend 20 bis 35 Jahren. Es<br />

waren auch einige Kinder <strong>und</strong> ältere Bürger (bis ca. 60 Jahre) anwesend. Dem Anschein nach waren<br />

auch ganze Familien gekommen. Mehrere Personen begrüßten sich mit Handschlag, kannten andere<br />

schon länger. Vereinzelt waren auch Bürger dabei, die allein kamen, keine Kontakte zu anderen<br />

aufnahmen. Einige kamen direkt von der Arbeit. [/] Von den Anwesenden waren 60% männliche<br />

Personen, 35 % weibliche Personen, der Rest Kinder.<br />

3. Plakate <strong>und</strong> Transparente waren nicht angebracht. Lediglich die ständig angebrachte Sichtwerbung <strong>und</strong><br />

Hinweise auf die Bauausführung <strong>und</strong> die Geschichte des Gebäudes sowie öffentliche Kirchenzeitungen<br />

waren ausgestellt. Ein handgefertigtes Plakat „Schwerter zu Pflugscharen“ informierte darüber, daß<br />

jeden Montag 17.00 Uhr das „Friedensgebet“ stattfindet 183 . [/] Ein Plakat informierte darüber, das<br />

jeden Dienstag <strong>und</strong> jeden Donnerstag 17.00 bis 19.00 Uhr Gespräche des Vertrauens stattfinden. [/]<br />

Ein Briefkasten „des Vertrauens“ ermöglicht die schriftliche Hinterlegung von Problemen. Antwort<br />

darauf kann man auf ein selbstgewähltes Kennwort nach 14 Tagen anonym abholen.<br />

3. [sic!] Um 17.07 Uhr wurde das „Friedensgebet“ eröffnet. Dazu wurde von einer Schallplatte ein Lied<br />

des St. Krawczyk abgespielt (Inhalt: Reisewunsch nach Italien, möchte deinen Stiefel küssen, vorerst<br />

aber muß ich noch die Stiefel unserer Mächtigen küssen ...; teilweise unter Verwendung von Melodien<br />

aus „Bandiere rossa“).<br />

4. Dann erfolgte die verbale Eröffnung mit Bekanntgabe des Inhaltes des heutigen Friedensgebetes. Zum<br />

einen die Problematik der Ausreisen, „... die viele der hier Anwesenden sicherlich schon über haben<br />

...“ <strong>und</strong> zum anderen die Problematik des Friedensdienstes. [/] Es wurde ausgeführt, daß die<br />

Veranstaltung von einer „Initiativgruppe Leben“, auch als IGL bezeichnet, durchgeführt wird. Es<br />

wurde auf sogenannte Basisgruppen hingewiesen, die existieren <strong>und</strong> in Verbindung mit dem<br />

Superintendenten Magirius stehen. Über diese Basisgruppen sollen alle Aktivitäten gesteuert werden.<br />

Vertreter dieser Basisgruppen wurden zu einem dem Friedensgebet nachfolgendem Gespräch mit dem<br />

Superintendenten eingeladen. [/] Der Sprecher verwies dann darauf, daß die Demonstration am<br />

vergangenen Montag nicht im Sinne der IGL war. Sie sei lediglich Ausdruck dafür gewesen, daß die<br />

Leute öffentlich für ihr Problem einstehen. Das Ergebnis habe aber mehr Schaden angerichtet. So<br />

konnte am vergangenen Mittwoch eine geplante Veranstaltung in einer anderen Kirche nicht<br />

182 Der stellvertretende Stasi-Minister R. Mittig teilte am 21.03.1988, 8.30 Uhr dem Leiter der BV Leipzig mit, daß<br />

E. Krenz keinen „Skandal“ wünscht <strong>und</strong> empfahl, keine Polizei einzusetzen (BStU Leipzig AB 3845).<br />

Entsprechend sah die Anweisung des Stellv. Leiters der BV Leipzig aus: „Ziel des Einsatzes: nichts anheizen o.<br />

provozieren, Wiederholung Montag verhindern, prov. Aktivitäten unterbinden (nach Möglichkeit ohne Einsatz<br />

VP) [/] - bei Zugang FG keine sichtbare Präsenz VP/MfS - normales Nachmesse-Montag-Stadtbild; dabei<br />

innerkirchliche Sicherungsmaßnahmen beachten [/] - Kräfte in der Tiefe, ansonsten Reserve, nach Möglichkeit<br />

kein Einsatz [...]“ (Beratung beim Oberst Eppisch am 21.03.1988 - BStU Leipzig AB 1161, 19)<br />

183 s. Anm. 50<br />

112


stattfinden. [/] Es wurde mit Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht „Wir brauchen keine Märtyrer,<br />

sondern Mitstreiter für unsere Sache“.<br />

5. Durch eine andere männliche Person, dem Anschein nach einem Kirchenmitarbeiter (Kaplan o.ä.),<br />

wurde dann zu einem Kanon aufgefordert, der gemeinsam gesungen werden sollte (Inhalt: Die Sonne<br />

geht über jedem auf ...). [/] An diesem gemeinsamen Gesang beteiligten sich, eher zurückhaltend, nur<br />

etwa 1/4 bis 1/3 der Anwesenden.<br />

6. Dann nahm ein ca. 30jähriger Mann das Wort zur Problematik der Ausreisenden bzw. Ausreisewilligen.<br />

Insgesamt wurde die Übersiedlung als Ergebnis staatlicher Fehler auf verschiedenen Gebieten<br />

angesehen. Eine Übersiedlung sei aber nach Ansicht der IGL nicht das Ziel ihrer Arbeit, die Menschen<br />

sollten hier für mehr Demokratie <strong>und</strong> Umgestaltung eintreten <strong>und</strong> wirksam werden. Bei Problemen in<br />

Zusammenhang mit Übersiedlungsersuchen sollten sich die Personen an ihre zuständigen (Gemeinde-)<br />

Pfarrer wenden. Des weiteren sollten sie durch eine aktive Mitarbeit in den Kirchengemeinden<br />

bestehende Vorurteile ihnen gegenüber abbauen. Ihrer Situation solle Verständnis gegenüber<br />

eingebracht werden, <strong>und</strong> schließlich sei die freie Wahl des Wohnsitzes legitimes Recht eines jeden<br />

Menschen. [/] Es wurde zum Ausdruck gebracht, daß man die Menschen, die in Opposition zur Staats-<br />

(innen)politik stehen, lieber in den Reihen der hiesigen Mitarbeiter der IGL <strong>und</strong> anderer<br />

Arbeitsgruppen sehen würde, daß man aber zumindest erwartet, daß sie die Zeit bis zur Ausreise aktiv<br />

zum Kampf für die Verwirklichung der Menschenrechte in der DDR nutzen.<br />

7. Mit einem weiteren Lied des Krawczyk, in dem die Militärpolitik des Sozialismus verunglimpft wurde,<br />

wurde dann zum Thema „Friedensdienst“ übergeleitet. Dazu trat ein junger Mann von ca. 19 Jahren<br />

auf <strong>und</strong> forderte den Staat auf, einen zivilen Ersatzdienst für Wehrunwillige zu schaffen <strong>und</strong> damit dem<br />

Beispiel westlicher Länder zu folgen. Er führte auf, daß in der BRD 20% der Wehrpflichtigen einen<br />

solchen Dienst leisten können. In der Zeit von Abrüstungsvereinbarungen über Reduzierung <strong>und</strong><br />

Abschaffung von Rüstungen sollte auch mehr der Abrüstung des Militärpersonals das Wort geredet<br />

<strong>und</strong> entsprechend gehandelt werden. Dabei würde man auch die „harte Situation im<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen“ bereinigen <strong>und</strong> ausreichend Personal für Alters- <strong>und</strong> Pflegeheime haben. Der<br />

„Militarismus“ in der DDR wurde angeklagt, Kinder <strong>und</strong> Jugendliche würden durch Kindergärten,<br />

Wehrk<strong>und</strong>eunterricht, Schießübungen in der GST usw. einseitig ausgerichtet. Selbst die<br />

Zivilverteidigung wurde in diesen Kreis einbezogen. Diese Maßnahmen <strong>und</strong> „Kriegsübungen“<br />

schafften eine Atmosphäre der Angst <strong>und</strong> des Schreckens. Sie sollten den Menschen den Krieg als<br />

machbar, als möglich darstellen. Der Militärdienst erziehe zwar zu Disziplin, verhindere aber jede<br />

kreative Mitwirkung an der Friedenspolitik. Gesperrte Wälder <strong>und</strong> eine zahlenmäßig aufgeblähte<br />

Armee würden Beweis für den Militarismus in der DDR sein. Die Militärpolitik der gegnerischen Seite<br />

wurde ebenfalls kritisiert.<br />

8. Ein Mitglied der IGL (der zuvor den Kanon angestimmt hatte) verlas dann eine, offensichtlich<br />

selbstverfaßte Meditation. Deren Inhalt war recht konfus, es ging immer wieder um die aufgehende<br />

Sonne, das Licht vom Horizont usw. - dieser Beitrag wurde durch teilweisen Applaus befürwortet. [/]<br />

Daran schloß sich ein Orgelstück an.<br />

9. Mit einem Bibelpsalm wurde das Friedensgebet fortgesetzt. Gr<strong>und</strong>tenor: Gehet heim <strong>und</strong> bessert Euch,<br />

so will ich bei Euch wohnen bleiben ...<br />

10. Eine weibliche Person der IGL fordert dann zur Fürbitte auf. Diese richtete sich u.a<br />

− für die Ausreisewilligen<br />

− für die Kirchenmitarbeiter, die den Gruppen eine Unterkunft gewähren, sie seien starkem<br />

staatlichem Druck ausgesetzt <strong>und</strong> mögen durchhalten<br />

− für die noch Inhaftierten, wie besonders Hans-Joachim Pfeiffer <strong>und</strong> Karin Ma... [Moran]<br />

− für diejenigen in den Gerichten <strong>und</strong> Staatsorganen, die über die Andersdenkenden zu urteilen<br />

haben, dies möge differenziert <strong>und</strong> menschlich geschehen.<br />

11. Dann wurde aufgefordert, gemeinsam das Vaterunser zu beten. Dieser Aufforderung kam der<br />

überwiegende Teil der Anwesenden nach.<br />

12. Zuletzt nahm ein älterer Herr das Wort, der offensichtlich der bereits bezeichnete Superintendent<br />

Magirius war. Er verwies darauf, daß der „Herr“ uns Menschen das Wort gegeben habe, damit wir<br />

miteinander reden. In diesem Sinne verstehe sich die Kirche als Mittler zwischen den Menschen. [/] Er<br />

113


gab noch bekannt, daß das nächste Friedensgebet am kommenden Montag, wieder um 17.00 Uhr<br />

stattfindet. Am Ostermontag falle diese Veranstaltung wegen der „Auferstehungsgottesdienste“ aus. [/]<br />

Für die sofort anstehenden Sorgen sei die Möglichkeit gegeben, in kleineren Gesprächsgruppen (bis 20<br />

Personen) sich auszutauschen. Dafür stünden 4 Zimmer bzw. Räumlichkeiten zur Verfügung. Die<br />

Gespräche wurden durch weitere Pfarrer geführt. Dabei wurden unter anderem die Pfarrer Huck<br />

[richtig: Wuck] <strong>und</strong> Dr. Bartels benannt. Die Namen der beiden weiteren Pfarrer konnten nicht<br />

festgehalten werden. [/] Die angekündigten Gespräche finden offensichtlich großen Zuspruch. Es<br />

wurde einerseits betont, daß solche Gespräche nur im Kreis bis zu 20 Personen Sinn haben, man möge<br />

dies verstehen; zum anderen begaben sich gleich nach Bekanntgabe der Räume <strong>und</strong> der Pfarrer<br />

einzelne Personen nach dort.<br />

13. Abschließend wurden alle Anwesenden aufgefordert, sich zu erheben <strong>und</strong> den Segen Gottes zu<br />

erbitten (gemeinsames Gebet, woran sich wiederum die überwiegende Mehrzahl der Personen<br />

beteiligten).<br />

14. Die Kirche konnte dann über die Ausgänge Nikolaistraße <strong>und</strong> Kirchhof verlassen werden. Hier<br />

wurden freiwillige Spenden in Klingelbeuteln gesammelt.<br />

Die Veranstaltung war um 17.50 Uhr beendet worden.<br />

Anmerkung:<br />

− Während der Maßnahme waren keine spontanen Publikumsreaktionen festgestellt worden.<br />

Fotoaufnahmen 184,<br />

Handlungen von Korrespondenten, Befragungen usw. wurden ebenfalls nicht<br />

festgestellt. Eine anschließende Demonstration von Ausreisewilligen wurde nicht durchgeführt.<br />

− Die Tonaufnahmen der Lieder des Krawczyk wurden von einer Schallplatte 185 abgespielt. Die<br />

Qualität der Aufnahmen war sehr schlecht. Der Plattenspieler wurde von den IGL-Organisatoren<br />

−<br />

mitgeführt. Zur Übertragung wurde die Tonanlage der Kirche genutzt.<br />

Die hier in Erscheinung getretenen IGL-Mitglieder waren alles junge Leute, 4 männliche Personen,<br />

eine Frau.<br />

46 Staatliche Einschätzung<br />

Information vom Stellvertreter des OBM für Inneres des Rates der Stadt Leipzig, zur Staatspolitik in<br />

Kirchenfragen im Berichtszeitraum Februar/März 1988 (Verteiler: RdB, 1. Sekr. der SED-SL) vom<br />

29.03.1988. Mit Bearbeitungsspuren u.a. Eingangsstempel „01. März 1988 [richtig: April !]“ <strong>und</strong><br />

Gegenzeichnung von Reitmann (StAL BT/RdB 21396).<br />

1. Zur politischen Situation in den Kirchen<br />

Für die Entwicklung des Staat-Kirche-Verhältnisses in der Stadt Leipzig im Berichtszeitraum besaßen die<br />

Geschehnisse nach dem 17.1.1988 in Berlin erhebliches Gewicht. Das sich dabei zunehmend abhebende<br />

Thema der Übersiedlungsersuchsteller (ÜSE) <strong>und</strong> deren aggressives Auftreten zur Durchsetzung ihrer<br />

Absichten wirkte direkt in das Staat-Kirche-Verhältnis hinein. Es ist zu verzeichnen, daß sich hier in der<br />

Nähe des kirchlichen Raumes bzw. unter Nutzung dessen ein nicht zu unterschätzendes Potential von dem<br />

Staat <strong>und</strong> dem Sozialismus feindlichen Kräften formiert hat. [/] Gr<strong>und</strong>lage für die partiell entstandene<br />

Nähe von Kirche <strong>und</strong> ÜSE ist zum einen der durch die ÜSE ausgeübte Druck auf Geistliche, Amtsträger<br />

<strong>und</strong> Kirchenvorstandsmitglieder. Zum anderen ist diese im Resultat einer stark differenzierten<br />

Interpretation <strong>und</strong> Wertung der Geschehnisse durch Geistliche zu sehen. [/] Dem entspricht ein politischer<br />

Differenzierungsprozeß unter den Geistlichen <strong>und</strong> Amtsträgern, der sich in den vergangenen Wochen mit<br />

besonders hohem Tempo vollzog.<br />

Charakteristisch für die Stadt Leipzig ist, daß sich deren Geistliche <strong>und</strong> Amtsträger mehrheitlich<br />

bemühten, das Problem der Antragsteller nicht zum Thema kirchlichen Wirkens werden zu lassen. Es<br />

184 Auf der Sitzung des BSA am 29.04.1988 teilte Pf. Berger mit, daß während der FG das Fotografieren verboten<br />

sei. (Protokoll Berger - ABL H 2)<br />

185 Die Lieder wurden von einer Kassette abgespielt, die von St. Krawczyk bei seinen Konzerten 1987 in Leipzig<br />

verkauft wurden.<br />

114


lieb jedoch nicht aus, daß sich einige wenige Pfarrer an diesem Thema zu profilieren suchten <strong>und</strong> dabei<br />

mit Intension kirchliche Räume für ÜSE zur Verfügung stellten. [/] Von Gewicht für den Verlauf des<br />

Differenzierungsprozesses war die zunehmend deutlich positive öffentliche Positionierung der beiden<br />

Superintendenten in der innerkirchlichen Auseinandersetzung, mit der sie beruhigend auf die auf<br />

Konfrontation setzenden Kräfte einwirkten. Gleichzeitig ist die Widerstandskraft <strong>und</strong> -fähigkeit einzelner<br />

Pfarrer gegenüber staatlichem <strong>und</strong> innerkirchlichem Einfluß nicht zu unterschätzen.<br />

Es ist zu konstatieren, daß es durch gezielte Einflußnahme gelang, eine öffentlichkeitswirksame<br />

Verbindung von ÜSE <strong>und</strong> Kirche in der Stadt prinzipiell zu verhindern. Lediglich am 14.3.1988 kam es<br />

im Anschluß an das Friedensgebet in der Nikolaikirche zu einem Marsch von ca. 200 ÜSE durch die<br />

Leipziger Innenstadt, der ohne Zwischenfälle verlief. Nur in wenigen Gemeinden (Ev.<br />

Studentengemeinde, Nikolaikirche, Jugendpfarramt) wurde von kirchlicher Seite die Trennung Staat-<br />

Kirche nicht durchgehalten, kam es zu einer unberechtigten Beschäftigung mit den Angelegenheiten der<br />

ÜSE. Mit einem sogenannten Meditationsgottesdienst am 13.2.1988 in der Michaeliskirche am Nordplatz<br />

wurden die „aufgr<strong>und</strong> der Inhaftierungen in Berlin“ täglich zunächst in der Ev. Studentengemeinde <strong>und</strong><br />

später in der Nikolaikirche durchgeführten Friedensgebete beendet. Am gleichen Tag schloß auch das aus<br />

demselben Gr<strong>und</strong> eingerichtete sogenannte Kontakttelefon (Ev. Studentengemeinde) seine Arbeit (vgl.<br />

auch Pkt. 2). Ab diesem Zeitpunkt finden die Friedensgebete wie in der Vergangenheit schon montäglich<br />

in der Nikolaikirche statt. Ihre neue politische Qualität besteht darin, daß sie für H<strong>und</strong>erte von ÜSE die<br />

Möglichkeiten bieten, Kontakte untereinander auszubauen <strong>und</strong> durch die massierten Zusammenkünfte<br />

Druck auf den Staat auszuüben. Durchschnittlich werden diese Friedensgebete z.Zt. von 600 - 800<br />

Personen besucht (früher ca. 100). [/] Nebenwirkung der Diskussion um Probleme der ÜSE war, daß<br />

politisch wichtige Fragen nicht den ihnen zukommenden Stellenwert im Dialog Staat-Kirche einnehmen<br />

konnten <strong>und</strong> ebenfalls nicht das Gewicht in der Gemeindearbeit erreichten. Davon betroffen war eine<br />

umfassende Würdigung der Ergebnisse des 6.3.1978 wie auch der mit dem Abzug von<br />

Mittelstreckenraketen aus der DDR begonnen historisch ersten Schritte der Abrüstung überhaupt.<br />

Es ist davon auszugehen, daß das Problem der ÜSE auch weiterhin in die kirchenpolitische Arbeit<br />

hineinreicht. Dabei ist der politische Differenzierungsprozeß offensiv unter Nutzung aller bewährten wie<br />

auch neuer Formen <strong>und</strong> Methoden der Arbeit mit Geistlichen <strong>und</strong> Amtsträgern zu fördern. Dabei ist bei<br />

weiterer Klärung des Prinzips der Trennung Staat-Kirche nach neuen Feldern für gemeinsames Wirken<br />

zum Wohle unserer Gesellschaft zu suchen.<br />

1.1.<br />

Von kirchlicher Seite wurde in allen Gesprächen hervorgehoben, daß die Probleme der letzten Wochen<br />

gesellschaftspolitischer Natur seien <strong>und</strong> keinen Ursprung im Dienst der Kirche hätten. Die Kirchen hätten<br />

die Auseinandersetzung zu diesen Fragen stellvertretend für Staat <strong>und</strong> Gesellschaft wahrnehmen müssen,<br />

sie hätten sich diese Rolle nicht ausgesucht. Die Tatsache, daß die Türen der Kirche für ÜSE geöffnet<br />

wurden, sei der seelischen Not dieser Personen geschuldet <strong>und</strong> hätte zugleich dazu beigetragen, sie von<br />

der Straße wegzubekommen. In der konkreten Situation habe sich gezeigt, daß die Kirche eine positive<br />

Funktion habe, indem sie einen gesellschaftspolitischen Überdruck abfangen könne. [/] Allgemein wird<br />

bedauert, daß so viele Menschen unser Land verlassen wollten. Die Kirche unterstütze alle Bemühungen,<br />

die ÜSE in ihren Vorhaben wieder umzustimmen. „Leben <strong>und</strong> Bleiben in der DDR“ - das sei der<br />

Standpunkt der Kirche. [/] Nach den Worten Pf. Michaels (Pauluskirche) ist „z.Zt. das Stellen von<br />

Ersuchen zur Übersiedlung eine Seuche <strong>und</strong> alle, die mit solchen Gedanken infiziert sind, sollten dies<br />

noch einmal überdenken. Oft werden nur die Pracht, die Herrlichkeit <strong>und</strong> die Freiheit gesehen“.<br />

Zu einem Vorhaben, wonach die Pauluskirche ähnlich wie die Nikolaikirche für „Ratsuchende“ eine<br />

gezielte Verantwortung übernehmen sollte, äußerte Pf. Michael, daß nach einer Beratung mit dem<br />

Kirchenvorstand entschieden wurde, daß dafür die Pauluskirche nicht geeignet sei. Die Gründe sehe er vor<br />

allem darin, daß die gegenwärtige Situation für die Kirche nicht überschaubar wäre <strong>und</strong> die<br />

Kirchenleitung der Pauluskirche überhaupt nicht daran interessiert sei, Handlungen durchzuführen, die für<br />

das Staatsorgan geeignet wären, Mißverständnisse entstehen zu lassen. Er werde immer einen Bürger, der<br />

Hilfe braucht, anhören <strong>und</strong> ihn nicht von seiner Tür weisen. Gleichzeitig schließe er jedoch aus, daß ganze<br />

Gruppen solcher „Ratsuchender“ in das Haus der Pauluskirche Eingang finden. Das könne nicht die<br />

Aufgabe der Pauluskirche sein. Seine Verantwortung sehe er vor allem darin, Christen dahingehend zu<br />

115


estärken, „daß das gemeinsame Haus, in dem wir wohnen, so menschenfre<strong>und</strong>lich gestaltet wird, daß<br />

niemand auf den Gedanken kommt, für immer wegzuziehen“; Pf. Michael betonte: „Es gibt keinen Gr<strong>und</strong>,<br />

dieses Land zu verlassen. Das ist mein Standpunkt zu diesen Fragen“.<br />

Gegenüber dem Stadtbezirk Südwest äußerte Pf. Gruender: „Das Staat-Kirche-Verhältnis kann nur so gut<br />

sein, wie der Rat des Stadtbezirkes mit seinen Gemeinden auskommt. Ich glaube, daß unser Verhältnis seit<br />

Jahren seine Tragfähigkeit bewiesen hat. So soll es bleiben“.<br />

Pf. Haeffner (Peterskirche) beobachtet mit großem Befremden, was sich in <strong>und</strong> um die Nikolaikirche<br />

vollzieht. Er habe ÜSE, die sich an ihn gewandt haben, stets die Adresse des dafür zuständigen staatlichen<br />

Organs genannt, da es nicht seine Aufgabe sein könne, sich mit diesen Problemen zu beschäftigen.<br />

Ähnliche ablehnende Haltungen zu Verwischungen kirchlicher <strong>und</strong> staatlicher Befugnisse äußerten viele<br />

Pfarrer in den Gesprächen mit staatlichen Vertretern immer wieder. Es wird betont, daß individuelle<br />

Seelsorge keinesfalls ein Rütteln am Entscheidungsrecht des Staates in Staatsbürgerschaftsfragen<br />

bedeuten könne.<br />

Spekulative Handlungen lehnt auch Pf. Wugk/Christuskirche gr<strong>und</strong>sätzlich ab. In einem Gespräch vertrat<br />

er die Auffassung, der gegenwärtige Prozeß, daß ÜSE Kirchen aufsuchen in der Annahme, daß diese über<br />

ihre Genehmigung mitentscheiden, werde sich aufgr<strong>und</strong> der Handlungsweise der Kirchgemeinden, die die<br />

Trennung Staat-Kirche weitestgehend durchsetzen <strong>und</strong> diesen Bürgern gegenüber auch so auftreten,<br />

„totlaufen“. Zum Bild des Pf. Wugk in letzter Zeit gehört auch sein besonnenes <strong>und</strong> kooperatives<br />

Verhalten in der Zeit als amtierender Superintendent der Ephorie Leipzig-Ost.<br />

Unerwartet positive Reaktionen sind auch beim Pf. Lösche (Laurentiuskirche) zu verzeichnen. In einem<br />

Gespräch äußerte er, er habe sich im Nachhinein darüber geärgert, daß er den „Liedermacher“ Krawczyk<br />

in seiner Einrichtung auftreten ließ. Er sei sich bewußt, daß durch dieses Verhalten das Verhältnis zum<br />

Stadtbezirk West stark gestört wurde. Auch Bischof Hempel, zu dem er bestellt worden sei, äußerte über<br />

dieses Verhalten sein Unverständnis. Künftig werde er in Fällen, die für ihn nicht überschaubar sind, mit<br />

dem Stellv. d. SBBM f. Inneres eine Abstimmung vornehmen. Über die Entwicklung in <strong>und</strong> um die<br />

Nikolaikirche sei er beunruhigt <strong>und</strong> meinte wörtlich, „so etwas wie in der Zionskirche <strong>und</strong> Nikolaikirche<br />

wird es in der Laurentiuskirche nicht geben“.<br />

Ein Beispiel für die innerkirchliche Auseinandersetzung, die den Superintendenten Magirius zur<br />

öffentlichen Positionierung herausforderte, war die Diskussion um die vom Ehepaar Zimmer<br />

angekündigte „f<strong>und</strong>amental-theologische Beratung für Antragsteller“ 186 . [/] Sup. Magirius hat diese Idee<br />

öffentlich in der Nikolaikirche zurückgewiesen <strong>und</strong> sich von den Aktivitäten dieses Ehepaares<br />

distanziert 187 . [/] Die Ereignisse der letzten Wochen machten aber auch deutlich, daß in<br />

spannungsgeladenen Zeiten von einigen Pfarrern, zu denen Pf. Barthels [richtig: Bartels] (Ev.<br />

Studentengemeinde), Pf. Kaden (Jugendpfarramt) <strong>und</strong> Pf. Führer (Nikolaikirche) gezählt werden müssen,<br />

weder Dialogbereitschaft noch mäßigendes oder beruhigendes Handeln zu erwarten sind.<br />

So spielte sich Pf. Barthels in die Rolle eines Fürsprechers der damals wegen des begründeten Verdachts<br />

Landesverräterischer Beziehungen festgenommenen Bürger. Seine Arroganz, Überheblichkeit <strong>und</strong><br />

Selbstsicherheit gingen soweit, daß er - sich in der „Position der Stärke“ wähnend - mit dem Abbruch<br />

eines nicht nach seinen Wünschen verlaufenden Gespräches im Stadtbezirk Süd drohte.<br />

Auch Pf. Führer zeigte trotz vieler Gespräche mit staatlichen Vertretern keine Korrektur seines<br />

186 Der Theologe Chr. Zimmer leitete einen Ausreisekreis <strong>und</strong> bemühte sich darum, daß die Kirche sich des<br />

Problems der Menschenrechtsverletzungen theologisch-f<strong>und</strong>iert annimmt.<br />

187 Eine „Gruppenseelsorge“ von Ausreiseantragstellern lehnte Sup. Magirius während des FGs am 22.02.1988 ab<br />

(Besier/Wolf, 556, Anm. 281), dennoch gab es nach den FG in der Nikolaikirche Gesprächsr<strong>und</strong>en, u.a. mit dem<br />

Pf. Berger (IMB „Carl“) zu Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Übersiedlung nach Westdeutschland. Am<br />

11.04.1988 beantragten verschiedene Gruppenmitglieder beim Sozial-ethischen Ausschuß der Sächsischen<br />

Landessynode die „Einrichtung von Gesprächskreisen für Antragsteller auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft<br />

der DDR...“ In der Begründung heißt es u.a.: „Solche Gesprächskreise würden eine Entlastung für kirchliche<br />

Basisgruppen darstellen, da die Basisgruppen nicht alle Antragsteller, die sich hilfesuchend an die Kirche<br />

wenden, integrieren wollen <strong>und</strong> können. Solche Gesprächskreise entsprächen nach unserer Auffassung der<br />

Botschaft <strong>und</strong> Tat Jesus von Nazareth, der in besonderer Weise auf die 'Außenseiter' der Gesellschaft<br />

zugekommen ist.“ (nicht unterzeichneter Durchschlag des Briefes - ABL H 1)<br />

116


Verhaltens. Unter dem Scheindeckmantel, die Nikolaikirche sei eine offene Stadtkirche, hat er aktiv <strong>und</strong><br />

offensiv dazu beigetragen, daß die Nikolaikirche zu einer Art Heimstatt für ÜSE wurde. Zum Zwielicht<br />

seiner Persönlichkeit gehört, daß er bei den Veranstaltungen (z.B. Friedensgebeten) nach außen hin einen<br />

beschwichtigenden <strong>und</strong> beruhigenden Einfluß zu nehmen vorgibt.<br />

Zum Pf. Kaden ist einzuschätzen, daß er seine Arbeit direkt an ÜSE ausgerichtet hat. Sein Wirken hat er<br />

gegenüber staatlichen Vertretern aber wiederholt verharmlosend <strong>und</strong> zu seinem Vorteil entstellend<br />

dargestellt.<br />

Hervorhebung verdient abschließend auch die Tatsache, daß sowohl aus den katholischen Gemeinden als<br />

auch den Religionsgemeinschaften weder eine Solidarisierungswelle im Falle Krawczyks noch besondere<br />

Aktivitäten im Zusammenhang mit Antragstellern im Berichtszeitraum zu verzeichnen waren. Viele<br />

Amtsträger dieser Konfessionen (z.B. Pf. Rachwalski/kath. St. Laurentiuspfarrei, Herr Lenk/kath.apostolische<br />

Gemeinde, Herr Schmidt/Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, Priester<br />

Pohwnyj/russ.-orthodoxe Kirche) äußerten gegenüber staatlichen Vertretern ihr Unverständnis <strong>und</strong><br />

Befremden über die Rolle evangelischer Kirchen in diesem Kontext.<br />

Gegenüber dem Stellv. d. OBM für Inneres hat Propst Hanisch ausdrücklich <strong>und</strong> im Beisein des Sup.<br />

Magirius seine sofortige Gesprächsbereitschaft deutlich gemacht für den Fall, wenn im Bereich der<br />

katholischen Kirche ähnliche Probleme auftreten sollten.<br />

Lediglich in zwei Fällen wurden Meinungen zum vorzeitigen Abzug atomarer Raketen aus der DDR<br />

bekannt (Pfarrergespräch des SBBM des Stadtbezirkes Nord mit Pf. Wugk/Christuskirche). Pf. Wugk<br />

äußerte, er <strong>und</strong> seine Familie hätten mit Interesse verfolgt, daß sowjetische Raketen vorfristig abgezogen<br />

wurden. Er begrüßte das außerordentlich, da es seinen Lebensauffassungen entspreche. Pf. Wugk machte<br />

darauf aufmerksam, daß sich bei ihm immer wieder Fragen auftun würden, wenn nur die sozialistischen<br />

Länder Vorleistungen erbringen. Er hoffe, daß die andere Seite auch ihren Verpflichtungen nachkommt.<br />

1.2.<br />

„Leben <strong>und</strong> Bleiben in der DDR“<br />

Unter diesem Motto fand am 19.2.1988 in der Nikolaikirche eine Veranstaltung statt, an der ca. 1500<br />

Personen, darunter eine Vielzahl ÜSE, teilgenommen haben. Gr<strong>und</strong>lage des vom Pf. Führer gehaltenen<br />

Vortrags war ein zum gleichen Thema vom B<strong>und</strong> der ev. Kirchen in der DDR ausgearbeitetes Material aus<br />

dem Jahre 1985 188.<br />

Aus dem Gr<strong>und</strong>motiv heraus, als Kirche den ÜSE seelsorgerlich beizustehen, wurde der offene Charakter<br />

der Nikolaikirche im Zentrum der Stadt hervorgehoben. Die Widersprüchlichkeit bestand darin, daß Pf.<br />

Führer deutlich zum Hierbleiben mahnte, andererseits aber Gesprächsmöglichkeiten <strong>und</strong> Unterstützung<br />

den ÜSE anbot.<br />

Grafik-Auktion in der ev.-reformierten Kirche<br />

Diese fand am 28.2.1988 unter dem Thema „Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung“ statt.<br />

Versteigert wurden ca. 140 Grafiken von etwa 80 Künstlern, darunter auch prominenten wie Mattheuer,<br />

Gille <strong>und</strong> Hachulla. Der Erlös aus Versteigerung <strong>und</strong> Kollekte (16 TM) soll zu je einem Drittel der<br />

Entwicklung des konziliaren Prozesses der Errichtung eines Kommunikationszentrums für kirchliche<br />

„Basisgruppen“ in Leipzig sowie Wehrdienstverweigerern <strong>und</strong> Strafentlassenen zur Verfügung gestellt<br />

werden. Die ursprünglich geplante Verwendung des Erlöses, den Inhaftierten der Ereignisse vom<br />

17.1.1988 materiell zu helfen, hat das Konsistorium dieser Kirche verworfen.<br />

2. Zur Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit<br />

In der Folge des 17.1.1988 erschienen in den Schaukästen vieler ev. Kirchen ohne staatliche<br />

Druckgenehmigung gefertigte Plakate 189 mit dem Inhalt „Aufgr<strong>und</strong> der Inhaftierungen in Berlin täglich<br />

17 Uhr Friedensgebet u. Information in der .... Kontakttelefon 312966, 11.00 - 23.00 Uhr... [/] Nur für<br />

innerkirchlichen Gebrauch“.<br />

Im Gespräch äußerte Pf. Barthels (der auf den Plakaten angegebene Telefonanschluß entsprach dem der<br />

Ev. Studentengemeinde), daß die Entwicklung dieses Kontakttelefons zwei Ziele verfolge:<br />

188 epd-Dok. 41a/1985<br />

189 An dieser Stelle ist im Dokument ein handschriftlicher Vermerk: „Aushänge in Schaukästen bedürfen keiner<br />

Druckgenehmigung“<br />

117


- Informationsübermittlung an am Friedensgebet teilnehmende Personen,<br />

- Übermittlung <strong>und</strong> Weitergabe von Auskünften zu den Inhaftierungen <strong>und</strong> Verurteilungen, die er von den<br />

Anwälten <strong>und</strong> der Berlin-Brandenburgischen Kirche erhalte.<br />

Vor der Grafik-Auktion in der ev.-reformierten Kirche (vgl. auch Pkt. 1.2.) erschienen in einigen<br />

Schaukästen <strong>und</strong> sogar an der Haustafel eines GWL-Gr<strong>und</strong>stückes nur mit kirchlicher<br />

Druckgenehmigungsnummer versehene Informationsplakate. Im Gespräch bedauerte Pf. Sievers diesen<br />

Vorfall <strong>und</strong> versprach, ihn in der Helferschaft entsprechend auszuwerten, daß sich ähnliches künftig nicht<br />

wiederhole.<br />

3. entfällt<br />

4. Zur kirchlichen Tätigkeit<br />

Leipziger Frühjahrsmesse 1988<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage des Maßnahmeplanes des Bereiches Staatspolitik in Kirchenfragen haben die Stellv. d.<br />

SBBM für Inneres in enger Koordinierung mit dem Rat der Stadt ihre Verantwortung in Vorbereitung <strong>und</strong><br />

Durchführung aller in diesem Zusammenhang stehenden Aufgaben wahrgenommen. [/] Einzuschätzen ist,<br />

daß ausgehend von der bestehenden Situation der Messeverlauf nicht spektakulär war. Dominierend war<br />

der ruhige Verlauf der zu den Leipziger Messen üblichen organisierten kirchlichen Zusammenkünfte,<br />

Messekonzerte <strong>und</strong> der Gottesdienste. [/] Eine direkte Konfrontation zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche ist in der<br />

Messezeit unterblieben.<br />

Die kirchliche Hauptveranstaltung war auch zu dieser Messe der bereits traditionelle Messemännerabend<br />

in der Nikolaikirche, an dem ca. 250 - 300 Personen, darunter zahlreiche Messegäste, teilgenommen<br />

haben. Der Referent, Landesbischof Stier/Mecklenburg, ging nach längeren wertfreien <strong>und</strong> theologischen<br />

Deutungen des Themas „Glauben <strong>und</strong> Umkehren - Wege der Hoffnung“ zu den Ereignissen seit dem<br />

17.1.1988 über <strong>und</strong> positionierte sich dabei wie folgt:<br />

− Zuwendung <strong>und</strong> Seelsorge sei für Antragsteller nicht nur auch, sondern gerade notwendig;<br />

− Kirche habe die entstandene Situation nicht verschuldet;<br />

− leider entstünden Anträge nicht einfach nur aus privat-egoistischen Gründen, sondern hingen bei einer<br />

Vielzahl mit negativen Erfahrungen zusammen, die Menschen in unserer Gesellschaft gemacht hätten;<br />

es seien so „nicht heilende W<strong>und</strong>en“ entstanden;<br />

− Betonung, daß sich Kirche stets für das Hierbleiben ausgesprochen habe <strong>und</strong> in diesem Sinne weiter<br />

wirken werde;<br />

− Schuldzuweisung für entstandene Situation an den Staat, welcher sich jetzt Gedanken machen müsse;<br />

− stärkere Zuwendung der Gemeinden für Antragsteller sei nötig, Kirche werde niemanden wegschicken.<br />

Als Referent für den Messemännerabend zur Herbstmesse wurde Bischof Demke angekündigt. Ein Thema<br />

wurde noch nicht genannt.<br />

Erheblich gestört wurde der sonst normale Ablauf des kirchlichen Messeprogrammes durch das am<br />

Messemontag in der Nikolaikirche stattgef<strong>und</strong>ene Friedensgebet, das geeignet war, in eine<br />

Konfrontationsveranstaltung mit Folgen umzuschlagen. Ca. 800 Personen, überwiegend ÜSE, besuchten<br />

diese Veranstaltung, die sich ausschließlich der Problematik der Ausreiseanträge widmete. In der Kirche<br />

waren westliche Journalisten anwesend, vor der Kirche war österreichisches, italienisches <strong>und</strong> BRD-<br />

Fernsehen vertreten. Nach der Veranstaltung zogen ca. 200 ÜSE in einem „Schweigemarsch“ durch die<br />

Innenstadt. Zu Zwischenfällen kam es nicht, die Gruppe löste sich an der Nikolaikirche ohne Eingreifen<br />

der Sicherheitsorgane wieder auf.<br />

[... Es folgen (5.) Informationen zu Veränderungen in „kirchlichen Leitungsfunktionen“]<br />

6. Fallinformationen<br />

− Nach dem Friedensgebet am 29. 2. 1988 in der Nikolaikirche tauchte unter den anwesenden ÜSE ein<br />

Flugblatt auf mit der Aufforderung, am 1. 5. 1988, 14.00 Uhr in Berlin vor dem Brandenburger Tor zu<br />

erscheinen, auf diesem Weg den Antrag [auf Ausreise] durchzusetzen.<br />

− Nach der Veranstaltung vom 19. 2. 1988 in der Nikolaikirche (Vgl. Pkt. 1.2.) verweigerte Pf. Führer<br />

ein Gespräch, um das ihn der amt. Stellv. d. SBBM f. Inneres des Stadtbezirkes Mitte gebeten hat.<br />

Seine Ablehnung zur Gesprächsführung werde solange gelten, solange ein Spitzengespräch mit<br />

118


Bischof Dr. Leich nicht stattgef<strong>und</strong>en hat . 190<br />

− Unter dem Eindruck einer abgelehnten Besuchsreise nach Großbritannien äußerte Pf.<br />

Böllmann/Kirchgemeinde Marienbrunn, er wisse nicht mehr, auf welcher Seite er stünde, <strong>und</strong> ob er<br />

nicht eventuell auch einen Ausreiseantrag stellen sollte. [...]<br />

7. Terminvorschau [...]<br />

8. Gespräche im Berichtszeitraum<br />

8.1. 13 Gruppengespräche mit 52 Teilnehmern<br />

8.2. 74 Einzelgespräche<br />

47 Friedensgebetstexte<br />

Text der Predigt, die J. Läßig (Arbeitskreis Gerechtigkeit) am 11.04.1988 im Friedensgebet hielt. Vorlage war<br />

Xerokopie des an OKR Auerbach gesandten Textes. Dort vermerkte J. Läßig, daß der verantwortliche Pfarrer<br />

für dieses Friedensgebet Pf. Wonneberger war (ABL H 1).<br />

Auslegung von Amos 3,9-12<br />

Im Land Samaria herrschte Frieden <strong>und</strong> Wohlstand, die Menschen lebten sorglos in den Tag. Die<br />

Machtverhältnisse im Lande waren geklärt, auch wenn einige dabei schlecht weggekommen waren. Aber<br />

ihre Stimmen wurden nicht laut. Die Verhältnisse waren scheinbar stabil, keiner, der unangenehme Fragen<br />

stellte - außer eben - dieser Amos. Seine Sprüche haben spätere Generationen aufgeschrieben, obwohl ihn<br />

zu seiner Zeit keiner hören wollte. An ihn erinnerte man sich, als sich seine Rede als wahr erwies durch<br />

den Lauf der Geschichte. Zwei wesentliche Aussagen macht dieser Amos. Er beschreibt zuerst den<br />

Zustand der Gesellschaft, die politische Situation, in der das Land sich nach seiner Sicht befindet: „Seht,<br />

welch großes Zetergeschrei <strong>und</strong> Unrecht in Samaria ist, die Herrschenden achten kein Recht <strong>und</strong> sammeln<br />

Schätze von Frevel <strong>und</strong> Raub in ihren Palästen.“ Zum zweiten sagt er etwas über die Zukunft des Landes -<br />

nichts Optimistisches: Der Untergang wird angesagt, Invasion <strong>und</strong> Plünderung. Der Landwirt Amos stand<br />

in seiner Zeit allein, andere wollten das nicht sehen, was doch eigentlich auf der Hand lag, was doch<br />

eigentlich jeder hätte feststellen können, wenn er das Unschöne, das was Schmerz <strong>und</strong> Sorge bereitet, an<br />

sich herangelassen hätte.<br />

Wir wollen aber nicht in dieser fernen Zeit verweilen, vielmehr lade ich Sie ein, mit dem Blick des Amos<br />

in unsere Zeit zu sehen, in dieses Land. Eigentlich dürfte uns das viel leichter fallen, wir sind viel besser<br />

informiert über das, was in der Welt vorgeht <strong>und</strong> was im eigenen Lande los ist. Trotzdem sind es nur<br />

wenige, die klar sehen, nur wenige, die deutlich sprechen. Freilich wissen wir alle mehr oder weniger<br />

Bescheid, aber keiner fühlt sich zuständig, die sich auftürmenden Probleme zur Diskussion zu stellen, die<br />

Gefahren, die unser Land bedrohen, zu benennen. Die Analyse unserer gesellschaftlichen Probleme wird<br />

freilich anders aussehen als die des Amos. Unsere politische Führung ist ja mit dem positiven Anspruch<br />

angetreten, das große Unrecht zu beseitigen, den Unterschied zwischen arm <strong>und</strong> reich. Trotzdem stehen<br />

wir heute in einer Situation, die einen mehr als bedenklich stimmen muß. Die Herrschenden haben das<br />

Volk nicht hinter sich, zumindest nicht in ausreichendem Maße. Abwechselnd mit Zuckerbrot <strong>und</strong><br />

Peitsche versucht sich die Führung ihrer Gefolgschaft zu versichern, aber es scheint noch nicht so recht<br />

gelungen zu sein. Verantwortungslosigkeit ist die allgemeine Haltung der Verantwortlichen, Distanz zu<br />

unserem Staat <strong>und</strong> Gleichgültigkeit beherrscht den Rest.<br />

Und ihr, die ihr dieses Land verlassen wollt, steht ja nicht einmal in so starkem Gegensatz zu den Anderen<br />

[sic!], sondern ihr treibt nur etwas auf die Spitze. Ihr seid im gewissen Sinne konsequenter als die, die<br />

bleiben, aber auch nichts mehr einsetzen wollen, sich auch nicht für die Zukunft dieses Landes<br />

engagieren, eben nur ihre Ruhe <strong>und</strong> ihr privates Glück suchen. Die Situation ist besorgniserregend.<br />

Manchmal komme ich in die Versuchung, mit Schadenfreude auf die innere Bedrohung, die Aushöhlung<br />

unseres Landes zu blicken, einfach deshalb, weil ich selbst schon die Macht des Staates zu spüren<br />

bekommen habe. Stärker aber als diese Versuchung der Schadenfreude ist meine ehrliche Trauer über<br />

dieses Land, über mein Land, meine Trauer über den bisher gescheiterten Versuch des Sozialismus,<br />

190 vgl. Dok. 37 <strong>und</strong> Dok. 40<br />

119


Trauer über die mißglückte Alternative zu der alles beherrschenden Macht des Geldes. Nein, ich wünsche<br />

keine Zuspitzung der Probleme hier im Land, ich sehne keinen Zusammenbruch herbei, nach dem, so<br />

meinen vielleicht viele Illusionisten, alles anders wird. Ich erwarte keine Abdankung der Herrschenden,<br />

keine gr<strong>und</strong>sätzliche Systemänderung. Eines halte ich allerdings für unabdingbar <strong>und</strong> in einer Situation, in<br />

der unsere Zukunft verschiedenen Bedrohungen ausgesetzt ist, für völlig normal. Ich erwarte, daß wir in<br />

nächster Zeit offen über alles reden können, ich hoffe, daß unsere Medien uns nicht länger hinters Licht zu<br />

führen suchen, so daß wir uns in Zukunft auch über die eigenen Sender informieren <strong>und</strong> dort unsere<br />

Probleme zur Sprache bringen können.<br />

Ich erwarte auch, daß der Mitarbeit von kritisch eingestellten Bürgern in Zukunft nicht mehr soviel<br />

Mißtrauen entgegengebracht wird wie bisher. Der Prophet Amos hat sich in seiner Zeit damit begnügt, den<br />

Untergang, der ihm unabwendbar schien, vorauszusagen. Wir sollten weitergehend <strong>und</strong>, wie das spätere<br />

Propheten getan haben, über Umkehr nachdenken, über eine Umgestaltung, die den drohenden<br />

Zusammenbruch, den Niedergang verhindern kann. Ich glaube allerdings nicht, daß die Umkehr, die wir<br />

nötig haben, von oben verordnet werden kann. Vielmehr muß aus dem Volk heraus, aus unserer Mitte<br />

neues Leben wachsen, neue Ideen, neuer Mut. Wir müssen aufwachen <strong>und</strong> unsere Straßen, unsere Kirchen<br />

<strong>und</strong> unsere Wohnungen mit neuem Leben, mit politischem Leben füllen.<br />

Der Prophet Amos ist eigentlich ein düsterer Prophet, nach seiner Prophezeiung gibt es keinen Weg am<br />

Elend vorbei. Vielleicht deshalb, weil er allein stand in seiner Zeit, vielleicht auch deshalb, weil er sich<br />

<strong>und</strong> sein Land so dem Willen Gottes ausgeliefert sah, daß in seiner Vorstellung alles nur nach einem<br />

festen Plan ablaufen konnte. Wir sind heute nicht mehr so allein, sondern haben viele Möglichkeiten der<br />

Kommunikation. (Na ja, wenn vielleicht auch oft welcher fragwürdiger Art.) Und wir verlassen uns heute,<br />

glaube ich, nicht mehr so sehr auf die Führung Gottes, wir überlassen ihm nicht mehr das Weltgeschick,<br />

sondern versuchen selbst zu denken, selbst etwas in die Hand zu nehmen. Das, was Amos geleistet hat,<br />

bleibt uns aber nicht erspart: Die Dinge mit einem prophetischen Blick anzusehen, das heißt, mit einem<br />

tiefen, klaren Blick, der nicht am Elend vorbei sieht, der den Gefahren nicht ausweicht, der sich nicht<br />

verdunkeln läßt durch solche Beschwichtigungen wie: Es wird schon alles irgendwie weitergehen, <strong>und</strong> uns<br />

bleibt auch nichts erspart, das, was wir gesehen haben, einzubringen, zur Diskussion zu stellen, auch dann,<br />

wenn es keiner hören will. 191<br />

48 Innerkirchliche Mitteilung<br />

Brief von OKR D. Auerbach an J. Läßig aufgr<strong>und</strong> dessen Ansprache im Friedensgebet am 11.04.1988 vom<br />

23.04.1988. Die Vorlage war eine Xerokopie (ABL H 1).<br />

Sehr geehrter Herr Läßig!<br />

191 Das FG wurde von der AKG gestaltet, an ihm nahmen ca. 600 Personen teil. Die Stasi-Einschätzung der Rede<br />

von Läßig ist im OV „Trompete“ zu finden. Dort heißt es u.a.: „Die von L. in dem von ihm realisierten Gebetsteil<br />

formulierten Angriffe auf die politischen Verhältnisse <strong>und</strong> die Aufforderung, sich dagegen aufzulehnen, wurden<br />

neben weiteren, von anderen feindlich-negativen Kräften formulierten Angriffen gegen die gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse genutzt, um in Gesprächen mit kirchlichen Amtsträgern [...] die staatliche Erwartungshaltung zum<br />

Ausdruck zu bringen, daß im Interesse des guten Verhältnisses Staat / Kirche derartige Angriffe <strong>und</strong><br />

Einmischungen in Kompetenzen des Staates unterb<strong>und</strong>en werden. Dadurch war eine innerkirchliche<br />

Auseinandersetzung zwischen Kirchenleitung <strong>und</strong> Basisgruppen ausgelöst worden, in deren Ergebnis die<br />

'Friedensgebete' in die Verantwortung kirchlicher Amtsträger <strong>und</strong> Mitarbeiter übertragen wurden.“ (Besier/Wolf,<br />

678) Das FG wurde vor allem von J. Läßig <strong>und</strong> T. Rudolph gestaltet, beide waren zu diesem Zeitpunkt Studenten<br />

des Theologischen Seminars. Am 20.04.1988 wurde deshalb C. Kähler, der damalige Rektor des Seminars, vom<br />

Referat Kirchenfragen auf seine „Verantwortung“ angesprochen. Besonders vorgeworfen wurde die Aussage von<br />

J. Läßig, „nicht zu sehr auf Gottes Führung zu vertrauen, sondern die Dinge in die eigenen Hände zu nehmen“.<br />

Am folgenden Tag führte deshalb der Neutestamentler Kähler mit Läßig ein Gespräch, in dem er ihm vorhielt,<br />

daß seine Rede eher an die „Internationale, denn an einen christlichen Text erinnern“ würde (so Mitteilung C.<br />

Kähler vom 05.05.1994).<br />

120


Für die Übersendung Ihrer Auslegung zu Amos 3 danke ich Ihnen 192 . Es ist nötig, daß die Verantwortung<br />

für die öffentliche Verkündigung ernst genommen wird, <strong>und</strong> dies gilt natürlich unabhängig vom Ort <strong>und</strong><br />

der Zahl der Gottesdienstbesucher. So möchte ich durch Fragen <strong>und</strong> Anmerkungen in ein Gespräch mit<br />

Ihnen <strong>und</strong> den Verantwortlichen des Friedensgebets eintreten in der Hoffnung, daß uns dieses Gespräch<br />

weiterführt. Die Auslegung hat einen biblischen Bezug, geht auf die Situation der Hörer ein <strong>und</strong> faßt eine<br />

Zielvorstellung zusammen. Die Hörer haben, soweit sie überhaupt gewillt waren, das Friedensgebet<br />

mitzuvollziehen, gelauscht <strong>und</strong> die Auslegung mit Beifall quittiert.<br />

Was bedeutet der biblische Bezug? Sie schildern die Situation in Samaria im 8. Jahrh<strong>und</strong>ert. Nach S.<br />

Herrmann gehört diese Zeit in das „dunkle Jahrh<strong>und</strong>ert“ 193 der Königszeit, aus dem uns nur wenige<br />

Nachrichten überkommen sind. Die lange Regierungszeit Jerobeams II. wird von manchen Historikern als<br />

„glückliche Zeit“ angesehen. Trotz der Tribute an Assur scheint eine Situation der Entspannung<br />

dagewesen zu sein, eine Ruhe vor dem Sturm. Der F<strong>und</strong> von 63 Ostraka gibt uns Einblick in die<br />

wirtschaftliche Lage. Es handelt sich um Begleitschreiben zu Wein- <strong>und</strong> Öllieferungen aus königlichen<br />

Gütern nach Samaria. Offenbar gab es Staatsdomänen <strong>und</strong> königliche Beamte, die sich auch an<br />

Bodenspekulationen beteiligten, also ihren Besitz durch Bedrückung kleiner Bauern, Entrechtung <strong>und</strong><br />

Verschuldung vergrößerten. So wird ein „wohlhabender Mittelstand“ entstanden sein.<br />

Amos vertritt die Auffassung, daß Jahve der Gr<strong>und</strong>herr ist <strong>und</strong> der Boden unverkäuflich bleibt. Seine<br />

Botschaft wird verständlich durch die enge Bindung des Propheten an Gott, der dem Volk das Land<br />

gegeben hat. Darin liegt der Ursprung seiner Gesellschaftskritik. Die Gewißheit über Gottes Auftrag an<br />

Israel ist auch Gr<strong>und</strong>lage seines Rechtsempfindens <strong>und</strong> seiner Zukunftserwartung. Amos läßt Forderungen<br />

Jahves laut werden. Wie in einem Amphitheater sollen Unterdrücker wie die Philister <strong>und</strong> Ägypter die<br />

Gewalttaten in Samaria „sehen“. Was die Bürger Samarias durch Raub an sich gerissen haben, wird ihnen<br />

vor aller Augen wieder entrissen. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. In Samaria aber herrscht ein<br />

Durcheinander, die Verwirrung sittlicher Ansichten, ein Gegeneinander von Bedrückern <strong>und</strong> Bedrückten.<br />

„Unrecht Gut“ überschreibt Albrecht Alt den Prophetenspruch 3,9-11. „Was bleibt“ ist Überschrift über<br />

die Unheilsaussage 3, 12. Der Rest ist wie das von Wildtieren Übrigbleibende, wenn sie ein Schaf gerissen<br />

haben. Haben Sie sich nicht wesentliche Konkretionen entgehen lassen? Wenn schon<br />

Situationsschilderung des 8. Jahrh<strong>und</strong>erts, dann doch etwas sensibler. „Die Machtverhältnisse waren<br />

geklärt“ - gerade darum ging es Amos. Wem gehört das Land - Gott oder dem König? „Die Menschen<br />

lebten sorglos in den Tag“ - offensichtlich waren soziale Gegensätze so groß, daß offener Streit ausbrach.<br />

Haben sie nicht den kritischen Ansatz des Amos verschwiegen - er liegt in der Gottlosigkeit des<br />

Großgr<strong>und</strong>besitzes in Israel!?<br />

Die Situation der Hörer zum Friedensgebet ist leicht zu erfassen. „Nur wenige sind es, die klar sehen“.<br />

Offensichtlich schlüpfen Sie in das prophetische Kostüm des Amos, übernehmen seinen Anspruch - aber<br />

nicht seinen Ansatz! Ihnen geht es um die Analyse unserer gesellschaftlichen Probleme. Die nun<br />

folgenden Sätze sind Behauptungen, die einer Begründung bedürfen. „Verantwortungslosigkeit“ - vor<br />

wem? Ich erlebe sehr wohl, wie sich Mitglieder der Partei verantworten müssen. Warum werden die, die<br />

sich von der Gesellschaft distanziert haben <strong>und</strong> die Ausreisekandidaten nicht auch „verantwortungslos“<br />

genannt? Die Lücken, die sie zurücklassen, können für viele Bürger in diesem Lande schlimme Folgen<br />

haben. Daß die Herrschenden das Volk nicht hinter sich haben, gilt von vielen Ländern <strong>und</strong> ist in einer<br />

Diktatur nicht das vordringliche Problem. Aber die meisten der in der Kirche Anwesenden werden bei der<br />

Wahl die Regierung bestätigt haben, obwohl sie es ohne Schaden auch hätten unterlassen können. Sie alle<br />

sind also beteiligt an der Lage, in der wir uns befinden. In den locker vorgetragenen Negationen („keine<br />

Zuspitzung der Probleme“ - keinen Zusammenbruch - „keine Schadenfreude“) werden freilich beim Hörer<br />

gerade diese Gedankengänge geweckt, die eigentlich zurückgewiesen werden. Dies ist eine tückische<br />

Redeweise. Ist es nicht eigentlich sehr billig, vor Ausreisekandidaten in dieser verschlüsselten Weise<br />

Gesellschaftskritik zu treiben? Ist Amos nicht zu schade für diesen Vorgang? Amos ist auf Widerstand<br />

gestoßen - Sie sind mit Beifall bedacht worden - sollte uns das nicht zu denken geben?<br />

Entscheidend sind für mich aber die Fragen nach der Zielvorstellung. Sie rufen zur Umkehr auf - zu<br />

192 s. Dok. 47<br />

193 vgl. S. Herrmann, Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Berlin 1981, S. 282-300 (Zitat, S. 282)<br />

121


neuem politischen Leben. Sie wollen selbst etwas in die Hand nehmen, überlassen Gott nicht mehr das<br />

Weltgeschick. Unsere Lage ist eine Folge des Krieges, den Deutschland verursacht hat. Eine Umkehr kann<br />

nur einsetzen bei der Erkenntnis der Schuld, die Deutsche begangen haben. Das war das Lied unserer<br />

Jugend, vor 1945: „selbst etwas in die Hand zu nehmen“. Viele der „Ausreiser“ suchen ja auch den<br />

Wohlstand, gegen den Amos gerade zu Felde zieht. Welches neue politische Leben meinen Sie, wenn Sie<br />

Gott <strong>und</strong> die Schuld ausklammern? Was soll das für eine „Umkehr“ sein? Sie schließen mit dem Satz, daß<br />

Ihre Analyse keiner hören will. Ich behaupte das Gegenteil. Etwas unscharfe, aber kritische Analyse mit<br />

heftigen Vorwürfen gegen die Regierenden - das bestimmt unseren Alltag, das ist Gr<strong>und</strong>stimmung in der<br />

DDR - da sind sich fast alle einig. Aber die Umkehr, das ist schwer. Der Beitrag von Dr. L. Drees am<br />

13.2. in Dresden 194 hat das sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Und er hat unsere Ängste analysiert.<br />

Damit hat er uns einen guten Dienst getan. Alles zwielichtige, unscharfe Reden hilft uns nicht.<br />

Ich danke Ihnen, daß Sie mich wieder mit Amos konfrontiert haben. Auch mir wäre es schwer gefallen,<br />

den Vorwurf: „unrecht Gut“ auf die Hörer <strong>und</strong> die Gesellschaft anzuwenden. Aber ich wäre der Frage<br />

nachgegangen, wo wir in unserem Leben auf Kosten Anderer [sic!] existieren, wo wir den leichten Weg<br />

gehen <strong>und</strong> welche Wirtschaftsbegleitschreiben von uns nach 3000 Jahren zu lesen sein werden. Ein weites<br />

Feld. Auch heute noch erwächst aus der Heiligen Schrift der Mut, Verantwortung in der Gesellschaft zu<br />

tragen, gerade weil unser Glaube nicht in der Gesellschaft verankert ist.<br />

Mit fre<strong>und</strong>lichem Gruß [/] [gez.] Dieter Auerbach<br />

49 Friedensgebetstexte<br />

Entwurf des Friedensgebetes, welches die Arbeitsgruppe „Ökumene <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ am 18.04.1988 in der<br />

Nikolaikirche hielt (ABL H 1).<br />

[Begrüßung]<br />

Noch etwas zum Verlauf des Gebetes: Nach einer Meditation <strong>und</strong> Textlesung wird Volker Bräutigam an<br />

der Orgel spielen.<br />

Danach wollen wir gemeinsam um Gerechtigkeit in der Welt <strong>und</strong> bei uns bitten. Die einzelnen Bitten<br />

nehmen wir auf mit dem gesungenen Kyrie eleison - Herr erbarme dich, das wir immer dreimal singen<br />

wollen. Nach Segen <strong>und</strong> Orgel wird es danach einige Ansagen geben. Wir wollen jetzt schon darauf<br />

hinweisen, daß im Anschluß an dieses Gebet das Angebot besteht, mit unseren Gästen ins Gespräch zu<br />

kommen, Fragen zu stellen, Erfahrungen auszutauschen. Zum heutigen Friedensgebet in der Nikolaikirche<br />

möchte ich euch herzlich begrüßen. Dieses Friedensgebet ist von der Gruppe „Ökumene <strong>und</strong><br />

Gerechtigkeit“ vorbereitet worden. In unserer Arbeit bemühen wir uns darum, weltweite Strukturen der<br />

Ungerechtigkeit bewußt zu machen. Wir gehen davon aus, daß unser Land <strong>und</strong> auch die Kirche in dem<br />

Netz der Ungerechtigkeit mitverwoben ist. Wir fragen nach den Möglichkeiten, was wir bei uns tun<br />

können, damit die Knoten des Netzes der Ungerechtigkeit von jedem Menschen erfahren wird, egal wo er<br />

lebt.<br />

Wenn wir hier nach Gerechtigkeit fragen in unserem Land, brauchen wir den Kontakt zu Menschen, die in<br />

ihren Ländern dieselbe Frage stellen. Nur gemeinsam finden wir heraus, was Gerechtigkeit ist.<br />

Gemeinsam beten wir auch um Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit. Wir haben heute 4 Gäste mitgebracht, die an<br />

unserem Friedensgebet teilnehmen. Unsere Gäste sprechen Englisch. Was sie sagen, wird darum ins<br />

Deutsche übersetzt werden.<br />

1. Rev. Levi Orácion Manila Philippines Vereinigte Kirche Christi in den Philippinen Dekan des Theolog.<br />

Seminars in Manila seit 1985 Exekutivsekretär der Kommission kirchlicher Beteiligung an<br />

Entwicklung beim ÖRK/Genf. Besonders verantwortlich für das ökum. Gespräch über Ideologie u.<br />

Theologie im Kontext sozialer Bewegungen. Veranstalter der ökum. Konsultation in Buckow letzte<br />

Woche.<br />

2. Rev. Daniel Montaga. Mantanzas, Kuba Dozent für Neues Testament am Ökum. Seminar in<br />

Montanzas. Z. Zt. am Ökum. Institut Bossey <strong>und</strong> Pfarrer der spanisch-evangel. Kirche in Genf.<br />

194 Zeugnis der Betroffenheit in: epd-Dok. 21/1988<br />

122


3. Mr. Cobbi Palm New York, USA geboren in den Philippinen u. aufgewachsen, dann USA Studierte<br />

Theologie <strong>und</strong> Psychologie Graduierter Student in Bossey, ökum. Institut im letzten Wintersemester<br />

4. Pfr. Reimer u. Frau, Brasilien Haraldo Iwai<br />

Meditation 195<br />

In der nun folgenden Meditation wollen wir weder die Weltgesellschaft beschreiben, noch umfassende<br />

Lösungsvorschläge unterbreiten. Sondern, wir wollen Euch <strong>und</strong> Ihnen einen Eindruck davon vermitteln,<br />

was uns bewegt, im kirchlichen Rahmen als Christen, aktiv zu werden. Und wir wollen an einem bibl.<br />

Text veranschaulichen, woher wir unsere gr<strong>und</strong>legenden Orientierungen erhalten. Eine<br />

Übersetzungsmöglichkeit ins alltägliche Leben wollen wir dabei anbieten, aber gleichzeitig für eigenes<br />

Überlegen - für ein ganzheitliches Nachsinnen - während der Orgelmusik Raum lassen:<br />

Zwei Krankheiten, zwei Seuchen suchen heute die Welt heim.<br />

Das Leben der ganzen Menschheit ist durch sie bedroht wie nie.<br />

Ihre Opfer werden von innen her ausgehöhlt, sie sind wie leblose Schatten. Die eine Krankheit ist die<br />

Sinnlosigkeit des Lebens.<br />

Die Infektionsgefahr des Hungers ist in unseren Breiten nicht sehr groß - momentan ist sie, Gott sei Dank,<br />

überhaupt nicht gegeben. Dagegen die andere, das eigene Leben als sinnentleert, als sinnlos zu erleben,<br />

diese Seuche grassiert gerade in den wohlhabenden Ländern <strong>und</strong> so auch bei uns. Ihre Opfer sind nicht<br />

sofort zu erkennen. Durch hochmodisches Äußeres, durch zeitgemäßes out-fit wird die innere Leblosigkeit<br />

kaschiert. Nur in den Augen fehlt der Glanz der Begeisterung <strong>und</strong> der Leidenschaft - die Stumpfheit des<br />

Blickes verrät die auszehrende Krankheit. Beides scheint nichts miteinander zu tun zu haben - das eine sei<br />

ein Problem des wirtschaftlich schwachen, des armen Südens, das andere eins des reichen, übersättigten<br />

Nordens.<br />

Aber gehört nicht beides zusammen, beruhen beide nicht auf derselben Ursache? Ja, beide sind<br />

Mangelerkrankungen, beiden fehlt es an einer weltweiten Gerechtigkeit. Gerechtigkeit läßt sich<br />

buchstabieren, als ein Verhältnis von Freiheit <strong>und</strong> Ungleichheit. Meine bzw. unsere Freiheit soll in allen<br />

Lebenszusammenhängen so groß sein, wie es möglich ist. Aber meine bzw. unsere Freiheit ist nur dort in<br />

Gerechtigkeit eingebettet, wo für alle anderen - für alle nahen <strong>und</strong> fernen Menschen - die gleiche Freiheit<br />

möglich ist. Freiheit ist also keine Sache, die man besitzen kann, sondern sie kennzeichnet ein Verhältnis.<br />

Zur Gerechtigkeit gehört aber auch die Ungleichheit. Ungleichheit ist immer willkürlich, aber oft ist sie<br />

notwendig, wenn zur Erfüllung bestimmter Aufgaben besondere Rechte benötigt werden. Keiner fühlt sich<br />

allein dadurch, daß es Ungleichheit gibt, ungerecht behandelt. Sondern Ungleichheit führt erst dann zu<br />

Ungerechtigkeiten, wenn die damit verb<strong>und</strong>enen Positionen, Ämter <strong>und</strong> Privilegien nicht allen<br />

gleichermaßen zugänglich sind. Gerechtigkeit ist also untrennbar von der größtmöglichen Freiheit für alle<br />

<strong>und</strong> vom uneingeschränkten Zugang zu allen Ämtern <strong>und</strong> Privilegien.<br />

Die erreichte Gerechtigkeit in der Welt oder in einer Gesellschaft ist aber nicht abstrakt, sie existiert nicht<br />

nur in Gesetzen, sondern sie läßt sich im Alltagsleben aufspüren. Jeder Mensch verfügt über Sensoren, sie<br />

zu erfühlen. Achtung die zwischen den Menschen besteht, ist ein solch feinsinniger Gradmesser. In<br />

gerechteren Gesellschaften gibt es größere gegenseitige Achtung, als in ungerechten. Wie sieht es mit der<br />

gegenseitigen Achtung in unserer Gesellschaft aus?<br />

− wie ist es z.B., wenn wir ein Restaurant, ein Geschäft oder ein öffentliches Verkehrsmittel betreten?<br />

− wenn wir auf den Ämtern unsere Anliegen vorbringen?<br />

− oder wenn wir im Beruf unsere Meinung unterbreiten wollen?<br />

− aber auch in den Kirchen, wenn wir Gottesdienste besuchen?<br />

Da erschlägt uns oft das Gefühl, mißachtet oder überhaupt nicht beachtet zu werden. Das macht uns<br />

traurig <strong>und</strong> wütend zugleich. Aber ist es dann der richtige Weg, wenn wir an dieselben Leute oder an<br />

andere mit gleicher Münze herausgeben? Wie sehen denn wir als Gäste die Kellner, als K<strong>und</strong>en die<br />

Verkäufer, als Bürger die Beamten, als einzelne die Kollegen <strong>und</strong> als Besucher die kirchlichen<br />

Mitarbeiter?<br />

Und was für unsere Gesellschaft gilt, das trifft auch auf unsere Achtung gegenüber anderen Völkern zu.<br />

Wie sehr achten denn gerade wir in der DDR die Menschen des Ostens <strong>und</strong> des Südens? Denn - <strong>und</strong> damit<br />

195 Die Meditation wurde von H. Wagner verfaßt.<br />

123


schließt sich der Bogen zur Gerechtigkeit - denjenigen, welchen ich nicht oder welchen ich nur minder<br />

achte, den kann ich ganz leicht aus meiner Gerechtigkeit ausschließen. Gegenseitige Achtung ist somit ein<br />

Schlüssel zur weltweiten Gerechtigkeit <strong>und</strong> damit auch ein Mittel - meinethalben nur ein bescheidenes<br />

Hausmittel, aber gerade die sollten wir nicht verachten - also gegenseitige Achtung ist auch ein Mittel<br />

gegen den Hunger in der Welt <strong>und</strong> die Sinnlosigkeit in unserem Leben. Denn wie könnte ich den Hunger<br />

eines von mir geachteten Menschen ertragen? Und wie könnte ich mein Leben als sinnlos empfinden,<br />

wenn ich wüßte, wenn ich es immer wieder spürte: ich werde geachtet?<br />

Mit gegenseitiger Achtung ist vielleicht nicht die Welt zu verändern, aber mit Sicherheit Menschen!<br />

Ich lade Sie nun ein, darüber nachzudenken, was Jesus in der folgenden Erzählung beim Zöllner Zachäus<br />

erreicht hat. Zachäus gehörte als Gesinnungshilfe der römischen Besatzungsmacht zu den Verachteten, zu<br />

den Ausgeschlossenen seines Volkes. Keiner traute ihm noch etwas Gutes zu, nie wäre ein aufrechter<br />

Mann in seinem Hause eingekehrt.<br />

Lukas schreibt: [Es folgt der Bibeltext aus Lukas 19,1-10]<br />

[Orgelmusik]<br />

[Fürbitten 196]<br />

50 Feststellung des Staatssekretariats<br />

Auszug aus der Vorlage der Abteilung II des Staatssekretariats für Kirchenfragen (Gräfe <strong>und</strong> Röfke, zur<br />

Kenntnis genommen Wilke) zur Leitungsinformation 2/88 für die Dienstbesprechung des Staatssekretariats<br />

am 25.04.1988 vom 18.04.1988 (hektographierte Dienstsache, Exemplar Nr. 10 mit Bearbeitungsspuren)<br />

(BArch O-4 6137).<br />

[... Seite 4:] Am deutlichsten treten die Polarisierungsprozesse in der Frage kirchlicher Arbeit mit<br />

Übersiedlungsersuchenden in Erscheinung. Von den Kirchenleitungen <strong>und</strong> der Mehrheit der Geistlichen<br />

<strong>und</strong> Amtsträgern wird der staatliche Einspruch gegen die Einmischung kirchlicher Kreise akzeptiert. Die<br />

Orientierung der KKL (Buckow) wird umgesetzt 197 . Nach den Bezirksberichten sind gegenwärtig<br />

insgesamt noch fünf Kirchgemeinden bekannt (Leipzig, Halle, Bitterfeld, Quedlinburg, Naumburg), in<br />

denen z.T. durch politisch negative Kräfte Antragstellern die Möglichkeit eingeräumt wird, sich zu<br />

versammeln. In allen Fällen sind die zuständigen kirchenleitenden Vertreter (Bischöfe Dr. Hempel, Dr.<br />

Demke, Präsident Dr. Domsch) engagiert, diese Aktivitäten systematisch einzugrenzen <strong>und</strong> ausklingen zu<br />

lassen. [...]<br />

51 Stasi-Information<br />

Operativinformation 101/88 (Hinweis- <strong>und</strong> Merkmalskomplex 2) vom Leiter der Kreisdienststelle Leipzig-<br />

Stadt (Oberst Schmidt i.V. unleserlich Ref. XX/2 grie-wl) vom 03.05.1988 an den 1. Stellvertreter des Leiters<br />

der BV Leipzig (Oberst Eppisch) <strong>und</strong> an die Abteilungen XX <strong>und</strong> AKG der BV Leipzig <strong>und</strong> an die Referate<br />

AuI <strong>und</strong> XX/2 der KD-Leipzig-Stadt über das Friedensgebet am 02.05.1988. Im Verteiler wurde AKG als<br />

Adressat unterstrichen. Die Quelle trägt eine Vielzahl an Bearbeitungsspuren. Bei den Nachnamen der<br />

196 Nach Stasi-Bericht hatten die Fürbitten folgenden Inhalt: „Fürbitten gegen ÜSE, 'Verbindung zu diesem Land'<br />

Erfahrungen von Begrenztheit 'Ohnmacht gegenüber Institutionen' hier für positive Veränderungen einsetzen<br />

Fürbitte für Einberufene an Gemeinde- oder Stadtjugendpfarrer wenden bei Schwierigkeiten [s. Anm. 200] WDV<br />

als Glaubensentscheidung [Pfeil] SoFD Erschrecken vor harter Konsequenz bei WDV Philippiner: für gerechten<br />

Frieden, leben in Frieden (Beifall) USA: betet für Leidende Cubaner: bittet für Kub. Volk zu beten, für gerechten<br />

Zuckerpreis gegen USA-Embargo für Frieden in Nicaragua Rein: Land wo Milch <strong>und</strong> Honig fließt (Brasilien)<br />

himmelschreiende Ausbeutung wenige Ausbeuter Frieden durch Gerechtigkeit weibl. Person: - zurück in DDR<br />

[Pfeil] eigene Sicherheit - Platz im Leben suchen/einnehmen - bittet um Verständnis <strong>und</strong> Fähigkeit zum<br />

gegenseitigen Zuhören evt. [... geschwärzt]: - Ifo [d.h. Informationsteil des FG] kürzer - aktuelle Ifo nächste<br />

Woche - Erklärung verlesen - Stellungnahme zu Briefen drei Gesprächskreise“ (BStU Leipzig AB 1161, 47f.)<br />

197 s. Anm 157<br />

124


Personen, über die berichtet wurde, wurde jeweils nur der ersten Buchstaben mit der Maschine geschrieben,<br />

der Rest per Hand (ABL H 15).<br />

Durch zielgerichteten Einsatz von zuverlässigen, ehrlichen IM der KD Leipzig-Stadt konnten<br />

nachfolgende Erkenntnisse zum sog. Friedensgebet am 2.5.1988, 17.00 Uhr, in der Nikolaikirche<br />

erarbeitet werden. [/] Durch die Quellen wird eingeschätzt, daß ca. 1000 Personen, (Kirche unten voll<br />

besetzt <strong>und</strong> erste Empore teilweise), anwesend waren. Eröffnet <strong>und</strong> beendet wurde das sog. Friedensgebet<br />

durch Pfarrer Dr. Dr. [sic!] Berger, Matthias [...]. B. führte aus, daß in Kirchenräumen das Fotografieren<br />

verboten sei. Dies gelte für „Hobby- <strong>und</strong> Berufsfotografen“. Wer fotografieren möchte, benötigt dazu die<br />

Genehmigung des verantwortlichen Pfarrers. B. verwies darauf, daß im Anschluß an das Gebet<br />

Gesprächsmöglichkeiten unter Leitung seiner Person, Pfarrer Wugk [...] <strong>und</strong> Pfarrer Bartels [...] bestehen,<br />

ohne ein Thema für diese Gesprächsr<strong>und</strong>en vorzugeben. Das „Friedensgebet“ <strong>und</strong> die Fürbitten wurden<br />

durch 4 Mitglieder der „Solidarischen Kirche“ gestaltet. Eine Identifizierung dieser Personen ist nach<br />

Lichtbildvorlage bei den eingesetzten IM möglich. Eine männliche Person beschäftigte sich mit dem<br />

Nichterscheinen von Kirchenzeitungen <strong>und</strong> erläuterte die Artikel, die staatlicherseits nicht erwünscht<br />

sind 198. Eine weibliche Person199<br />

, ca. 22 - 25 Jahre, lange rote Haare, untersetzte Gestalt sprach von ihren<br />

Eindrücken <strong>und</strong> Ängsten, die sich aus ihrer Arbeit, Freizeit, Wohn- <strong>und</strong> <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>skreis ergeben. Dabei<br />

sprach sie insbesondere über die Depressionen, die sich in ihrem <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>skreis breitmachen, unter denen,<br />

die ausreisen wollen, aber auch unter den Zurückgelassenen. Sie hofft, daß es ihren <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n in der BRD<br />

besser geht, weiß aber, daß es nicht immer so ist. Sie wird in der DDR bleiben, weiter die Hände ringen,<br />

d.h. sich mit den tagtäglichen Problemen auseinandersetzen. Ihr fällt es schwer, neue <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> zu finden,<br />

da viele weggehen. Ängste hat sie auch wegen ihren Wohn- <strong>und</strong> Umweltbedingungen. Diese Person<br />

bestritt den größten Teil des „Friedensgebetes“. In den Fürbitten wurde für die in die NVA eingezogenen<br />

Personen <strong>und</strong> Verweigerer200 sowie für die in die BRD übersiedelten <strong>und</strong> die ÜSE in der DDR gebetet.<br />

Eine weibliche Person sagte, „ich wünsche mir, daß nicht so viele das Land verlassen“. Umrahmt wurde<br />

das Gebet durch das jüdische Lied „evenn Schalom elechem“ (Wir wollen Frieden haben) <strong>und</strong> ein Lied<br />

mit dem Titel „Füreinander“ 201 , welches durch eine Quelle Krawczyk zugeordnet wird. Das eigentliche<br />

„Friedensgebet“ wurde ohne jegliche Bezüge zum 1. Mai in Leipzig <strong>und</strong> Berlin beendet.<br />

Öffentlichkeitswirksame Handlungen gingen vom „Friedensgebet“ nicht aus <strong>und</strong> wurden nach Kenntnis<br />

der Quelle nicht geplant.<br />

Zu den einzelnen Teilnehmern konnten folgende Erkenntnisse erarbeitet werden: Dr. [... geschwärzt]<br />

(ÜSE) [...] Um den K. sammelten sich vor Beginn des Gebetes ca. 15 Personen, um Beratung zu Fragen<br />

der Ausreise zu erhalten. Durch den K. wurde über ein Gerücht gesprochen, daß eine gesetzliche<br />

Regelung geschaffen werden soll zur Praxis der Entgegennahme von ÜSE durch staatliche Organe. Nach<br />

dieser Regelung sollen zu Personen, deren erster Antrag auf Übersiedlung abgewiesen wurde, bei<br />

198 Einige Ausgaben durften überhaupt nicht erscheinen, bei anderen durften bestimmte Artikel nicht erscheinen. So<br />

erschien „Die Kirche“ mit weißen Flächen, an den Stellen nichtgenehmigter Artikel. Am 17.04.1988 übergab das<br />

Presseamt der DDR sogar einen „Tabukatalog“ für die kirchliche Berichterstattung. Darin waren u.a. schulische<br />

Erziehung, Wehrdienstverweigerung, Energiepolitik <strong>und</strong> Menschenrechte enthalten. Im Mai-Heft der Zeitschrift<br />

der AGU „Streiflichter“ wurde über die Zensur-Maßnahmen berichtet <strong>und</strong> die Artikel, die in „Die Kirche“ im<br />

April nicht erscheinen durften, abgedruckt. Außerdem findet sich dort ein Interview mit dem damaligen<br />

Chefredakteur von „Die Kirche“, G. Thomas.<br />

199 gemeint ist B. Schade<br />

200 Auf der Dienstversammlung der BV des MfS sagte Hummitzsch, daß das MfS vorschlagen könne, wer von den<br />

Wehrpflichtigen „zuerst drankommt“ <strong>und</strong> bezeichnete die Einberufung als eine „Maßnahme um das feindliche<br />

Potential zu reduzieren“ (BStU Leipzig AB 3837, 44b+45a). Da das „feindliche Potential“ im allgemeinen den<br />

Wehrdienst verweigerte, bedeutete das eine Vielzahl von Verhaftungen. Hummitzsch rechnete mit weit über 100<br />

Wehrdienstverweigerern (WDV), die einberufen bzw. inhaftiert werden sollten. Die Einberufung wurde vor den<br />

1. Mai gelegt, um diesen „abzusichern“. Der AKG u.a. Gruppen richteten über den 1. Mai ein Kontaktbüro ein,<br />

wo die Informationen über die Inhaftierungen gesammelt wurden. Zu Verfahren gegen WDV kam es 1988 nicht,<br />

nach einigen Tagen wurden die WDV wieder freigelassen (s.a. G. Hildebrand, 130).<br />

201 Den Herausgebern ist nicht klar, welches Lied gemeint sein soll.<br />

125


Erneutstellung strafrechtliche Maßnahmen durchgeführt werden können. Dies wurde mit Empörung<br />

aufgenommen.<br />

Schwabe, Uwe [/] 04.05.1962 [/] IG „Leben“ [/] Abt. XII: erfaßt für KD Leipzig-Stadt [/] Sch. erzählte im<br />

kleinen Kreis, daß er zur Maidemonstration in Leipzig war. Er sei am 1. Mai durch die Sicherheitsorgane<br />

beobachtet wurden, habe diese jedoch abhängen können. Dazu ist einzuschätzen, daß aufgr<strong>und</strong> der<br />

Darstellung des Sch. (Personen <strong>und</strong> Fahrzeug) keine Dekonspiration der tatsächlichen Beobachtung durch<br />

die KD Leipzig-Stadt erfolgte.<br />

Zur sog. „Menschenrechtsgruppe“ des Pfarrers Wonneberger, Christoph [...] wurde bekannt, daß es 3 neue<br />

Mitglieder gibt. Einer der Neuen war Leistungssportler <strong>und</strong> ist jetzt bei der DHfK [Deutschen Hochschule<br />

für Körperkultur] Leipzig beschäftigt202 , <strong>und</strong> eine weitere Person kommt von einem Jugendklubhaus.<br />

Diesen Personen würde in der Gruppe mißtraut. Sch.[wabe]: „ich weiß auch nicht, wem man vertrauen<br />

kann.“ Am 04.05.88 findet in der Wohnung des Sch. seine Geburtstagsfeier statt, zu der Personen aus dem<br />

Umfeld des Sch. eingeladen wurden.<br />

[... geschwärzt] R. äußerte, daß wenn sein Bekannter [... geschwärzt] nicht zum „Friedensgebet“ kommt,<br />

er vermutlich wegen demonstrativen Aktionen zum 1. Mai in Haft sei. (siehe Operativinformation<br />

89/88 203 der KD Leipzig-Stadt). Von R. gingen keine negativen Aktivitäten zum 1. Mai aus.<br />

Weiter identifiziert wurden: [/] Superintendent Magirius, Friedrich [/] [...] M. äußerte am Ende des<br />

„Friedensgebetes“, „Wenigstens die Kollekte stimmt“. Damit bezog er sich auf die große Teilnehmerzahl<br />

<strong>und</strong> das unkonstruktive Ablaufen der Veranstaltung. [ ... Es folgt eine Auflistung von weiteren 11 Namen<br />

von Teilnehmern des FGes]<br />

In einem Gespräch mit Personen, welche im sog. „Offenen Keller“ der Stephanuskirche verkehren, wurde<br />

einem IM der Hinweis bekannt, daß die Gestaltung des nächsten „Friedensgebetes“ am 09. 05. 88 durch<br />

den „Offenen Kreis“ der Stephanuskirche, namentlich durch den Diakon [... geschwärzt], [... geschwärzt]<br />

<strong>und</strong> eine männliche Person mit dem Spitznamen „Sohni“ erfolgen soll.<br />

Bei Auswertung der Hinweise auf interne Gespräche ist auf unbedingten Quellenschutz zu achten.<br />

Durch die KD Leipzig-Stadt erfolgt weiterer IM-Einsatz zur Kontrolle der sog. „Friedensgebete“ <strong>und</strong><br />

Aufklärung der Pläne <strong>und</strong> Absichten des dort beteiligten Personenkreises. Über weitere identifizierte<br />

Teilnehmer erfolgt eine Ergänzungsinformation.<br />

52 Stasi-Information<br />

Information Nr. 232/88 des Ministers für Staatssicherheit an [handschriftlich] Jarowinsky, Krenz, Bellmann,<br />

Gysi, Mittig <strong>und</strong> an die Leiter der HA XX, der BV Leipzig <strong>und</strong> der HA XX/4 <strong>und</strong> Ber. 1, über das<br />

Friedensgebet am 02.05.1988 in Leipzig. Die Information trägt den Aufdruck: „Streng geheim! Um Rückgabe<br />

wird gebeten!“ Vorlage war das Exemplar Nr. 10 (BStU ZAIG 3660, 9-15).<br />

Information über [/] beachtenswerte Aspekte im Zusammenhang mit einer kirchlichen Veranstaltung am<br />

2. Mai 1988 in der Nikolaikirche in Leipzig<br />

Am 2. Mai 1988 fand in der Zeit von 17.00 bis 17.30 Uhr in der Leipziger Nikolaikirche ein erneutes, von<br />

Mitgliedern der „Regionalgruppe“ Leipzig des „Arbeitskreises Solidarische Kirche“ - nach vorliegenden<br />

Hinweisen alles Studenten des Theologischen Seminars Leipzig - organisiertes sogenanntes montägliches<br />

Friedensgebet statt. [/] Unter den ca. 600 Teilnehmern dieser Veranstaltung wurden Mitglieder<br />

verschiedener kirchlicher Basisgruppen sowie zahlreiche Übersiedlungsersuchende festgestellt. [/]<br />

Während der Veranstaltung informierte ein Teilnehmer unter Bezugnahme auf ein Gespräch mit dem<br />

Chefredakteur der Kirchenzeitung der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg „Die Kirche“ über<br />

Schwierigkeiten bei der Herausgabe kirchlicher Presseerzeugnisse. So seien Veröffentlichungen zu einem<br />

Interview mit Bischof Forck, zur Lage der Kirchen in der Ungarischen Volksrepublik, zu aktuellen<br />

Problemen in der SR Rumänien, zur Person des Schriftstellers Stefan Heym usw. angeblich staatlicherseits<br />

untersagt worden. Dieser staatliche Einspruch sei mit der Begründung erfolgt, daß die kirchliche Presse<br />

202 Es handelt sich dabei um B. Becker (IM „Fuchs“).<br />

203 Diese Information ist den Herausgebern nicht bekannt.<br />

126


sogenannte Tabuthemen berühre, dazu zähle auch die Wehrdienst-, Menschenrechts- <strong>und</strong><br />

Ökologieproblematik sowie das Problem der Kernenergienutzung in der DDR. In diesem Zusammenhang<br />

wurde der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß die Kirchenleitungen der evangelischen Kirchen in der DDR<br />

stark genug seien, „endlich wieder den Inhalt der Kirchenzeitungen selbst zu bestimmen“. In<br />

vordergründig erkennbarer Absicht, zu möglichen Eingaben zu inspirieren, wurde den Anwesenden die<br />

Adresse des Presseamtes beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR bekanntgegeben. [/] Eine<br />

weibliche Person artikulierte persönliche Unzufriedenheit, Zweifel <strong>und</strong> Problemfelder „angesichts der<br />

Folgen von Tschernobyl, Umweltverschmutzung <strong>und</strong> Quälereien des täglichen Lebens“ <strong>und</strong> unterstellte<br />

der DDR eine „zensierte Kultur“. Nach ihrer Auffassung ergäbe sich daraus zwangsläufig Zynismus <strong>und</strong><br />

Resignation. Ein Verlassen der DDR stelle jedoch keine Lösung der von ihr genannten Problem- <strong>und</strong><br />

Konfliktfelder dar.<br />

In einer „Fürbitte“ äußerte man sich „bestürzt“ über die „Mächtigen“ im Staat, die angeblich ohne<br />

Bedenken ihre Macht über Menschen ausüben würden. In die „Fürbitte“ wurden Wehrdienstleistende <strong>und</strong><br />

Wehrdienstverweigerer, Inhaftierte (die nur wegen der Unfähigkeit des Staates zum Dialog strafrechtliche<br />

Konsequenzen erleiden müßten), Verwandte von Inhaftierten (die Repressalien ausgesetzt seien) sowie<br />

Übersiedlungsersuchende (die alltäglichen Erniedrigungen ausgesetzt seien, ohne sich dagegen wehren zu<br />

können) einbezogen.<br />

Im Anschluß an das sogenannte Friedensgebet wurden mit einer geringen Anzahl von Personen in<br />

mehreren Gruppen „Nachgespräche“ geführt. Übersiedlungsersuchende äußerten dabei ihre<br />

Unzufriedenheit mit der Veranstaltung, während der sie ein „deutliches kirchliches Engagement“ für ihr<br />

Anliegen erwartet hätten. Durch anwesende kirchliche Amtsträger wurde versucht, mäßigend auf diese<br />

Personen einzuwirken.<br />

Im Zeitraum des „Friedensgebetes“ wurden durch ein Mitglied der „Regionalgruppe“ Leipzig des<br />

„Arbeitskreises Solidarische Kirche“ Druckmaterialien negativen Inhalts verkauft, darunter auch eine<br />

sogenannte Erklärung des „Arbeitskreises Solidarische Kirche - Regionalgrupppe Thüringen“ zur<br />

Ausreiseproblematik. (Anlage)<br />

Das sogenannte Friedensgebet <strong>und</strong> die „Nachgespräche“ verliefen ohne Störung der öffentlichen Ordnung<br />

<strong>und</strong> Sicherheit <strong>und</strong> hatten außerhalb der Kirche keine Öffentlichkeitswirksamkeit.<br />

In der Vergangenheit wurden wegen der in regelmäßigen Abständen stattfindenden Veranstaltungen mit<br />

den kirchlichen Amtsträgern Gespräche zur Unterbindung negativer Erscheinungen geführt. [/] In<br />

Auswertung dieser Veranstaltungen wurden in Abstimmung mit der Bezirksleitung Leipzig der SED <strong>und</strong><br />

den zuständigen staatlichen Organen differenzierte Maßnahmen gegenüber kirchenleitenden Amtsträgern<br />

eingeleitet, mit dem Ziel der Unterbindung des feindlich-negativen Charakters der wöchentlich<br />

stattfindenden „Friedensgebete“. [/] Der zuständige Stellvertreter Inneres des Bezirkes Dresden führte<br />

außerdem mit dem amtierenden Präsidenten der Landeskirche Sachsens, Oberkirchenrat Schlichter, ein<br />

Gespräch <strong>und</strong> forderte, die Interessen des Staates energischer durchzusetzen.<br />

Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt!<br />

Anlage zur Information 232/88<br />

Abschrift Jena, März 1988<br />

Erklärung [/] des Arbeitskreises Solidarische Kirche - Regionalgruppe Thüringen - zur<br />

Ausreiseproblematik<br />

1. Die Zahl der Ausreisewilligen DDR-Bürger nimmt seit einigen Jahren ständig zu <strong>und</strong> hat inzwischen<br />

ein drastisches Ausmaß erreicht. Mit der Zunahme der Anträge <strong>und</strong> vereinzelter spektakulärer<br />

Handlungen <strong>und</strong> Aktionen Ausreisewilliger zur Forcierung ihrer Anträge geht eine wachsende<br />

Diffamierungs- <strong>und</strong> Kriminalisierungskampagne des Staates einher, der sich auf ihre Weise leider<br />

inzwischen auch zahlreiche kirchliche <strong>und</strong> unabhängige Gruppen in Form von Ausgrenzungs- <strong>und</strong><br />

Verurteilungserklärungen angeschlossen haben. Die von allen Beteiligten häufig sehr emotional<br />

geführte Debatte macht deutlich, daß jeder von uns allen auf irgendeine Weise persönlich von diesem<br />

Problem betroffen ist.<br />

2. Die große Zahl der Anträge <strong>und</strong> häufig nicht weniger ihre Begründungen machen deutlich, daß es hier<br />

nicht mehr nur um Einzelschicksale oder Privatprobleme geht. Deshalb halten wir die Ausgrenzung<br />

127


von Ausreiseantragstellern aus der Gesellschaft <strong>und</strong> ihrem Dialogmechanismus nicht für falsch,<br />

sondern für schädlich. Sie verbietet sich schon insofern, als Ausreisewillige, solange sie hier leben -<br />

<strong>und</strong> in aller Regel auch arbeiten - sowie die DDR-Staatsbürgerschaft besitzen, auch im vollen Besitz<br />

aller staatsbürgerlichen Rechte sind <strong>und</strong> zudem einen spürbaren Anteil der Gesellschaft darstellen. Daß<br />

die Ausreiseanträge häufig auch Ausdruck individueller Krisen sind, ändert nichts daran, daß [in] ihnen<br />

letztlich nur das Symptom einer gesellschaftlichen Krise zum Ausdruck kommt, für die die<br />

Antragsteller von einigen nun zum Sündenbock der Nation gemacht werden sollen. Wir halten es für<br />

falsch, auf diese Weise eigene Frustrationen <strong>und</strong> Ängste sowie gr<strong>und</strong>sätzliche gesellschaftliche<br />

Probleme zu verdrängen oder zu sublimieren.<br />

3. Wir verstehen die große Zahl der Ausreiseanträge auch als einen bewußten oder unbewußten Hilferuf<br />

aus einer für viele offenbar ausweglos erscheinenden Situation frustrierender Unmündigkeit innerhalb<br />

unserer Gesellschaft. Auch solche Anträge, die auf vordergründigen (Konsum-)motiven beruhen,<br />

weisen letztlich auf das hin, das im Bereich der menschlichen Werte <strong>und</strong> schöpferischen<br />

Entfaltungsmöglichkeiten im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeit besteht. Die Konsumorientierung<br />

vieler DDR-Bürger (auch Nichtantragsteller) ist eine Form der Kompensation unbefriedigt bleibender<br />

individueller <strong>und</strong> gesellschaftlicher Gr<strong>und</strong>bedürfnisse, deren Erfüllung das eigentliche Anliegen der<br />

sozialistischen Revolution ist. Letztlich ist diese Konsumhaltung Ausdruck menschlicher Entfremdung<br />

in vielen Arbeits- <strong>und</strong> Lebensbereichen unserer Gesellschaft.<br />

4. Wir halten die entstandene Gefahr eines neuen gesellschaftlichen Feindbildes dadurch für abwendbar,<br />

daß alle Beteiligten die Chance der gegenwärtigen Situation erkennen, die darin besteht, die sich auch<br />

in der Ausreiseproblematik ausdrückende gesellschaftliche Krise ernst zu nehmen <strong>und</strong> ihre Ursachen -<br />

gerade auch im Dialog mir den Ausreisewiligen - aufzudecken <strong>und</strong> zu beseitigen. Wir haben die<br />

Erfahrungen gemacht, daß nicht selten gerade Ausreisewillige zu diesem Dialog besonders bereit sind.<br />

Lösungen können dabei nur als Ergebnis eines langwierigen Prozesses von Kompromissen <strong>und</strong> kleinen<br />

Schritten erwartet werden. Für diesen Prozeß sind Ausdauer, Phantasie <strong>und</strong> Verantwortungsbewußtsein<br />

nötig.<br />

Auch wir selbst müssen uns immer wieder fragen lassen, zu welchen konkreten Schritten wir bereit<br />

sind <strong>und</strong> wieviel Phantasie wir wirklich aufbringen. Dabei gehen wir davon aus, daß schon das<br />

Zustandekommen eines echten gesellschaftlichen Dialogs neue Hoffnung bei manchen Antragstellern<br />

für ein Leben hier in unserem Land wecken wird, den Unentschiedenen Mut zum Hierbleiben macht<br />

<strong>und</strong> die Arbeit derer, die sich bewußt für die Auseinandersetzung mit den Gr<strong>und</strong>problemen unserer<br />

Gesellschaft entschieden haben, stärkt.<br />

5. Darum halten wir es als verkehrt, unklug <strong>und</strong> schädlich, Ausreisewillige aus der Gesellschaft<br />

auszugrenzen oder an ihren Rand abzudrängen. Vielmehr müssen auch sie in einem dringend nötigen<br />

gesellschaftlichen Dialog über die Ursachen der Krise einbezogen werden.<br />

- Auch für die Öffentlichkeit bestimmt -<br />

53 Samisdat-Veröffentlichung<br />

Leserbriefe zu den Friedensgebeten aus dem Mitteilungsblatt der Leipziger Basisgruppen „Kontakte“ (Mai<br />

1988) (ABL H 2).<br />

Leserbrief von Christoph Motzer<br />

Text: Natürlich freue ich mich, wenn ich die Besucher des Friedensgebetes immer noch nicht mehr in<br />

Zehnern, sondern in H<strong>und</strong>erten messen kann. Scheint es nur so, oder sind wir, die wir in Leipzig bzw. in<br />

der DDR bleiben wollen, in der Minderheit? Leider reichten am Montag fast beide Hände, um die Leute<br />

zu zählen, welche keinen Antrag gestellt hatten. Mahnung sollte dieses Mißverhältnis für alle sein, denen<br />

eine Weiterarbeit der Basisgruppen am Herzen liegt.<br />

Es liegt an uns, das Friedensgebet wieder zum Treff engagierter Nichtantragsteller zu machen!<br />

Die aktuelle Problematik der Ausreisewilligen darf nicht die Arbeit vorhandener Gruppen ins Abseits<br />

drängen. Auch wenn ein zentraler Treffpunkt bzw. eine Kontaktgruppe zum Reizwort für manche<br />

Amtsträger in Kirche <strong>und</strong> Staat geworden ist: Wir benötigen <strong>und</strong> fordern ein Kommunikationszentrum für<br />

128


Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung.<br />

Christoph Motzer [/] AG Menschenrechte<br />

Leserbrief von Gabriele Heide<br />

Die vielen Menschen mit Ausreiseantrag sind ein deutliches Zeichen für unfriedliche Zustände in unserem<br />

Land. Sowohl die Gründe für einen Ausreiseantrag als auch die Probleme, denen Antragsteller ausgesetzt<br />

sind, gehören deshalb schon in ein Friedensgebet, also auch am Montag in der Nikolaikirche. Die Kirche<br />

<strong>und</strong> die Basisgruppen sind sicher nicht die Verursacher dieser unfriedlichen Zustände.<br />

Aber mit unserer jahrelangen Verdrängung dieser Problematik haben wir wohl zur Verschärfung<br />

beigetragen. Also ist die Toleranz <strong>und</strong> Offenheit am Platz, wie seit Januar die Praxis jeden Montag ist.<br />

Aber Offenheit <strong>und</strong> Toleranz darf keine einseitige Sache sein. Wenn z.B. die Gruppe „Hoffnung<br />

Nikaragua“ ein Gebet für Nikaragua hält, <strong>und</strong> 90% der Besucher sind deutlich desinteressiert. Oder bei<br />

anderen Gebeten, wenn bestimmte Reizworte fallen <strong>und</strong> dann geklatscht wird, egal, ob es sich um eine<br />

Ansage, einen Teil der Verkündigung oder ein Gebet handelt. Dann frage ich mich schon, inwieweit die<br />

Antragsteller Offenheit auch über ihre eigenen Probleme hinaus <strong>und</strong> Toleranz gegenüber den Gruppen, die<br />

ihre speziellen Themen bringen wollen, geübt wird. In den Zeiten, wo wir mit 20 Leuten im Kreis saßen,<br />

gestalteten die „Frauen für den Frieden“ regelmäßig Montags-Friedensgebete. Zur Zeit fällt es uns schwer,<br />

ein Gebet zu übernehmen, weil wir die zahlreichen Besucher kaum als Gegenüber empfinden können.<br />

Sollen wir uns auf sie einstellen, damit wir sie erreichen? Aber engen wir uns damit nicht ein? Besteht<br />

nicht die Gefahr, daß andere wichtige Dinge auf der Strecke bleiben? Sollen wir das Risiko eingehen, an<br />

90% der Besucher vorbeizureden? Wenn die Situation so bleibt, müssen wir Basisgruppen bis spätestens<br />

zur Friedensdekade diese Frage klären.<br />

Gabriele Heide [/] Frauen für den Frieden<br />

Anmerkung der Redaktion: Kontakte liegt daran, daß über alles, was mit dem Friedensgebet<br />

zusammenhängt, weniger gemunkelt, mehr offen diskutiert wird. Die beiden Beiträge könnten hier einen<br />

Meinungsaustausch in Gang setzen. Schreibt uns!<br />

54 Innerkirchliche Mitteilung<br />

Brief eines Ausreiseantragstellers vom 23.05.1988 an Pf. Führer. Vorlage war eine Xerokopie des<br />

maschinengeschriebenen Briefes mit handschriftlichen Vermerken von Pf. Führer. Darunter u.a.: „verlesen in<br />

[AK] ‘Hoffnung’, 20.VI.88“ <strong>und</strong> „21. März 1989 Bischof gelesen!“ (ABL H 1).<br />

Sehr geehrter Herr Pfarrer Führer!<br />

Diesen Brief schreibe ich Ihnen, weil ich ein wenig offener <strong>und</strong> feiger Mensch bin <strong>und</strong> weil der Mut fehlt,<br />

meine Meinung zur rechten Zeit am rechten Ort zu äußern. Ich habe dies nie fertiggebracht <strong>und</strong> bin auch<br />

jetzt nicht dazu in der Lage. Dieser sicher nicht alltägliche Brief soll ein Geständnis sein, eine Beichte<br />

gewissermaßen. Aber nicht vor Gott oder vor seinen Dienern, sondern vor einer Öffentlichkeit besonderer<br />

Art, vor einer einmaligen Zweckgemeinde, die sich allmontäglich in der Nikolaikirche zum Friedensgebet<br />

versammelt. Vor dieser Gemeinde möchte ich bekennen, <strong>und</strong> bitte Sie daher auch, diesen Brief zur<br />

Verlesung zu bringen 204 . Ich bin mir bewußt, daß viele Gründe gegen eine solche Veröffentlichung<br />

sprechen, <strong>und</strong> habe Verständnis, wenn Sie meinem Wunsch nicht nachkommen können. Ich bin mir aber<br />

auch sicher, daß all das einmal an- <strong>und</strong> ausgesprochen werden muß, <strong>und</strong> ich bin mir noch sicherer, daß ich<br />

hier unbewußt für viele schreibe <strong>und</strong> daß sich viele dieser Montagsgemeinde in meinen Worten<br />

wiederfinden werden.<br />

Gestatten Sie deshalb bitte, im Weiteren von „wir“ <strong>und</strong> „uns“ zu sprechen. Diejenigen aber, die sich von<br />

meinen Worten nicht betroffen fühlen müssen, sie können glücklich sein. Es ist wahr, wir sind keine oder<br />

nur halbherzige Christen, <strong>und</strong> wir haben uns um die christliche Gemeinde in der Vergangenheit wenig<br />

gekümmert, <strong>und</strong> wir tun dies auch in der Gegenwart nicht viel mehr. Wir können auch nicht in Anspruch<br />

nehmen, überzeugte Atheisten genannt zu werden. Für Probleme dieser Art hatten wir in der<br />

204 s. Dok. 68<br />

129


Vergangenheit wenig Zeit übrig. Wir haben uns nach den „Berliner Ereignissen“ <strong>und</strong> der unglücklichen<br />

Rolle, die die Kirche dabei spielte, in das Leipziger Friedensgebet sinngemäß „eingeschlichen“, in der<br />

Hoffnung, von gleichen oder ähnlichen Ereignissen mit aus diesem Land herausgespült zu werden. Wir<br />

sind aber Feiglinge, kleinbürgerliche Opportunisten, die selbst in der letzten Phase der<br />

Auseinandersetzung mit diesem Staat vorsichtig sind. Wir wollen nichts riskieren, wir wollen nur in der<br />

Nähe sein, wenn durch andere etwas passiert.<br />

Und so sitzen wir jeden Montag in der Nikolaikirche <strong>und</strong> hoffen auf die Anderen [sic!], die „Hierbleiber“,<br />

daß diese mit Staat <strong>und</strong> Gesellschaft ins Gericht gehen, beklatschen kindisch jede Äußerung, die uns<br />

„gewagt“ erscheint <strong>und</strong> kommen uns dabei vor wie Verschwörer. Wir staunen über Wortgewalt <strong>und</strong><br />

kritische Schärfe, belächeln stumm jene Träumer, die sich um Ausgewogenheit bemühen, <strong>und</strong> bedauern<br />

die, die glauben, in diesem materiell <strong>und</strong> staatsmoralisch 205 verwahrlosten Land noch etwas ändern zu<br />

können <strong>und</strong> denken stets nur das Eine: fort, fort, fort ...<br />

Andererseits fehlt uns jedes Verständnis für Ausgewogenheit, für Nikaragua oder Südafrika, für die Armut<br />

in den USA oder für die Probleme der Arbeitslosen in der BRD. Wir verlangen Abrechnung mit der DDR,<br />

aber bitte durch andere. Das „Friedensgebet“ soll unseren persönlichen Frieden sichern, den Frieden<br />

letzter Jahre <strong>und</strong> Tage in der DDR. Allein der in unserem Land um sich greifende Mißbrauch mit diesem<br />

Wort „Frieden“, dieses perverse Schindluder, das hiermit offiziell getrieben wird, kann uns entschuldigen,<br />

kann uns entlasten, wenn auch wir unter diesem Segel fahren.<br />

Aber wir sind Feiglinge, Anpasser in Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart. Wir engagieren uns nicht ohne<br />

Abschätzung des Risikos. Wir haben unser Leben in der DDR bisher zu unserem eigenen Nutzen<br />

optimiert <strong>und</strong> wollen auch dabei bleiben. Wir haben uns dieser schnuddeligen Jugendweihe ohne Murren<br />

unterzogen, wir haben den Platz in der Leitung stets angenommen, unabhängig von Überzeugungen, wir<br />

haben Fähnchen geschwenkt, wann immer es verlangt wurde, wir haben rote Lieder gesungen, kassiert<br />

<strong>und</strong> Wandzeitungen gestaltet. Wir haben geschossen <strong>und</strong> gelogen, gelogen vom Anfang bis zum Ende <strong>und</strong><br />

ohne die geringsten Skrupel. Wir haben die Notwendigkeit dieses absurden Bauwerks in Berlin<br />

lehrbuchmäßig begründet <strong>und</strong> kluge Arbeiten über den Sieg des Sozialismus <strong>und</strong> den Untergang des<br />

Kapitalismus geschrieben. Wir haben, wie alle, unsere wahre Gesinnung verheimlicht <strong>und</strong> mit der Lüge<br />

nicht einmal in der eigenen Familie halt gemacht. Wir haben aber nicht versucht, risikoreich über die<br />

Mauer zu klettern oder durch die Elbe zu schwimmen. Wir haben nur heimlich die Faust geballt <strong>und</strong> auf<br />

dem Klosett leise geschimpft. Wir haben uns nicht gegen den Wahnsinn der Militarisierung gewandt, wir<br />

haben dem primitiven Konsumdenken nicht widerstanden, wir haben auch nicht für einen aussichtslosen<br />

Umweltschutz gekämpft. Der Sozialismus hörte an der Wohnungstür auf, die Auseinandersetzung damit<br />

fing gar nicht erst an. Und letztlich sind wir mitverantwortlich für Wahlergebnisse, die mit 99 vor dem<br />

Komma beginnen, <strong>und</strong> wir haben dazu nicht einmal Stift <strong>und</strong> Kabine benötigt. Wir haben einer Partei die<br />

Treue geschworen <strong>und</strong> unsere Westverwandtschaft verleugnet, <strong>und</strong> wenn hier nicht mehr aufzuzählen ist,<br />

so wurde eben nicht mehr von uns verlangt.<br />

Aber wir haben es bis zum Golf gebracht, wir haben zwei Farbfernseher <strong>und</strong> waren mehrfach in Ungarn<br />

<strong>und</strong> Bulgarien. Wir haben eine Datsche, einen Arbeitsplatz auf Rentnerbasis <strong>und</strong> ein hübsches Konto.<br />

Aber wir sind nicht dem Nützlichkeitsverein beigetreten, denn wir wollten optimieren <strong>und</strong> nicht<br />

maximieren! Und nun sitzen wir hier unter dem Kreuz, erneut auf dem Wege zu einem Optimum. Doch<br />

wir haben uns verrechnet. Uns kommen Zweifel. Wird unser Opportunismus, unser Zögern bestraft?<br />

Können wir das sinkende Schiff nicht mehr rechtzeitig verlassen? Haben sich alle gegen uns<br />

verschworen? Sind wir verloren? Was können wir tun? Wir, die Macher, die Musterbeispiele der<br />

Anpassung des Individuums an die gesellschaftlichen Verhältnisse, sind am Ende. Es gibt nichts mehr zu<br />

optimieren. Wir sind ganz klein <strong>und</strong> kommen in die Kirche. Wir, die großen Opportunisten, die großen<br />

Kleinbürger, wir brauchen uns nicht mehr anzupassen. Unser Opportunismus ist nicht mehr gefragt. Wir<br />

brauchen einfach nur Hilfe. Wir sind nun bereit, sogar über Jesus Christus <strong>und</strong> dessen Art zu helfen<br />

nachzudenken. Wir wollen uns trösten lassen.<br />

Sehr geehrter Herr Pfarrer Führer!<br />

Wir brauchen diesen Montag, auch wenn diese Andacht <strong>und</strong> die Kirche solche Art von Gästen eigentlich<br />

205 handschriftlich aus „moralisch“ verbessert.<br />

130


nicht verdient haben. Wir brauchen die wenigen Geistlichen, die ohne Rücksicht auf religiöse Logik <strong>und</strong><br />

ohne Rücksicht auf kirchliche Gepflogenheiten zu uns stehen. Wir möchten bei Ihnen weiter Gastrecht<br />

genießen <strong>und</strong> sind Ihnen dafür sehr dankbar. Verzeihen sie uns, aber wir sind so geworden, ohne zu<br />

wissen wie!<br />

[gez.] Ihr [die folgende Abkürzung wurde durch Überstreichen vom Empfänger unleserlich gemacht]<br />

55 Samisdat-Veröffentlichung<br />

Leserbriefe zu den Friedensgebete aus „Kontakte“ Juni 1988 unter der Überschrift „Friedensgebet in der<br />

Diskussion“ (ABL Z 2).<br />

Leserbrief von Klaus Wirth<br />

In Kontakte 5/88 sprachen Sie davon, daß das montägliche Friedensgebet wieder zum Treff engagierter<br />

Nichtantragsteller werden muß 206 . Dafür habe ich volles Verständnis, noch dazu, da ich die Arbeit der<br />

Basisgruppen für die Kirche <strong>und</strong> dieses Land wichtig finde. Trotzdem interessiert <strong>und</strong> beschäftigt mich als<br />

Ausreise-Antragsteller auch die Frage, wo in der Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft für diese Leute Raum ist.<br />

Gesucht haben wir ihn uns in der Nikolaikirche. Zwangsläufig trat damit das Anliegen des<br />

Friedensgebetes in den Hintergr<strong>und</strong>. Da nun die Verhältnisse so sind, könnte ich mir als Lösung<br />

vorstellen, daß offiziell an einem Tag in der Woche oder aller 14 Tage ein Gottesdienst oder eine Andacht<br />

zielgerichtet für die Ausreiser gehalten wird. Damit wäre der Montag wieder für ihr Anliegen frei.<br />

Darüber hinaus bestünde die Möglichkeit der zielgerichteten Missionierung der nichtchristlichen<br />

Antragsteller.<br />

Klaus Wirth<br />

Leserbrief von Lutz Hempel<br />

Das Friedensgebet in der Nikolaikirche besuche ich regelmäßig seit Januar 1988. Die große Zahl der<br />

Ausreisewilligen in unserem Land <strong>und</strong> in unserer Stadt deutet auf ein negatives Erscheinungsbild unserer<br />

Gesellschaft hin. Es bedeutet Resignation vieler Leute vor der Gegenwart, aber vor allem vor der Zukunft.<br />

In verschiedenen Gesprächen kam zum Ausdruck, daß es weniger um materielle Werte geht als vielmehr<br />

um die Öffentlichmachung der eigenen Meinung. Das ist leider im Moment nur im Rahmen der Kirche<br />

möglich. Das Desinteresse zum Beispiel beim Thema Nikaragua kann man meiner Meinung nach nur<br />

indirekt den Besuchern des Friedensgebets anlasten. Es sind viele Worte <strong>und</strong> Sätze gerade zu diesem<br />

Thema gebraucht <strong>und</strong> verbraucht worden. Der Schwerpunkt der Themen im Friedensgebet sollte im<br />

eigenen Land liegen. Hier liegt das eigentliche Defizit der Information. Ich gehöre nicht zu den<br />

Ausreisewilligen, da ich der Meinung bin, daß trotz aller Rückschläge bis jetzt kleine positive<br />

Ansatzpunkte vorhanden sind, so auch das Friedensgebet in seiner jetzigen Form. Es sollte weiterhin auf<br />

Probleme wie Umwelt, Gerechtigkeit, Friedensarbeit <strong>und</strong> Menschenrechte hingewiesen werden, vor allem<br />

in unserem Land. Die Ausreisewilligen sollten natürlich betreut, aber nicht zur Hauptsache gemacht<br />

werden.<br />

Lutz Hempel<br />

56 Innerkirchliche Information<br />

Stellungnahme der Arbeitsgruppe „Frieden“ (Leipzig-Gohlis) an den Kirchenvorstand von St. Nikolai <strong>und</strong><br />

den Bezirkssynodalausschuß vom 03.06.1988 207 . Die Stellungnahme wurde hektographiert (Lizenznummer:<br />

8511277 Frg. 20/6/88/35) (ABL H 1).<br />

206 s. Dok. 53<br />

207 Der BSA behandelte diese Erklärung am 17.06.1988 in seiner Sitzung. Im Protokoll heißt es: „Friedenskreis sieht<br />

sich nicht in der Lage Gebet durchzuführen, da Thema nicht Interessenlage der Besucher trifft [...]. Gruppe<br />

Gerechtigkeit führt Gebet am 20.6. durch - auf Pfarrerbegleitung wird ausdrücklich hingewiesen.“ (ABL H 2)<br />

131


Liebe Schwestern <strong>und</strong> Brüder!<br />

Wir wollten ursprünglich am 20.06.88 das Friedensgebet in der St. Nikolai-Kirche übernehmen. Das<br />

Thema sollte unser am Konsum orientierter Lebensstil sein. Nach einiger Vorarbeit kamen wir zu dem<br />

Entschluß, daß in der gegenwärtigen Situation ein solches Friedensgebet nicht sinnvoll ist, da für dieses<br />

Thema kaum ein entsprechendes Interesse sein dürfte. Wir entschlossen uns, das Problem der Ausreise<br />

<strong>und</strong> das Zusammenleben von Antragstellern <strong>und</strong> denjenigen, die nicht die Ausreise beantragt haben, zu<br />

thematisieren. Das schien uns wichtig zu sein, weil wir den Eindruck haben, daß es den meisten<br />

Besuchern um die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR geht. Unsere Beobachtungen stützen<br />

sich auf die Gespräche vor <strong>und</strong> nach dem Gebet bzw. auf die Aussprache in den Gruppen, die die Themen<br />

des Friedensgebetes nicht wieder aufnahmen. In unserer Auffassung wurden wir durch zwei Stimmen in<br />

„Kontakte“ 208 bestärkt.<br />

Wir sind der Meinung, daß ein an Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit orientiertes Gebet Menschen zum<br />

Friedensdienst <strong>und</strong> zur Friedenshoffnung in unserer Stadt, in unserer Gesellschaft <strong>und</strong> in unserer Zeit<br />

führen soll. Dieses eigentliche Anliegen scheint uns verdrängt zu werden. In der Auffassung wurden wir<br />

z.B. auch durch den unangemessenen Besuch des Tages für den Konziliaren Prozeß am 28.05.88 bestärkt.<br />

Uns geht es um das Gespräch mit den Besuchern. Deshalb legen wir in der Anlage eine kurze Erklärung<br />

bei, die nach unseren Vorstellungen statt des Friedensgebetes vorgelesen werden könnte. [/] Wir bitten um<br />

Verständnis, daß wir aus obigen Gründen das Friedengebet zu diesem Zeitpunkt nicht durchführen<br />

können.<br />

Erklärung: Wir hatten uns als Friedensgruppe vorgenommen, das heutige Gebet zu gestalten. Dazu<br />

wollten wir den mit unserem konsumorientierten Lebensstil verb<strong>und</strong>enen Fleischverbrauch hinterfragen<br />

<strong>und</strong> auf unsere damit verb<strong>und</strong>ene Verantwortung gegenüber der Schöpfung hinweisen. Doch nach einigen<br />

miterlebten Gebeten <strong>und</strong> dem Erscheinen anderer Stellungnahmen wurde uns klar, daß unser Empfinden -<br />

nämlich die Verbindung des Friedensgebetes mit einer Treff- <strong>und</strong> Gesprächsmöglichkeit für Antragsteller<br />

- kein Einzeleindruck war. Da wir die Notwendigkeit nicht übersehen, aber auch nicht das Friedensgebet<br />

zu einem obligatorischen Rahmenprogramm degradieren wollen, fordern wir von den zuständigen<br />

kirchlichen Gremien die Schaffung von geeigneten Gelegenheiten für beide Anliegen. [/] Deshalb sehen<br />

wir von der Gestaltung des heutigen Friedensgebetes ab.<br />

Friedenskreis Gohlis<br />

57 Stasi-Notizen<br />

Handschriftliche Notizen des Leiters der BV Leipzig des MfS (Hummitzsch), die in Vorbereitung zur<br />

Bezirkseinsatzleitungssitzung am 27.06.1988 verfaßt wurden (BStU Leipzig AB 3844).<br />

Lage ÜE [Übersiedlungsersuchende] Zur BEL-Sitzung 209 am 27.6.89<br />

1988 verstärkte Aktivitäten fdl.-neg. Kräfte in Zusammenschlüssen im kirchlichen Freiraum u. unter ÜE<br />

− Ende Jan. organisiertes Vorgehen gegen staatl. Maßnahmen im Zusammenhang d. Provokation zur<br />

L.L.K<strong>und</strong>gebung 210 durch Kräfte des PUT bes. ÜE<br />

− gezielte Provokationen [/] gegen [/] LFM (Schweigemarsch) [/] 1. Mai<br />

− Sympathiebek<strong>und</strong>ung fdl. neg. Kräfte im Zusammenhang Zions-Kirche Umweltbibliothek<br />

− Konstituierung der KO [Koordinierungs]-Gruppe „Friedensgebet f. die Inhaftierten“ [ / Pfeil nach<br />

unten / ] Organisierung Friedensgebete ESG-Räume [/] Nico-Kirche [/] diente [/] zur<br />

Zusammenführung / Zusammenschluß [/] ÜE - PUT [/] bis heute<br />

− Austausch von [/] Informationen [/] Erfahrungen [/] Verhaltensweisen [/ Pfeil nach unten /]<br />

„Rechtsberatung f. ÜE“<br />

− Ziel: Ausübung [/] von [/] Druck [/] auf staatl. Organe [/] massiv, provokativ [/] (z.B. 100 Schreiben [/]<br />

208 „Kontakte“ Juni 1988 (s. Dok. 55)<br />

209 s. Anhang, S. 357<br />

210 Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 17.01.1988<br />

132


gleicher Text [/] von ÜE an Rechts [/] Verfass.-Ausschuß der VK [Volkskammer] 211<br />

- nach wie vor montägl. Friedensgebete [/] Treffpunkt [/] Kommunikationsmöglichkeit f. ÜE<br />

- Zunahme an Vorsprachen bei [/] Abt. IA 212 (um 40 %) [/ Pfeil nach unten /] starker Rückgang<br />

58 Stasi-Notizen<br />

Auszug aus Aufzeichnung des Oberleutnants des MfS Rosentreter (AGL der BV Leipzig) im Arbeitsbuch zu<br />

einer „Koordinierungsbesprechung beim 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung“ am 29.06.1988 (BStU Leipzig<br />

AB 3896).<br />

1. Auswertung der BEL-Sitzung213 27.6.88 [...]<br />

Gen. Schumann [...] keine Veranlassung, die Fragen des Feindbildes weiter zu diskutieren [...]<br />

Gen. Reitmann<br />

in 2 Stadtbezirken gegenwärtig mehr Antragsteller als 1980 im gesamten Bezirk [Leipzig]<br />

[...]<br />

− Kontakte zu feindl. Organisationen <strong>und</strong> Personen in Berlin zugenommen<br />

− begünstigende Bedingungen bei Friedensgebeten in der Nicolaikirche [sic !]<br />

− fordernder Charakter nimmt zu<br />

− Organisation der ÜSE erhöht sich<br />

Schlußfolgerungen:<br />

1. konkrete Aufgaben für Betriebe<br />

2. Einbeziehen von Personen, die von ÜSE akzeptiert [/] 3. werden<br />

4. Arbeit mit Familienangehörigen verbessern<br />

5. [Wort nicht zu entziffern] Analyse der [Wort nicht zu entziffern] <strong>und</strong> begünstigende<br />

Bedingungen<br />

− Tempo zur Entscheidung der ÜSE reicht nicht aus,<br />

Vordergr<strong>und</strong>: Abstandnahme <strong>und</strong> Disziplinierung der Bürger<br />

Leiter BV<br />

214<br />

− Nutzung des kirchlichen Freiraumes<br />

− Anfang 88 Provokationen - Anstieg<br />

− Einflußnahme westlicher Medien, Organe <strong>und</strong> Einrichtungen<br />

− Zusammenhang 17. Juni<br />

− Nicht jeder Antragsteller ist ein Feind, gehört aber zur potentiellen Reserve<br />

− 1/4 der Antragsteller - gibt es Bezugspunkte zum Reiseverkehr<br />

− Mißbrauch des Reiseverkehrs<br />

− Zunahme der Risikobereitschaft (2 Botschaftsbesetzungen)<br />

− 1 HJ 88 über 300 Personen Mißbrauch Reiseverkehr im Bezirk<br />

− 1849 ungediente Reservisten, die ÜSE sind im Bezirk<br />

− 2041 gediente Reservisten, die Antragsteller sind im Bezirk<br />

2. „Vorrecht 88“ 215 - Auswertung [...]<br />

3. Weiterbildung KEL 29./30.11.88 [...]<br />

4. Idee „Luftstrom 88“ 216 Zeitraum: 8.9.-17.9. [...]<br />

211 s. Dok. 36, Anlage<br />

212 Gemeint sind die Abteilungen für Innere Angelegenheiten bei den Räten der Kreise, Gemeinden, Stadtbezirke<br />

<strong>und</strong> der Stadt, die dienstags Sprechzeiten für Ausreiseantragsteller hatten.<br />

213 s. Anhang, S. 357<br />

214 s. Dok. 57<br />

215 Komandostabsübung der BEL<br />

216 Komplexüberprüfung einzelner Kreise durch die BEL<br />

133


59 Stasi-Notizen<br />

Aufzeichnung des Referatsleiters Zeitzschel des Referates XX/9 der BV Leipzig des MfS zu einer Beratung<br />

zwischen dem 1. Stellvertreter des Leiters der BV <strong>und</strong> den Abteilungs- bzw. Referatsleitern Fischer (BKG),<br />

Tinneberg (Stellv. Leiter Abt. XX), Brier, Conrad (XX/4) <strong>und</strong> Zeitzschel (XX/9) am 29.07.1988 (BStU<br />

Leipzig AB 1161).<br />

- Treff „Carl“ 217 : Zusammenschlüsse schwer unter Kontrolle zu halten, Problem „Öffnung der Kirche“<br />

laufend neue Gesichter, neue Probleme (Unberechenbarkeit, Ohnmacht der Kirche zur Zügelung der<br />

Leute) [/] ca. 500 Personen in Gruppen [/] Dazu Sympathisanten<br />

Gruppen sollten von KL [Kirchenleitung] Möglichkeiten zur Darstellung im KT [Kirchentag 1989]<br />

erhalten [/] Erwartung „heißer Herbst“ [/] zwielichtig Magirius<br />

Relation - Wonneberger - Kaden, Führer, Bartels<br />

SP [Schwerpunkt]: 5.9. Friedensgebet [/] geplant Gespräch Reitmann - Vertreter Domsch 218<br />

60 Samisdat-Veröffentlichung<br />

Leserbrief zu den Friedensgebeten aus „Kontakte“ (August 1988) unter der Überschrift „Friedensgebet in der<br />

Diskussion“ (ABL H 2).<br />

Zuerst möchte ich mich vorstellen: 25 Jahre, verheiratet, 1 Tochter von 5 Jahren <strong>und</strong> seit 1986<br />

sogenannter Antragsteller. Ein Gr<strong>und</strong> für die Antragstellung war unter anderem die Umweltpolitik der<br />

DDR. Meine Tochter ist anfällig im Bereich der oberen Luftwege <strong>und</strong> hatte schon mehrere Pseudokrupp-<br />

Anfälle. [/] Ich möchte reden von der Betroffenheit <strong>und</strong> bin der Meinung, daß die Kirche nicht voll ihrer<br />

Rolle gerecht wird. [/] Es ist doch offensichtlich in den Nachgesprächen (zum Friedensgebet - Anmerkung<br />

der Redaktion), daß das Angebot geringer ist als die Nachfrage. Es ist sicherlich für einen<br />

Nichtantragsteller schwer, hinter so manch ein Schicksal zu blicken oder es gar zu verstehen. Es darf<br />

niemand wegen dieses Schrittes moralisch verurteilt werden. Die gegenwärtige Krise fordert die ganze<br />

Kirche zu Zeugnis <strong>und</strong> Tat. Die Entscheidung, die wir als Antragsteller getroffen haben, wurde von uns<br />

als ein geformtes Wesen getan. In dem langen Prozeß des Lebens mit seinem ständigen Wechsel von<br />

Eindrücken, Erlebnissen, Gefühlen <strong>und</strong> Stimmungen ist dies eine Einheit, auf die wir in unserem<br />

Bewußtsein alles beziehen. Die Entscheidung, die wir jeweils selber treffen, ist somit in gewissen Umfang<br />

vorweggenommen.<br />

Mario Franke<br />

61 Innerkirchliche Mitteilung<br />

Brief des Vorsitzenden des KV St. Nikolai, Pf. Führer, an Pf. Berger, Pf. Wonneberger <strong>und</strong> Sup. Magirius<br />

bzgl. der Abänderung der Friedensgebete vom 09.06.1988 (ABL H 35).<br />

Betr.: Friedensgebete während der Sommermonate<br />

Der Kirchenvorstand hat auf einen entsprechenden Antrag hin die Situation der Friedensgebete<br />

durchdacht 219.<br />

Folgender Beschluß ist gefaßt worden:<br />

− Das letzte Gebet vor der Sommerpause findet am 27. Juni 1988, das erste Gebet nach der<br />

Sommerpause am 29. August 1988 statt.<br />

217 Mit IMB „Carl“ ist Pf. M. Berger gemeint. Pf. Berger hatte sich am 16.06.1988 auch dem RdB (Jakel!) als<br />

Vermittler zwischen Kirchenleitung <strong>und</strong> Staat angeboten. Es wäre „doch oft besser, wenn der RdB nicht durch<br />

die Kirchenleitung auf bestimmte Problemfälle eingewiesen werde, sondern durch ihn [Berger], um gleich Luft<br />

aus den Segeln <strong>und</strong> auch im Vorfeld nehmen zu können.“ (Jakel, Information vom 17.06.1988 - ABL H 53)<br />

218 s. Dok. 65<br />

219 In den Protokollen des KV ist dieser Beschluß nicht zu finden.<br />

134


Der Kirchenvorstand empfiehlt, die mehrfach bei uns eingegangenen Äußerungen der Unzufriedenheit<br />

über den derzeitigen „Zustand“ der Friedensgebete ernsthaft zu prüfen <strong>und</strong> weiterführende Überlegungen<br />

anzustellen.<br />

62 Innerkirchliche Information<br />

Hektographierte Erklärung der Jugendkommission der Christlichen Friedenskonferenz an die Leipziger<br />

Gruppen vom 24.06.1988. Handschriftlich wurde darauf U. Mün[n]ich 220 vermerkt (ABL H 35).<br />

Position zum Friedensgebet in der Nikolaikirche<br />

1. Anliegen der Friedensgebete ist die Wahrung, Sicherung <strong>und</strong> das Erreichen eines dauerhaften Friedens<br />

in der Welt <strong>und</strong> damit auch für uns. Hierbei besteht ein enger Zusammenhang zwischen Frieden,<br />

Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung. In den Friedensgebeten müssen alle<br />

Menschheitsprobleme, die die Existenz der Menschheit bedrohen, zur Sprache kommen. Das<br />

Friedensgebet ist somit Bestandteil des in Gang gekommenen konziliaren Prozesses. Das<br />

Friedensgebet ist der spezifische Beitrag <strong>und</strong> Ausdruck des Friedensengagements von Christen.<br />

2. Friedensgebete sollten von ihrem Anliegen her primär Gebete sein. Informationen, Bibelinterpretation,<br />

eigene Reflexionen zum Thema Frieden sind notwendige Bestandteile eines Friedensgebetes. Der<br />

Charakter eines Gebetes, das Vortragen von Bitte <strong>und</strong> Dank kann aber dadurch verdeckt werden. Jede<br />

Bibelinterpretation, jede Reflexion zum Thema kann nur vom eigenen Standpunkt aus erfolgen. Wir<br />

müssen deshalb in Kauf nehmen, daß nicht nur eine Interpretation biblischer Texte möglich ist. Die<br />

Ernsthaftigkeit der Bibelinterpretation muß vorhanden <strong>und</strong> unter anderem daran erkennbar sein, daß<br />

uns der Text betroffen macht angesichts unseres eigenen Versagens. Im Friedensgebet <strong>und</strong> in der<br />

Bibelinterpretation muß klar das Bestreben erkennbar sein, an der eigenen Veränderung zu arbeiten.<br />

3. Gesellschaftliche Anliegen <strong>und</strong> Probleme haben ihren Platz in einem Friedensgebet. Ziel muß dabei die<br />

Lösung gesellschaftlicher Probleme sein. Im Umgang in unserer Gesellschaft ist hierbei ein neues<br />

Denken erforderlich, daß Probleme nur noch miteinander <strong>und</strong> nicht mehr gegeneinander lösbar sind.<br />

Dies setzt zunächst voraus, zur Lösung von Problemen ein gesellschaftliches Klima zu erzeugen, das<br />

von Offenheit <strong>und</strong> Vertrauen sowie Konstruktivität gekennzeichnet ist.<br />

4. Das Friedensgebet kann nicht die Funktion einer politischen Veranstaltung haben, die irgendeiner<br />

gesellschaftlichen Gruppierung ein Podium für Öffentlichkeit bietet. Schwerpunkt bleibt auch in einem<br />

Friedensgebet die kritische Anfrage an Christen, ob sie im Kampf für Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong><br />

Bewahrung der Schöpfung nicht auch versagt haben. Wenn Stille <strong>und</strong> Meditation durch Applaus<br />

ersetzt wird, ist die Chance der eigenen Veränderung vertan, haben wir unser Ziel im<br />

Friedensengagement verfehlt.<br />

5. Menschen, die den Entschluß gefaßt haben, aus der DDR auszureisen, <strong>und</strong> die an den Friedensgebeten<br />

teilnehmen, sollten sich fragen lassen, ob sie damit nicht auch aus der solidarischen Gemeinschaft mit<br />

den Menschen, die täglich durch hartes Engagement Gesellschaft gestalten <strong>und</strong> verändern, ausgetreten<br />

sind. Die Solidarität derer, die ihren Platz in der Gesellschaft der DDR sehen, mit denen, die ihn<br />

außerhalb der DDR sehen, setzt voraus, daß ein kritisch-konstruktiver Dialog vorhanden ist, die<br />

Problematik der Aufgabe gesellschaftlicher Verantwortung oder der Resignation aufzuarbeiten.<br />

63 Staatliche Einschätzung<br />

Auszug aus einer Information des Stellvertreters des OBM an den RdB <strong>und</strong> die SED-Stadtleitung zur<br />

Staatspolitik in Kirchenfragen im Berichtszeitraum Juni/Juli 1988 vom 01.08.1988. Die Information wurde in<br />

Vertretung von R. Sabatowska unterzeichnet. Die Unterschrift ist für die Herausgeber nicht identifizierbar.<br />

Beim RdB ging die Information am 02.08.1988 (Eingangsstempel) ein (StAL BT/RdB 21727).<br />

220 Zu U. Münnich bzw. IMS „Physiker“ s. Besier/Wolf, 701-707<br />

135


1. Zur politischen Situation in den Kirchen<br />

[...]<br />

− In den bis Ende Juni in der Nikolaikirche fortgeführten montäglichen Friedensgebeten ist es trotz<br />

Zusagen leitender kirchlicher Amtsträger (Sup. Magirius, Pf. Führer) nicht gelungen, den<br />

eigentlichen Sinn dieser Veranstaltungen - nämlich das Gebet für den Frieden - wieder<br />

durchzusetzen. Nach wie vor ist der Hauptteil der Besucher dieser Veranstaltungen Ersuchsteller<br />

auf Übersiedlung, die hier mit Hilfe der Kirche gegenüber dem Staat ihre Anliegen durchsetzen<br />

wollen. Fast alle diese Leute interessiert die Kirche als Kirche überhaupt nicht, am Gebet während<br />

dieser Veranstaltungen beteiligen sie sich nicht. In einem Gespräch, das der SBBM des<br />

Stadtbezirkes Mitte, Gen. Setzepfandt, mit dem Pfarramtsleiter der Nikolaikirche, Pfarrer Führer,<br />

<strong>und</strong> Mitgliedern des Kirchenvorstandes zu dieser Problematik führte 221, äußerte Pf. Führer, daß sich<br />

schon Gemeindemitglieder wegen dieses Zustandes mit Eingaben an den Kirchenvorstand gewandt<br />

hätten. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e müsse man sich Gedanken über die Weiterführung dieser<br />

Veranstaltungen machen. Kirchenmusikdirektor Hofmann, der ebenfalls Mitglied des<br />

Kirchenvorstandes dieser Gemeinde ist, lehnte die Weiterführung dieser Veranstaltungen in der<br />

jetzigen Form gr<strong>und</strong>sätzlich ab. Dennoch mußte bereits eine Woche später, nach dem nächsten<br />

„Friedensgebet“ festgestellt werden, daß die Erklärungen Pf. Führers nur leere Worte waren. Er<br />

engagierte sich wiederum in der bekannten Weise für die in der Nikolaikirche versammelten<br />

Ersuchsteller. Interessant ist auch in diesem Zusammenhang, daß in einer ganzen Anzahl von<br />

Briefen von Ersuchstellern an die Regierung, das ZK, die staatlichen Organe zur Untermauerung<br />

ihrer Ersuchen auf Übersiedlung Pf. Führer als erster in dem Verteilerschlüssel dieser Schreiben<br />

angeführt ist 222 . Bei den Veranstaltungen in der Nikolaikirche tritt auch Pf. Dr. Berger immer mehr<br />

in negativer Weise in Erscheinung. Er ist derjenige, der nach den Veranstaltungen die Ersuchsteller<br />

in individuellen Gesprächen „juristisch“ berät. Es ist damit zu rechnen, daß nach der<br />

„Sommerpause“ - von Anfang Juli bis Ende August finden keine Montags-Friedensgebete in der<br />

Nikolaikirche statt - diese Friedensgebete wiederum genutzt werden, um Forderungen gegenüber<br />

dem Staat durchsetzen zu wollen <strong>und</strong> damit das Staat-Kirche-Verhältnis in negativer Form zu<br />

belasten.<br />

[...]<br />

− Zu Einzelfragen<br />

Pfarrer Fritzsche (Pauluskirche) äußerte sich besorgt über die Entwicklung in der Volksrepublik<br />

Rumänien. Nach Augenzeugenberichten aus seiner Gemeinde kompliziert sich die Lage für die<br />

Menschen in diesem Land, <strong>und</strong> es gibt kein Verständnis dafür, daß der Generalsekretär der KP<br />

Rumäniens durch unseren Staatsratsvorsitzenden mit dem Karl-Marx-Orden 223 ausgezeichnet<br />

wurde.<br />

Pf. Böllmann (Kirche Marienbrunn) äußerte im Ergebnis mehrerer abgelehnter Besuchsreisen in<br />

einem Brief an uns: „Ich fühle mich durch die beschriebenen Erfahrungen derart gedemütigt, daß<br />

ich zu einer konstruktiven Mitarbeit in unserem Land im Augenblick keine Möglichkeiten sehe.<br />

Auch mit aller Phantasie kann ich mir nicht vorstellen, wieso eine Reise von mir der DDR<br />

geschadet hätte. Mein Vertrauen ist total erschüttert. Ich kann die Maßnahmen der Organe nur als<br />

Willkür verstehen <strong>und</strong> mich nur als Gefangener betrachten. Sie werden gewiß verstehen, daß ich in<br />

dieser Stimmungslage ihre Geburtstagswünsche mißdeuten mußte. Bitte sehen sie künftig davon<br />

ab.“<br />

Von der Genezarethkirche in Paunsdorf wurden die ersten Aktivitäten in bezug auf das<br />

Neubaugebiet Paunsdorf bekannt. am 4.6.88 fand der erste Familiennachmittag für die<br />

Neupaunsdorfer Christen statt. Das nächste Neubautreffen soll am 1.10.88, 15.00 Uhr im<br />

Gemeindehaus Riesaer Str. 31 stattfinden.<br />

221 Das Gespräch fand am 20.06.1988 statt (s.a. MfS-Bericht in: Besier/Wolf 559)<br />

222 Der Absatz wurde bis „angeführt ist“ nahezu wörtlich in den Bericht des RdB vom 05.08.1988 übernommen<br />

(BArch O-4 1117).<br />

223 s. Anm. 125<br />

136


2. Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit<br />

Seit dem 30.5.88 tauchten im Stadtgebiet von Leipzig, vornehmlich im SB Süd, Flugblätter (ohne<br />

Druckgenehmigung) auf, in denen zur Teilnahme an einem sogenannten „Pleiße-Gedenkumzug“<br />

aufgefordert wurde224 . Aus dem Text ging hervor, daß an verschiedene Persönlichkeiten der Stadt, aus<br />

dem Staatsapparat <strong>und</strong> dem Bereich der Kirche Einladungen ergangen sein sollten. Ein Gespräch mit<br />

den verantwortlichen Superintendenten ergab, daß sie keine Einladungen erhielten <strong>und</strong> sich von dieser<br />

nichtgenehmigten Veranstaltung distanzierten. In Übereinstimmung mit den beiden Superintendenten<br />

wurden weitere Versuche der öffentlichen Propagierung der Veranstaltung verhindert. Am 5.6.88<br />

gegen 14.00 Uhr trafen sich dann vor dem Gelände des Sportplatzes Teichstraße ca. 80 größtenteils<br />

jugendliche Personen. Sie setzten sich als nichtgenehmigte Demonstration entlang der Pleiße in<br />

Bewegung. Die Teilnehmer trugen Stoffaufnäher mit der Aufschrift „1. Pleiße-Gedenkumzug“. Am<br />

Wehr vor der Beipertbrücke wurde ein Picknick veranstaltet, dabei gelangten drei Wandzeitungen zu<br />

Problemen des Umweltschutzes zur Aufstellung. Unter den Teilnehmern befanden sich<br />

Übersiedlungsersuchsteller. Entgegen der Versicherung der beiden Superintendenten, diese<br />

nichtgenehmigte Veranstaltung finde keine Unterstützung durch die kirchliche Seite, beteiligte sich Pf.<br />

Wonneberger (Lukaskirche Volkmarsdorf) am Umzug225 .<br />

Zu dieser Veranstaltung muß eingeschätzt werden, daß die Veranstalter offensichtlich die<br />

Provozierbarkeit der staatlichen Organe testen wollten. Dabei wurde von ihnen die Zurückhaltung<br />

staatlicher Organe falsch interpretiert, nämlich als Schwäche.<br />

[...]<br />

3. Anzahl der geführten Gespräche<br />

− 6 Gruppengespräche mit 33 Teilnehmern<br />

− 60 Einzelgespräche<br />

64 Innerkirchliche Mitteilung<br />

Brief von Superintendent Magirius an Pf. Berger, Jugendpf. Kaden <strong>und</strong> Pf. Wonneberger vom 15.08.1988, in<br />

dem er mitteilt, daß das Friedensgebet in die Regie des Nikolaikirchenvorstands übergehen wird (Privat).<br />

An die Gruppen im Synodalausschuß „Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ 226<br />

Liebe <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>!<br />

Die Nikolaigemeinde übernimmt nach der Sommerpause Durchführung <strong>und</strong> Verkündigung der<br />

Friedensgebete selbst 227.<br />

224 Abgedruckt in „Umweltblätter“ 8/88, 21 (ABL Box 4)<br />

225 Ein Beispiel für Versuche der Leipziger Gruppen, außerhalb des „Freiraums Kirche“ den politischen Dialog zu<br />

versuchen <strong>und</strong> Interessen, die nicht respektiert wurden, zu vertreten.<br />

226 Die Gruppenmitglieder erreichte der Brief erst am 22.08.1988 (s. Dok. 67). Pf. Wonneberger erhielt den Brief, da<br />

er bis zum 26.08.1988 im Urlaub war, erst am 27.08 (vgl. Dok. 72). B. Moritz wollte diesen Brief zusammen mit<br />

verschiedenen Erklärungen zu der Gestaltung der FG von Pf. Führer, Sup. Magirius, IGL, AKG, ASZ, AGU u.a.<br />

in „Kontakte“ veröffentlichen. Dies wurde jedoch vom Vertreter des Superintendenten, Pf. Wugk, nicht<br />

genehmigt. Pf. Berger protokollierte zur BSA-Sitzung am 19.11.1988: „Wugk, Auerbach: innerkirchl.<br />

Streitigkeiten dürfen nicht veröffentlicht werden“ (ABL H 35; s.a. Kontakte Okt. 88 - ABL H 2 <strong>und</strong> Z 2)<br />

227 1990 stellte Fr. Magirius die Entscheidung als eine Reaktion auf die nicht zu vereinenden Zuhörer<br />

(Reformgruppen versus Ausreisewillige) dar, die eine (von den Basisgruppen praktizierte) politische Konkretion<br />

biblischer Aussagen nicht zuließe (Magirius (1990b), 10). Er wollte, daß das FG nicht zu einem „Politforum“<br />

wird (Hamburger Abendblatt, 04.12.1991, S. 3). Sicher war die Auseinandersetzung um das letzte FG vor der<br />

Sommerpause am 27.06.1988 Anlaß zu diesem Ausschluß der Gruppen aus der Gestaltung der FG. In diesem FG,<br />

gestaltet von der IGL zusammen mit Pf. Wonneberger, wurde für den „Sprayer vom Leuschnerplatz“ (s. Chronik<br />

05.02. <strong>und</strong> 15.02.1988) die Kollekte gesammelt, da er eine Geldstrafe von über 4000 zahlen sollte. Der<br />

anwesende Superintendentenstellvertreter Pf. Wugk hatte sich noch während der Kollektensammlung von dieser<br />

„konkreten Fürbitte“ distanziert <strong>und</strong> behauptete, daß sie eine „illegale“ Sammlung sei. Pfarrer Wonneberger hatte<br />

sie jedoch genehmigt. Damit wurde die Frage gestellt, wer ist für die FG letztlich verantwortlich (s. Dok. 66).<br />

137


Die meisten Teilnehmer an den Zusammenkünften sind nicht interessiert <strong>und</strong> engagiert an den Fragen<br />

„Frieden - Gerechtigkeit - Bewahrung der Schöpfung“ im Sinne des konziliaren Prozesses, sondern<br />

erwarten von der Kirche, daß diese sich für ihre Probleme einsetzt. So wenig wir konkret helfen können,<br />

wollen wir uns doch dafür einsetzen, daß diejenigen, die einen Antrag auf Entlassung aus der<br />

Staatsbürgerschaft gestellt haben, nicht ins Abseits gedrängt werden. Doch dem Einzelnen können wir im<br />

Gr<strong>und</strong>e nur helfen mit der uns anvertrauten Botschaft des befreienden Evangeliums, das seine Gültigkeit<br />

in jeder Gesellschaft hat. Einige Gruppen haben sich seit der veränderten Situation ohnehin nicht mehr an<br />

der Gestaltung der Friedensgebete beteiligt, anderen scheint die Aufgabe belastend zu sein.<br />

So bitte ich darum, daß sich die Gruppen in der nächsten Zeit verstärkt ihren spezifischen Aufgaben<br />

zuwenden, wie sie etwa in den zwölf Themenbereichen 228 der konziliaren Versammlung aufgenommen<br />

worden sind. Ich wäre dankbar, wenn durch Gespräche <strong>und</strong> Impulse mehr die Gemeinden unserer Stadt in<br />

den Prozeß einbezogen werden könnten. Denn gemeinsam mit allen, die hier bleiben, wollen wir doch<br />

verantwortlich das Leben in unserer Gesellschaft verändern <strong>und</strong> verbessern.<br />

Als nächste Aufgaben stehen die Weiterarbeit zur ökumenischen Versammlung von Magdeburg <strong>und</strong> die<br />

Vorbereitung der Friedensdekade an.<br />

Mit besten Grüssen [/] Schalom! [/ gez.] Magirius<br />

65 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Auszug aus einer Information vom Rat des Bezirkes Leipzig, [Bereich] Kirchenfragen, über ein Gespräch am<br />

18.08.1988 zwischen H. Reitmann <strong>und</strong> zwei Vertretern des Landeskirchenamtes vom 19.08.1988.<br />

Unterzeichnet wurde die Information von Ebisch. Die Vorlage trägt Bearbeitungsspuren u.a. von K. Conrad<br />

(ABL H 53).<br />

[... 229 ] Genosse Dr. Reitmann führte weiter aus, daß ihm bekannt geworden sei, daß durch die<br />

Bezirkssynode 20 alternative Gruppen zugelassen worden sind 230 , man solle sich doch überlegen, wo das<br />

alles noch hinführen soll 231 . Mit dem kürzlich stattgef<strong>und</strong>enen Gespräch des Staatssekretärs Löffler mit<br />

Bischof Leich wurden im großen positive Zeichen gesetzt <strong>und</strong> man müßte sich jetzt die Frage stellen, ob<br />

die Kirche in Leipzig etwas anderes im Verhältnis Staat-Kirche wolle.<br />

[A... gemäß StUG geschwärzt] erwiderte darauf, „wir werden Ihre Sorgen übernehmen, die auch unsere<br />

Sorgen sind. Xmal wurde im Landeskirchenamt die Problematik besprochen, wir haben noch kein<br />

probates Mittel gef<strong>und</strong>en, dies zu unterbinden. Die Gruppen haben wir letztlich nicht in der Hand, können<br />

sie aber auch nicht aus dem Raum der Kirche verweisen, wir können keine Gesichtskontrolle durchführen,<br />

wir können die Kirche nicht schließen. Fast durchweg hat Herr OKR Auerbach im Auftrag des<br />

Landeskirchenamtes an den Veranstaltungen in der Nikolaikirche teilgenommen, wir schätzen seine<br />

ruhige <strong>und</strong> besonnene Art“.<br />

[B... gemäß StUG geschwärzt] bemerkte anschließend: „Wie schon [A... gemäß StUG geschwärzt] sagte -<br />

Ihre Sorgen sind unsere Sorgen, wir wollen nicht, daß die Kirche mißbraucht wird. Kirche ist aber kein<br />

staatliches Organ, wir können uns nicht verschließen. Diese Leute haben bisher keinen Kontakt zur Kirche<br />

gehabt, sind aber auf einmal da, wir haben sie nicht gerufen. Die Frage ist nur, wie gehen wir mit ihnen<br />

Auffällig ist, daß in der Debatte nicht auf den Beschluß des BSA vom 17.06.1988 verwiesen wurde. Der BSA<br />

hatte damals beschlossen, daß die Kollekte der FG für die Nikolaikirchgemeinde bestimmt sei (Protokoll Berger -<br />

ABL H 2). Vermutlich ein Hinweis auf die kirchenrechtlich schwache Position des BSA.<br />

228 s. Anhang S. 370<br />

229 Das Gespräch diente u.a. einem ersten Austausch anläßlich des für Juli 1989 geplanten Kirchentages in Leipzig.<br />

Am 31.08.1988 fand eine ganztägige Arbeitsberatung der Stellvertreter für Inneres der Räte der Kreise, Städte<br />

<strong>und</strong> Stadtbezirke des Bezirkes Leipzig mit Reitmann <strong>und</strong> Vertretern des StfK statt. Dabei wurde das Fehlen einer<br />

zentralen Vorgabe zum Kirchentag als „offenes Problem“ benannt (Dienstreisebericht Dohle vom 13.09.1988 -<br />

BArch O-4 1117).<br />

230 s. im Anhang, S. 355<br />

231 vgl. Dok. 59<br />

138


um. Wir wollen als Kirche Kirche bleiben, wollen den Menschen helfen, in ihrer Problematik, wo sie<br />

stehen. Viele Menschen wissen nicht, was sie wollen. Sie haben den Ausreiseantrag gestellt, weil es Mode<br />

war. Durch Warten monatelang, jahrelang sind sie ins Abseits gestellt beruflich <strong>und</strong> persönlich, dies führt<br />

oftmals zu Tragödien, sie sind seelisch krank, durch eigenes Verhalten haben sie sich ins Abseits gestellt.<br />

Wir haben mit ihnen viele Gespräche gehabt, können aber ihre Probleme nicht lösen. Bis jetzt war<br />

Sommerpause, aber Pfarrer Führer wird von diesen Personen bedrängt <strong>und</strong> befragt, wann es weiter geht,<br />

wann sie wieder zusammenkommen können“.<br />

[B... gemäß StUG geschwärzt] sagte weiter: „Wir initiieren keine Gruppen; sie schießen wie Pilze aus der<br />

Erde. Wer zur Kirche kommt, hat das Recht, seine Meinung zu vertreten, aber sie diskutieren anonyme<br />

Briefe, die zum Sturz der Regierung auffordern. Es kann nicht Aufgabe der Kirche sein, oppositionelle<br />

Gruppen zu unterstützen. Der Staat sollte ihnen Raum geben, wo sie diskutieren können“.<br />

Dr. Reitmann brachte zum Ausdruck, daß wir vor Jahren vor diesen Gruppen gewarnt haben. Erst waren<br />

es vier, jetzt sind es 20, wo bleibt hier die Verantwortung der Kirche. In Vorbereitung des Kirchentages<br />

sollte man sich theologisch besinnen. Er bat auch, den Bischof Dr. Hempel dahingehend zu informieren,<br />

daß er auf den Kirchenvorstand der Nikolaikirche einwirkt, um diese Montagsgottesdienste mehr zu<br />

theologisieren. Man sollte klug abwägen <strong>und</strong> diese Erscheinungen nicht wieder zulassen.<br />

[A... gemäß StUG geschwärzt] äußerte dazu, daß sie sich große Gedanken machen. Sie können nicht auf<br />

Schließung der Nikolaikirche gehen, aber in bezug auf Theologisierung sehen sie den Ansatzpunkt, wo sie<br />

verstärkt daran arbeiten. Die Manuskripte der Gottesdienstreden, die in der Nikolaikirche gehalten werden<br />

sollen, wurden bereits in der letzten Zeit vom Landeskirchenamt angefordert. [...]<br />

66 Innerkirchliche Mitteilung<br />

Brief von Sup. Magirius an Pf. Wonneberger vom 25.08.1988, in dem ihm die weitere Organisierung der<br />

Friedensgebete entzogen wird (beim Adressaten).<br />

Lieber Bruder Wonneberger!<br />

Da Sie einschließlich Freitag, 26.8., im Urlaub sind, möchte ich mich schriftlich an Sie wenden: Wie<br />

Ihnen bekannt ist, hat mein Stellvertreter Bruder Wugk Ihnen im Zusammenhang mit dem letzten<br />

Friedensgebet vor der Sommerpause erklärt, daß Sie sich selbst durch Ihre Handlungsweise Ihrer<br />

Kompetenz für die Funktion der Koordinierung begeben haben. Wir haben unterdessen eine neue<br />

Gestaltung der Friedensgebete für die nächsten Wochen vorbereitet. Meinerseits stelle ich noch einmal<br />

fest, daß Sie damit von Ihrer bisherigen Aufgabe entb<strong>und</strong>en sind. Am Mittwoch, 31. August, um 10 Uhr,<br />

möchte ich gern zu Ihnen kommen, um das verschobene Abschlußgespräch zur Visitation zu halten.<br />

Ihr [gez.] Friedrich Magirius [/] Superintendent<br />

67 Basisgruppenerklärung<br />

Offener Brief von verschiedenen Basisgruppenmitgliedern an Sup. Magirius vom 25.08.1988. Typoskript<br />

ohne Unterschriften (ABL H 1).<br />

Protesterklärung<br />

Am 22.08.1988, eine Woche vor Beginn der Friedensgebete nach der Sommerpause, erhielten wir von<br />

Ihnen einen Brief, in dem Sie uns erklären, daß „in der nächsten Zeit“ die Basisgruppen von der<br />

Gestaltung der Friedensgebete ausgeschlossen sind. Damit beenden Sie eine Gottesdienstform, deren<br />

Ablauf <strong>und</strong> Inhalt seit 1985 durch kirchliche Basisgruppen geprägt wurde. Sie nehmen dadurch den<br />

Gruppen eine wesentliche Möglichkeit der öffentlichen Selbstdarstellung sowie eine verbindende<br />

gemeinsame Aufgabe.<br />

Im Ergebnis der Januarereignisse erhielt das Friedensgebet einen größeren Zulauf. Seit dieser Zeit wurde<br />

der Synodalausschuß „Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ für Leipziger Basisgruppen mit der Organisation der<br />

Friedensgebete betraut. In seiner letzten Sitzung beschloß dieser Ausschuß wiederholt die unveränderte<br />

139


Weiterführung der Friedensgebete nach der Sommerpause.<br />

Ungeachtet dessen nutzen Sie Ihr Hausrecht (in Abwesenheit des zuständigen Gemeindepfarrers) <strong>und</strong><br />

stellen die Gruppen <strong>und</strong> die Gemeinde des Friedensgebetes vor vollendete Tatsachen. Sie grenzen uns aus<br />

mit der Begründung, daß wir als Gemeinde „... an den Fragen, Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der<br />

Schöpfung im Sinne des konziliaren Prozesses nicht interessiert <strong>und</strong> engagiert sind...“<br />

Gegen diese Verfahrensweise protestieren wir!<br />

Allen Gruppen ist ein tiefes <strong>und</strong> ehrliches Interesse an den Friedensgebeten Selbstverständnis. Unser<br />

Anliegen ist es, in den Gebeten unseren Problemen, unseren Erwartungen an die DDR-Gesellschaft wie<br />

auch unserer Stellung zu globalen Problemen - die im konziliaren Prozeß zusammengefaßt sind -<br />

Ausdruck zu verleihen. Dies möchten wir mit unserer eigenen Sprache, unseren eigenen Gedanken, der<br />

Vielfalt unserer Meinung, der Erschütterung <strong>und</strong> Besorgtheit tun <strong>und</strong> das selbstverständlich in der uns<br />

eigenen Glaubensform.<br />

Die in den letzten Monaten vorwiegend durch Ausreiseantragsteller vergrößerte Gemeinde stellt in den<br />

Augen der Staatsorgane (für wen auch immer) eine potentielle Gefahr dar. Mit der beabsichtigten<br />

Ausgrenzung der Antragsteller stellen Sie sich auf die Seite derer, die dieser Gemeinde ein ehrliches<br />

Interesse an Inhalt <strong>und</strong> Botschaft dieser Gottesdienste absprechen. Die Gemeinde nimmt aber diszipliniert<br />

<strong>und</strong> aufmerksam an den Gottesdiensten teil <strong>und</strong> wächst mit ihnen.<br />

Ihr Urteil über „die meisten Teilnehmer“ ist eine Diffamierung!<br />

Mit Befremden stellen wir fest, daß die versammelten Teilnehmer von ihnen nicht als Gemeinde Christi<br />

angenommen werden.<br />

Wir fordern:<br />

- Offenlegung der tatsächlichen Hintergründe Ihrer uns unverständlichen Entscheidung<br />

- Wiederherstellung der Möglichkeit für die Leipziger kirchlichen Basisgruppen, die Friedensgebete in<br />

Eigenverantwortung (unzensiert) zu gestalten.<br />

68 Friedensgebetstext<br />

Mitschrift der Begrüßung von Pfarrer Führer zum Friedensgebet am 29.08.1988. Typoskript (ABL H 1).<br />

Am 27. Juni habe ich Sie zur Sommerpause verabschiedet <strong>und</strong> heute am 29. August habe ich die Freude,<br />

Sie wieder hier in unserer Kirche St. Nikolai zu begrüßen. Ich begrüße diejenigen, die heute zum ersten<br />

Mal hier sind, ich begrüße diejenigen, die schon zum wiederholten Male hier sind <strong>und</strong> ich denke an die,<br />

die jetzt nicht mehr unter uns sitzen. In der Sommerpause galt es, über Inhalt <strong>und</strong> Form unserer<br />

Zusammenkünfte nachzudenken. Unser Kirchenvorstand hat an die Vorsitzenden der Gruppen ein<br />

Schreiben gesandt mit der Bitte um entsprechendes Nachdenken 232 . Lag es nun an dem Sommer, oder<br />

woran auch immer, viel Anregungen sind nicht gekommen - genauer gesagt: gar keine. Und inzwischen<br />

war auch nicht genug Zeit, um mit den beteiligten Gruppen ausgewogen zu erörtern.<br />

So führen wir heute eine neue Ordnung ein, die sich einerseits wieder der ursprünglichen Form des<br />

Friedensgebetes annähert, die sich andererseits mit der uns möglichen Weise von Auslegung, Lied, Gebet<br />

<strong>und</strong> Segen dem besonderen Anliegen eines Großteils unserer Zuhörer widmet. Wie wichtig es ist, daß die<br />

montäglichen Zusammenkünfte, die Friedensgebete hier in St. Nikolai weitergehen, wird mir mündlich<br />

<strong>und</strong> schriftlich immer wieder zu verstehen gegeben. Da hab ich einen sehr kritischen Brief bekommen,<br />

selbstkritischen Brief, wo es am Ende heißt: „Wir brauchen diesen Montag, auch wenn diese Andacht, <strong>und</strong><br />

die Kirche solche Art von Gästen eigentlich nicht verdient haben. Wir brauchen die Geistlichen, die ohne<br />

Rücksicht auf religiöse Logik <strong>und</strong> ohne Rücksicht auf kirchliche Gepflogenheiten zu uns stehen. Wir<br />

möchten bei Ihnen weiterhin Gastrecht genießen <strong>und</strong> sind Ihnen dafür sehr dankbar“ 233 . Und als ich heute<br />

morgen in unsere Nordkapelle zur Morgenandacht hineinging, war dort unter der Tür ein großer Umschlag<br />

durchgesteckt, <strong>und</strong> da war die Mitteilung zu lesen, daß ein Mann aus Verzweiflung über die endgültige<br />

232 s. Dok. 61<br />

233 vgl. Dok. 54<br />

140


Ablehnung seines Antrages in den Hungerstreik treten will, <strong>und</strong> der dies schreibt: „Bitte helfen Sie uns!<br />

Allein schaffe ich es nicht!“<br />

Angesichts dieser Situationen darf es wohl nicht um ein Teilstück, um Formen gehen. Da steht nur die<br />

eine Frage für mich: Geht das Friedensgebet weiter oder nicht? Liebe Teilnehmer! Das Friedensgebet geht<br />

weiter. (Beifall)<br />

69 Friedensgebetstext<br />

Mitschrift der Erklärung von Sup. Magirius, die er zum Schluß des Friedensgebetes am 29.08.1988 machte<br />

(ABL H 1).<br />

Wir wollen das Friedensgebet beschließen mit einigen Informationen <strong>und</strong> mit der Bitte um den Segen<br />

Gottes.<br />

Wir sind Gott dankbar, daß es in unserem Land eine klare Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche gibt. Das<br />

schafft uns einerseits Freiräume, Möglichkeiten zum Denken, zum Handeln, die wir immer wieder<br />

versucht haben, bis zum Äußersten auszuschöpfen. Das bindet uns anderseits allein an die Botschaft der<br />

Bibel <strong>und</strong> an die Gesinnung Jesu, die Maßstab <strong>und</strong> Richtschnur bleiben für unser Reden <strong>und</strong> Handeln.<br />

Was in der Kirche verkündet <strong>und</strong> gebetet wird, haben die damit beauftragten Mitarbeiter nicht vor<br />

Menschen oder Mächten, sondern allein vor dem lebendigen Gott zu verantworten. Und diese<br />

Verantwortung nimmt uns keiner ab.<br />

In unserem Friedensgebet treffen sich viele, die einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft<br />

gestellt haben. Da sie alle sich schon innerlich oder äußerlich aus ihrem Zusammenleben verabschiedet<br />

haben, sind sie nicht so stark an einer Erneuerung <strong>und</strong> Veränderung der Verhältnisse hierzulande<br />

interessiert wie wir, die wir hier leben <strong>und</strong> bleiben wollen. Vielmehr erwarten sie von unserer Kirche, daß<br />

wir uns für ihre Probleme einsetzen. Mit etlichen von ihnen habe ich gesprochen. So unterschiedlich ihre<br />

Schicksale auch sind, die Kirche hat sie nicht verursacht. Wir können ihnen nichts anderes bieten, als daß<br />

wir die Türen zur Begegnung offenhalten <strong>und</strong> die Botschaft weitergeben, die gerade dort ankommt <strong>und</strong><br />

trägt, wo Menschen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit stoßen <strong>und</strong> keine Hoffnung mehr haben.<br />

Da richtige Gespräche nur im kleinen Kreis möglich sind, bitten wir Sie herzlich, außer Ihrer Teilnahme<br />

am Friedensgebet, sich in Ihren Kirchgemeinden oder Nachbarschaften Menschen zu suchen, die zum<br />

gegenseitigen Austausch bereit sind. Wir werden unsererseits die Gemeinden <strong>und</strong> Pfarrer erneut darauf<br />

ansprechen, sich dieser Aufgabe zu stellen. Die Friedensgebete sind oft im kleinen Kreis <strong>und</strong> in großer<br />

Treue von Gruppen gehalten worden, die sich schon seit Jahren für Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung<br />

der Schöpfung einsetzen. Das ist möglich, solange es sich um einen überschaubaren Kreis von<br />

Teilnehmern handelt. Als unser Friedensgebet größere Öffentlichkeit erlangte, haben wir darum gebeten,<br />

daß die Gruppen ihre Verkündigung <strong>und</strong> ihre Gebete verantwortlich mit einem Pfarrer vorbereiten <strong>und</strong><br />

absprechen, denn jede freie Wortverkündigung bedarf nach der Ordnung unserer Kirche einer besonderen<br />

Beauftragung. Da dieser Versuch nicht immer gelungen ist, die Teilnehmer oft mit anderen Erwartungen<br />

kamen, wie ich eben andeutete, haben wir als die Verantwortlichen unserer Nikolaikirchgemeinde für die<br />

nächste Zeit die heute vorgestellte neue Ordnung für unsere Friedensgebete beschlossen.<br />

Wem nützt es, wenn es zu einer Trennung kommt zwischen Gemeindemitgliedern <strong>und</strong> Leuten, die<br />

Verantwortung tragen in der Kirche? Wem nützt es, wenn es zu einer Spannung kommt zwischen<br />

Basisgruppen <strong>und</strong> Ortsgemeinden? Wem nützt es, wenn es zu Spannungen kommt zwischen Menschen,<br />

die hierzulande Verantwortung tragen wollen oder unser Land verlassen? Wem nützt es, wenn wir uns<br />

drängen lassen zwischen denen, die hier für dieses Gotteshaus Verantwortung tragen <strong>und</strong> die<br />

Friedensgebete weiterführen wollen, <strong>und</strong> denen, die anderer Auffassung sind? Nehmen Sie uns bitte alle<br />

ab, daß wir es uns nicht leicht gemacht haben mit dieser Entscheidung, daß sie weder eigenmächtig noch<br />

überheblich oder in irgendeiner Abhängigkeit getroffen wurde, sondern einzig <strong>und</strong> allein als eine<br />

Gewissensentscheidung in unserem Dienst als Pfarrer an dieser Gemeinde vor dem lebendigen Gott.<br />

Wir wollen zum Segen aufstehen.<br />

141


70 Friedensgebetstext<br />

Mitschrift der Intervention von Pf. Führer zur Verhinderung einer Aussprache nach dem Friedensgebet am<br />

29.08.1988 in der Nikolaikirche Leipzig 234 (ABL H 1).<br />

Liebe Zuhörer, falls Sie jetzt weiter hierbleiben, wird das bedeuten, daß das Friedensgebet nicht<br />

weitergeht.<br />

Eine Stellungnahme dieser Gruppe wird auf alle Fälle erfolgen.<br />

Es wird Herr Superintendent Magirius mit den Gruppen noch sprechen. Er hat dies auf alle Fälle zugesagt.<br />

Wenn aber die ...<br />

Uns geht es hauptsächlich darum, daß Sie weiter in unsere Nikolaikirche kommen können. Das hab’ ich<br />

am Anfang gesagt.<br />

Ihr Anliegen hierherzukommen, dann wird es eine Entscheidung geben, die Sie wahrscheinlich <strong>und</strong> uns<br />

alle betroffen macht. Deshalb bitte ich jetzt, daß wir miteinander die Kirche verlassen.<br />

(weitere Verlesung des Briefes von Magirius an die Gruppen)<br />

Sie haben mich vorhin verstanden. Das sind keine Leute von uns.<br />

Wenn Sie hier weiter bleiben, arbeiten wir nur dem Staat in die Hände, der das Friedensgebet je eher je<br />

lieber aufhören lassen will.<br />

Wenn Sie jetzt nicht die Kirche verlassen, wird das vermutlich Konsequenzen haben.<br />

71 Kirchenvorstandsprotokoll<br />

Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 42. Sitzung des KV St. Nikolai vom 29.08.1988, in dem über<br />

die neue Friedensgebetsordnung entschieden wird. Protokoll wurde von W. Hofmann angefertigt <strong>und</strong> von Pf.<br />

Führer, Sup. Magirius <strong>und</strong> einem weiteren Vorstandsmitglied unterzeichnet (ABL H 54).<br />

Tagesordnung: 1. Personalangelegenheiten [/] 2. Wochenende in Potsdam [/] 3. Friedensgebet [/] 4.<br />

Anfragen [/] 5. Ausstellungskonzeption 1989 [/] 6. Etwaige weitere Gegenstände<br />

[...] Zu 3.) Bericht durch Pf. Führer über die Arbeit mit der Durchführung der Friedensgebete jeweils<br />

montags.<br />

Eine Umbesinnung auf Inhalt <strong>und</strong> Form hat während der Sommerpause stattgef<strong>und</strong>en.<br />

Das am heutigen Tage stattgef<strong>und</strong>ene Friedensgebet wird in seinem Verlauf geschildert. Die<br />

anschließenden Störungen durch einige Teilnehmer wurden benannt.<br />

Eine Aussprache schließt sich an, in der auch kontroverse Meinungen aufeinander treffen.<br />

Superintendent Magirius verliest ein Schreiben an die Gruppen des Synodalausschusses „Frieden <strong>und</strong><br />

234 Aufzeichnung von Pf. Wonneberger, die im September 1988 unter Basisgruppenmitgliedern kursierte. Sup.<br />

Magirius hatte B. Moritz (AGF) versprochen, seinen Brief vom 15.08.1988 zu verlesen. Da dies nicht geschah,<br />

versuchte J. Läßig nach dem FG den Brief in der Kirche am Mikrophon zu verlesen. Daraufhin wurde dieses<br />

abgeschaltet. Er las jedoch weiter. Nach wenigen weiteren Worten <strong>und</strong> einem Handzeichen F. Magirius'<br />

übertönte dann die Orgel J. Läßigs kräftige Stimme. Daraufhin begann es in der Kirche unruhig zu werden.<br />

Wenig später schaltete A. Radicke den Orgelmotor ab. Nun konnte der Brief <strong>und</strong> die Protesterklärung vom<br />

25.08.1988 verlesen werden. Währenddessen stieg Pf. Führer auf eine Kirchenbank <strong>und</strong> gab diese Erklärung ab,<br />

die von Pfarrer Wonneberger aufgezeichnet wurde <strong>und</strong> im September 1988 von Basisgruppenmitgliedern<br />

verbreitet wurde (vgl. Rüddenklau, 181). Anschließend unterzeichneten ca. 200 Friedensgebetsteilnehmer die<br />

Protesterklärung der Basisgruppenmitglieder. Die Leitung des Theologischen Seminars wurde aufgr<strong>und</strong> dieser<br />

Vorgänge zum 02.09. in den RdB gebeten. In Vorbereitung dieses Gespräches trafen sich der Rektor <strong>und</strong> zwei<br />

weitere Dozenten mit F. Magirius. Dort wurde das Vorgehen von J. Läßig, T. Rudolph <strong>und</strong> - von Magirius<br />

fälschlicherweise mit in Verbindung gebracht - R. Müller als „Gewaltgebrauch von Theologiestudenten im<br />

gottesdienstlichen Raum gegen das Hausrecht der Gemeindeverantwortlichen“ qualifiziert. Läßig <strong>und</strong> Rudolph<br />

erhielten am 03.09.1988 daraufhin vom amtierenden Rektor des ThSL, Kähler, einen „Verweis im Sinne einer<br />

Mahnung“ (Mitteilung C. Kähler vom 05.05.1994, s. a. U. Kühn in: Vogler et al. (1993), 45).<br />

142


Gerechtigkeit“ <strong>und</strong> seine heutigen Kommentierungen dazu im Friedensgebet<br />

235 236 .<br />

Der Kirchenvorstand beschließt einstimmig die Ordnung, die ab sofort während des Friedensgebetes<br />

gelten soll.<br />

Begrüßung durch Nikolaipfarrer - Liedschriftlesung - Auslegung - Gebet/Kyrie -<br />

Information/Abkündigungen - Sendungswort - Lied.<br />

[...] Ende der Sitzung 22.25 Uhr<br />

72 Stasi-Information<br />

Treffbericht des Stasi-Leutnants Taucher der KD Leipzig-Stadt (Referat XX/2) vom 30.08.1988 über ein<br />

Treffen mit dem inoffiziellen Mitarbeiter „Sicherheit“ W. Saarstedt (IMS „Wolfgang“) (BStU Leipzig AIM<br />

1228/89 II/1, 185f.).<br />

Der IMS nahm auftragsgemäß am Friedensgebet vom 29.08.1988 in der Nikolaikirche teil. [/] Am Gebet<br />

nahmen ca. 350-400 Personen teil. Das Gebet wurde durch die Sup. Richter <strong>und</strong> Magirius sowie Pfarrer<br />

[...] gestaltet. Durch diese wurde bekanntgegeben, daß die zukünftigen Friedensgebete in Verantwortung<br />

der Nikolaikirchgemeinde gestaltet werden <strong>und</strong> eine Beteiligung der sog. Basisgruppen nicht mehr<br />

erfolgen soll. Des weiteren soll in den zukünftigen Friedensgebeten wieder das Hauptaugenmerk auf den<br />

eigentlichen Sinn der Gebete, dem Gebet für den Frieden <strong>und</strong> die Wahrung der Schöpfung gelegt werden.<br />

An die anwesenden ÜSE gerichtet wurde gesagt, daß diese sich zukünftig an die jeweiligen Gemeinden<br />

wenden sollen <strong>und</strong> diese verstärken sollen. [/] Das durch die beiden Superintendenten <strong>und</strong> Pfarrer Führer<br />

gestaltete Friedensgebet trug nach Auffassung des IM einen rein religiösen Charakter, fand aber bei den<br />

Anwesenden zum überwiegenden Teil keine Zustimmung. [/] Nach Ende des eigentlichen Teiles des<br />

Friedensgebetes wurde versucht, einen Brief des Sup. Magirius an die Basisgruppen zu verlesen. Auf ein<br />

Zeichen von Sup. Magirius wurde dies vorerst durch den Einsatz der Orgel unterb<strong>und</strong>en. Durch<br />

vermutlich den [...] wurde das Orgelspiel wieder unterbrochen. Es kam im Anschluß daran zum Verlesen<br />

des genannten Briefes sowie einem Protestbrief [sic!] einer Basisgruppe. Der IM war der Auffassung, daß<br />

dieser Protestbrief durch Mitglieder der IG „Leben“ verfaßt wurde. Dazu wurde eine<br />

Unterschriftensammlung gemacht. Durch den IM konnten dabei als Teilnehmer neben dem [...], der [...]<br />

- eine männl. Person, kurzer Igelschnitt mit einem kleinen Zopf <strong>und</strong> Brille, ca. 180-185 cm <strong>und</strong> ca. 25<br />

Jahre alt, möglicherweise Mitglied der Nikolaikirche<br />

- sowie eine weibliche Person, ca. 165 cm groß, ca. 25 Jahre, langes dunkelblondes Haar festgestellt<br />

werden.<br />

Inhaltlich konnte der IMS zu beiden Schreiben keine näheren Angaben machen, da in der Kirche kaum<br />

etwas zu verstehen war. Durch Pfarrer [... Führer] wurden die Anwesenden mehrfach zum Verlassen der<br />

Kirche aufgefordert. Die Anwesenden verließen die Nikolaikirche dann mit Unmut <strong>und</strong> <strong>und</strong>iszipliniert. [/]<br />

Beim Verlassen der Kirche hörte der IMS, daß dann aufgerufen wurde, daß man sich am Sonntag, dem<br />

04.09.1988, 9.45 Uhr mit Fahrrädern vor der Nikolaikirche treffen will <strong>und</strong> nach Beucha fahren wolle. Als<br />

Kennzeichen soll ein weißes Band am Lenker des Rades befestigt werden. Angaben zur Person konnte der<br />

IMS dabei nicht machen, da das Gedränge zu groß war. [/] Anzeichen für eine geplante Besetzung der<br />

Kirche konnte der IMS nicht feststellen. Als weitere operativ-bekannte Teilnehmer waren dem IMS die<br />

Mitglieder der AG „Menschenrechte“ [... es folgen zwei Namen] bekannt.<br />

Durch den [...] erfuhr der IMS, daß die AG „Menschenrechte“ am 25.08. sich in einer nicht genannten<br />

Wohnung traf <strong>und</strong> ein Programm für dieses Friedensgebet erarbeitet hatte. Am Sonnabend, 27.08., traf<br />

sich die AG „Menschenrechte“ im Gemeindehaus des Wonneberger, Christoph/OV „Lukas“/KD Leipzig-<br />

Stadt <strong>und</strong> wollten mit diesem nochmals beraten. Durch den W. wurde ihm dabei gesagt, daß sie kein<br />

Programm erarbeiten brauchten. Er habe durch einen Anruf von Sup. Magirius erfahren, daß die<br />

Friedensgebete durch die Nikolaikirche gestaltet werden. Eine Wertung traf Pfarrer W. dabei nicht.<br />

Der IMS wird am Friedensgebet am 05.09.1988 teilnehmen sowie an der nächsten Zusammenkunft der<br />

235 s. Dok. 64<br />

236 s. Dok. 69<br />

143


AG „Menschenrechte“ <strong>und</strong> dem MA berichten.<br />

73 Innerkirchliche Mitteilung<br />

Brief des katholischen Kaplans F. Fischer des Lindenau-Grünauer Friedenskreises vom 01.09.1988 an Sup.<br />

Magirius, in dem er gegen den Beschluß des Kirchenvorstandes der Nikolaikirchgemeinde protestiert.<br />

Vorlage ist eine Xerokopie des Durchschlages gewesen (ABL H 1).<br />

Lieber Bruder Magirius!<br />

Ich schreibe Ihnen diesen Brief aus Trauer <strong>und</strong> Bestürzung über das Vorgehen im Zusammenhang mit<br />

dem Friedensgebet in der Nikolaikirche. So weit mir von Dr. Georg Pohler, dem Vertreter unseres<br />

Lindenau-Grünauer Friedenskreises im Bezirkssynodalausschuß, bekannt ist, hat dieser auf seiner Sitzung<br />

am 29.3. mit 14 zu 3 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen einen verbindlichen Entschluß zur<br />

Verfahrensweise <strong>und</strong> Durchführung des Friedensgebets in der Nikolaikirche gefaßt 237 . Eine Revision<br />

dieses Beschlusses ist meines Wissens noch bis jetzt nicht erfolgt. Deshalb bin ich über das von Bruder<br />

Führer Verkündete bestürzt, da dieser Beschluß offensichtlich ohne Rücksprache mit den beteiligten<br />

Gruppen erfolgte. Jedenfalls hat unsere Gruppe solch eine briefliche Anfrage über die Weiterführung der<br />

Friedensgebete, auf die Bruder Führer am Montag Bezug nahm, nicht erhalten. Wir sind im Gegenteil<br />

nach wie vor sehr an einer Mitarbeit beim Friedensgebet interessiert.<br />

Mir hat durchaus nicht alles gefallen, was im Frühjahr als Friedensgebet ausgegeben wurde. Aber ich<br />

meine, daß solche Fragen <strong>und</strong> Probleme miteinander besprochen <strong>und</strong> im Geist der Botschaft Christi <strong>und</strong><br />

seines Auftrags an uns geklärt <strong>und</strong> nicht administrativ entschieden werden sollten. Ich würde es deshalb<br />

sehr bedauern, wenn es jetzt durch vorschnelle Aus- <strong>und</strong> Abgrenzungen zu unnötigen Spaltungen käme<br />

<strong>und</strong> wieder Emotionen an die Stelle inhaltlicher Argumentation träte. Wenn wir jetzt das Gespräch<br />

abbrechen, mit wem sollen dann wir Leipziger Delegierten [der Ökumenischen Versammlung für<br />

Gerechtigkeit, Frieden <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung] im November eigentlich über die Materialien der<br />

Magdeburger Versammlung reden? Wer soll dann in Leipzig den konziliaren Prozeß weiter voranbringen?<br />

Ich schlage deshalb vor, mit den bisher beteiligten Gruppen noch einmal zu reden <strong>und</strong> in aller Offenheit<br />

die anstehenden Probleme auf den Tisch zu legen 238 . Das sollte möglichst bald geschehen. Wir sind dabei<br />

gern zu einer konstruktiven Mitarbeit bereit.<br />

In Christus verb<strong>und</strong>en<br />

Schalom! Hans-Friedel Fischer<br />

74 Stasi-Notizen<br />

Aufzeichnungen vom Leiter des Referates XX/9 (Zeitzschel) der BV des MfS zu einer Beratung mit dem 1.<br />

Stellvertreter des Leiters der Leipziger BV (Eppisch) am 05.09.1988, 10.00 Uhr, zum Einsatz der<br />

Sicherheitskräfte am Abend des gleichen Tages (BStU Leipzig AB 1161).<br />

1. Zur Lage 239<br />

237 Im Protokoll der BSA-Sitzung von Pf. Kaden heißt es: „Antrag Sup. Magirius: Die Gruppen sollen in den<br />

nächsten Friedensgebeten, die den Rahmen einer Großveranstaltung angenommen haben, die Begleitung eines<br />

verantwortl. Pfarrers suchen <strong>und</strong> akzeptieren. Begründung: Öffentliche Wortverkündung nur durch von Kirche<br />

dazu Beauftragte. [/] - Kontroverse Diskussion [/] - Ergebnis Abstimmung 14 Ja / 8 Enth. / 3 Nein [/] Auflage:<br />

Nur vorübergehende Lösung bis 9. Mai [/] Nachgespräche über a) Inhalte des Friedensgebets (Gruppenthema) [/]<br />

b) über aktuelle Problematik/Anlässe [...]“ Diese Regelung wurde am 29.04.1988 <strong>und</strong> am 17.06.1988 verlängert<br />

(bis 31.10.1988) (ABL H 2)<br />

238 An diesem Donnerstag (01.09.1988) fand ein erstes „Gespräch“ zwischen Sup. Magirius, Pf. Führer <strong>und</strong> einigen<br />

Gruppenvertretern im Jugendpfarramt statt. Dabei kam es jedoch zu keiner Verständigung.<br />

239 Am Morgen des 02.09. rief Mielke bei Hummitzsch an. Hummitzsch notierte dazu: „vorbeugende Arbeit [/]<br />

Dokumentierung [/] Festnahme“ (BStU Leipzig AB 3843, 46).<br />

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denkbar: - „Kirchenbesetzung“ durch ÜSE <strong>und</strong> / oder Vertreter Basisgruppen [...]<br />

Ziel: Provokationen ohne Polizei-Aktion, politisch klug unterbinden [/] kein Futter für Westmedien<br />

liefern<br />

Idee für Einsatz:<br />

1. Zutritt zu Niko kann nicht behindert werden<br />

2. Bei Anmarsch noch keine Präsens demonstrieren<br />

3. Während FG Kräfte entfalten (mit dem Ziel der Zersetzung/Abdrängung sich bildender<br />

Formationen) zeigen von Transparenten u.ä. unterbinden<br />

− neben Kräften MfS auch gesellschaftliche Kräfte <strong>und</strong> VP in Zivil [/] „Optik“ der Westpresse<br />

beachten<br />

− unsere Gruppen 1: 10 (selbständig in kleinen Formationen handeln) [...]<br />

−<br />

[Leiter der KD Leipzig-Stadt] Schmidt [verantwortlich für] 3 Stützpunkte in der Innenstadt<br />

150 gesellschaftliche Kräfte ([SED-]Stadtleitung)<br />

HA II 5 Teams, die aktiv werden könnten [/] 5 Fotographen<br />

Mehner/“Spiegel“ sollte heute nicht in Lpz. sein<br />

75 Samisdat-Veröffentlichung<br />

„Die Kirche“ ist eine ohne Lizenz hektographierte 11-seitige engbeschriebene Dokumentation über das<br />

geheimgehaltene Staat-Kirche-Gespräch am 19.02.1988, welche vom AK „Gerechtigkeit“ Anfang August<br />

1988 hergestellt <strong>und</strong> am 5. September 1988 während des Friedensgebetes verteilt wurde (ABL Box 10).<br />

[Deckblatt:] Die Kirche, [folgende Seite:]<br />

die seit dem Februar keine Ruhe gef<strong>und</strong>en hat <strong>und</strong> sie wohl auch nicht finden kann, solange sie sich in der<br />

Spannung zwischen ihrer Unterordnung unter einen autoritären Staat <strong>und</strong> ihren ebenso konservativen<br />

eigenen Traditionen einerseits <strong>und</strong> ihrer zunehmend emanzipatorische Bedürfnisse artikulierenden <strong>und</strong> ein<br />

eigenes Verständnis vom Evangelium entwickelnden zukünftigen Basis andererseits zerreißen läßt.<br />

(Fußnote³, letzte Seite 240)<br />

„Wir schwimmen <strong>und</strong> treiben in einer Unzahl von Problemen. Schlag auf Schlag erreichen uns die<br />

Nachrichten. Hungersterben der Massen, Krieg <strong>und</strong> sinnlose Vernichtung, das Sterben der Natur,<br />

Ungerechtigkeit <strong>und</strong> Unterdrückung. Wir haben uns daran gewöhnt. Eine wirkliche Betroffenheit darüber<br />

spüre ich in mir selten. Wir sprechen über Veränderungen, aber ändern nichts. Wir handeln ständig wider<br />

besseres Wissen. Wir werden abgebrüht. Das Grauen schleift sich ab. Sind wir noch wirklich betroffen?<br />

Sloterdijk: ‘Die Spannung zwischen dem, was kritisieren will, <strong>und</strong> dem, was zu kritisieren wäre, ist so<br />

überzogen, daß unser Denken h<strong>und</strong>ertmal eher mürrisch als präzise wird. Kein Denkvermögen hält mit<br />

dem Problematischen Schritt. Daher die Selbstabdankung der Kritik. In der Wurstigkeit gegen alle<br />

Probleme liegt die letzte Vorahnung davon, wie es wäre, ihnen gewachsen zu sein. Weil alles<br />

problematisch wurde; ist auch alles irgendwo egal.’<br />

In den letzten Wochen hat uns die Wirklichkeit in unserem eigenen Lande eingeholt. Die Strukturen<br />

unserer Gesellschaft wurden wieder deutlich. Gewalt gegen Meinungsfreiheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit. Da<br />

waren wir wieder betroffen. ... Verwirrt blieben wir als Zuschauer zurück, ohnmächtig, wütend. Wer rief<br />

eigentlich noch die Gerechtigkeit aus? Der Staat? Die Kirche? Die Ausgereisten? Die Gerechtigkeit blieb<br />

auf der Strecke.“<br />

Seit Ludwig Drees diese Worte auf der Ökumenischen Versammlung in Dresden sprach 241 , hat sich in<br />

diesem Lande nur Eines [sic!] verändert. Die „Gewalt gegen Meinungsfreiheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ wird<br />

240 Dieser Satz, der als Titelblatt der Dokumentation verwendet wurde, war der von der IFM herausgegebenen<br />

Dokumentation um die Vorgänge nach den Inhaftierungen am 17. <strong>und</strong> 25. Januar 1988 in Berlin („fußnote³“)<br />

entnommen.<br />

241 Dieses „Zeugnis der Betroffenheit“ wurde von L. Drees auf der ersten Session der Ökumenischen Versammlung<br />

in der DDR am 13.02.1988 in Dresden vorgetragen <strong>und</strong> kursierte in verschiedenen hektographierten Fassungen in<br />

Gemeindekreisen.<br />

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jetzt verschwiegen <strong>und</strong> vertuscht. In den Augen einiger Kirchenmänner - Helfer der Opfer <strong>und</strong> Helfer der<br />

Täter - <strong>und</strong> verschiedener Leute mit Verantwortung sind die Opfer der Diktatur nur Querulanten. Die<br />

Opfer, wo sie schließlich seien, stören das Geschäft - das Geschäft verschiedener Politiker <strong>und</strong> das<br />

Geschäft verschiedener Geschäftemacher. Die Last, die auf die Brust der Opfer gelegt ist, kann<br />

unerträglich werden.<br />

Das hier vorliegende Heft will öffentlich machen, worüber zu reden nur im Flüsterton erlaubt ist.<br />

Am 19. Februar 1988 gab es eine Begegnung zwischen Dr. Jarowinsky <strong>und</strong> Landesbischof Dr. Leich im<br />

Gebäude des Staatsrates, über die weder Staat noch Kirche etwas verlautbarten242 . Die Hatz auf<br />

Antragsteller auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft, die Ereignisse um die Sophienkirche Ende<br />

Februar <strong>und</strong> Anfang März243 , die Eingriffe des Presseamtes in die kirchliche Publizistik <strong>und</strong> das<br />

Ordnungsstrafverfahren gegen die Herausgeber des innerkirchlichen Informationsblattes „Kontext“ auf<br />

der einen Seite <strong>und</strong> die Angst kirchenleitender Persönlichkeiten vor zu deutlich innenpolitischem<br />

Engagement der kirchlichen Basisgruppen auf der anderen Seite sind zwei Seiten ein <strong>und</strong> desselben<br />

Sachverhaltes.<br />

Dieses Heft will offenlegen, was über das Gespräch von staatlicher (Dokument I/1) <strong>und</strong> kirchlicher<br />

(Dokument I/2) Seite an die „unteren Ebenen“ weitergegeben wurde.<br />

Die Herausgeber<br />

Anfang August 1988<br />

[Es folgen: die Wiedergabe des SED-Papiers „An die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen <strong>und</strong> der<br />

Kreisleitungen der SED“ vom 18.02.1988, welches Jarowinsky am 19.02.1988 dem Vorsitzenden des<br />

B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen in der DDR, Landesbischof Dr. Leich, vorlas <strong>und</strong> der „Vertrauliche<br />

Vermerk“ von OKR Ziegler über dieses „Gespräch“ 244.]<br />

76 Basisgruppenerklärung<br />

Offener Brief von verschiedenen Basisgruppenmitgliedern an Bischof J. Hempel vom 05.09.1988, in dem sie<br />

gegen die Entscheidung des Kirchenvorstandes protestieren. Der Brief wurde Bischof J. Hempel am selben<br />

Abend von A. Holicki (AK „Gerechtigkeit“) in Dresden übergeben. Er wurde hektographiert <strong>und</strong> während des<br />

Friedensgebetes verteilt (ABL H 1).<br />

Offener Brief 245<br />

Sehr geehrter Herr Landesbischof Dr. Hempel!<br />

Wir, d.h. Mitglieder der Leipziger kirchlichen Basisgruppen Initiativgruppe Leben, Arbeitskreis<br />

Gerechtigkeit, Arbeitsgruppe Umweltschutz, Arbeitskreis Solidarische Kirche, wenden uns auf diese<br />

ungewöhnliche Weise <strong>und</strong> direkt an Sie, da wir durch verschiedene Vorfälle in einen inzwischen sehr<br />

242 Die Jarowinsky-Rede ist veröffentlicht u.a. in: epd-Dok. 43/1988 (17.10.1988), S. 61-65. (s.a. Anm.161) Die<br />

Jarowinsky-Rede ist in Zusammenarbeit mit der HA XX/4 (Oberst Wiegand) entstanden <strong>und</strong> gibt sowohl SED-<br />

als auch die MfS-Position deutlich zu erkennen (s. Handakte Wiegand - BStU HA XX/4 838). Die Quelle des<br />

AKG war zum einen (SED-Papier) der inoffizielle Stasi-Mitarbeiter B. Becker, der dieses Papier von R. Wötzel,<br />

Sekretär der SED-BL, erhalten haben soll, <strong>und</strong> zum anderen (kirchliches Papier) die IFM, mit der der AKG eng<br />

zusammenarbeitete. Der IFM wurde das Papier von M. Stolpe „zugespielt“. Die Kriminalpolizei vermutete bzw.<br />

behauptete, daß diese Dokumentation vom BEK herausgegeben wurde (s. Dok. 79). Unter den Stasi-Unterlagen<br />

konnte von den Herausgebern kein Hinweis über die Quellen gef<strong>und</strong>en werden. Auszüge der Jarowinsky-Rede<br />

wurden u.E. erstmals am 26.09.1988 durch eine Sendung von Radio 100 einer breiten Öffentlichkeit zugänglich<br />

gemacht.<br />

243 Gemeint sind die teilweise brutalen Behinderungen von Gottesdienstbesuchen durch zivile <strong>und</strong> uniformierte<br />

„Sicherheitskräfte“, die vor allem Ausreiwilligen galten.<br />

244 Aktenzeichen A 5002-484/88 des Sekretariats des BEK. Als Verteiler waren die Mitglieder der KKL <strong>und</strong> die<br />

Mitglieder der Arbeitsgruppe Koordinierung angegeben worden.<br />

245 Als Verteiler gab A. Holicki an: OLKR Auerbach, Sup. Magirius, Pf. Führer, Pf. Berger, W. Leich, M. Stolpe<br />

(Stellvertreter des Vorsitzenden des BEK), ENA, Der Sonntag, Die Kirche sowie an die Teilnehmer des FG am<br />

05.09.1988 in der Nikolaikirche (Brief vom 17.09.1988 an J. Hempel - ABL H 1)<br />

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ernsten Konflikt mit der Superintendentur Leipzig/Ost geraten sind, der nicht mehr intern gelöst werden<br />

kann. [/] Seine letzte Zuspitzung erhielt dieser Konflikt durch die Entscheidung des Superintendenten<br />

Friedrich Magirius, das seit 1981 bestehende wöchentliche Friedensgebet der Leipziger Basisgruppen zu<br />

beenden <strong>und</strong> an seiner Stelle eine Veranstaltung der Nikolaikirchgemeinde zu setzen.<br />

Diese Entscheidung ist von Sup. Magirius administrativ getroffen worden, zwar unter späterer Mitwirkung<br />

von Pfr. Führer/Nikolai, aber ohne den Kirchenvorstand der Nikolaigemeinde oder den mit der<br />

Organisation der Friedensgebete betrauten Bezirkssynodalausschuß der Leipziger Basisgruppen<br />

einzubeziehen 246. In seinem Brief an die Gruppen247<br />

begründet Sup. Magirius seine Entscheidung damit,<br />

daß die meisten Teilnehmer an den Zusammenkünften nicht interessiert <strong>und</strong> engagiert sind an den Fragen<br />

„Frieden - Gerechtigkeit - Bewahrung der Schöpfung“. Seine Begründung empfinden wir zum einen als<br />

diffamierend, zum anderen auch als unzutreffend. [/] Seine Unterstellung betrifft die gesamte Gemeinde<br />

des Friedensgebetes, die jeden Montag in großer Zahl, mit Interesse <strong>und</strong> Ausdauer die Gottesdienste<br />

besucht. Und selbst wenn die Mehrheit der Gemeinde sich nicht voll hinter den Inhalt der jeweiligen<br />

Botschaft der verschiedenen Gruppen stellen sollte, wäre das noch kein Gr<strong>und</strong>, die Verkündigung zu<br />

unterlassen. Wir müssen immer damit rechnen, daß unser von Jesus geprägtes Reden anderen als Torheit<br />

erscheint, was kein Gr<strong>und</strong> ist, nicht mit der Verkündigung fortzufahren.<br />

Sup. Magirius beteuerte der Gemeinde im Friedensgebet vom 29.08., daß seine Entscheidung „weder<br />

eigenmächtig, noch überheblich oder in irgend einer Abhängigkeit getroffen wurde, sondern einzig <strong>und</strong><br />

allein als eine Gewissensentscheidung in unserem Dienst als Pfarrer dieser Gemeinde vor dem lebendigen<br />

Gott“.<br />

Wir fühlen uns durch seinen Umgang mit uns sehr wohl eigenmächtig <strong>und</strong> überheblich übergangen.<br />

Außerdem schließen wir aus seinen widersprechenden Äußerungen, daß Sup. Magirius verschiedenen<br />

Abhängigkeiten unterliegt, die er uns nicht offenlegen will. [/] Wir haben Herrn Magirius dazu<br />

aufgefordert, sein Vorgehen in dieser Sache der Gemeinde offenzulegen <strong>und</strong> zu begründen, indem er<br />

seinen Brief verliest <strong>und</strong> seine Entscheidung zur öffentlichen Diskussion stellt. Vor dem Friedensgebet<br />

beteuerte er nochmals zwei Gruppenvertretern, daß er mit uns im Gespräch bleiben will. Auch versprach<br />

er, zumindest seinen Brief an die Gruppen im Friedensgebet am 29.08. verlesen zu wollen. [/] Dies ist<br />

nicht geschehen. [/] Der Gemeinde des Friedensgebetes ist dadurch sowohl jede Information über den<br />

tatsächlichen Sachverhalt als auch die Möglichkeit der Stellungnahme verwehrt geblieben. Um die von<br />

dem Verantwortlichen verwehrte Information <strong>und</strong> Aussprache doch noch möglich zu machen, haben wir<br />

das in der Nikolaikirche auferlegte Sprechverbot mißachtet <strong>und</strong> im Anschluß an das Friedensgebet den<br />

Versuch unternommen, uns in der Kirche mit unserem Anliegen Gehör zu verschaffen.<br />

Ergänzt sei hier noch, daß Pfarrer Führer zu Beginn des Friedensgebetes der Gemeinde eine Erklärung zur<br />

veränderten Ordnung der Veranstaltung gegeben hat, die aber auf einer falschen Voraussetzung beruhte.<br />

Nach dieser Version habe es vor der Sommerpause Unklarheiten in der Gestaltung des Friedensgebetes<br />

gegeben. Der Kirchenvorstand von Nikolai hätte deshalb an die Vorsitzenden der Gruppen ein Schreiben<br />

gesandt, mit der Bitte um ein Nachdenken über eine neue Ordnung, die mit den beteiligten Gruppen<br />

ausgewogen zu erörtern sei. [/] Dies ist unzutreffend. Ein Schreiben des Kirchenvorstandes erging, wie<br />

wir am 01.09. erfuhren, lediglich an Sup. Magirius, Pfr. Dr. Berger <strong>und</strong> Pfr. Wonneberger, in dem der<br />

Kirchenvorstand empfiehlt, „die mehrfach bei uns eingegangenen Äußerungen der Unzufriedenheit über<br />

den derzeitigen ‘Zustand’ der Friedensgebete ernsthaft zu prüfen <strong>und</strong> weiterführende Überlegungen<br />

anzustellen.“ [/] Die genannten „Äußerungen“ sind in der Zwischenzeit weder den Angeschriebenen noch<br />

gar den Gruppenvertretern zur Prüfung zugänglich gemacht worden.<br />

Durch die Art des Umgangs, die Sup. Magirius in dieser Sache als auch in verschiedenen anderen<br />

Angelegenheiten der letzten Zeit gezeigt hat, hat er unseren Respekt als kirchenleitende Persönlichkeit,<br />

unser Vertrauen auf seine geistliche Kompetenz <strong>und</strong> unseren Glauben an seine moralische Integrität<br />

verloren. Seine Äußerungen vor den Gruppenvertretern widersprachen seinem Auftreten in anderen<br />

kirchlichen Gremien. Wir gewinnen den Eindruck, daß Sup. Magirius bewußt Mißverständnisse schafft<br />

246 Mit diesen Sätzen wird der Eindruck der Gruppenmitglieder wiedergegeben, der sich am 01.09. anläßlich des<br />

Gespräches mit Superintendent Magirius <strong>und</strong> Pfarrer Führer einstellte.<br />

247 s. Dok. 64<br />

147


<strong>und</strong> Voreingenommenheit bei Pfarrern gegen unsere Arbeit erzeugt, um unser Engagement zu behindern.<br />

Wir müssen uns immer wieder die Frage stellen, ob diese Vorgehensweise wirklich einer christlichen<br />

Motivation entspringt oder ob Sup. Magirius andere Interessen vertritt.<br />

Sup. Richter legte in seiner Predigt zum Friedensgebet am 29.08. den Text von der Heilung des<br />

Gelähmten (Apg. 3) aus, indem er die Bildsprache des Textes so deutete, daß wir alle „gelähmt“ sind <strong>und</strong><br />

der Befreiung bedürfen, die allein durch das Wort Gottes möglich ist. Sup. Richter bezieht die Situation<br />

der Lähmung auf die Kirche, die er uns als eine Ohnmächtige vor Augen führte. Wenn wir den Text<br />

verfolgen, stellen wir fest, daß Petrus <strong>und</strong> Johannes in der Kraft des Evangeliums zu kompromißlosen<br />

Vertretern der Wahrheit befreit worden sind, die sie dem Volk verkünden. Dafür haben sie sich vor dem<br />

Hohen Rat zu verantworten <strong>und</strong> zwar nicht für ihre Ohnmacht, sondern für die Kraft, die sie aus dem<br />

Evangelium gewonnen haben (Apg. 4,20). Wir gewinnen aus dem Text der Apostelgeschichte die<br />

Erkenntnis, daß wir durch die befreiende Botschaft des Evangeliums nicht nur zur Verkündigung des<br />

Wortes gerufen sind, sondern daß das „steh auf <strong>und</strong> geh“ uns zum Handeln befreit <strong>und</strong> wir unsere<br />

Lähmung überwinden.<br />

In den von den Gruppen gestalteten Friedensgebeten kamen unterschiedliche Möglichkeiten des Handelns<br />

zum Ausdruck, verschiedene Versuche, sich für die Veränderung <strong>und</strong> Verbesserung der Gesellschaft zu<br />

engagieren. Um irgendeinen Erfolg unserer Arbeit zu ermöglichen, müssen wir viele Menschen erreichen<br />

<strong>und</strong> dürfen nicht ausschließlich zwischen den Gruppen oder mit Kirchenvertretern im Gespräch stehen.<br />

Wir brauchen die Öffentlichkeit. Wir sehen uns als Gruppen nun nicht mehr nur von staatlicher, sondern<br />

auch von kirchlicher Seite ins Abseits gedrängt. Es wird für uns immer schwieriger, die normalen<br />

innerkirchlichen Kommunikationsmöglichkeiten für unsere Arbeit zu nutzen.<br />

Wir bitten Sie, Herr Landesbischof Dr. Hempel, um Verständnis für unsere Situation. Wir bitten Sie, als<br />

geistliches Oberhaupt unserer Kirche ein klares Wort zum Umgang mit den Gruppen zu sprechen. Wir<br />

bitten Sie, bei Ihren Mitarbeitern Verständnis dafür zu wecken, daß ein Engagement für die Welt in den<br />

ganz verschiedenen Formen, die kirchliche Basisgruppen wahrnehmen, sehr wohl zu den Anliegen der<br />

Kirche zählt <strong>und</strong> eine Trennung zwischen denen, die das Wort Gottes zu Gehör bringen, <strong>und</strong> denen, die<br />

sich dafür einsetzen, daß dieses Wort Zeichen setzt <strong>und</strong> auch gesellschaftlich Gestalt gewinnt, weder<br />

sinnvoll noch christlich ist.<br />

Axel Holicki, Jochen Lässig, Andreas Ludwig, Rainer Müller, Gesine Oltmanns, Andreas Radicke, Uwe<br />

Schwabe, Frank Sellentin<br />

77 Basisgruppenerklärung<br />

Erklärung von Leipziger Basisgruppen, die J. Läßig am 05.09.1988 nach dem Friedensgebet vor der<br />

Nikolaikirche verlas. Typoskript (ABL H 1).<br />

Wir, d.h. einige Mitglieder der Leipziger kirchlichen Basisgruppen Gerechtigkeit, Initiative Leben <strong>und</strong><br />

Solidarische Kirche, machen heute noch einmal den Versuch, uns an die Öffentlichkeit zu wenden. Bisher<br />

hatten wir die Möglichkeit, das in der Kirche zu tun. Vor zwei Wochen wurde uns die Sprecherlaubnis<br />

durch die Verantwortlichen entzogen. Entgegen den öffentlichen Beteuerungen des Superintendenten <strong>und</strong><br />

des Pfarrers dieser Kirche, daß ihre Entscheidung allein vor ihren Gewissen <strong>und</strong> vor Gott getroffen ist,<br />

wissen wir, daß massiver äußerer Druck zur Absetzung des Friedensgebetes der Gruppen geführt hat.<br />

In den Gebeten sind öfter Stimmen laut geworden, die hier im Land nicht an die Öffentlichkeit dürfen;<br />

Unzufriedenheit mit Kirche <strong>und</strong> Staat - Protest gegen Unterdrückung - Aufruf zur Solidarität. Damit soll<br />

jetzt Schluß sein!<br />

Wir empfinden die Vorgänge um die Absetzung dieser kirchlichen Veranstaltung als skandalös:<br />

− zum einen, weil hier Entscheidungen von Leuten beeinflußt werden, die über das, was in einer Kirche<br />

passiert, nichts zu befinden haben, Leute, die sowohl national als auch international das Recht der<br />

freien Meinungsäußerung <strong>und</strong> das Recht der freien Religionsausübung für ihr Land als verwirklicht<br />

erklären,<br />

− zum anderen, weil die kirchlichen Vertreter die Verschleierung der tatsächlichen Sachverhalte<br />

148


mitbetreiben, indem sie ihr eigenes Reden <strong>und</strong> das Reden anderer nach der politischen Gefälligkeit<br />

zensieren.<br />

Wenn diese Haltung in der Kirche zur Regel wird, sehen wir die Glaubwürdigkeit dieser Institution<br />

gefährdet. Wir sehen uns als Christen <strong>und</strong> als Leute, die die Wahrheit lieben, verpflichtet, hier zu<br />

protestieren. Wir rufen alle Verantwortlichen dazu auf, die wahren Hintergründe ihrer Entscheidung<br />

offenzulegen <strong>und</strong> wenigstens in ihren Räumen das Recht der freien Meinungsäußerung aufrecht zu<br />

erhalten. Wir bitten um Solidarität aller, die so empfinden wie wir. Wir bitten all jene, denen die Freiheit<br />

der Kirche <strong>und</strong> die Freiheit der Meinungsäußerung in diesem Land am Herzen liegen, sich zu Wort zu<br />

melden.<br />

78 Staatlicher Ereignisbericht<br />

Auszug aus dem Durchschlag eines Briefes des Stellv. Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für<br />

Inneres, Reitmann, an den Staatssekretär für Kirchenfragen, Löffler, vom 05.09.1988, in dem die Situation um<br />

die Friedensgebete geschildert wird. Der Durchschlag wurde nicht unterzeichnet. Bearbeitungsspuren zeigen,<br />

daß K. Conrad die Information am 14.09. erhalten hatte (ABL H 53).<br />

Sehr geehrter Genosse Staatssekretär!<br />

Ihre Dienstberatung vom 25. 8. 1988 wurde im Bezirk gründlich ausgewertet. So fanden bereits am 26. 8.<br />

1988 eine außerordentliche Sitzung des „Kleinen Kollektivs“ statt. Es wurde Übereinstimmung erzielt,<br />

daß die kreislichen Organe umfassend in Ihre Aufgabenstellung zur Vorbereitung des B<strong>und</strong>essynode <strong>und</strong><br />

der II. Oekumenischen Versammlung in Magdeburg eingewiesen werden. [/] Die Einweisung der<br />

Stellvertreter für Inneres <strong>und</strong> Mitarbeiter Kirchenfragen des Rates der Stadt Leipzig <strong>und</strong> der Räte der<br />

Kreise erfolgte am 31. 8. 1988 im Beisein der Genossen Prof. Dr. Horst Dohle <strong>und</strong> Dieter Wieland. Ich<br />

halte diese Form der Teilnahme an Bezirksberatungen für sinn- <strong>und</strong> wirkungsvoll. [/] Eine weitgehende<br />

Konsultation fand mit dem Vorsitzenden des Bezirksverbandes der CDU statt. [/] Im Bezirk ist somit ein<br />

gemeinsames Vorgehen der staatlichen Organe <strong>und</strong> der Arbeitsgruppe „Christliche Kreise“ gesichert. [/]<br />

Zu ihrer Aufgabenstellung in bezug auf die Gesprächsführung mit den Synodalen des B<strong>und</strong>es kann ich<br />

wie folgt berichten:<br />

[...] Kennzeichnend für die kirchenpolitische Situation im Vorfeld der Synode ist das Bemühen der<br />

kirchenleitenden Persönlichkeiten in der Stadt Leipzig um eine Beruhigung der Gesamtsituation des<br />

Friedensgebetes in der Nikolaikirche. Das in den letzten Monaten zwischen staatlichen Organen <strong>und</strong><br />

kirchenleitenden Persönlichkeiten gewachsene Vertrauen kommt in eindeutigen Positionen beider<br />

Superintendenten zur Konsolidierung der Lage zum Ausdruck. [/] So hat sich Superintendent Magirius mit<br />

einem Offenen Brief an die Gruppen im Synodal-Ausschuß „Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ gewandt <strong>und</strong> sie<br />

zum Einhalten der Gesetze <strong>und</strong> Bestimmungen der DDR aufgefordert 248 . [/] Beide Superintendenten<br />

haben die Friedensgebete am 29.8. <strong>und</strong> 5.9. 1988 geleitet. Insbesondere Superintendent Magirius ist<br />

wegen seiner Position umfangreichen Anfeindungen im kirchlichen Raum ausgesetzt. Am Friedensgebet<br />

am 29.08.1988 nahmen ca. 600 Personen teil. Superintendent Richter trug einen längeren, rein<br />

theologischen Text vor, an den sich Fürbitten anschlossen. [/] Ohne direkte Bezüge wurden darin die<br />

Problemkreise „Menschliche Schwächen, stärkerer Austausch der Menschen untereinander,<br />

Wohlstandsdenken <strong>und</strong> Schädigung der Umwelt“ angesprochen. Danach forderte Superintendent Magirius<br />

auf, die Friedensgebete wieder zu ihrem Traditionsgehalt, dem Frieden auf der Erde, der Umwelt <strong>und</strong> der<br />

Gerechtigkeit bzw. des konziliaren Prozesses zu machen.<br />

Superintendent Magirius hob hervor, daß es sich bei dieser Orientierung um eine wohlüberlegte,<br />

gewissenhafte Entscheidung verantwortlicher Pfarrerschaft vor Gott handle. [/] Im Anschluß an diese<br />

Worte kam es zu Protesten <strong>und</strong> konfrontativen Angriffen gegen Magirius. Diese Angriffe wurden von<br />

Studenten des Theologischen Seminars vorgebracht. [/] In mehreren Gesprächen mit Magirius <strong>und</strong> der<br />

Leitung des Theologischen Seminars gelang es, gerade diesen Punkt als Verletzung des kirchlichen<br />

Regelwerkes darzustellen. Es besteht Übereinstimmung darüber, daß es nicht zugelassen werden kann,<br />

248 vgl. Dok. 64<br />

149


daß im kirchlichen Raum Studenten des Theologischen Seminars einen Leipziger Superintendenten<br />

politisch angreifen. [/] Das Friedensgebet am 5.9.1988 zeigte, daß diese Erkenntnis durch die Leitung des<br />

Seminars nicht gradlinig gegenüber ihren Studenten umgesetzt werden kann.<br />

Am Friedensgebet am 5.9.1988 hielt Superintendent Magirius im Beisein von Superintendent Richter die<br />

Predigt. Pfarrer Führer bezog nochmals Stellung zur Haltung der Kirche gegenüber der<br />

Basisgruppenarbeit im Friedensgebet. [/] In der Predigt von Superintendent Magirius wurde Bezug<br />

genommen auf die Grenze der DDR zur Volksrepublik Polen, die als Friedensgrenze Symbol der<br />

Fre<strong>und</strong>schaft zwischen den Völkern ist. [/] Magirius verwies gleichzeitig darauf, daß durch das<br />

Überschreiten der Grenze zwischen Deutschland <strong>und</strong> Polen der 2. Weltkrieg begann. Er stellte den Bezug<br />

zum 50. Jahrestag der Progromnacht her <strong>und</strong> verblieb in seiner gesamten Predigt im theologischen Raum.<br />

Im Anschluß an das Friedensgebet, an dem 650 Personen teilnahmen, versammelten sich einige<br />

Teilnehmer in Gruppen in der Kirche. Dabei kursierte ein „Offener Brief“ 249 an den Landesbischof<br />

Hempel <strong>und</strong> ein Material, das als „Die Kirche“ 250 bezeichnet wird. Beide Materialien werden im Original<br />

als Anlage beigefügt. Bei den Unterzeichnern des Briefes handelt es sich in der Mehrzahl um Studenten<br />

des Theologischen Seminars, über deren politisches Verhalten schon mehrfach mit der Leitung des<br />

Seminars gesprochen wurde. [/] Danach kam es zu einer losen Gruppenbewegung von ca. 150 Personen,<br />

die sich zum Marktplatz begaben. Es gab mehrere Versuche, sich an Händen zu halten bzw. einen Kreis<br />

zu bilden. Losungen <strong>und</strong> andere wurden nicht mitgeführt. Ähnlich wie am 14. März 1988 zur<br />

Frühjahrsmesse war eine große Zahl von westlichen Journalisten anwesend, die auf das Eingreifen der<br />

Sicherheitsorgane warteten. [/] Es kann eingeschätzt werden, daß diese Provokationen verhindert wurden.<br />

Bei den Personen handelt es sich vorwiegend um Antragsteller, zum Teil aus anderen Bezirken.<br />

Insgesamt zeigt sich, daß im Unterschied zur Frühjahrsmesse 1988 der Verlauf der Friedensgebete in der<br />

Kirche beruhigend wirkte. Durch die Haltung der Leipziger kirchenleitenden Persönlichkeiten konnte ein<br />

Aufputschen dieser Personen verhindert werden. Die staatliche Erwartungshaltung wurde somit<br />

weitestgehend durch Superintendent Magirius, Superintendent Richter u.a. erfüllt.<br />

Aus dem beigefügten Material geht hervor, daß sich dafür jetzt Superintendent Magirius gegenüber<br />

scharfen Angriffen verteidigen muß. Es wird deutlich, daß die kirchenpolitische Zielstellung, die<br />

Antragsteller aus kirchlichen Handlungen herauszubringen, hiermit weitestgehend erfüllt worden ist. [/]<br />

Die Kirche wird sich in Zukunft auf seelsorgerische Arbeit beschränken.<br />

Mit sozialistischem Gruß [/] Dr. Reitmann<br />

79 Polizeibericht<br />

Information vom Stellvertreter des Leiters K (Kriminalpolizei) <strong>und</strong> Leiter Dezernat I der BDVP Leipzig (steiha)<br />

vom 06.09.1988 über das Friedensgebet am 05.09.1989 251 . Die Information wurde unterzeichnet von<br />

Oberstleutnant Patzer. Bearbeitungsspuren weisen darauf hin, daß der Bericht an die Leiter der AKG, der<br />

Abteilung XX, an die KD Stadt <strong>und</strong> an Oberst Eppisch ging (ABL H 10).<br />

Information [/] über das Friedensgebet in der Nikolaikirche Leipzig am 5.9.1988<br />

Am 5.9.88 gegen 17.00 Uhr wurden die 500 bis 600 Teilnehmer des Friedensgebetes durch den Pfarrer der<br />

Nikolaikirche [/] Führer, Christian [/.../] begrüßt. Er begann seine Ausführungen damit, daß der Verlauf<br />

des letzten Friedensgebetes am 29.8.88 sowohl für die Kirche als auch für die Basisgruppen unangenehm<br />

war. Führer gab die Entscheidung der Kirche bekannt, daß die Friedensgebete weiter durchgeführt<br />

werden. Im Anschluß daran sprach der Superintendent des Kirchenbezirkes Leipzig-Ost [/] Magirius,<br />

Friedrich [/.../] M. erinnerte in seinen Ausführungen an den Beginn des 2. Weltkrieges durch den Überfall<br />

Hitler-Deutschlands auf Polen. Mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion trat eine Wende im<br />

Verlauf des Krieges ein, der letztendlich zum Untergang des Naziregimes führte. Auf die Geschichte der<br />

Friedensgebete eingehend äußerte Magirius, daß sie seit dem Zeitpunkt der ungehemmten Hochrüstung in<br />

249 s. Dok. 76<br />

250 s. Dok. 75<br />

251 Die Information beruht vermutlich auf Mitteilungen inoffizieller Mitarbeiter der Kriminalpolizei.<br />

150


Ost <strong>und</strong> West unter der realen Gefahr eines neuen Weltkrieges durchgeführt wurden.<br />

Seit einiger Zeit hat sich das Ost-West-Verhältnis gebessert, <strong>und</strong> da wurden Abrüstungsschritte<br />

eingeleitet. Daher hat sich der Charakter der Friedensgebete geändert, <strong>und</strong> es wurden<br />

Menschenrechtsfragen in den Mittelpunkt gerückt. Magirius forderte gesetzlich verbriefte Menschenrechte<br />

<strong>und</strong> Transparenz in staatlichen Entscheidungen, die die Menschen in der DDR betreffen. [/] Danach führte<br />

Magirius Bibelarbeit durch, die bei den Anwesenden auf wenig Interesse stieß. Im Anschluß daran führte<br />

der Superintendent des Kirchenbezirkes Leipzig-West [/] Richter, Johannes [/.../] die Fürbitte durch. [/]<br />

Seitens der Kirche war damit ein Ende des Friedensgebetes geplant. Durch die Basisgruppen,<br />

insbesondere die Initiativgruppe „Leben“ (IGL), wurde das Friedensgebet genutzt, um Forderungen an die<br />

Kirchenleitung sowie den Staat öffentlich zu stellen.<br />

Durch die IGL-Mitglieder [/] Schwabe, Uwe [...] [... zweiter Name geschwärzt] sowie einem „Mischa“<br />

(vermutlich handelt es sich um einen Arnold, Michael / war bei vergangenen Friedensgebeten bereits<br />

aktiv) wurden Forderungen verlesen, in denen die Kirchenleitung zu einer Stellungnahme über die weitere<br />

Arbeit der Basisgruppen <strong>und</strong> deren Einbeziehung in kirchliche Entscheidungen aufgefordert wird. Die<br />

Kirchenleitung soll veranlaßt werden, den Basisgruppen bei der Erreichung weiteren Einflusses in der<br />

Gesellschaft zu erreichen [sic!].<br />

Durch Mitglieder von Basisgruppen wurden an die Teilnehmer des Friedensgebetes zwei<br />

Vervielfältigungen verteilt. [/] In einem offenen Brief an den Landesbischof Dr. Hempel wurden die<br />

bereits genannten Forderungen formuliert <strong>und</strong> Beschwerde über die Arbeit der Superintendenten geführt.<br />

[/] Außerdem wurde eine Vervielfältigung verteilt, die über ein Treffen von Landesbischof Dr. Leich<br />

(Thüringen) mit Dr. Jarowinsky am 19. Februar 1988 im Staatsrat der DDR berichtet. Diese Schrift wurde<br />

offensichtlich von der Konferenz der ev. Kirchenleitungen (KeK) herausgegeben. Beide<br />

Vervielfältigungen liegen vor.<br />

Während des Friedensgebetes sollen Korrespondenten aus dem NSW anwesend gewesen sein. Weiterhin<br />

wurden zwei US-Amerikaner in der Kirche bemerkt, die Vervielfältigungen in Empfang nahmen. [/] Im<br />

Anschluß an die Verlesung <strong>und</strong> Verteilung der Forderungen der Basisgruppen formierte sich vor der<br />

Kirche eine Gruppierung, die im weiteren einen Schweigemarsch von der Nikolaikirche, durch die<br />

Mädlerpassage, am Capitol vorbei, um die Thomaskirche auf dem Markt durchführte.<br />

Als Organisatoren dieses Marsches wurden festgestellt: [/] die bereits genannten Personen [... geschwärzt]<br />

<strong>und</strong> Schwabe sowie der „Mischa“ [... 2 weitere Namen geschwärzt]. Am Marsch nahmen ca. 150<br />

Personen teil. Während der Kreisbildung am Markt wurde durch die Sicherheitsorgane der DDR<br />

eingeschritten <strong>und</strong> die nichtgenehmigte Veranstaltung aufgelöst 252 . Einige Teilnehmer des Marsches<br />

suchen die Konfrontation mit den Sicherheitsorganen. [/] Nach der Auflösung zerstreuten sich die<br />

Teilnehmer des Marsches von der Nikolaikirche aus. [/] Als Teilnehmer am Friedensgebet wurden<br />

weiterhin festgestellt [/ ... es folgen 6 Namen]. [/] A[...] berichtete, daß seine Ehefrau von einer<br />

genehmigten BRD-Reise nicht zurückkehrte <strong>und</strong> er deshalb einen Ausreiseantrag gestellt habe. A. zog<br />

Erk<strong>und</strong>igungen ein, in welchem Umfang er bei der Ausreise Familiengut mitnehmen kann, er versuchte<br />

entsprechende gesetzliche Vorschriften zu erfahren. A. soll von Beruf Schornsteinfeger sein. [/]<br />

Entsprechend von Gerüchten, die in der Nikolaikirche kursierten, soll beim nächsten Friedensgebet am<br />

12.9.88 wiederum ein Marsch durchgeführt werden. Dabei kann es sich aber um eine gezielt ausgestreute<br />

Information handeln.<br />

80 SED-Information<br />

Chiffriertes Fernschreiben Nr. 278 vom 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung (H. Hackenberg) an den<br />

stellvertretenden Abteilungsleiter der Abteilung Parteiorgane, Sektor Parteiinformation beim ZK der SED (W.<br />

Lorenz), mit Informationen über das Friedensgebet am 05.09.1988 vom 07.09.1988 (SAPMO-BArch IV B<br />

252 Mitarbeiter des MfS setzten links neben diesen Satz ein großes Fragezeichen. Der Mielke-Stellvertreter R. Mittig<br />

hatte am 03.09.88 der BV Leipzig des MfS empfohlen, keinen „Aktionscharakter“ aufkommen zu lassen. Es<br />

sollte mit „Fingerspitzengefühl“ gearbeitet werden. Den Schwerpunkt sollte die „Dokumentation“ bilden (BStU<br />

Leipzig AB 3861).<br />

151


2/14/23).<br />

Werter Genosse Walter Lorenz!<br />

Wie gestern telefonisch abgesprochen, möchten wir dich über folgendes Vorkommnis informieren: Am<br />

05.09.1988 fand in der Zeit von 17.00 bis 17.45 Uhr in der Leipziger Nikolaikirche ein „Friedensgebet“<br />

statt, an dem ca. 650 Personen teilnahmen, davon ein großer Teil Übersiedlungsersuchender <strong>und</strong><br />

Mitglieder kirchlicher Basisgruppen, darunter Personen aus anderen Bezirken (u.a. Halle, Dresden sowie<br />

Berlin). Das Friedensgebet wurde hauptsächlich von Superintendent Magirius gestaltet <strong>und</strong> hatte in<br />

Fortsetzung der festgelegten Linie des Kirchenvorstandes der Nikolaikirche ausschließlich theologischen<br />

Charakter. [/] Das Friedensgebet verlief ohne Vorkommnisse. [/] Durch Mitglieder kirchlicher<br />

Basisgruppen kam eine größere Zahl von schriftlichen Materialien zur Verteilung. Eine von namentlich<br />

nicht bekannten Personen herausgegebene Schrift mit dem Titel „Die Kirche“, in der ausgehend von den<br />

Januarereignissen auf Widerspruch im Verhältnis zwischen kirchlicher Basis <strong>und</strong> Kirchenleitung sowie<br />

auf eine angebliche Druckausübung seitens staatlicher Organe gegenüber der Kirchenleitung hingewiesen<br />

wird. Mit der Schrift wollen die Herausgeber ‘öffentlich machen, worüber zu reden nur im Flüsterton<br />

erlaubt ist’ <strong>und</strong> publizieren deshalb für die ‘unteren Ebenen’ Auszüge aus einem Schreiben des ZK der<br />

SED an die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen/Kreisleitungen (ohne Datumsangabe), den Text der<br />

Erklärung, den Genosse Jarowinsky am 19.02.1988 Landesbischof Leich zur Kenntnis gab sowie einen<br />

innerkirchlichen ‘vertraulichen Vermerk’ über diese Begegnung am 19.02.1988 an die Mitglieder der<br />

Konferenz evangelischer Kirchenleitungen. 253<br />

Einen ‘Offenen Brief’ an Landesbischof Hempel vom 05.09.1988, der von bekannten Mitgliedern der<br />

kirchlichen Basisgruppen Arbeitskreis ‘Gerechtigkeit’, AG ‘Umweltschutz’, IG ‘Leben’ <strong>und</strong> Arbeitskreis<br />

‘Solidarische Kirche’ unterzeichnet ist <strong>und</strong> in dem auf Gr<strong>und</strong> der Entscheidung, die Friedensgebete auf<br />

ihren theologischen Inhalt zurückzuführen <strong>und</strong> die Basisgruppen von der Gestaltung der Friedensgebete<br />

auszuschließen, von einem ‘ernsten Konflikt’ zwischen den Basisgruppen <strong>und</strong> der Superintendentur<br />

geschrieben wird, dessen Lösung im Sinne der Basisgruppen durch Einschaltung von Landesbischof<br />

Hempel erhofft wird.<br />

Nach dem „Friedensgebet“ wurden vor der Kirche durch Vertreter kirchlicher Basisgruppen<br />

Protestschreiben verlesen, die sich gegen ihren Ausschluß aus der Gestaltung von „Friedensgebeten“<br />

richten.<br />

18.20 Uhr kam es, nachdem der größte Teil der Teilnehmer des „Friedensgebetes“ sich bereits von der<br />

Kirche entfernt hatte, zu einer Bewegung von ca. 150 Personen, die durch die Grimmaische Straße -<br />

Mädlerpassage zur Thomaskirche über den Markt zur Nikolaikirche zurück führte.<br />

Bestrebungen zur Formierung von Ketten bzw. zu Kreisen wurden durch den Einsatz gesellschaftlicher<br />

Kräfte unterb<strong>und</strong>en. Die Teilnehmer der Personenbewegung führten keine Transparente, Symbole oder<br />

andere Zeichen mit sich; es erfolgten keine anderen öffentlichen Bek<strong>und</strong>ungen. Durch die Bewegung kam<br />

es zu keiner Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung; sie hatte nur geringe<br />

Öffentlichkeitswirksamkeit. Wir bitten, die Abteilung für Sicherheitsfragen über dieses Fernschreiben zu<br />

informieren.<br />

Mit sozialistischen Gruß [/] H. Hackenberg [/] 2. Sekretär<br />

81 Ereignisbericht<br />

Handschriftliche Aufzeichnung von F. Kowasch nach dem Schweigemarsch am 05.09.1988. Das Blatt hatte er<br />

in seiner Wohnung versteckt. Nach seiner Verhaftung am 16.01.1989 wurde dieser Bericht bei der<br />

Wohnungsdurchsuchung durch das MfS beschlagnahmt (BStU Leipzig AU 472/89 UV, 61).<br />

Messezeit bedeutet - neben der dekadenten Selbstdarstellung - jetzt auch die Möglichkeit für<br />

253 Der Satz wurde im ZK unterstrichen. Am Rand vermerkte R. Bellmann: „Si.-Prüfg. [... nicht zu entziffern]<br />

Part.Organe [... nicht zu entziffern]“. Es ist anzunehmen, daß er eine Sicherheitsüberprüfung forderte, denn das<br />

Schreiben des ZK unterlag besonderen Geheimnisvorschriften.<br />

152


Ausreisewillige <strong>und</strong> politisch Engagierte, sich mit ihren Anliegen öffentlich zu machen. Schwerpunkt<br />

hierfür ist seit der innenpolitischen Verschärfung im Winter 1987/88 die Nikolaikirche, in der montäglich<br />

Friedensgebete abgehalten werden. Zum Ausdruck kam hier besonders das Gefühl der Ohnmächtigkeit<br />

<strong>und</strong> täglich erfahrbarer Entmündigung. Als Folge davon entstand immer stärker werdender Zorn, der sich<br />

erstmals zur Frühjahrsmesse in einem Schweigemarsch von ca. 300 Mann zeigte. Während damals - in<br />

Vertretung des Staates - die Kirche mit „Scheingesprächen“ ventilartig geballten Unmut auffing,<br />

kristallisierte sich in der Folgezeit die Ausgrenzung progressiver Basisgruppen heraus. Ein jetzt<br />

existierendes Redeverbot [der Gruppen im FG] ist der Gipfel einer machtintriganten Politik <strong>und</strong> eine<br />

Konzession an herrschende Organe. Der damit ausgelöste Unmut zeigte sich in Protesterklärungen,<br />

welche am 5. September 1988 vor der Kirche verlesen wurden. Obwohl es in Strömen regnete, harrten<br />

viele - wohl auch angesichts guter „Messeerfahrungen“ - aus. Da lange Zeit außer Diskussionen nichts<br />

geschah, entstand schließlich ein großer Kreis, aus dem heraus sich eine Kette marschartig in Bewegung<br />

setzte. Unter den Augen von Schaulustigen, Journalisten <strong>und</strong> zivilen Beobachtern schlossen sich ca. 200<br />

Mann dem schweigsamen Zug an. Von der Nikolaikirche ging es über Boulevard, Petersstraße zur<br />

Thomaskirche. Nachdem zuerst einige Windjackenträger blindbrutal seitlich in die Kette liefen,<br />

versuchten ihre Kollegen, nun schon zahlreicher, vor der Kirche den Kopf des Marsches<br />

auseinanderzunehmen. Nach Anweisungen wie „Geht nach Hause“ oder „Wir werden doch alle naß“<br />

zerrte man die ersten Teilnehmer in alle Himmelsrichtungen. Nichtsdestotrotz reaktivierte sich die Kette<br />

sofort massiver <strong>und</strong> wuchs auf dem Weg zum Markt dank der neuen Begleiter sogar erheblich an. Nach<br />

dem Versuch, dort einen Kreis zu bilden, griffen gewaltsam Stasibeamte ein. Von allen Seiten riß man die<br />

im Entstehen begriffene Kette auseinander. Viele wurden zeitweilig festgehalten oder massiv vom Markt<br />

vertrieben. Auch gab es einige ältere Leute, die sich am Ende herabließen, mit den Zivilbeamten über<br />

Ausreise zu diskutieren. Obwohl es keine Verhaftungen gab, zeigte doch das Agieren der abgerichteten<br />

H<strong>und</strong>ertschaft wieder einmal plastisch die Unmöglichkeit des Dialoges <strong>und</strong> baldiger Reformen. Es darf<br />

daher nicht verw<strong>und</strong>ern, daß sich an einer Gegenbewegung - wie beim Schweigemarsch ersichtlich - nicht<br />

nur ein Querschnitt der Bevölkerung beteiligt, sondern im zunehmenden Maße auch Leute ohne<br />

Ausreiseantrag. Denn wo persönliche Anliegen zerstört werden, hilft teilweise nur das Öffentlichmachen<br />

verallgemeinerbarer Erfahrungen zu konkreten Anlässen.<br />

82 Persönlicher Brief<br />

Brief von einem Friedensgebetsbesuchers an U. Schwabe vom 09.09.1988, in dem auf die Friedensgebete <strong>und</strong><br />

auf den Offenen Brief an Bischof J. Hempel eingegangen wurde (ABL H 1).<br />

Lieber Bruder in Jesus Christus!<br />

Seit einiger Zeit besuche ich regelmäßig das Friedensgebet in der Nikolaikirche, so auch am letzten<br />

Montag (5.9.). Vor Beginn wurden u.a. Abzüge eines Offenen Briefes an Landesbischof Dr. Hempel<br />

verteilt. Da Du Mitunterzeichner dieses Briefs bist, schreibe ich Dir. [/] Was war eigentlich der Gr<strong>und</strong> für<br />

diesen Brief? Das seit 1981 bestehende (aber erst viel später in die Hände der Basisgruppen gekommene)<br />

Friedensgebet wird fortgeführt. Verglichen mit den Friedensgebeten vor der Sommerpause hat sich in den<br />

ersten beiden Friedensgebeten im September zugegebenermaßen einiges geändert. Der theologische<br />

Gehalt ist verstärkt worden <strong>und</strong> die Sprache der Ausführenden ist friedlicher, eben einem Friedensgebet<br />

angemessener geworden. Das, was sich vor der Sommerpause Friedensgebet nannte, war doch oft mit<br />

üblen Entgleisungen gegen die staatliche Obrigkeit <strong>und</strong> gegen unsere Kirchenleitung verb<strong>und</strong>en. Frieden<br />

beginnt in den Herzen der Menschen. Ich hatte oft den Eindruck, daß viele der Schwestern <strong>und</strong> Brüder aus<br />

den Basisgruppen im Herzen (sicherlich aus guten Gründen) verbittert waren. Es konnte daher gar nicht<br />

erwartet werden, daß die bisherigen Friedensgebete wirklich ein Stück Frieden ausstrahlen würden. Im<br />

Gegenteil, da ich als Vertreter der CDU in einer FDJ-Stadtbezirksleitung ehrenamtlich tätig bin, merkte<br />

ich, daß unser Friedensgebet junge Marxisten verunsicherte <strong>und</strong> unser Friedenszeugnis, das wir als<br />

Christen verpflichtet sind abzulegen, unglaubwürdig machte. [/] In Eurem Brief sprecht Ihr von „unserm<br />

von Jesus geprägten Reden“. [/] Leider vermißte ich genau das oft genug während des Friedensgebetes<br />

<strong>und</strong> erst recht in Eurem Brief. Oder glaubt Ihr etwa, wenn Ihr Herrn Sup. Magirius bescheinigt, daß „er<br />

153


unseren Respekt als kirchenleitende Persönlichkeit, unser Vertrauen auf seine geistliche Kompetenz <strong>und</strong><br />

unseren Glauben an seine moralische Integrität verloren hat“, sei das „von Jesus geprägtes Reden“. Diese<br />

Worte wären dann gerechtfertigt, wenn das Friedensgebet durch die jüngsten Veränderungen<br />

zweckentfremdet würde. Aber das Gegenteil ist der Fall. Eine aus guten Gründen 1981 geschaffene<br />

Veranstaltung, zwischenzeitlich herabgesunken zu einem Instrument der Ausreiseantragsteller, ist nun<br />

wieder neu belebt worden. [/] Gott gebe, daß die geistliche Belebung anhält.<br />

Lieber Bruder, es steht doch fest, auch in Zukunft wird es ein Friedensgebet geben. Ich bitte Dich, sowie<br />

alle Schwestern <strong>und</strong> Brüder aus den Basisgruppen, laßt Euch nicht in den Strudel der Verbitterung reißen.<br />

Auch ich weiß, es gibt hier in diesem Staatswesen (wie natürlich überall auf dieser Welt) viele<br />

Ungerechtigkeiten <strong>und</strong> Mißstände. [/] Wir sollten den Geist Gottes dagegen setzen, aber dieser Geist ist<br />

ein Geist des Friedens <strong>und</strong> der Liebe. Verbitterung <strong>und</strong> Haß aber sind Diener des Satans. Gerade in der<br />

schwierigen Lage, in der wir uns im Augenblick befinden, müssen wir aufpassen, daß wir uns nicht zu<br />

Sklaven des Satans machen. [/] Darum bitte ich Dich, lieber Bruder, laß Deine Seele nicht verkrampfen,<br />

öffne sie für andere Menschen, wenn es sein muß für Deine <strong>Feinde</strong>, <strong>und</strong> laß dich von Jesus Christus<br />

ständig neu zum friedensstiftenden Handeln befreien. [/] In der Verb<strong>und</strong>enheit unseres christlichen<br />

Glaubens grüßt Dich<br />

[gez.] Dirk Metzig<br />

PS. [/] Es würde mich freuen, wenn Du auf meinen Brief reagiertest254 . [/] Du erreichst mich (außer<br />

natürlich unter meiner Adresse) jeden Montag nach dem Friedensgebet beim Küster von St. Nikolai Herrn<br />

Thomas Petersohn 255.<br />

83 Staatliche Einschätzung<br />

Auszug aus einer Information des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates für Inneres vom 12.09.1988 [in<br />

der Vorlage: 12.08.1988] über Gespräche mit Synodalen des B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen in der DDR.<br />

Die Information sandte Reitmann am 14.09.1988 an den Staatssekretär für Kirchenfragen. Mit<br />

Bearbeitungsspuren (ABL H 53).<br />

Die in den letzten Tagen geführten Gespräche mit den Synodalen [... es folgen vier Namen, gemäß StUG<br />

geschwärzt] erbrachten folgende Ergebnisse 256.<br />

[...]<br />

B<strong>und</strong>essynodaler [A... gemäß StUG geschwärzt] bedauerte, daß er zur Synode fahren muß. Er habe<br />

gehofft, in der Zeit der BEK-Synode in Indien zu weilen. Diese Reise sei ihm aber nicht erlaubt worden.<br />

Er gab an, daß er sich bisher kaum mit der Situation in Leipzig, speziell den Friedensgebeten in der<br />

Nikolaikirche, befaßt habe, bis auf den Montag, d. 5.9.88, wo er selbst in der Nikolaikirche anwesend war.<br />

Er möchte sich von den Verfassern des Briefes an Landesbischof Dr. Hempel distanzieren. Er ist voll<br />

gegen Ersuchsteller257 , sieht aber ein Problem, diese Personenkreise aus der Kirche hinauszubringen. Es<br />

besteht volle Einmütigkeit, daß diese Leute in der Kirche keine Plattform für antisozialistische<br />

Beweggründe haben können. Die Kirche hat jetzt den Auftrag, notwendige Mittel <strong>und</strong> Methoden zu<br />

finden, negative Gruppen aus den Kirchen herauszubringen. Ihn beschäftige dieser Gedanke des WIE?<br />

sehr, besonders auch im Zusammenhang mit dem in Leipzig geplanten Kirchentag 1989 sehr. Ein Rezept<br />

dafür habe er aber auch nicht gef<strong>und</strong>en. Er ist der Auffassung, daß die Lage in der Vergangenheit, seit<br />

Herbst 1987, im Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Kirche gespannt war <strong>und</strong> es absolut dringend ist, Normalität<br />

einziehen zu lassen.<br />

Der Landessynodale der sächsischen Synode, [B... gemäß StUG geschwärzt], ersuchte um ein Gespräch<br />

254 U. Schwabe hat auf diesen Brief nicht reagiert.<br />

255 T. Petersohn war inoffizieller Mitarbeiter des MfS (IMB „Wilhelm“, s. Besier/Wolf, 696ff.)<br />

256 Die Gespräche fanden in „Vorbereitung“ der B<strong>und</strong>essynode 1988 statt. Diese wurden vom StfK angeleitet<br />

(Dienstberatung des Staatssekretärs mit den in den Bezirken verantwortlichen am 25.08.1988 <strong>und</strong> Einweisung der<br />

Mitarbeiter in den Referaten Kirchenfragen im Bezirk am 31.08. u.a. mit H. Dohle) <strong>und</strong> mit dem MfS abgestimmt<br />

(außerordentliche Tagung des „Kleinen Kollektivs“) (Brief Reitmann an Löffler vom 05.09.1988 - ABL H 53).<br />

257 Gemeint waren Ausreisewillige.<br />

154


<strong>und</strong> teilte mit, daß er als Synodaler am 5.9.88 auch in der Nikolaikirche Leipzig gewesen ist. Er fühlte sich<br />

aufgefordert, daß er im Bereich der Ephorie Leipzig-Ost mit den Gruppen, die eine für die Nikolaikirche<br />

belastende Situation geschaffen haben, unbedingt reden muß. Die Lage darf nicht zugespitzt werden. Er<br />

habe mit einer Reihe von Leuten, mit Antragstellern auch aus seiner Kirchgemeinde viel Gespräche<br />

geführt, wo auch manches seiner Argumente aufgenommen werden mußte. Die Herausgabe des Briefes an<br />

Landesbischof Dr. Hempel <strong>und</strong> des internen Materials aus dem Gespräch Jarowinsky - Bischof Leich258 ist s. E. ein Verstoß gegen die sogenannte Praxis „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“ 259.<br />

[...]<br />

84 Stasi-Notizen<br />

Telefonprotokolle des Leiters der BV Leipzig des MfS (Hummitzsch) anläßlich des Friedensgebetes am<br />

12.09.1988 in seinem Arbeitsbuch (BStU AB 3843, 49-58).<br />

[... 260]<br />

Gen. Oberst - Mehr Aktivitäten muß BKG in Richtung Koordinierung entwickeln<br />

Eppisch am - Zusammenschlüsse<br />

10. Sept. 1988 - Friedensgebete [/] ? Ltg. Strenger261 26-Maßnahmen [/ folgender Name durchgestrichen:] Strenger/Conrad<br />

[Seite 264 50:]<br />

262 263<br />

11.9. [... es folgen drei nicht zu deutende Worte:] Larf / Connen. Holz<br />

Einsatz/Meinka (*XX/)<br />

ZKG/Niebling Abgestimmte Maßnahmen<br />

am 12.9.88 Kontrolle / PKW<br />

8.47 [... teilweise nicht zu entziffern. Es folgen Angaben über Ort - z.B.<br />

Autobahnauffahrten - an denen offensichtlich die Kontrollen stattfinden sollen]<br />

[Seite 51:]<br />

Gen. Niebling Jetzt klargestellt [/] m. VP<br />

ZKG am ca. 40 PKW Michendorf<br />

12.9.88 265 14.00<br />

258 s. Dok. 75<br />

259 Beide Publikationen waren ohne Lizenz <strong>und</strong> auch ohne kirchliche Vervielfältigungsnummer oder Aufdruck „Nur<br />

für den innerkirchlichen Gebrauch“ vervielfältigt worden!<br />

260 Den ersten Anruf Mittigs im dokumentierten Zusammenhang notierte Hummitzsch am 02.09.1988, 8.12 Uhr.<br />

Dort heißt es, daß Mittig am 03.09. in Leipzig sei, u.a. wegen „Maßnahmen nach Messe“ (BStU Leipzig AB<br />

3843, 46). Am 06.09.88, 9.47 Uhr notierte Hummitzsch zu einem Anruf Mittigs: „E.H. jetzt zugestimmt. [/]<br />

Können anfangen wegen Messe [folgendes Wort unterstrichen:] nicht Stadt/Land“ (BStU Leipzig AB 3843, 48).<br />

Aus dem Kontext ist anzunehmen, daß diese Mitteilung sich auf die VVS 62/88 des Ministers für Staatssicherheit<br />

bezieht, in der Maßnahmen gegen Ausreisewillige vorgeschrieben wurden, die auf ihren Ausreisewunsch<br />

öffentlich aufmerksam machten. Dazu gehörten z.B.: weiße Bänder an Autoantennen oder Außenspiegeln, Kreis<br />

oder ein „A“ im Wohnungs- oder Autofenster, Teilnahme an bestimmten Gottesdiensten, Treffen <strong>und</strong><br />

gemeinsame „Spaziergänge“... Die anzuwendenden Maßnahmen waren vor allem Ordnungsstrafen <strong>und</strong> Entzug<br />

der Fahrerlaubnis. Die Zunahme der Ausreisewilligen wurde durch das MfS als massive Bedrohung empf<strong>und</strong>en.<br />

So wurde bei der Referatsleiterbesprechung der Abteilung XX der BV Leipzig am 07.09.1988 mitgeteilt, daß<br />

zwischen Januar <strong>und</strong> August 1988 900 Personen aus Leipzig ausreisen durften <strong>und</strong> bis Dezember 1988 noch 500<br />

weitere „aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen“ würden. In einer Mitschrift der Sitzung heißt es in<br />

diesem Zusammenhang: „Genossen nicht resignieren. Appell an Genossen - Klarheit schaffen.“ (BStU Leipzig<br />

AB 1031) In den folgenden Tagen gab es jeweils morgens einen Anruf Mittigs, zu dem Hummitzsch vermerkte:<br />

„o.V. [vermutlich: ohne Vorkommnisse]“.<br />

261 stellv. Leiter der Abt. XX<br />

262 Die Abteilung 26 war für „Raumüberwachungen“, d.h. Wanzen, Richtmikrofone usw. zuständig.<br />

263 Leiter des für die Kirchen zuständigen Referates XX/4 der BV Leipzig<br />

264 Im AB sind die Angaben über Gesprächspartner <strong>und</strong> Datum stets außen.<br />

155


HA. VII 12 sind durch [/] wenn Fähnchen [/] zuführen<br />

266<br />

Schlichting Berechtigungsschein zurückweisen<br />

[Giem?], 14.35<br />

[Seite 52:]<br />

sollen die Nr. mit neue VP Hülle geben<br />

Bereich / 40 PKWs Gen[osse] [... nicht zu entziffern] stoppen [Abt.] VIII [/] KfZ-Kennzeichen<br />

[... 267]/VIII<br />

Nothing, VP.-Revier[e?] sichern<br />

ZKG Zuführungen<br />

am 12.9. Zugeführte [/] nach Berlin<br />

15.37 268<br />

3/3 Schkeuditz<br />

VP.-Rev. 151 [/] 1193 Treptow, Bulgarische Str.<br />

[Seite 53:]<br />

Nothing Nicht befragen<br />

15.55<br />

Neiber, MfS<br />

KOM [Busse] bereitstellen<br />

16.39 Lieber B 1000 [Barkas - Kleintransporter bzw. -bus]<br />

Richter [... Ortsname nicht zu entziffern] / 3<br />

16.46<br />

[Seite 54:]<br />

Engelsdorf / 3 [/] festgehalten<br />

Mittig 16.49 wollte sich nur informieren<br />

Müller, 16.45 100 / Drinnen [/] 100 / draußen 269 [groß:] ?<br />

16.55 / 350 / 100<br />

17 PKW (6/18) [/] [Autobahn-Kreuz bzw. Abfahrt] Schkeuditz<br />

ca. [ursprünglich 500, dann überschrieben:] 550 in Kirche<br />

Thomas, 17.25 22 Personen [/] zu transportieren [/] 2 PKW / 8 Personen flüchtig<br />

[Seite 55:]<br />

17.30 Predigt hält an<br />

Müller 40 [... rechtsgelegene ?]<br />

Zwischenrufe [/] weil Unzufriedenheit<br />

Mittig, 17.35 über Stand informieren<br />

Neiber, 17,40 ebenfalls informiert [/] xxx<br />

Müller Berlinerin / Frau [/] ruft zur Fürbitte auf<br />

17.48 für die nicht [... kommen?] [/] konnten<br />

weil Kontrolle [/] weil gehindert [hinter den letzten drei Zeilen groß:] Gebet<br />

[Seite 56:]<br />

noch Müller<br />

ca. 100 jetzt [/] Haufen [?] stehen<br />

18.00 Müller Kontroverse [/] Diskussionen<br />

Entführung [/] [... ?] [dahinter:] Disk. [/] über [/] Autobahn<br />

200-250 draußen<br />

100 rechte<br />

20/25 wieder rein<br />

18.16 Müller Abgang, 100/150 [/] Grimmaische Straße<br />

[Seite 57:] ca. 100/150<br />

ca. 150/ Vorplatz<br />

Thomas VIII [eingekreist:] 18 Personen [/] (5 Frauen)<br />

265 Es folgt eine durchgestrichene Zeitangabe.<br />

266 D.h. Zeichen, mit dem auf Ausreisewunsch aufmerksam gemacht wurde.<br />

267 Nicht zu entziffernder Name eines MfS-Mitarbeiters der Abteilung VIII<br />

268 Zu dieser Zeit begann die Einweisung der Stasi-Mitarbeiter für den Einsatz an bzw. in der Nikolaikirche.<br />

269 Offensichtlich in der Nikolaikirche bzw. vor der Kirche.<br />

156


18.20 13 Mann / 20 [... Abkürzung nicht zu entziffern]<br />

1 B 1000 / f[ür] Halle<br />

1 Festn[ahme] ( 3 Personen [)]<br />

1 Lotsenfahrzeug ([Abt.] VIII [)]<br />

Rev. Schkeuditz<br />

18.25 Mittig gesellschaft[liche] Kräfte ? [/] (Frage)<br />

[Seite 58:]<br />

alles Zivil habe [/] ich gesagt.<br />

18.28 Müller Kirche zu !<br />

[...?] 40 [?] vor der Kirche [/] gehen weg.<br />

18.30 Ml. Platz leer [/] alles weg !<br />

Strenger 30 Berliner [/] Richtung K[arl-]M[arx-]Platz 270<br />

18.33 vermutlich PKW 271<br />

18.35 Mittig beide informieren 272<br />

18.40 Neiber<br />

Neiber am Ist weibl. Person [/] identifiziert (rothaarig)<br />

13.9.88, 8.05 Welche weiteren Per- [/] sonen [/] PKW.-Nr. usw. [/] an [eingekreist:] ZKG<br />

melden<br />

Gen. Schönley [... zu einem anderen Thema]<br />

85 Synodalausschußprotokoll<br />

Offizielles Protokoll der BSA-Sitzung am 12.09.1988 von Pf. Berger. Das Protokoll wurde hektographiert<br />

(ABL H 2).<br />

anwesend: Sup. Magirius, Oehler, Rudolph, Radicke, Fleischhack, Hinze, Falk, Motzer, Pf. Wonneberger,<br />

Nitzsche, Münnich, Frau Schneider, Pf. Kunze, Dr. Mühlmann, Müller, Dusdal, Moosdorf, Dr. Pohler, Pf.<br />

Lippold, Wolf, Schiel, Pf. Kaden, Frau Kämpf, Frl. Müller, Dr. Berger<br />

1. Ordnung des Ausschusses<br />

Erarbeitung durch Rudolph, Dusdal, Dr. Mühlmann, Dr. Berger<br />

2. Schreiben des Superintendenten v. 15.8.<br />

Sup. Magirius erläutert Hintergründe. An dem erfolgten Verfahren in differenzierter Diskussion Kritik<br />

geübt. Die Gruppen sollen ihre Vorstellungen zum Friedensgebet in nächster Sitzung vorbringen. Bis<br />

dahin soll Stellungnahme von Pf. Führer zugänglich gemacht werden (Sup.). Danach erneute<br />

Gespräche mit KV Nikolai.<br />

3. Zukunftwerkstatt 273<br />

270 H. Reitmann behauptete, daß ca. 60-80 Teilnehmer des Friedensgebetes aus Berlin gewesen sein sollen (Brief an<br />

K. Löffler vom 14.09.1988 - ABL H 53)<br />

271 Am Karl-Marx-Platz (vor der Oper) gab es einen bewachten Parkplatz, auf den viele auswärtigen FG-Besucher<br />

ihr Auto abstellten.<br />

272 In der Referatsleiterbesprechung der Abteilung XX der BV Leipzig wurde am 14.09. die Aktion ausgewertet.<br />

Dies sah nach einer Mitschrift folgendermaßen aus: „[...] aus Berlin (PKW-Corso) Zuführungen in VPKA /<br />

Rückführung nach Berlin mittels Bussen (MdI) [...] Insgesamt ca. 700 Personen in Nico [/] Superintendent<br />

Magirius, Domsch, Auerbach [/] [...] Angriffe auf Magirius von Hempel zurückgewiesen [/] Während des FG -<br />

Störungen durch Zwischenrufe (z.B. „Märtyrer“). [/] Kirchenleitungen distanzierten sich. [/] Auftreten einer<br />

Berliner ÜSE-Vertreterin (Protest gegen Polizeimaßnahmen Bln. Lpz., Willkür der Polizei usw.) Kirche<br />

unterdrückte diese Absicht [/] Bis 18.30 vor <strong>und</strong> in der Kirche Diskussionen [/] Zettelverteilung in der Kirche [/]<br />

Kindergebetchen von Ringelnatz ... (Text Schreibmaschine!) [/] Willis 1. GT [Geburtstag] findet statt am 7.<br />

Oktober 19 Uhr am Bachdenkmal [/] 200 Personen Versammlung vor Kirche [/] Protest verlesen Müller u.<br />

Oldsmann [richtig: Oltmanns]“ (BStU Leipzig AB 1031).<br />

273 Die Leipziger „Zukunftswerkstätten“ waren Veranstaltungsreihen, die durch Basisgruppen als Teil des<br />

157


Herr Radicke informiert - 28./29.9./1./2.10. in Philippus<br />

Träger: Vorbereitungsgruppe [Trägergruppe] KOZ<br />

4. Friedensdekade<br />

Geplante Veranstaltungen an Jugendpfarramt 274 - Erstellung eines Gesamtplanes<br />

Vorbereitung „Abend für den Frieden“ 19.9 - ref. Kirche 19.30 Uhr<br />

Abschluß 16.11. jüd. christl. Gottesdienst in Nikolai 19.30 Uhr<br />

„Tag für Espenhain“ am 13.11. in ref. Kirche<br />

19.11. „Konzil. Tag“ in Connewitz - Vorbereitung 26.9. 19.30 Ritterstr.<br />

Friedensgebete (jeweils 18.00 Uhr - sonntags 18,15 Uhr)6. - IGL / 7. - Solid. Kirche / 8. -<br />

Lateinamerika / 9. - Kirche <strong>und</strong> Judentum / 10. - Gerechtigkeit / 11. - Jugendkonvent / 12. - CFK / 13. -<br />

Frieden o. Grüne / 14. - Gerechtigkeit <strong>und</strong> Ökumene / 15. - Offene Arbeit [Mockau]<br />

5. Grafik 275<br />

eingegangenes Geld will ref. Kirche verwalten - Rudolph u. Radicke als Vertreter in dieses<br />

Finanzgremium<br />

6. [Bezirks-] Synode<br />

Tätigkeitsbericht für Synode durch Pf. Wonneberger, Müller, Dr. Mühlmann, Dr. Berger vorbereitet<br />

7. Info-Tafel<br />

Antrag auf Aufstellung in Thomas an Pf. Ebeling (Dr. Berger) 276<br />

8. KOZ<br />

Vertreter der Bezirkskirchenausschüsse Ost <strong>und</strong> West haben 50% Planstelle beschlossen<br />

Struktur analog einem übergemeindlichen Amt, das einem Kirchenbezirk untersteht.<br />

Vom Synodalausschuß gewähltes Vorbereitungsteam soll Gruppen vertreten - 27.9. 17.00 Uhr<br />

Superintendentur Leipzig-Ost<br />

Nächste Sitzung 30.9.88 Ritterstr. 19.30 Uhr<br />

86 Innerkirchliche Mitteilung<br />

Eingabe von Ausreiseantragstellern an die Vorsitzenden der Bezirkssynode der Kirchenbezirke Leipzig-Ost<br />

<strong>und</strong> -West, an den Vorsitzenden des Bezirkssynodalausschusses Dr. Berger, an die Superintendenten Richter<br />

<strong>und</strong> Magirius <strong>und</strong> an den Kirchenvorstand der Nikolaikirchgemeinde vom 13.09.1988, in der sie sich für die<br />

Fortführung der Friedensgebete einsetzen <strong>und</strong> um ein Gespräch bitten. Vorlage ist eine Xerokopie des<br />

Originalschreibens (ABL H 1).<br />

Seit einem dreiviertel Jahr erfreut sich das montägliche Friedensgebet in der Nikolaikirche ungeahnter<br />

Beliebtheit. Das ansonsten eher schwach besuchte Fürbittgebet wurde aufgr<strong>und</strong> der Januarereignisse in<br />

Berlin zum Zentrum für Menschen, die sich besonders für ein größeres Maß an Gerechtigkeit <strong>und</strong> Recht<br />

auch für die Menschen in der DDR einsetzen wollen. Es sind Menschen, die unter den politischen <strong>und</strong><br />

wirtschaftlichen Verhältnissen in der DDR leiden. Sicher in unterschiedlicher Form <strong>und</strong> in<br />

unterschiedlichem Maße. Dennoch hat sie die allen gemeinsame Leidenserfahrung aus der Passivität<br />

herausgebracht. Einige dieser Menschen hoffen, durch ihre Aktivitäten die gesellschaftlichen Verhältnisse<br />

in Richtung auf einen menschlicheren Sozialismus beeinflussen zu können. Die Mehrzahl hat allerdings<br />

diese Hoffnung verloren <strong>und</strong> klagt in der Hauptsache das eigene Recht auf eine menschenwürdige<br />

Behandlung durch Staatsvertreter, aber auch mehr Rechtssicherheit für alle Menschen ein. Ihr Wunsch,<br />

diesen Staat zu verlassen <strong>und</strong> damit alle gewachsenen Bindungen abzubrechen, <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> zu verlieren <strong>und</strong><br />

leider auch Menschen weh zu tun, ist ihr stärkster Protest für eine menschenwürdigere Welt. Auch wir, die<br />

Unterzeichner dieses Briefes, gehören zu dieser zweiten Gruppe.<br />

„Konziliaren Prozesses“ (s. Anhang S. 370) vorbereitet wurden.<br />

274 Die Friedensdekade 1988 wurde in Verantwortung des Jugendpfarramtes durchgeführt.<br />

275 Die Grafikauktion fand am 28.02.1988 statt (s. S. 96 <strong>und</strong> 117).<br />

276 Diesen Antrag auf Möglichkeit für die Gruppen, ihre Arbeit in der Thomas-Kirche vorzustellen, hatte der KV St.<br />

Thomas nicht entsprochen (s. Brief Ebeling an Berger vom 09.12.1988 - ABL H 35)<br />

158


Bis zum 29.9.1988 war für uns <strong>und</strong> sicher auch für viele andere „Wartende“ das Friedensgebet die einzige<br />

zentrale Veranstaltung, bei der es möglich war, auch die eigene Befindlichkeit zum Ausdruck zu bringen,<br />

ein Stück Solidargemeinschaft aufzubauen, schwerwiegende Probleme Einzelner [sic!] (wie Inhaftierung)<br />

öffentlich darzustellen <strong>und</strong> überhaupt das für die gesamte Gesellschaft schwerwiegende Problem der<br />

steigenden Zahl der Ausreisewilligen in die Öffentlichkeit zu bringen. Ohne eine öffentliche <strong>und</strong> offene<br />

Diskussion wird dieses Problem nie lösbar sein. Leider mußten wir - enttäuscht <strong>und</strong> empört - zur Kenntnis<br />

nehmen, daß genau dies nicht mehr möglich ist. Natürlich sind wir uns bewußt, daß nicht die Kirchen in<br />

der DDR dafür zur Verantwortung zu ziehen sind, daß offene Diskussionen zu wichtigen Fragen des<br />

gesellschaftlichen Lebens an anderen Orten nicht geführt werden dürfen. Aber wir weisen darauf hin, daß<br />

keine Kirche es sich leisten kann, ihren wirklichen Freiraum zu verspielen.<br />

Freiraum der Kirche kann nicht allein bedeuten: Gottesdienst, verschiedene Werke, kirchlicher Unterricht<br />

<strong>und</strong> die Möglichkeit, kirchliche Nachrichtenblätter drucken zu lassen. Der Freiraum Kirche entscheidet<br />

sich im konkreten Tun für die Menschen. Frei ist Kirche in dem Maße, in dem sie ihrem Auftrag gemäß<br />

Evangelium verkündet, also Gottes Maßstäbe nicht nur im Wort übersetzt, sondern auch durch ihr<br />

Handeln die Gültigkeit göttlicher Wahrheit für die Welt unterstreicht. Diese Freiheit kann ihr niemand<br />

geben oder nehmen, sondern sie hat sie einfach von Gott her. Deshalb ist die Sorge um das Überleben der<br />

Kirche in dieser Frage fehl am Platz. Im Gegenteil: Kirche wird nie untergehen, wenn sie ihren Auftrag<br />

erfüllt (siehe Mt. 28/16-20), aber sie wird Schaden nehmen, wenn sie sich allzusehr um das eigene Wohl<br />

kümmert.<br />

Erlauben Sie uns als Betroffene, Ihnen unsere Situation einmal deutlich zu schildern. Wir sind eine<br />

Gruppe von Menschen, die zwar nicht alle der evangelischen Kirche angehören, die aber seit einem<br />

dreiviertel Jahr regelmäßig zusammenkommen, um ihre Situation im Spiegel der Botschaft der Bibel zu<br />

bedenken, miteinander zu beten <strong>und</strong> Nöte <strong>und</strong> Sorgen auszutauschen. Wenige sind jünger als 30 Jahre.<br />

Die meisten haben Familien. Keiner von uns hat leichtfertig den Entschluß zur Ausreise gefaßt. Einige<br />

warten schon über 4 Jahre. Meistens bedeutet die Antragstellung einen gleichzeitigen Rückzug in den<br />

engsten Familienkreis, was ein gewisses Maß an Isolierung zur Folge hat. Fre<strong>und</strong>schaften zerbrechen<br />

aufgr<strong>und</strong> gegenseitiger oder einseitiger Vorbehalte. Gegenüber Arbeitskollegen <strong>und</strong> Bekannten verhält<br />

man sich reserviert, weil man ja nie weiß, wer was wie <strong>und</strong> wem weitererzählt. Die permanente Präsenz<br />

des Themas Ausreise verstärkt weiter die Tendenz zur Vereinzelung. Außerdem hat jeder mit der Frage zu<br />

kämpfen, welche Taktik gegenüber Abteilung Inneres die beste ist, <strong>und</strong> wer denn nun wirklich über den<br />

Antrag zu entscheiden hat. Dies alles <strong>und</strong> die anhaltende Erfahrung der absoluten Ohnmacht, gemacht in<br />

Gesprächen mit Behörden <strong>und</strong> in der Behandlung von Briefen an diverse Dienststellen, führt zu einer<br />

überaus starken seelischen Belastung. Wer keine Gelegenheit findet, diese Belastung aufzufangen, wie es<br />

in unserer Gruppe beispielsweise möglich ist, der neigt naturgemäß zu starken <strong>und</strong> mitunter auch<br />

unbedachten Reaktionen. In der Tendenz führt das zur Kriminalisierung der eigenen Person <strong>und</strong> der<br />

Interessengruppe insgesamt. Das Friedensgebet in seiner bisherigen Form hat einer sehr großen Zahl von<br />

Ausreisewilligen die Möglichkeit gegeben, seelisch wieder ins Gleichgewicht zu kommen, ein Gefühl von<br />

Solidarität zu entwickeln, Informationen auszutauschen, eigene bzw. allgemein interessierende Probleme<br />

offen zu diskutieren. Wenn dies in Zukunft nicht mehr möglich ist, werden sich viele nicht nur verraten,<br />

sondern auch in die Einzelhaft verstoßen fühlen.<br />

Auch wenn die Kirche von staatlicher Seite unter Druck geraten sein sollte, kann es keine solche Lösung<br />

geben. Solange die Kirche ihre Pforten öffnet, werden viele Menschen kommen, wie z.B. am 5.9.1988 mit<br />

ca. 1000 Besuchern des Friedensgebetes. Sup. Richter wies am 29.8.1988 auf die Möglichkeit hin, sich in<br />

Gemeindegruppen zu treffen. Dazu ist zu sagen, daß nach den bisherigen Erfahrungen, die er eigentlich<br />

kennen sollte, ein solcher Vorschlag wohl nicht ernst gemeint sein kann. Wir fragen, welche Gemeinde es<br />

sich leisten kann, in vorhandene Gemeindegruppen Menschen integrieren zu wollen, die jegliche<br />

Hoffnung für die hiesige Gesellschaft aufgegeben haben <strong>und</strong> dafür meist handfeste Gründe aufweisen<br />

können. Die andere Möglichkeit, als separate Gruppe in einer Gemeinde unterzukommen, wird nach<br />

unseren Erfahrungen in den meisten Fällen am Widerstand des Pfarrers oder der Kirchenvorsteher<br />

scheitern. Nach den bisherigen Möglichkeiten bleibt also für die Mehrzahl nur das Friedensgebet.<br />

Wir möchten Sie bitten, sich für eine Lösung einzusetzen, die allen Beteiligten gerecht wird. Für uns heißt<br />

das eine Fortführung des Friedensgebetes in einer den Bedürfnissen der überwiegenden Mehrzahl der<br />

159


Besucher entsprechenden Form. Zur Zusammenarbeit in dieser Frage <strong>und</strong> zur Mitarbeit bei der<br />

Durchführung des Friedensgebetes sind wir bereit. Deshalb bitten wir um ein Gespräch mit den<br />

Verantwortlichen des Friedensgebetes.<br />

Unterschriften: [gez.] Christfried Heinze, Sabine Heinze, Dorothea Wirth, Klaus Wirth, Thomas Hanisch,<br />

Uta Hanisch, Petra Lehns, Matthias Lehns, Steffi Mücke, Gloria Veith, Matthias Veith<br />

87 Stasi-Information<br />

Treffbericht eines Führungsoffiziers des MfS (Major Waldhelm - KD Leipzig-Stadt, Ref XX/2) zu einem<br />

Treffen mit seinem inoffiziellen Mitarbeiter (IMB „Carl“, Pf. M. Berger) vom 13.09.1988. Pf. Berger<br />

berichtete dort über kirchliche Meinungsbildungen 277 (BStU Leipzig XIII 489/78 IM „Carl“-Akte II/1).<br />

Treffbericht<br />

Treff mit: IMB „Carl“ [/] Treff am: 13.09.88, 11.00-13.00 Uhr [/] Treffort: IMK „Architekt“<br />

Die Treffdurchführung mit dem IMB „Carl“ erfolgte planmäßig. Schwerpunkte der Treffdurchführung<br />

bildeten entsprechend der erfolgten Instruierung des IM nachfolgende Probleme:<br />

− Auswertung einer internen innerkirchlichen Beratung von Mitgliedern des Synodalausschusses<br />

„Frieden, Umwelt <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ der Bezirkssynode Leipzig-Ost am 09.09.88 bei Superintendent<br />

Magirius [/] <strong>und</strong><br />

− Informationserarbeitung zum Verlauf der Synodalausschußtagung am 12.09.88.<br />

In Auswertung des Verlaufs beider Veranstaltungen wurden durch den IMB „Carl“ nachfolgende<br />

operativ bedeutsame Erkenntnisse inoffiziell bekannt.<br />

Superintendent Magirius hatte für den 9.9.88 den Vorsitzenden des Synodalausschusses Dr. Berger <strong>und</strong><br />

seinen Stellvertreter Dr. [X...] zu einer internen Beratung eingeladen. An dieser Beratung nahm gleichfalls<br />

der IMB „Carl“ teil. [/] Aus dem Verlauf <strong>und</strong> der inhaltlichen Gestaltung der Beratung schätzte der IMB<br />

„Carl“ ein, daß Superintendent Magirius sich bei den anwesenden Personen hinsichtlich der Ereignisse um<br />

die Gestaltung der Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche nach der sog. „Sommerpause“ <strong>und</strong> den<br />

damit aufgetretenen Problemen zwischen kirchenleitenden Amtsträgern <strong>und</strong> den Basisgruppen<br />

„Rückendeckung“ verschaffen wollte. Dies insbesondere aufgr<strong>und</strong> der Tatsache, daß der<br />

Synodalausschußvorsitzende Dr. Berger während dieser Ereignisse nicht in Leipzig anwesend war. [/]<br />

Sichtbar wurden im Gesprächsverlauf die verschiedenen Motive, die Superintendent Magirius zu seiner<br />

Entscheidung bewogen hatten, die montäglichen Friedensgebete ohne Mitwirkung der Basisgruppen<br />

fortzuführen. Es wurde nach Informationen des IMB „Carl“ bekannt, daß Superintendent Magirius seit<br />

längerer Zeit unter Kritik der Landeskirchenleitung Sachsen <strong>und</strong> auch des Superintendenten des<br />

Kirchenbezirkes Leipzig-West, Richter, stand, da diese die Auffassung vertreten haben, daß in Leipzig<br />

über einen längeren Zeitraum das innerkirchliche Prinzip der Verkündigungspflicht durch kirchliche<br />

Amtsträger verletzt worden ist. Superintendent Magirius wurde der Vorwurf gemacht, daß er durch die<br />

Duldung der Gestaltung der Friedensgebete durch Laien <strong>und</strong> Basisgruppenvertreter seiner dienstlichen<br />

Aufsichtspflicht nicht nachgekommen ist. Diesen schwerwiegenden Vorwurf an seiner kirchlichen Arbeit<br />

auszuräumen, meinte nach Einschätzung des IM u.a. seine bekannte, getroffene Entscheidung gegen die<br />

Mitwirkung der Gruppen am Friedensgebet. Weiterhin wurde in dem Gesprächsverlauf sichtbar, daß<br />

Superintendent Magirius sich innerlich über den fehlenden Kontakt zu den Basisgruppen bewußt<br />

geworden ist, dies jedoch offen nicht zugibt. Er befürchtet bei Beibehaltung des Ablaufes der<br />

Friedensgebete <strong>und</strong> der damit in Zusammenhang stehenden Probleme Kritik an seiner Person aus dem<br />

innerkirchlichen sowie [dem] staatlichen Bereich. [/] Zur konzeptionellen Arbeit mit den Gruppen äußerte<br />

sich Magirius dahingehend, daß man außer den ausschließlich kirchlich angeb<strong>und</strong>enen Gruppen (nannte<br />

„Lateinamerika“, „CFK“ <strong>und</strong> „Oekumene“), die man auch „beherrscht“, keine anderen Gruppen in die<br />

innerkirchliche Arbeit einbeziehen sollte. Die „Problemgruppen“ sollten ihre Aktivitäten außerhalb der<br />

Kirche entwickeln, womit man jeder Verantwortung befreit wäre. Beispielhaft führte Superintendent<br />

277 Der Teil II der IM-Akte wurde durch das MfS vernichtet, dieser Bericht wurde jedoch von Mitarbeitern des BStU<br />

unter anderen Akten gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> der IM-Akte angefügt<br />

160


Magirius den sog. „1. Pleißegedenkmarsch“ an, wo man auch nicht über die Vorbereitung <strong>und</strong><br />

Durchführung informiert war <strong>und</strong> damit „staatliche Auflagen“ gegenüber der Kirche nicht wirksam<br />

geworden wären. Er äußerte die Auffassung, daß die Verfahrungsweisen in Ungarn <strong>und</strong> Polen<br />

beispielgebend wären, wo sich Gruppen auch außerhalb der Kirche organisieren würden. Die Anfrage von<br />

Ausschußvorsitzenden Dr. Berger <strong>und</strong> Dr. [X...], wie man sich dann verhalten solle, wenn es zu<br />

Problemen mit kirchlich geb<strong>und</strong>enen Personen kommt, die in die Arbeit dieser Gruppen aufgr<strong>und</strong> der<br />

bereits erfolgten Vernetzung integriert seien, beantwortete Superintendent Magirius dahingehend, daß<br />

man sich natürlich kirchlicherseits für Problemfälle immer einsetzen müsse. Gleiche Auffassungen vertrat<br />

Magirius zur Problematik der Übersiedlungsersuchenden, die den Kontakt zur Kirche gesucht haben. Hier<br />

müßten nach seiner Meinung die einzelnen Kirchgemeinden diese „Betreuung“ übernehmen. Nach<br />

Kenntnis des IMB „Carl“ spielten beim Auftreten der Personen Magirius <strong>und</strong> Pf. Führer während des<br />

Friedensgebetes am 29.08.88 auch innerkirchliche „Machtkämpfe“ eine nicht zu unterschätzende Rolle.<br />

Dies wurde in der internen Absprache deutlich. Magirius hatte versucht, ohne Konsultation mit dem<br />

Kirchenvorstand der Nikolaikirche <strong>und</strong> unter Beisein des Kirchenvorstandsvorsitzenden Pf. Führer seine<br />

Entscheidung zum Verlauf der Friedensgebete in der Nikolaikirche durchzusetzen, was kirchenintern<br />

einen „Angriff“ auf die Stellung von Pf. Führer bedeutete. Um seine Stellung im Kirchenvorstand zu<br />

behaupten, mußte nach Einschätzung des IMB „Carl“ Pf. Führer in dieser Situation aktiv werden. In<br />

diesem Zusammenhang ist nach Meinung des IM auch die Haltung des Führer beim Friedensgebet am<br />

29.08.88 zu bewerten. Zwischen beiden bestehen weiterhin ernsthafte Differenzen im internen<br />

Arbeitsbereich. [/] Während der Beratung am 09.09.88 wurde durch Superintendent Magirius <strong>und</strong> Pf.<br />

[X...] die Auffassung vertreten, daß man sich gegenüber den Gruppenvertretern der Basisgruppen<br />

nochmals zur Problematik der Friedensgebetsgestaltung äußern sollte, da es zu Differenzen gekommen<br />

war. Gegen diese Auffassung wandte sich Pf. Dr. Berger, der die Meinung vertrat, daß kirchlicherseits<br />

eine richtige Entscheidung getroffen wurde, die man gegenüber den Gruppenvertretern nicht zu<br />

rechtfertigen brauche. Durch eine nochmalige Diskussion würde lediglich das Ansehen der<br />

kirchenleitenden Personen untergraben. Man einigte sich nach Einschätzung des IMB „Carl“ letztendlich<br />

darüber, daß man während der Beratung des Synodalausschusses nicht nochmal zu dieser Problematik<br />

Stellung nimmt.<br />

Zum Verlauf des Friedensgebets am 05.09.88 wurden durch den IMB „Carl“ noch nachfolgende<br />

Hintergr<strong>und</strong>informationen aus dem innerkirchlichen Bereich bekannt. [/] Mit der Teilnahme des<br />

Gebietsdezernenten Oberkirchenrat Auerbach von der Landeskirchenleitung Sachsen <strong>und</strong> seinem<br />

Auftreten während des Friedensgebetes in der Nikolaikirche sollte von seiten der Landeskirchenleitung<br />

der Nachweis erbracht werden, daß man die Gestaltung des Friedensgebetes auch ohne die Mitwirkung<br />

der Basisgruppen als Amtsträger fest im Griff haben kann. Nach dem Verlauf des Friedensgebetes <strong>und</strong> der<br />

dort eingetretenen Störungen durch Teilnehmer am Friedensgebet wurde innerkirchlich eingeschätzt, daß<br />

es OKR Auerbach nicht gelungen ist, beruhigend Einfluß zu nehmen. OKR Auerbach soll sich nach<br />

Kenntnis des IMB „Carl“ nach der Veranstaltung über deren Verlauf sehr verärgert gezeigt haben. Von<br />

Superintendent Magirius wurde die Genugtuung darüber geäußert, daß auch die „vorgesetzte“ Behörde<br />

nur klug reden könne, selbst aber nicht mit dem Problem fertig werden würde. [/] Dem IM wurde bekannt,<br />

daß ca. 1 St<strong>und</strong>e nach dem Friedensgebet den Basisgruppenvertretern eine schriftliche Mitteilung über die<br />

Stellungnahme des OKR Auerbach zu Fragen der kirchlichen Arbeit, wie er sie während des<br />

Friedensgebetes abgegeben hatte, vorgelegen hat. Diese Stellungnahme wurde vermutlich anhand eines<br />

Mitschnittes des Friedensgebetes gefertigt. Es handelt sich um ein mit Schreibmaschine gefertigtes Papier<br />

(Umfang ca. 3/4 A4 Seite) 278 . Dem IM ist bisher nicht bekannt, wer diese Vervielfältigung initiiert <strong>und</strong><br />

vorgenommen hat. Gleichfalls ist dem IMB „Carl“ bekannt, daß der Superintendent Magirius Kenntnis<br />

von dem offenen Brief der Basisgruppen an Landesbischof Dr. Hempel hat. Eine Wertung dieses Briefes<br />

hat bisher Superintendent Magirius im innerkirchlichen Bereich nicht vorgenommen.<br />

Zum Verlauf der Synodalausschußtagung am Montag, dem 12.09.88 wurden durch den IMB „Carl“<br />

278 Die Herausgeber kennen nur die Erklärungen von Pf. Führer <strong>und</strong> Sup. Magirius, die in dieser Dokumentation<br />

wiedergegeben wurden.<br />

161


nachfolgende Informationen bekannt279 : Die Beratung fand in der Zeit von 19.30-23.30 Uhr im<br />

Gemeindesaal der Nikolaikirchgemeinde, 7010, Ritterstr. 5 statt. Teilnehmer der Beratung waren: [...<br />

Namen geschwärzt]<br />

Zum Verlauf <strong>und</strong> dem Inhalt der Ausschußsitzung gab der IMB „Carl“ nachfolgende Einschätzung: [/]<br />

Zuerst wurde im Ausschuß über die Ausarbeitung einer Abstimmungsordnung für den Ausschuß beraten.<br />

Unter dem Vorsitz von Dr. [X...] wurden die Ausschußmitglieder Dr. Berger <strong>und</strong> [A...] beauftragt, eine<br />

entsprechende Vorlage für den Ausschuß zu erarbeiten. Diese Abstimmungsordnung soll auf einer der<br />

nächsten Ausschußsitzungen diskutiert <strong>und</strong> beschlossen werden. [/] Im Anschluß an diese<br />

verfahrenstechnische Frage wurde durch den Gruppenvertreter [B...] an den Superintendenten Magirius<br />

die Frage gestellt, was er mit dem Brief an die Basisgruppen zur Veränderung des Ablaufs der<br />

Friedensgebete beabsichtigen wollte. Entgegen der Vorabsprache ließ sich Superintendent Magirius nach<br />

Information des IMB „Carl“ [auf] eine Diskussion mit den Gruppenvertretern ein. Er erklärte, daß er froh<br />

ist, darüber mit den Gruppen sprechen zu können, da es in letzter Zeit zu einigen Mißverständnissen<br />

gekommen ist. Durch Magirius wurde betont, daß man sich über den weiteren Verfahrensweg einigen<br />

müßte <strong>und</strong> die jetzige Situation von ihm als „Übergangslösung“ bewertet wird. Superintendent Magirius<br />

brachte in die Diskussion seine Argumente ein, die darin bestanden:<br />

− in einer Absprache mit dem Kirchenvorstand der Nikolaikirche die Entscheidung getroffen zu haben<br />

− der Tatsache, daß er sich von einigen Gruppen übergangen fühlt;<br />

− er nicht über Sammlungen in der Kirche informiert worden wäre 280 [/] <strong>und</strong><br />

− er ungenügend über die Vorbereitung inhaltlicher Fragen durch den Vorbereitungskreis der<br />

Friedensgebete informiert worden ist.<br />

Diesen Argumenten wurde durch einen Teil der Gruppenvertreter heftig widersprochen. Durch die Person<br />

[C...] wurde dargelegt, daß ihm über Pf. Führer bekannt sei, daß Superintendent Magirius nicht den<br />

Kirchenvorstand der Nikolaikirche über sein Vorhaben informiert hätte. Gleichfalls soll nach Äußerungen<br />

von [C...] Pf. Führer auch eine andere Meinung zur Fortführung der Friedensgebete haben. Es wurde<br />

gefordert, daß Pf. Führer zur Problematik Kirchenvorstand der Nikolaikirche in der nächsten<br />

Ausschußsitzung (Oktober) eine Stellungnahme abgibt. Superintendent Magirius äußerte sich nicht zu den<br />

Vorwürfen des [C...]. Durch den [D...] wurde Superintendent Magirius aufgefordert, die Gruppen zu<br />

nennen, mit deren Arbeitsweise er nicht einverstanden ist bzw. die ihn hintergangen hätten.<br />

Superintendent Magirius war dazu nicht bereit, obwohl er mehrfach durch verschiedene Gruppenvertreter<br />

aufgefordert wurde. Nach Einschätzung des IMB „Carl“ sprachen alle Gruppenvertreter ihm das<br />

Mißtrauen aus. Durch Pf. Wonneberger wurde die Frage der Sammlung in der Kirche <strong>und</strong> der<br />

Vorinformation zum Friedensgebet angesprochen. Pf. Wonneberger legte dar, daß er kirchenrechtlich<br />

nicht verpflichtet ist, Sammlungen bei ihm anzumelden bzw. abzurechnen. Die „Finanzhoheit“ liegt laut<br />

Kirchenrecht beim jeweiligen Kirchenvorstand, wo auch die Abrechnung erfolgt. Hinsichtlich der<br />

angesprochenen mangelnden Vorinformation zum Inhalt des Friedensgebetes widerlegte Pf. Wonneberger<br />

die von Magirius getroffene Einschätzung durch seine Teilnahme am Vorbereitungsausschuß bzw.<br />

gezeigtem Desinteresse des Magirius, an der Vorbereitung der Friedensgebete aktiv teilzunehmen. [/] Zur<br />

erfolgten Diskussion schätzt der IMB „Carl“ ein, daß sich Superintendent Magirius mit seinem Auftreten<br />

selbst sehr geschadet hat. Er wirkte bei der Aussprache, die zum wesentlichen Inhalt der Ausschußtagung<br />

wurde, sehr unsicher <strong>und</strong> unglaubwürdig. [/] Superintendent [sic!] brachte den Vorschlag ein, in der<br />

nächsten Ausschußsitzung über Fragen des „politischen“ Mandates der Kirche zu diskutieren.<br />

Superintendent Magirius will dort den Gruppen verdeutlichen, was die Kirche kann <strong>und</strong> was nicht. Durch<br />

die Gruppenvertreter wurde in diesem Zusammenhang bereits jetzt die Meinung vertreten, daß man<br />

christliches <strong>und</strong> staatsbürgerliches Handeln der Gruppen <strong>und</strong> ihrer Einzelmitglieder nicht trennen könne.<br />

Durch den Ausschluß einzelner Gruppen, wie es Magirius beabsichtige, werde aber eine derartige<br />

Trennung vorgenommen. Weiterhin regte Superintendent Magirius an, daß die Gruppen zur nächsten<br />

Ausschußtagung ihre Vorschläge zur Fortführung der Friedensgebete machen sollten. Damit begab sich<br />

Magirius in eine defensive Position. [/] Nach Einschätzung des IMB „Carl“ war Superintendent Magirius<br />

279 Vgl. das Protokoll der BSA-Sitzung, welches Pf. Berger anfertigte (Dok. 85).<br />

280 s. Anm. 227<br />

162


über den Verlauf der Diskussion sehr enttäuscht, da er das Vertrauen keiner Gruppe gewonnen hat, was<br />

ihm persönlich klar ist.<br />

Als weiterer Tagesordnungspunkt wurde die Vorbereitung der Friedensdekade 1989 [richtig: 1988]<br />

behandelt. Als Veranstaltungsschwerpunkte <strong>und</strong> Termine wurden bekanntgegeben:<br />

11.11.88 „Abend für den Frieden“ in der Nikolaikirche, verantwortlich Jugendpfarramt Leipzig<br />

13.11.88 „Tag für Espenhain“ in der Reformierten Kirche, verantwortlich die<br />

Umweltschutzgruppen, eventuell Mitarbeit von Pf. Steinbach/Rötha<br />

16.11.88 „Abschlußveranstaltung“ gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde Leipzig, zum Jahrestag<br />

der Progromnacht; Vorbereitung evang. Kirche <strong>und</strong> Arbeitsgemeinschaft Christen <strong>und</strong><br />

Judentum<br />

19.11. (nach der Friedensdekade) soll in Connewitz ein „Konziliarer Tag“ durchgeführt werden;<br />

Verantwortung für die Vorbereitung[:] Dr. Mühlmann <strong>und</strong> Herr Münnich, „CFK“<br />

Für die täglichen Friedensgebete während der Friedensdekade in der Nikolaikirche wurden folgende<br />

Verantwortlichen festgelegt:<br />

6.11. „Initiativgruppe Leben“ (IGL)<br />

7.11. „Arbeitskreis Solidarische Kirche“ (AKSK)<br />

8.11. „Lateinamerika“<br />

9.11. „AG Kirche <strong>und</strong> Judentum“<br />

10.11. „Gerechtigkeit“<br />

11.11. Jugendkonvent - kirchliche Mitarbeiter des Jugendpfarramtes<br />

12.11. „Christliche Friedenskonferenz“ (CFK)<br />

13.11. AK „Friedensdienst“ oder „Grünen“ [sic!]<br />

14.11. „Gerechtigkeit <strong>und</strong> Oekumene“<br />

15.11. „Sozialdiakonische Arbeit“<br />

Die einzelnen Gruppen beabsichtigen, o.g. Friedensgebete eigenverantwortlich inhaltlich vorzubereiten.<br />

[/] Im weiteren Tagungsverlauf informierte der Leiter des Jugendpfarramtes, Pf. Kaden, daß der<br />

Bezirkskirchenausschuß der Ephorien Ost <strong>und</strong> West über die geplante Einrichtung des sog.<br />

„Kommunikationszentrums“ (KOZ) beraten <strong>und</strong> entschieden hat. Für die Einrichtung des Zentrums soll<br />

eine 50%ige Stelle eines hauptamtlichen kirchlichen Mitarbeiters bereitgestellt werden. Das KOZ soll<br />

übergemeindlich arbeiten <strong>und</strong> als Nachfolgeeinrichtung des Jugendpfarramtes betrachtet werden.<br />

Technische Fragen zur Einrichtung des Zentrums, wie Räumlichkeiten, Finanzierung <strong>und</strong> personelle<br />

Fragen sind bisher noch ungeklärt. [/] Der IMB „Carl“ wertet den Verlauf des Ausschußtagung als<br />

„Waffenstillstand“ zwischen den Basisgruppen <strong>und</strong> Superintendent Magirius, wobei die Fragen der<br />

Friedensgebete schon scheinbar nicht mehr im Mittelpunkt der Diskussionen in den Gruppen stehen.<br />

Ersichtlich ist bei der Gruppenarbeit, daß es zwischen den Gruppen ein gut abgestimmtes<br />

Informationssystem gibt. Einzuschätzen ist nach Meinung des IM, daß der sog. „Gruppentreff“ 281 bei<br />

Pfarrer Wonneberger immer mehr den Charakter eines „zweiten Ausschusses“ ohne Beteiligung<br />

kirchenleitender Personen annimmt. Die Hoffnung der Basisgruppen zielt auf die Einrichtung des<br />

geplanten Kommunikationszentrums, was z.Z. auch durch Superintendent Magirius angestrebt wird.<br />

Bei Auswertung der Information ist Quellenschutz zu gewährleisten.<br />

Maßnahmen:<br />

− Fortsetzung des IM-Einsatzes IMB „Carl“ zur Unterstützung der Linie von Superintendent Magirius<br />

− Kontaktaufrechterhaltung zu den Basisgruppen durch den IMB „Carl“ (ist gleichzeitig geäußerte Bitte<br />

von Superintendent Magirius gegenüber dem IM)<br />

− Auswertung der Information über Leiter der DE an 1. Stellv. Oberst Eppisch.<br />

− Information an Ref. XX/2 KD Stadt<br />

281 Der „Gruppentreff“ wurde von Pf. Wonneberger eingeführt, als er die Organisation der FG übernahm (s. Dok.<br />

25). Zum 27.06.1988 hatten Pf. Wonneberger <strong>und</strong> Pf. Wugk per Brief zu einem „Gruppentreff“ eingeladen, bei<br />

dem es u.a. um die INFO-Tafel in der Nikolai-Kirche, die geplante „Werkstatt“ (28.9.-2.10.88), das KOZ,<br />

Nachgespräche <strong>und</strong> Schlußfolgerungen aus dem Pleiße-Gedenkumzug <strong>und</strong> um das „Profil <strong>und</strong> Zielsetzung des<br />

Friedensgebetes“ ging. Dies waren alles Themen, die auch im BSA verhandelt wurden.<br />

163


[gez.] Waldhelm, Major<br />

88 Basisgruppenerklärung<br />

Notizen von G. Oltmanns <strong>und</strong> A. Radicke mit der handschriftlichen Überschrift „Auswertung zu Gespräch<br />

mit Hempel 5.9.88“. Diese Notizen entstanden in Vorbereitung auf ein Gespräch mit Bischof J. Hempel<br />

aufgr<strong>und</strong> ihres Offenen Briefes vom 05.09.1988 <strong>und</strong> dem Gespräch von A. Holicki mit dem Bischof. Nach<br />

eigenen Angaben <strong>und</strong> handschriftlichem Vermerk entstand der Text am 18.09.1988. Diese persönlichen<br />

Notizen dienten allein der Selbstverständigung. Sie wurden mit Maschine geschrieben <strong>und</strong> per Hand<br />

überarbeitet (ABL H 1).<br />

Die Motivation unseres Engagements erwächst282 der Betroffenheit des alltäglichen Erlebens einer<br />

komplexen Wirklichkeit, die wir mit den meisten Menschen in diesem Land teilen. Eine<br />

Industriegroßstadt wie Leipzig rückt durch ihre Verdichtung die Gegensätze dieser Gesellschaft verschärft<br />

ins Blickfeld. Wir erleben uns durch den Widerspruch zwischen doktrinierten Ansprüchen, wie<br />

Konsumzwang <strong>und</strong> Wahrheitsmonopol, <strong>und</strong> zunehmender menschlicher Entfremdung, Aggressivität <strong>und</strong><br />

Flucht in Irrationalismus sowie Drogenmißbrauch in eine Lage gedrängt, in der wir nach den Ursachen<br />

dieser unmenschlichen Situation fragen. Wir sehen, daß der größte Teil der Bürger unseres Landes diese<br />

Situation ausschließlich in seinen Auswirkungen, wie soziales Gefälle, Isolation, Kriminalität,<br />

Gewaltverbrechen <strong>und</strong> Alkoholismus erlebt. Wir glauben im Falle Leipzigs von einer beginnenden<br />

Verslumung mancher Stadtgebiete sprechen zu können. Die Menschen unseres Landes leiden unter diesen<br />

Auswirkungen, aber durchschauen die Komplexität der ökonomischen, sozialen, politischen <strong>und</strong><br />

psychischen Realität zum überwiegenden Teil nicht.<br />

Wir sind der Meinung, daß das die Folge einer von den Machthabern dieses Landes durch<br />

Medienmanipulation <strong>und</strong> das Erziehungs- <strong>und</strong> Bildungssystem bewußt erzeugten Unmündigkeit ist. [/]<br />

Dadurch entsteht eine sich ausbreitende Hoffnungslosigkeit <strong>und</strong> Apathie, die uns durch ihre<br />

Wahrhaftigkeit <strong>und</strong> Irreversibilität bestürzt. [/] Unser Engagement findet durch diese Erkenntnisse seine<br />

politische Zielrichtung.<br />

Die Kirche bekennt sich zu einem auf den Menschen ausgerichtetes Handeln. Dabei berührt sie lediglich<br />

die sozialen Auswirkungen, läßt jedoch klare Stellungnahme zu den obengenannten komplexen Ursachen<br />

vermissen. [/] Diese Stellungnahme wird ersetzt durch ständige Bezugnahme auf die Befreiung des<br />

Menschen durch das Kreuz Christi. [/] Das erzeugt oft einen Gewissenskonflikt, der darin besteht, daß<br />

sich Christen zum einen des mangelnden Vertrauens gegenüber Jesus Christus schuldig fühlen, zum<br />

anderen, daß sie ohne klares politisches Bekenntnis an der gesellschaftlichen Wirklichkeit schuldig<br />

werden, weil sie die Lüge dieses Landes mittragen. [/] Wenn die heilsgeschichtliche Bedeutung des<br />

Kreuzes Christi benutzt wird, am Menschen die Empfindung des Schuldigseins zu erzeugen, verkehrt sich<br />

die befreiende Kraft Christi ins Gegenteil. [/] Das macht Kirche zum „Opium für das Volk“ (Marx 283).<br />

Wir halten dies für nicht zeitgemäß <strong>und</strong> erleben, daß die Kirche dadurch zunehmend an Glaubwürdigkeit<br />

verliert. [/] Wenn es zu keiner Veränderung dieser Entwicklung kommt, sehen wir für die Kirche in der<br />

DDR keine Zukunft.<br />

89 Samisdat-Veröffentlichung<br />

Artikel aus der Samisdat-Zeitschrift „Umweltblätter“, herausgegeben von der Berliner Umweltbibliothek<br />

(Oktober 1988) mit dem Titel: „Leipziger Friedensgebet abgewürgt“ (ABL Box 4).<br />

In Berlin-Brandenburger Kirchenkreisen wurde bereits die Information gehandelt, daß der Staat die<br />

Dresdner Kirchenleitung aufgefordert habe, das Friedensgebet einzustellen, wenn sie im nächsten Jahr in<br />

282 Ursprünglich: „Unsere Betroffenheit als Motivation zum Engagement erwächst aus dem alltäglichen Erleben...“<br />

283 Bei K. Marx heißt es: „Sie [die Religion] ist das Opium des Volkes.“ (Zur Kritik der Hegelschen<br />

Rechtsphilosophie. Einleitung) Die zitierte Position wurde von Lenin vertreten.<br />

164


Leipzig einen Kirchentag abhalten wolle. Natürlich will niemand von den Dresdner <strong>und</strong> Leipziger<br />

Kirchenoberen zugeben, daß aus diesem Gr<strong>und</strong>e in den letzten Wochen gegen das Friedensgebet<br />

vorgegangen wird. [/] Eine Woche vor der Wiederaufnahme der Friedensgebete nach der Sommerpause<br />

ging den Leipziger Basisgruppen eine kurze Nachricht zu. Auf Beschluß des Gemeindekirchenrates der<br />

Nikolaikirche sollen die Andachten in Zukunft nicht mehr von den Gruppen, sondern von der<br />

Nikolaigemeinde gemacht werden. [/] Tatsächlich wurde das erste Friedensgebet nach der Sommerpause<br />

von Pfarrer Führer gemacht. Vertreter der Leipziger Basisgruppen saßen dabei <strong>und</strong> wollten zum Schluß<br />

der Andacht ein Gespräch durchführen. Pfarrer Führer weigerte sich. Auf sein Zeichen hin begann die<br />

Orgel zu spielen <strong>und</strong> übertönte das weitere. Als ein Mitglied der Gruppen die Orgel ausgeschaltet hatte,<br />

waren die Besucher leider schon im Gehen <strong>und</strong> es kam nur zu einer wechselseitigen Beschimpfung. [/]<br />

Am Donnerstag darauf kam es dann im Leipziger Stadtjugendpfarramt zu einem Gespräch zwischen<br />

Basisgruppenvertretern <strong>und</strong> Jugendpfarrer Kaden. Nach einem Anruf erschienen auch Pfarrer Führer <strong>und</strong><br />

Superintendent Magirius. Magirius behauptete, es habe weder von staatlicher noch von kirchlicher Seite<br />

Druck gegeben. Vielmehr sei die Entscheidung „seine Verantwortung vor Gott“ gewesen (ziemlich alte<br />

Ausrede, auch die russischen Zaren <strong>und</strong> Kaiser Wilhelm behaupteten ja, daß sie allein vor Gott <strong>und</strong> nicht<br />

vor ihrem Volk verantwortlich seien. D. Red.) Im übrigen hieß es, die Gruppen seien über das Ziel<br />

hinausgeschossen <strong>und</strong> ließen christliche Verantwortung fehlen. Es seien zuviel Ausreiser bei den<br />

Andachten anwesend. Besonders wurde den Basisgruppen eine Kollektensammlung für einen<br />

Graffitischreiber angekreidet („Gorbatschow“ u.ä.), der insgesamt etwa 6.000,-M Ordnungsstrafe<br />

bezahlen muß. Dieser sei kein Kirchenmitglied <strong>und</strong> deshalb sei die Kollekte nicht legitim gewesen.<br />

Im nächsten Friedensgebet verteilten die Basisgruppen einen Offenen Brief. In einer neueren Erklärung<br />

heißt es unter anderem: „... Wir empfinden die Vorgänge [... Zitat des Schlusses aus der Rede J. Läßigs am<br />

05.09.1988 (s. oben Dok. 77)]<br />

90 Stasi-Information<br />

Operativinformation (Nr. 82/88) der Bezirkskoordinierungsgruppe des MfS (BV Leipzig) vom 20.01.1988 an<br />

die KD Leipzig-Stadt. Unterzeichnet wurde die Information von OSL Gieck (BStU Leipzig AOPK 1436/89,<br />

277f.).<br />

Im Rahmen der politisch-operativen Sicherung des „Friedensgebetes“ in der Nikolaikirche Leipzig am<br />

19.09.1988 <strong>und</strong> der sich daran anschließenden Ansammlung von Übersiedlungsersuchenden auf dem<br />

Kirchvorplatz wurde durch Sicherheitskräfte festgestellt, daß der durch Ihre Diensteinheit unter OPK<br />

stehende Übersiedlungsersuchende [/] Kowasch, Fred [handschriftlich: OPK „Dunkel“ es folgen<br />

Geburtsdatum <strong>und</strong> Anschrift], ÜSE seit 11/87, [/] <strong>und</strong> der [... gemäß StUG geschwärzt], Teilnehmer an<br />

Personenbewegung nach dem „Friedensgebet“ am 05.09.1988, [/] in provozierender Art <strong>und</strong> Weise<br />

Fotoaufnahmen von den eingesetzten Sicherungskräften fertigten. Zu diesem Zweck lösten sich beide<br />

Personen kurzzeitig aus der Personenkonzentration, fertigten besagte Fotoaufnahmen <strong>und</strong> begaben sich<br />

danach zurück zu den Personengruppierungen 284 . Nach Auflösung der Personenkonzentration erfolgte<br />

durch Sicherungskräfte die Personifizierung beider Personen <strong>und</strong> die Einziehung der Filme, welche sich<br />

bei der AG Aktionen <strong>und</strong> Einsätze befinden 285 . [Es folgen Informationen, die die BKG über F. Kowasch<br />

gesammelt hatte]<br />

284 In Leipzig gab es 1988/89 verschiedene Versuche, die Arbeit des MfS bzw. des Sicherheitskartells zu<br />

dokumentieren <strong>und</strong> damit zu konterkarieren. Das MfS versuchte stets, an die Filme <strong>und</strong> Fotos zu kommen,<br />

weshalb es öfter zu Verfolgungsjagden kam. Einige der Fotos wurden beim „Statt Kirchentag“ im Juli 1989<br />

gezeigt. Diese Ausstellung beschlagnahmte das MfS noch im September 1989, als sie nach Zwickau gebracht<br />

wurde. Andere Fotos wurden in der Dokumentation zum Straßenmusikfestival im August 1989 verbreitet (s.<br />

Lieberwirth 172-178).<br />

285 Ein Protest gegen die Entwendung des Filmes von F. Kowasch (vom 26.10.1988) blieb unbeantwortet.<br />

165


91 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Auszug aus einer Information vom Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für Inneres<br />

vom 23.09.1988 über ein Gespräch zwischen H. Reitmann, R. Sabatowska, A. Müller <strong>und</strong> J. Cieslak, OLKR<br />

Schlichter <strong>und</strong> Kahle in Vorbereitung des Kirchentages 1989 in Leipzig. Das Exemplar trägt den Stempel<br />

„Dienstsache Expl. Nr. 18/88/02“ <strong>und</strong> wurde von Reitmann unterzeichnet 286 (StAL BT/RdB 38326 <strong>und</strong> in:<br />

ABL H 53).<br />

Zu Beginn des Gesprächs verwies der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres auf das im<br />

Jahr 1988 stattgef<strong>und</strong>ene Gespräch zwischen dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes <strong>und</strong> dem<br />

Landesbischof der Landeskirche Sachsens, Herrn Dr. Hempel, in dem seinerseits durch Herrn Opitz die<br />

Zusage für eine staatliche Unterstützung in Vorbereitung des Kirchentages der Landeskirche Sachsens<br />

1989 in Leipzig gegeben wurde <strong>und</strong> andererseits weiterführende Gespräche zwischen dem Stellv. des<br />

Vors. d. Rates für Inneres <strong>und</strong> dem Vorsitzenden des Landesausschusses für Kongreß- <strong>und</strong> Kirchentag<br />

vereinbart wurden.<br />

Der stattgef<strong>und</strong>ene Briefwechsel zwischen dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes <strong>und</strong> dem<br />

Vorsitzenden des Landesausschusses Kongreß- <strong>und</strong> Kirchentag sowie den im Vorfeld stattgef<strong>und</strong>enen<br />

Gesprächen zwischen Dr. Reitmann <strong>und</strong> Herrn Cieslak, in denen die Vorstellungen des<br />

Landesausschusses an den Rat des Bezirkes herangetragen wurden, bieten jetzt die Gr<strong>und</strong>lage der<br />

gemeinsamen Standpunktbildung.<br />

In diesem Zusammenhang wurde staatlicherseits hervorgehoben, daß die eingetretene Beruhigung in der<br />

Nikolaikirche <strong>und</strong> die klare Haltung der Superintendenten <strong>und</strong> des LKA [Landeskirchenamt] wesentlich<br />

mit war, daß das heutige Gespräch durchgeführt werden kann. Dr. Reitmann hob hervor, daß an dem<br />

theologischen Inhalt der Friedensgebete konsequent festgehalten werden muß bzw. dieser noch stärker in<br />

den Mittelpunkt zu stellen ist, weil die weitere Versachlichung der Friedensgebete in der Nikolaikirche<br />

mit eine wichtige Gr<strong>und</strong>lage für die noch bevorstehenden Gespräche in Vorbereitung des Kirchentages<br />

darstellen. Gleichzeitig wurde der Wunsch unterstrichen, daß die weiteren Gespräche von Offenheit,<br />

Vertrauen <strong>und</strong> Konstruktivität getragen werden sollten.<br />

Zu den Problemen der Struktur der Leitung <strong>und</strong> der inhaltlichen Gestaltung des Kirchentages wurden<br />

seitens der staatlichen Vertreter folgende Prämissen hervorgehoben: [...]<br />

Dr. Reitmann unterstrich mit Nachdruck, daß die Ereignisse um die Zionskirche, aber auch in der<br />

Nikolaikirche, die Gefährlichkeit einiger alternativer Gruppen im innerkirchlichen Raum unterstreicht. Es<br />

bedarf hier ein strenges kirchliches Regime [sic!], um diese Gruppen in ihre Schranken zu verweisen. [...]<br />

92 Basisgruppenerklärung<br />

Erklärung der Arbeitsgruppe „Umweltschutz“ beim Jugendpfarramt Leipzig vom 26.09.1988, die an Bischof<br />

Hempel, Sup. Magirius, Sup. Richter, den Kirchenvorstand St. Nikolai <strong>und</strong> den Bezirkssynodalausschuß<br />

Leipzig-Ost geschickt wurde 287 (ABL H 1).<br />

Seit 1981 gibt es in Leipzig das wöchentliche Friedensgebet, seit 1987 befindet es sich in der<br />

Verantwortung der Leipziger kirchlichen Basisgruppen. Für uns, die Arbeitsgruppe Umweltschutz (als<br />

eine dieser Gruppen), war dies eine gute Möglichkeit, unsere Anliegen mit der Gemeinde des<br />

Friedensgebetes vor Gott zu bringen.<br />

Für eine Gruppe von Engagierten am Thema Bewahrung der Schöpfung ist es besonders wichtig, daß ihre<br />

Betroffenheit nicht nur im kleinen Kreis von Interessierten diskutiert wird, sondern eine breite<br />

Öffentlichkeit findet. Wir wollen Christen bewußt machen, von welcher Wichtigkeit die Erhaltung des<br />

Lebensraumes für Mensch, Tier <strong>und</strong> Pflanze ist, <strong>und</strong> sie zu eigenem Engagement anregen. In unserem<br />

286 Dieses Protokoll wurde am 04.10.1988 dem Vorsitzenden des RdB übergeben.<br />

287 Ähnliche Erklärungen wurden auch von folgenden Gruppen abgegeben: ASZ, AKG, AGF, AK Hoffnung, AGM,<br />

AKSK (ABL H 1 <strong>und</strong> 2)<br />

166


Glauben haben wir den Auftrag, in Frieden mit unserer Umwelt zu leben <strong>und</strong> sie unseren Nachkommen zu<br />

erhalten. Durch den Konziliaren Prozeß 288 sehen wir uns in unserer Arbeit unterstützt <strong>und</strong> bekräftigt.<br />

Unerklärlich ist es uns nun, daß die Gruppen seit dem 29. Aug. 1988 aufgr<strong>und</strong> einer autoritären <strong>und</strong><br />

administrativen Entscheidung des Superintendenten Friedrich Magirius von der Gestaltung der<br />

Friedensgebete ausgeschlossen sind. Autoritär <strong>und</strong> administrativ deshalb, weil er sich damit über den<br />

Beschluß des Synodalausschusses Leipzig-Ost „Für Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ hinwegsetzte, wonach die<br />

Friedensgebete bis mindestens 31. Oktober 1988 in der ursprünglichen Form erhalten bleiben sollen. Auch<br />

den Kirchenvorstand von St. Nikolai hatte Sup. Magirius nicht gefragt, der tagte erst nachträglich.<br />

Wir sind mit dieser Art <strong>und</strong> Weise des Vorgehens nicht einverstanden! Wir wollen, daß uns die<br />

Ausgestaltung der Friedensgebete wieder möglich wird!<br />

Leider sehen wir, auch infolge des Gespräches von Vertreter/innen verschiedener Gruppen mit Sup.<br />

Magirius <strong>und</strong> Pfr. Führer am 1. Sept. im Jugendpfarramt, von seiten der Leipziger Kirchenleitung kaum<br />

Bemühungen, dem Anliegen der Gruppen entgegenzukommen. Deshalb begrüßen wir, daß sich Mitglieder<br />

der Leipziger kirchlichen Basisgruppen Initiativgruppe Leben, Arbeitskreis Gerechtigkeit, Arbeitsgruppe<br />

Umweltschutz <strong>und</strong> Arbeitskreis Solidarische Kirche an Bischof Dr. Hempel gewandt haben.<br />

[gez.] Kathrin Walther [/] i. A. der Arbeitsgruppe [/] Umweltschutz<br />

93 Synodalausschußprotokoll<br />

Sitzungsprotokoll des BSA vom 30.09.1988 von Pf. Berger. Protokoll wurde hektographiert (ABL H 35).<br />

anwesend:<br />

Sup. Magirius, Rudolph, Dusdal, Motzer, Körner, Kämpf, Feydt, Schneider, Hansmann, Dr. Mühlmann,<br />

Münnich, Bo[o]tz, Wolff, Lucke, Schiel, Findeis, Wonneberger, Rasch, Dr. Pohler, Herwig, Wolf, Dr.<br />

Berger<br />

1. Friedensgebet<br />

Brief von Herrn Heinze wird verlesen 289<br />

Der Ausschuß beschließt, einen Antrag an den KV Nikolai zu richten, vom Ausschuß benannte Vertreter<br />

in den KV zu Gesprächen über die Fortführung des Friedensgebetes einzuladen.<br />

In diese Verhandlung sollen folgende mehrheitlich beschlossene Standpunkte eingebracht werden:<br />

− Gestaltung von Gruppen unter Verantwortung eines von ihnen gesuchten Pfarrers mit einem eigenen<br />

Informationsteil<br />

− biblische Texte nach eigener Wahl mit dem Ziel der Verarbeitung gesellsch. Wirklichkeit in religiöser<br />

Weise<br />

− Fürbitte mit konkreter Benennung von Sachverhalten<br />

− Wiederbelebung des Nachgesprächs - Gruppe steht dazu zur Verfügung. Leitung muß geklärt werden.<br />

Nächste Sitzung 27.10.88 19.30 Uhr<br />

94 Innerkirchliche Mitteilung<br />

Brief des BSA an den KV St. Nikolai vom 02.10.1988, in dem die Gruppen dem Kirchenvorstand ein<br />

Gespräch über die weitere Durchführung der Friedensgebete anbieten, von Dr. Berger unterzeichnet. Vorlage<br />

ist eine Xerokopie (ABL H 35).<br />

Betr.: Friedensgebet<br />

In seiner Sitzung vom 30.09.88 hat der Synodalausschuß beschlossen, den Kirchenvorstand von St.<br />

Nikolai um ein Gespräch über die Fortführung der montäglichen Friedensgebete zu bitten. Die jetzige<br />

Form kann nicht als Friedensgebet im ursprünglichen Sinn angesehen werden. Die Gruppen möchten die<br />

288 s. Anhang S. 370<br />

289 s. Dok. 121<br />

167


Auslegung eines biblischen Textes nach eigener Wahl mit der Zielstellung der Verarbeitung der<br />

gesellschaftlichen Wirklichkeit in religiöser Weise unter Verantwortung eines Pfarrers. Das Friedensgebet<br />

sollte wieder konkrete Fürbitten enthalten <strong>und</strong> den Gruppen Möglichkeit für Informationen <strong>und</strong> einem<br />

Nachgespräch mit Besuchern geben.<br />

Sollte der Kirchenvorstand zu einem Gespräch darüber bereit sein, bittet der Ausschuß um einen Termin,<br />

zu dem er seine Vertreter entsenden kann.<br />

[gez.] M. Berger [/] Vorsitzender<br />

95 Kirchenvorstandsprotokoll<br />

Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 43. Sitzung des KV St. Nikolai vom 03.10.1988 von W.<br />

Hofmann. In der Sitzung wurde über den Brief des Bezirkssynodalausschusses beraten (ABL H 54).<br />

Tagesordnung: 1. Information über Tagung „Absage an Prinzip <strong>und</strong> Praxis der Abgrenzung“ [...]<br />

Zu 1.) Herr Grötzsch berichtet über Inhalte <strong>und</strong> Eindrücke von einer Tagung, die in Oranienburg stattfand.<br />

Eine lange Aussprache schließt sich an. [... zwei Zeilen geschwärzt] Sup. Magirius formuliert ein<br />

Resümee zu der jetzt geübten Ordnung des Friedensgebetes <strong>und</strong> die Vorgänge, die seit dem Wiederbeginn<br />

Ende August 1988 zu verzeichnen waren. Ein Brief an den Kirchenvorstand, übermittelt durch Herrn<br />

Christfried Heinze290 mit mehreren Unterschriften, dessen Inhalt zur Problematik des Friedensgebetes<br />

Stellung nimmt, wird von den Mitgliedern des KV zur Kenntnis genommen. Der Bitte des<br />

Synodalauschusses für Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit um ein Gespräch, die Inhalte <strong>und</strong> die Form des<br />

Friedensgebetes betreffend, wird durch den KV einstimmig entsprochen. Für den 21.11.1988, 18.00 Uhr<br />

wird im kleinen Saal mit den Mitgliedern des Kirchenvorstandes (Magirius, Ramson, Pester, Lehnert,<br />

Eichelbaum, Grötzsch, Führer) ein Termin angeboten. Vom Synodalausschuß werden 7<br />

Gesprächsteilnehmer erwartet 291.<br />

[...]<br />

96 Friedensgebetstexte<br />

Text der Predigt, die Kaplan Fischer während des Friedensgebetes am 24.10.1988 hielt <strong>und</strong> Fürbitten aus<br />

diesem Friedensgebet. Xerokopie des Redekonzeptes (ABL H 1).<br />

Seit 1981 wird in dieser Kirche montags um 17 Uhr für den Frieden gebetet. Dieses Friedensgebet in der<br />

Nikolaikirche, das in seiner Art hier in Sachsen das einzige ist, das über solch lange Zeit lebendig<br />

geblieben ist, hat Höhen <strong>und</strong> Tiefen erlebt. Höhen <strong>und</strong> Tiefen, was das Engagement bei der Gestaltung des<br />

Friedensgebets angeht, aber auch was die Teilnehmerzahl an diesem Gebet betrifft. Ich kann mich noch<br />

gut an gar nicht soweit zurückliegende Zeiten erinnern, als wir als verlorenes Häufchen in der Sakristei<br />

gebetet haben. Das ist erfreulich <strong>und</strong> erfrischend, jetzt eine volle Kirche zu sehen. Diese Freude über die<br />

volle Kirche beim Friedensgebet läßt mich aber trotzdem nüchtern bleiben. Denn ich bin mir bewußt, daß<br />

wir, die wir jetzt hier zusammengekommen sind, sehr unterschiedliche Motive für unser Hiersein haben.<br />

Ich bin mir bewußt, daß es nicht mehr der Glaube an unseren einen <strong>und</strong> einzigen Herrn Jesus Christ ist,<br />

der uns hier zusammengeführt hat. Nicht wenige unter uns sind hier, weil sie enttäuscht sind, weil sie<br />

durch das Erleben erfahrener Ohnmacht entmutigt <strong>und</strong> verbittert sind oder weil sie sich entmündigt fühlen.<br />

Nicht wenige unter uns sind hier, weil sie den Eindruck haben, daß in unserem Land eine Öffentlichkeit<br />

fehlt, in der die Probleme, vor denen wir stehen, <strong>und</strong> ihre Lösungsmöglichkeiten in einem umfassenden<br />

Dialog von Politikern, Fachleuten <strong>und</strong> Betroffenen ehrlich besprochen werden können. Ich beklage es, daß<br />

es in diesem unseren Land so wenig Bereitschaft zu einem echten Dialog gibt. Ich beklage die Ratlosigkeit<br />

<strong>und</strong> Hoffnungslosigkeit, auf die ich so häufig auch in unseren Kirchen stoße.<br />

Wir erleben, wie schnell wir vor der Fülle der Probleme kapitulieren, wie leicht wir aufgeben, unser Licht<br />

290 s. Dok. 86<br />

291 Dieses Angebot wurde am 05.10.1988 in einem Brief an Pf. Berger durch Pf. Führer unterbreitet (ABL H 35).<br />

168


unter den Scheffel der Resignation stellen, wie tief Ohnmachtserfahrung <strong>und</strong> Ohnmachtsgefühle uns<br />

lähmen. Ich meine, daß es gefährlich ist, in solch einer Situation Trost in Jenseitshoffnungen anzubieten<br />

oder suchen zu wollen. Egal ob dieses Jenseits die neue, von Gott geschaffene künftige Welt oder die<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland sein sollte. Wir sind hier aus Liebe zum Leben <strong>und</strong> aus Sorge um das Leben,<br />

aus Verantwortung für das Leben. Deshalb versuchen wir, so offen <strong>und</strong> ehrlich uns das möglich ist,<br />

Rechenschaft zu geben von unserer Ratlosigkeit <strong>und</strong> Mitschuld, aber auch von unserer Hoffnung <strong>und</strong><br />

unserer Verantwortung. Dazu gehört für mich auch, daß wir offen <strong>und</strong> ehrlich im Umgang miteinander<br />

sind, daß wir nun nicht auch noch unter uns selber Abgrenzung <strong>und</strong> Ausgrenzung praktizieren. Ich sage<br />

dies auch deswegen, weil ich bestürzt bin über das Gerangel um dieses Friedensgebet. Es macht mich tief<br />

traurig, daß ein sachliches Gespräch zur Klärung dieses Konflikts anscheinend von einigen daran<br />

Beteiligten nicht mehr für möglich gehalten wird. Ich finde es schlimm, daß es manchen von uns so<br />

schwer fällt eigene Fehler zuzugeben, um Verzeihung für eigenes Versagen zu bitten <strong>und</strong> dem anderen<br />

Verzeihung zuzusprechen. Um es klar <strong>und</strong> deutlich zu sagen: Auch ich halte den Entschluß, das<br />

Friedensgebet der bisherigen Trägerschaft zu entziehen <strong>und</strong> allein dem KV der Nikolaigemeinde zu<br />

übertragen, für eine verhängnisvolle Fehlentscheidung, weil dieser Entschluß in seiner Begründung von<br />

falschen Voraussetzungen ausgeht, die offensichtlich auf Informationsstörungen beruhen. Deshalb meine<br />

ich, daß es dringend notwendig ist, über diese Dinge ehrlich miteinander zu reden, um wieder in einen<br />

Dialog miteinander zu kommen. Wem sollen denn solche einseitigen Schuldzuweisungen helfen, wie sie<br />

im offenen Brief an den Landesbischof vom 5. September 292 standen? Ich empfinde es als ungeheuerlich,<br />

wenn jemand - wie in diesem Brief geschehen - seine geistliche Kompetenz <strong>und</strong> moralische Integrität<br />

abgesprochen wird, ohne daß dafür auch nur halbwegs schlüssige Beweise für solche Unterstellungen<br />

vorgelegt werden können. Liebe <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> 293 , das ist ein Stil, der nicht nur unwahrhaftig <strong>und</strong> unfriedfertig,<br />

sondern auch gegen den Geist der frohen <strong>und</strong> freimachenden Botschaft Herrn Christi gerichtet ist. Ich<br />

meine, daß wir alle uns unter das vorhin gehörte Wort aus dem Eph.[eser]brief stellen sollten, wo uns klar<br />

gesagt wird, wie wir untereinander <strong>und</strong> miteinander umgehen sollen. Dialogverweigerer gibt es in diesem<br />

Land genug. Da müssen wir diese Zahl nicht noch größer machen. Der Dialog ist die einzige Existenzform<br />

der Wahrheit, die wirklich frei macht. Ich fordere deswegen alle an diesem Konflikt Beteiligten an dieser<br />

Stelle noch einmal auf, wieder aufeinander zuzugehen <strong>und</strong> aufeinander zu hören, damit wir nicht das aus<br />

den Augen verlieren, weshalb es einmal zur Einrichtung dieses Friedensgebets gekommen ist, nämlich die<br />

Verheißung des Friedens, der von Gott kommt, in dieser Gesellschaft zu bezeugen, erfahrbar zu machen.<br />

Für mich geht es hier um die Frage meiner Identität als Christ: Kirche ist für mich Ort des Lebens gegen<br />

den Tod. Ort der offen ist „für jeden, der kommt, um Leben zu suchen, denn Leben suchen heißt Gott<br />

suchen, der selbst das Leben ist“. (H. J. Frischbeck 294 ). Und das kann ich, das können wir nur im<br />

Miteinander, im Vertrauen auf den, der unsere Hoffnung ist. Als Hoffende sind wir unterwegs, auf das<br />

Leben hin, auf Gottes Verheißung hin. Bejahend die Grenzen des eigenen Unvermögens, vertrauend, dem,<br />

der die Grenze des Todes für uns überschritten hat. Laßt uns anfangen, hier wieder den ersten Schritt zu<br />

gehen, einen Schritt des gemeinsamen Glaubens mitten in den Bedrohungen des Lebens.<br />

[Fürbitten:]<br />

− Herr, gib uns Mut zur schmerzlichen Wahrheit <strong>und</strong> die Erkenntnis der erlösenden Wahrheit. [/] Hilf<br />

uns Verschwiegenes auszusprechen, Vergessenes wiederzuentdecken <strong>und</strong> Verlorenes wiederzufinden.<br />

[/] Hilf uns Bewährtes zu bewahren <strong>und</strong> Neues zu probieren. [/] - Herr erbarme Dich<br />

− Herr, laß uns sanftmütiger sein gegenüber aller Natur <strong>und</strong> Kreatur. Laß uns barmherziger sein<br />

gegenüber allem Leid <strong>und</strong> allen Leidenden. Laß uns friedfertiger sein gegenüber Nahen <strong>und</strong> Fernen,<br />

gegenüber <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n <strong>und</strong> Gegnern. [/] - Herr erbarme Dich<br />

− Herr, laß uns nicht los <strong>und</strong> sei bei uns mit Deinem Geist, der Leben schafft. Ermutige uns zu<br />

292 s. Dok. 76<br />

293 Die direkte Anrede war möglich, da einige Unterzeichner des Briefes im Altarraum der Kirche standen (s.<br />

Chronik im Anhang).<br />

294 Zitat aus: Hans Jürgen Fischbeck, Welche Grenzen setzt <strong>und</strong> verbietet das Evangelium? - Ein Gesprächsbeitrag,<br />

in: Über das Nein hinaus. Aufrisse Zwei, herausgegeben von St. Bickhardt, R. Lampe <strong>und</strong> L. Mehlhorn im<br />

Oktober 1988 (ABL Box 13), 13-18, dort 16<br />

169


schöpferischem Zweifel <strong>und</strong> bewahre uns vor lähmender Verzweiflung. Gib uns Zuversicht <strong>und</strong> laß<br />

uns nicht verzweifeln an dem, was wir noch nicht sehen. Amen [/] - Herr erbarme Dich<br />

− Vater unser [...]<br />

Am Anfang der Christenheit wurden die Christen die Leute vom Weg genannt, die Leute die unterwegs<br />

sind. Das ist auch heute unsere Berufung: unterwegs zu sein <strong>und</strong> uns aus unserem Glauben heraus für<br />

diese unsere Welt zu engagieren. Dafür wollen wir Gottes Segen erbitten.<br />

[Segen]<br />

97 Basisgruppenerklärung<br />

Auszug aus einer Erklärung von Gruppenvertretern, die während des Friedensgebetes mit Transparenten zur<br />

Zivilcourage aufgerufen hatten 295 . Die Erklärung konnte in der Kirche nicht verlesen werden, weshalb sie vor<br />

der Kirche, während die Transparente im Schein von vielen Kerzen erneut gezeigt wurden, verlesen wurde.<br />

Abgedruckt wurde die Erklärung in: Die Mücke, 8f. (ABL Box 21).<br />

[...] Unsere Arbeit in den Gruppen ist getragen durch den von Christus gelebten Glauben an<br />

Menschlichkeit <strong>und</strong> Menschenwürde. Wir brauchen die Solidarität aller - die auf verschiedenste Art <strong>und</strong><br />

Weise nach diesen Werten suchen <strong>und</strong> leben möchten. Wir können nicht mehr nebeneinander für dasselbe<br />

wirken wollen. Es ist Zeit - sich zu engagieren - weil wir jetzt leben <strong>und</strong> nicht mehr lediglich auf<br />

Veränderungen in der Zukunft hoffen können. Die Angst der Menschen vor ihrer Umwelt <strong>und</strong> vor sich<br />

selbst wächst ständig. Die Kluft zwischen persönlichem Denken <strong>und</strong> Fühlen <strong>und</strong> dem Handeln nach<br />

Normen, suggestierten Wünschen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Ansprüchen nimmt immer mehr zu. Angst <strong>und</strong><br />

Zwiespalt zerstören Lebenssinn <strong>und</strong> menschliche Beziehungen. Wir können dem nur durch gemeinsames,<br />

bewußtes, Neues [sik!] Handeln <strong>und</strong> Umsetzung unserer Erkenntnisse begegnen. Unsere Forderung nach<br />

Veränderung müssen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit sichtbar werden.<br />

Die Arbeit der kirchlichen Basisgruppen ist ein versuchter Weg, an den alles umfassenden Themen<br />

Frieden - Gerechtigkeit - Bewahrung der Schöpfung zu arbeiten. Sie basiert darauf - sich gegenseitig<br />

anzuregen <strong>und</strong> zu motivieren - Probleme gemeinsam zu tragen <strong>und</strong> im Handeln nicht allein zu sein. Auch<br />

wenn diese Arbeit von verschiedenen Seiten in der Kirche weder geachtet, anerkannt oder gar gefördert<br />

wird - gilt es, diesen minimalen Spielraum in diesem Land zu nutzen. Es liegt an uns - die Kirche immer<br />

wieder an ihre im Evangelium verankerte <strong>und</strong> von Christus gelebte Aufgabe zu erinnern - sich dem<br />

Menschen <strong>und</strong> seiner Umwelt zuzuwenden. Wir bitten Euch, diese Worte anzunehmen <strong>und</strong> sie nach<br />

eigenem Ermessen umzusetzen.<br />

98 Vernehmungsprotokoll<br />

Auszug aus der Abschrift des Befragungsprotokolles des Stasi-Hauptmanns Richter vom 26.10.88 über<br />

Aktivitäten von F. Sellentin zum Friedensgebet am 24.10.1988. Am Ende jeder Seite wurde „gez. Frank<br />

Sellentin“ vermerkt 296 . Für die Richtigkeit der maschinenschriftliche Abschrift zeichnete Weidner (BStU<br />

Leipzig KD Leipzig Stadt XIII 163/88, 81-87).<br />

Ich wurde darüber belehrt, daß ich gemäß § 95 (2) StPO 297 einer Befragung unterzogen werde. Über das<br />

mir gemäß § 91 StPO zustehende Beschwerderecht wurde ich belehrt.<br />

gez. Frank Sellentin<br />

Mitteilung: Ihnen wird mitgeteilt, daß Sie durch das Untersuchungsorgan der Bezirksverwaltung für<br />

295 s. folgendes Dok. <strong>und</strong> Chronik unter 24.10.1988<br />

296 In der Referatsleiterbesprechung der Abt. XX der BV am 02.11.1988 hieß es: „Protokolle werden genutzt, um<br />

damit gegenüber kirchl. Amtsträgern zu argumentieren.“ (BStU Leipzig AB 1031).<br />

297 Prüfung von Anzeigen <strong>und</strong> Mitteilungen durch Befragung des Verdächtigen. In der Referatsleiterbesprechung der<br />

Abt. XX am 02.11.1988 hieß es: „Prüfungshandlungen nach § 95 StPO nur durch die Abt. IX.“ (BStU Leipzig<br />

AB 1031).<br />

170


Staatssicherheit Leipzig zur Klärung eines Sachverhaltes hinsichtlich öffentlichkeitswirksamer<br />

Handlungen am 24.10.1988 vor der Nikolaikirche einer Befragung unterzogen werden. Haben Sie diese<br />

Mitteilung verstanden?<br />

Antwort: Ich habe dies zur Kenntnis genommen.<br />

Frage: Wo hielten Sie sich am 24.10.1988 zwischen 17.00 <strong>und</strong> 19.00 Uhr auf?<br />

Antwort: Am 24.10.1988 nahm ich an dem Friedensgebet in der Nikolaikirche in Leipzig teil. Ich kam<br />

eine Minute vor 17.00 Uhr an. Ca. 17.35 Uhr habe ich die Kirche mit anderen Personen verlassen, worauf<br />

wir nach kurzer Zeit ins Café „Centra“ gingen.<br />

Frage: An welchen öffentlichkeitswirksamen Handlungen beteiligten Sie sich in diesem Zeitraum?<br />

Antwort: Vor der Kirche auf dem Nikolaikirchhof hatte ich ein Plakat mit der Aufschrift: „Mündigkeit<br />

verpflichtet - ziviler Ungehorsam“ entrollt, welches ich ca. 10 bis 15 Minuten hielt. Weiterhin wurde<br />

dieses Plakat von einer weiblichen Person gehalten, deren Namen ich nicht nennen werde. Es haben noch<br />

weitere Personen, deren Namen ich ebenfalls nicht nennen werde, solche Plakate getragen.<br />

Frage: Welche Texte befanden sich auf den Plakaten?<br />

Antwort: Die Plakate hatten folgende Texte:<br />

1. „Wir mahnen uns, an die zu denken, die gehen mußten“<br />

2. „Wir mahnen uns, die Wahrheit zu sagen“<br />

3. „Wir mahnen uns, danach zu handeln“. 298<br />

Weiterhin wurde in dieser Zeit eine Stellungnahme verlesen, um zu verdeutlichen, wozu wir die Plakate<br />

entrollt hatten. Dies erfolgte bereits ca. 25 Minuten während des Friedensgebetes in der Nikolaikirche vor<br />

dem Altar. Zum Verlesen der Stellungnahme kam es aber in der Kirche nicht.<br />

Frage: Unter welchen Umständen kam es zur Erstellung der Plakate sowie der Stellungnahme?<br />

Antwort: Etwa in der Mitte der vorigen Woche erfuhr ich auf der Straße in Leipzig von mehreren<br />

Personen, deren Namen ich nicht angebe, daß die Errichtung eines Kommunikationszentrums 299 der<br />

Basisgruppe der Kirche, welches meines Wissens nach bereits von der Kirche zugesagt wurde, wieder<br />

abgesetzt wurde. Da auch in der letzten Zeit die Gestaltung der Friedensgebete durch die Basisgruppen<br />

von der Kirche verwehrt wurde, sagten wir uns, auf die innerkirchliche Meinung der Kirchenvorgesetzten<br />

Einfluß nehmen zu müssen, die gemeinsame Sache mit dem Staat meiner Ansicht nach machen. Wir<br />

wollten erreichen, daß die Kirche bzw. die Kirchenleitung wieder Rückgrat zeigt <strong>und</strong> uns wieder den<br />

Spielraum zubilligt, den wir bereits hatten. Wir beschlossen, durch entsprechende Plakate <strong>und</strong> eine<br />

Stellungnahme dazu unsere Forderungen gegenüber der Kirche am 24.10.1988 während des<br />

Friedensgebetes zum Ausdruck zu bringen. Das Plakat, welches ich getragen habe, wurde von mir am<br />

Sonnabend in einer Wohnung in Leipzig angefertigt. Ich verwendete dazu die Farben der „Anarchie“ -<br />

schwarz <strong>und</strong> rot -.<br />

[... weitere Angaben zur Herstellung]<br />

Frage: Wo wollten Sie <strong>und</strong> die anderen Personen mit den gefertigten Plakaten auftreten <strong>und</strong> die<br />

Stellungnahme verlesen?<br />

Antwort: Es war beabsichtigt, diese Plakate am 24.10.1988 in der Nikolaikirche während des<br />

Friedensgebetes zu entrollen <strong>und</strong> dabei die Stellungnahme zu verlesen. Da wir damit rechnen mußten, daß<br />

unsere Aktion durch den Superintendenten Magirius unterb<strong>und</strong>en wird, haben wir die Kirche meines<br />

Wissens nach nicht von dieser Aktion informiert. Die Kirche sollte es völlig unvorbereitet treffen. Uns<br />

wurde während des Friedensgebetes zwar nicht verwehrt, die Plakate zu entrollen <strong>und</strong> den Anwesenden zu<br />

zeigen, jedoch war es nicht möglich, die Stellungnahme zu verlesen, da das Mikrofon abgeschaltet wurde.<br />

Als bereits viele Personen nach dem Friedensgebet die Kirche verließen, entschlossen wir uns kurzfristig<br />

<strong>und</strong> spontan, die Plakate vor der Kirche nochmals zu zeigen <strong>und</strong> die Stellungnahme zu verlesen.<br />

Frage: Warum entschlossen Sie sich gemeinsam mit den anderen Personen dazu?<br />

Antwort: Wir hatten nicht damit gerechnet, daß uns das Verlesen der Stellungnahme verwehrt wird.<br />

Meiner Meinung nach waren wir es den Anwesenden schuldig zu erklären, was wir mit den Plakaten zum<br />

Ausdruck bringen wollten. Von uns war zuvor in keiner Weise geplant, mit den Plakaten <strong>und</strong> der<br />

298 Ein Foto von der Aktion ist abgedruckt in: Hamburger Abendblatt, Nr. 282 (04.12.1991), S. 3<br />

299 s. im Anhang S. 369<br />

171


Stellungnahme außerhalb der Kirche aufzutreten. Wir waren jedoch letztendlich durch das Verhalten der<br />

Kirchenleitung dazu gezwungen.<br />

Frage: Welchen Inhalt hatte die verlesene Stellungnahme?<br />

Antwort: An den Inhalt dieser Stellungnahme erinnere ich mich nicht mehr. In dieser ging es lediglich<br />

darum, den Leuten zu zeigen, daß wir mehr Unterstützung von der Kirche fordern.<br />

Frage: Wer hat die Stellungnahme verlesen?<br />

Antwort: Den Namen dieser Person nenne ich nicht.<br />

Frage: War Ihnen bekannt, daß es sich dabei um eine nichtgenehmigte Handlung in der Öffentlichkeit<br />

handelt?<br />

Antwort: Mir ist zwar bekannt, daß derartige Veranstaltungen in der Öffentlichkeit einer Genehmigung<br />

unterliegen. Aufgr<strong>und</strong> der spontanen Entscheidung hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht daran gedacht.<br />

Außerdem war auch keine Zeit mehr, um eine Genehmigung dafür einzuholen. [...] Ich habe das<br />

Befragungsprotokoll gelesen. Die darin enthaltenen Antworten entsprechen inhaltlich meinen Aussagen.<br />

gez. Frank Sellentin<br />

99 Basisgruppenerklärung<br />

Erklärung der Initiativgruppe „Leben“ <strong>und</strong> des Arbeitskreises „Gerechtigkeit“ vom 26.10.1988 aufgr<strong>und</strong> von<br />

Verhaftungen <strong>und</strong> Vernehmungen Leipziger Gruppenmitglieder. Die Erklärung wurde per Ormigverfahren<br />

ohne kirchliche Lizenz vervielfältigt <strong>und</strong> zu verschiedenen Anlässen verteilt. Später wurde sie auch in der<br />

vom Leipziger Jugendpfarramt herausgegebenen Samisdat-Zeitschrift „Streiflichter“ abgedruckt 300 (ABL H<br />

2).<br />

Seit dem 20.10.88 kam es wiederholt zu Zuführungen 301 von Bürgern <strong>und</strong> Bürgerinnen (20.10. Beate<br />

Fahrnländer, Manfred Fahrnländer <strong>und</strong> Axel Holicki, 21.10. Stefan Fahrnländer, 23.10. Michael Arnold,<br />

Andreas Radicke <strong>und</strong> Andre Bootz, 24.10.Thomas Baumann, 26.10. Katrin Hattenhauer, Rainer Müller,<br />

Uwe Schwabe <strong>und</strong> Frank Sellentin), die sich der Friedens- <strong>und</strong> Bürgerbewegung in Leipzig zugehörig<br />

fühlen. Alle Zugeführten wurden zu Aktivitäten der kirchlichen Arbeitsgruppen „Initiative Leben“ <strong>und</strong><br />

Arbeitskreis „Gerechtigkeit“ befragt. Wir weisen darauf hin, daß es nach der Verfassung der DDR<br />

möglich sein muß, „seine Meinung frei <strong>und</strong> öffentlich“ zu äußern (Art. 27). Wir sind der Meinung, daß der<br />

in Frage stehende Brief von 274 Bürgern <strong>und</strong> Bürgerinnen an den Staatssekretär für Kirchenfragen, Dr.<br />

Löffler, vom 17.10.88 302 <strong>und</strong> die öffentliche Meinungsbek<strong>und</strong>ung auf dem Nikolaikirchhof vom 24.10.88<br />

mit der Verfassung in Einklang stehen.<br />

Wir protestieren entschieden gegen den erneuten Versuch, uns <strong>und</strong> unsere <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> zu kriminalisieren <strong>und</strong><br />

einzuschüchtern. Wir fordern alle Verantwortlichen in diesem Lande auf, alles in ihrer Macht stehende zu<br />

unternehmen, um solche Versuche zu unterbinden. Wir teilen mit, daß die Entscheidungen, ob<br />

300 In den „Streiflichtern“ steht vor der Erklärung: „Als Leipziger Basisgruppen nehmen wir Anteil an dem<br />

Geschehen in dieser Stadt. Wir sind betroffen über folgende Vorgänge:...“ Im Anschluß folgt noch dieser Text:<br />

„Information des Arbeitskreises Gerechtigkeit Lps., den 5.11.88 [/] Unsere Erklärung vom 26.10. ergänzend<br />

teilen wir mit: [/] Am 27.10. wurde Gesine Oltmanns zugeführt, am 31.10. wurde Anita Unger zugeführt <strong>und</strong> am<br />

1.11. wurde Jochen Läßig 'Zwecks Klärung eines Sachverhaltes' vorgeladen. Auch gegen diese drei Personen<br />

wurde ein Prüfungsverfahren nach § 95 der Strafprozeßordnung [s. Anm. 297] eingeleitet. Am 4.11. wurde Uwe<br />

Schwabe erneut zur „Klärung eines Sachverhaltes“ befragt. Er wurde zu diesem Zweck vorgeladen. Ihm wurde<br />

mitgeteilt, daß die Frist für das Prüfungsverfahren für alle 7 Personen (Frank Sellentin, Uwe Schwabe, Anita<br />

Unger, Rainer Müller, Gesine Oltmanns, Jochen Läßig, Katrin Hattenhauer) vom Staatsanwalt verlängert wurde<br />

(auf unbestimmte Zeit). [/] Bei ihrer Zuführung am 26.10. wurde Katrin Hattenhauer bereits mitgeteilt, daß, falls<br />

das Prüfungsverfahren positiv ausfällt, ein Ermittlungsverfahren nach § 106 des Strafgesetzbuches<br />

[Staatsfeindliche Hetze] eingeleitet wird.“ (ABL Box 6)<br />

301 DDR-Jargon für Festnahmen<br />

302 Brief an den Staatssekretär für Kirchenfragen zur Aufhebung der Zensur von Kirchenzeitungen <strong>und</strong> der<br />

Forderung nach Genehmigung friedlicher Demonstrationen ist abgedruckt in: Die Mücke, 8 - ABL Box 21; s.a.<br />

Besier/Wolf 568<br />

172


Ermittlungsverfahren gegen Katrin Hattenhauer, Rainer Müller, Uwe Schwabe <strong>und</strong> Frank Sellentin<br />

eröffnet werden, noch ausstehen.<br />

Initiativgruppe „Leben“ i.A. Andreas Radicke [... Adresse]<br />

Arbeitskreis Gerechtigkeit i.A. Thomas Rudolph [... Adresse]<br />

100 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Information vom Rat des Bezirkes Leipzig, [Bereich Kirchenfragen], vom 28.10.1988, über ein Gespräch<br />

zwischen A. Müller, H. Fenzlau <strong>und</strong> Sup. Magirius am 21.10.1988 zu Aktionen von alternativen Gruppen<br />

beim Friedensgebet am 17.10.1988 303 , unterzeichnet von A. Müller. Der Durchschlag trägt einen<br />

Dienstsachenstempel ohne Angabe der Nr. des Exemplars <strong>und</strong> Bearbeitungsspuren, die zeigen, daß K. Conrad<br />

den Bericht am 31.10. erhielt (ABL H 53).<br />

Information [/] zum Gespräch mit Superintendenten Magirius am 21.10.88 beim Rat der Stadt Leipzig,<br />

Kirchenfragen<br />

Das Gespräch wurde durch die Genossen A. Müller <strong>und</strong> H. Fenzlau geführt.<br />

Im Mittelpunkt standen folgende Probleme:<br />

1. Friedensgebet am 17.10.88 <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen Aktionen von Mitgliedern alternativer Gruppen<br />

in <strong>und</strong> vor der Nikolaikirche;<br />

2. Die Absicht von Mitgliedern alternativer Gruppen, sich an einer ungesetzlichen Aktion am 24.10.1988<br />

in Berlin zu beteiligen;<br />

3. Meinung von Sup. Magirius zur Installierung eines „Kommunikationszentrums“ im kirchlichen Raum;<br />

4. Einflußnahme von Sup. Magirius zur geplanten Veranstaltung am 31.10.88 in der Lukaskirche <strong>und</strong> die<br />

damit verb<strong>und</strong>ene ungesetzliche Plakatierung an <strong>und</strong> in öffentlichen Gebäuden in der Stadt Leipzig.<br />

Im Gespräch brachte Sup. Magirius zu den aufgeworfenen Problemen sinngemäß zum Ausdruck:<br />

Er habe in der letzten Zeit immer mehr die Erfahrung machen müssen, daß mit den Initiatoren solcher<br />

Aktionen nicht mehr zu reden ist. Sie sind nicht mehr bereit, mit sich reden zu lassen, d.h., sie lassen nicht<br />

mehr disziplinieren. Er vertrete nunmehr den Standpunkt, daß man diese Leute staatlicherseits zur<br />

Verantwortung ziehen sollte. [/] So habe man zwar versucht Einfluß zu nehmen, aber die Ansammlung am<br />

17.10.88 vor der Nikolaikirche konnte nicht verhindert werden. [/] Er bleibe bei seiner Haltung zu Inhalt<br />

<strong>und</strong> Form der montäglichen Friedensgebete, auch wenn er dadurch vielen Anfeindungen ausgesetzt ist. Er<br />

habe vor diesen Leuten keine Angst. Dabei werde für ihn auch die ausschließlich politische negative<br />

Profilierung einiger Gruppen immer deutlicher.<br />

Magirius sagte zu, Einfluß zu nehmen, daß die geplante Mitwirkung von Mitgliedern von Gruppen an der<br />

am 24.10.88 ungesetzlich stattfindenden Demonstration 304 nicht zur Wirkung kommt <strong>und</strong> keiner nach<br />

Berlin fährt. Mit dem Gespräch von Bischof Leich <strong>und</strong> Staatssekretär Löffler am 13.10.88 <strong>und</strong> die<br />

staatliche Entscheidung, daß alle kirchlichen Zeitungen mit der Berichterstattung zum Verlauf der<br />

ökumenischen Versammlung in Magdeburg erscheinen können, sei der Anlaß ja weggefallen. Magirius<br />

begrüßte diese Entscheidung auch in Hinblick auf die damit verb<strong>und</strong>ene Versachlichung im kirchlichen<br />

Bereich. [/] Zum Kommunikationszentrum vertrat Magirius die Meinung, daß dies verhindert werden<br />

muß 305 . Vor einem Jahr hätte er dies noch befürwortet. Die sich vollziehende innerkirchliche Entwicklung<br />

<strong>und</strong> die politische Profilierung einiger Gruppen lassen erkennen, daß damit das Staat-Kirche-Verhältnis<br />

weiter belastet werden könnte.<br />

Zur Veranstaltung am 31.10.88 in der Lukaskirche angesprochen <strong>und</strong> zu der dazu erfolgten Plakatierung<br />

im Vorfeld meinte Magirius, daß Pf. Wonneberger bewußt den Intentionen solcher Kräfte folgt <strong>und</strong> sie<br />

303 Die Kernsätze dieses Protokolls fanden Eingang in: Information des Stellvertreter des OBM (Sabatowska i.V.<br />

unleserlich) zur Staatspolitik in Kirchenfragen, im Berichtszeitraum Oktober/November 1988 (StAL BT/RdB<br />

21129).<br />

304 Gemeint ist eine Demonstration gegen die Zensur der kirchlichen Presse, zu der am 17.10. nach dem FG auf dem<br />

Nikolaikirchhof eingeladen wurde (s.a. MfS-Bericht in: Besier/Wolf 568).<br />

305 vgl. Dok. 85<br />

173


auch unterstützt. Auch hier helfe nicht mehr anderes, als das man diese Leute staatlich zur Verantwortung<br />

zieht. [/] Zur Themenstellung <strong>und</strong> zum geplanten Inhalt der Veranstaltung brachte Magirius zum<br />

Ausdruck, daß dies ein Rückschritt in der Meinungsbildung zum Thema Sofd darstellt. Innerkirchlich sei<br />

man in der Diskussion schon weiter. Offensichtlich, so Magirius, will man damit erneut das Problem<br />

anheizen 306.<br />

Er gab in diesem Zusammenhang zu verstehen, daß Bischof Hempel mit Wonneberger hinsichtlich seiner<br />

Haltung <strong>und</strong> seiner Aktivitäten vor kurzem erst gesprochen habe. [/] Magirius sagte zu, umgehend das<br />

Landeskirchenamt über die Veranstaltung am 31.10.88 zu informieren. [/] Des weiteren werde er mit Pfr.<br />

Turek (Markuskirche) <strong>und</strong> Wonneberger (Lukaskirche) sprechen. [/] Gleichfalls werde er bei dieser<br />

Veranstaltung anwesend sein.<br />

Das Gespräch verlief offen <strong>und</strong> sachlich.<br />

101 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Auszug aus der Information des Stellvertretenden Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für Inneres vom<br />

03.11.1988 über eine Gespräch zwischen H. Reitmann, R. Sabatowska <strong>und</strong> dem Vorsitzenden des<br />

Landesausschusses Kongreß- <strong>und</strong> Kirchentag, J. Cieslak. An dem Gespräch nahmen außerdem teil: Dr. Stein,<br />

G. Müller, OLKR Schlichter, Kahle <strong>und</strong> Hänisch. Das Exemplar trägt den Stempel „Dienstsache 41/88 [/]<br />

Exempl. Nr. 6“ mit Bestätigung von Reitmann. (StAL BT/RdB 20715).<br />

Der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres nahm zu Beginn des Gespräches zur<br />

Gesamtsituation im Raum der Landeskirche <strong>und</strong> der Stadt Leipzig aus staatlicher Sicht Stellung. Im<br />

Mittelpunkt standen dabei die bevorstehende Friedensdekade im allgemeinen <strong>und</strong> die Situation in <strong>und</strong> um<br />

der [sic!] Nikolaikirche im Besonderen [sic!]. Gegenüber den kirchlichen Vertretern wurde deutlich<br />

gemacht, daß bei den staatlichen Organen nach wie vor der Eindruck vorherrschend ist, daß sich die<br />

Prozesse in <strong>und</strong> um die Nikolaikirche noch nicht so beruhigt haben, wie dies eigentlich notwendig ist 307.<br />

Es seien zwar auf der einen Seite die Bemühungen leitender kirchlicher Amtsträger zur Beruhigung der<br />

Lage sichtbar <strong>und</strong> spürbar, auf der anderen Seite aber sind Aktivitäten von Studenten des Theologischen<br />

Seminars, kirchlicher Mitarbeiter <strong>und</strong> eines katholischen Geistlichen sichtbar, die versuchen, die Situation<br />

weiter anzuheizen <strong>und</strong> gegen Entscheidungen leitender Amtsträger massiv Front zu machen. Anhand des<br />

Verlaufes des Friedensgebetes am 24.10.1988 in der Nikolaikirche <strong>und</strong> den Aktivitäten von Gruppen, die<br />

sich innerhalb <strong>und</strong> außerhalb der Nikolaikirche entwickelten, wurde die staatliche Einschätzung<br />

untermauert. Es wurde die staatliche Sorge zum Ausdruck gebracht, daß diese Kräfte, wenn sie durch den<br />

Landesausschuß, dem LKA <strong>und</strong> anderen realistischen leitenden Amtsträgern [sic!] nicht diszipliniert<br />

werden, während des KTK <strong>und</strong> KT massiv <strong>und</strong> oppositionell auftreten werden. Damit ist die staatliche<br />

Erwartung verb<strong>und</strong>en, daß kirchlicherseits jetzt entschieden wird, ob <strong>und</strong> wie die alternativen Gruppen<br />

den KTK <strong>und</strong> KT mitgestalten. Diese Entscheidung kann durch den Landesausschuß nicht erst im Juli<br />

1989 vor Beginn des KTK <strong>und</strong> KT getroffen werden.<br />

Insgesamt sei die staatliche Erwartungshaltung darauf gerichtet, daß das LKA, im Zusammenwirken mit<br />

den Superintendenten, solche Festlegungen trifft, damit diese Kräfte diszipliniert werden. Dies trifft auch<br />

auf die bevorstehende Friedensdekade mit ihren geplanten Veranstaltungen <strong>und</strong> Themenstellungen zu,<br />

306 s. zur Auseinandersetzung zwischen Sup. Magirius <strong>und</strong> Pf. Wonneberger aufgr<strong>und</strong> der Initiative Pf.<br />

Wonnebergers für den „Sozialen Friedensdienst“ Auszug aus dem OV „Lukas“ in: Besier/Wolf, 668-670, dort<br />

669<br />

307 In der Konzeption für das Gespräch heißt es: „Staatliche Erwartungshaltung geht davon aus, daß das LKA in der<br />

Person des OKR Schlichter seine Verantwortung dahingehend wahrnimmt, daß die Friedensdekade in einem<br />

kirchlich-theologischen Rahmen durchgeführt wird. [/] Staatliche Organe sehen folgende Probleme: [/] -<br />

Einflußnahme auf die im kirchlichen Raum sich befindenden alternativen Gruppen, daß politische Provokationen<br />

<strong>und</strong> Aktivitäten, die das Staat-Kirche-Verhältnis belasten, unterbleiben. [/] - die während der Friedensdekade<br />

täglich stattfindenden Friedensgebete sind unter Wahrung der Kriterien der montäglichen Friedensgebete<br />

durchzuführen.“ (handschriftliche Aufzeichnung von W. Jakel für H. Reitmann vom 1.11.1988 - StAL BT/RdB<br />

20715).<br />

174


damit es zu keiner weiteren Eskalation im Staat-Kirche-Verhältnis kommt. Durch den Stellvertreter des<br />

Vorsitzenden des Rates für Inneres wurden die kirchlichen Vertreter darauf aufmerksam gemacht, daß<br />

eine Disziplinierung dieser kirchlichen Kräfte <strong>und</strong> Gruppen <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene weitere<br />

Entspannung der Situation positiv die weiteren Verhandlungen <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>enen staatlichen<br />

Entscheidungen in Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung des KTK <strong>und</strong> KT beeinflussen. Durch die kirchlichen<br />

Vertreter wurden dazu folgende Standpunkte vertreten:<br />

OLKR Schlichter<br />

Dem LKA ist die Situation in <strong>und</strong> um die Nikolaikirche bekannt. Es gibt aber noch keine endgültige<br />

Entscheidung des LKA, wie man sich weiter gegenüber diesen Personen verhalten werde. Man wolle die<br />

in der kommenden Woche stattfindende Ephoralrüste mit allen Superintendenten nutzen, um darüber zu<br />

beraten. Mit den beiden Superintendenten der Stadt Leipzig wolle man auch speziell noch einmal über den<br />

24.10.1988 sprechen <strong>und</strong> weitere Schritte beraten. Eine Disziplinierung im kirchlichen Raum sei<br />

schwierig <strong>und</strong> kompliziert. Innerhalb der Kirche werde die freie Entscheidung des Einzelnen [sic!]<br />

akzeptiert. Er stimme aber mit dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres überein, daß es<br />

seitens des LKA ein Stück Konsequenz geben muß.<br />

Herr Hänisch<br />

Ausgehend von der jetzigen Situation in der Nikolaikirche fühlt er sich als Gläubiger diskriminiert. Vielen<br />

Leipziger Christen <strong>und</strong> Amtsträgern ist die Situation <strong>und</strong> Problematik bewußt klar. Das Problem dabei<br />

besteht aber darin, daß die montäglichen Friedensgebete nicht ohne weiteres abgesetzt werden können,<br />

weil in <strong>und</strong> mit den Friedensgebeten deutlich wird, ob Kirche bei ihrer Friedenskonzeption bleiben kann<br />

oder nicht. Er versteht aber bis zur Minute nicht, warum diese Leute in der Kirche noch agieren können.<br />

Gleichzeitig versteht er die staatlichen Bedenken, weil der KTK <strong>und</strong> KT dies noch potenzieren kann. Es<br />

gibt aber auch in der Kirche mehr als eine Handvoll Leute, die zu einem echten Friedensgebet in der<br />

Nikolaikirche zurückkehren wollen.<br />

Herr Cieslak<br />

Man muß unterscheiden wofür er, als Vorsitzender des Landesausschusses, zuständig ist <strong>und</strong> für was Herr<br />

Schlichter als amt. Präsident des LKA. Als Landesausschuß wird man wie folgt vorgehen:<br />

1. Man versucht herauszufinden, wer bei diesen Gruppen der „Hutmann“ oder die „Hutfrau“ ist, um dann<br />

mit diesen Personen in das Gespräch zu kommen. Dabei ist ihm Pfarrer Dr. Berger als eine<br />

„zwielichtige“ Person untergekommen. Mit Pfarrer Dr. Berger wird man sprechen.<br />

2. Für ihn wird sichtbar, daß beide Superintendenten von Leipzig nicht beizeiten begriffen haben, den<br />

„Wildwuchs“ zu beschneiden.<br />

3. Im Gespräch mit den Gruppen wird der Landesausschuß deutlich machen, daß nur die Gruppen am<br />

KTK <strong>und</strong> KT teilnehmen können, wenn sie deutlich hervorheben können, daß ihr Engagement <strong>und</strong><br />

Anliegen von der Bibel her, <strong>und</strong> damit vom Glauben, getragen ist.<br />

4. Es ist klar <strong>und</strong> vom Landesausschuß entschieden, daß die Nikolaikirche nur für kirchenmusikalische<br />

Veranstaltungen während des KTK <strong>und</strong> KT genutzt werden kann. Es ist zwar bitter, aber eine<br />

Notwendigkeit.<br />

Im weiteren Verlauf des Gesprächs wurden, auf der Gr<strong>und</strong>lage des Schreibens des Vorsitzenden des<br />

Landesausschusses vom 19.10.1988 folgende Sachprobleme mit folgenden Ergebnissen behandelt: [...]<br />

102 Kirchenvorstandsprotokoll<br />

Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 44. Sitzung des KV St. Nikolai vom 07.11.1988 von W.<br />

Hofmann. (ABL H 54).<br />

[Tagesordnung: ...] 3. Situationsbericht über die Friedensgebete (Erklärung von Kathrin Walther 308)<br />

[...]<br />

308 s. Dok. 92<br />

175


Zu 3.) Situationsbericht von Herrn Magirius, Herrn Ramson <strong>und</strong> Herrn Tischer. Sie sehen<br />

Schwierigkeiten. Sie wollen besonders die Friedensdekade beobachten, <strong>und</strong> der KV ist aufgefordert, daran<br />

teilzunehmen. Ein sehr ernsthaftes Gespräch schließt sich an. Die Richtlinien für das Gespräch am<br />

21.11.88 werden durchdacht.<br />

Vorlesung einer Erklärung der Arbeitsgruppe Umweltschutz, unterzeichnet: Kathrin Walther [/] betr.:<br />

wöchentl. Friedensgebet. [...]<br />

103 Basisgruppenerklärung<br />

Auszug aus einem Brief der Arbeitsgruppe „Sozial-Ökologische Partnerschaft“ des ökologischen Netzwerkes<br />

„Arche“ an den 1. Sekretär des ZK der SED <strong>und</strong> Vorsitzenden des Staatsrates der DDR (Erich Honecker), an<br />

die Volkskammer <strong>und</strong> die Ev. Kirche [in Berlin-Brandenburg] wegen Behinderungen am Gottesdienstbesuch<br />

vom 09.11.1988. Der Brief wurde überschrieben mit: „Stellungnahme zu wiederholten Behinderungen <strong>und</strong><br />

Belästigungen durch die Staatsorgane der DDR gegenüber Besuchern der Gottesdienste“ (SAPMO-BArch IV<br />

B 2/14/21).<br />

In der letzten Zeit berichteten Gottesdienstbesucher über erneute 309 massive Behinderung <strong>und</strong> Belästigung<br />

beim Besuch von Gottesdiensten in der DDR <strong>und</strong> in Berlin. Diese ungesetzlichen <strong>und</strong> unberechtigten<br />

Aktionen stellen einen eindeutigen Rechts- <strong>und</strong> Verfassungsbruch sowie eine Verletzung der<br />

Menschenrechte dar, zumal die Staatsorgane damit Angst <strong>und</strong> Verunsicherung bei Gottesdienstbesuchern<br />

auslösen <strong>und</strong> den freien Besuch von Gottesdiensten beeinträchtigen wollen. [/] Wir appellieren an die<br />

Verantwortlichen in der Staatsführung der DDR, die verfassungsrechtlich geschützte Religionsfreiheit zu<br />

garantieren. Wir protestieren gegen jedwede Form der Glaubensdiskriminierung <strong>und</strong> gegen Übergriffe auf<br />

Besucher von Kirchenveranstaltungen. Die Kirchen der DDR sind öffentlich-rechtliche Einrichtungen <strong>und</strong><br />

haben demzufolge jedem Staatsbürger, gleich welcher Nationalität <strong>und</strong> Konfession oder Weltanschauung,<br />

zum Besuch offen zu stehen. [/] Wir bitten die Leitung der Evangelisch-Lutherischen Kirche Berlin-<br />

Brandenburgs, nicht länger zu diesen Vorkommnissen zu schweigen <strong>und</strong> den Gebrauch von Gewalt zur<br />

Lösung eines Glaubenskonfliktes zu verurteilen.<br />

Folgende Vorkommnisse wurden bekannt:<br />

[...] 3. Als am 12.9.1988 Gottesdienstbesucher nach Leipzig in die Nikolaikirche zum Fürbittgottesdienst<br />

fahren wollten, wurden sie auf der Autobahn mehrmals durch die Volkspolizei aufgehalten. Für viele<br />

endete die Fahrt jedoch am Schkeuditzer Kreuz. Sicherheitskräfte brachten die festgenommenen Personen<br />

in einem Bus zum Verhör nach Berlin zurück. Gegen sieben Familien wurden Ermittlungsverfahren<br />

eingeleitet, <strong>und</strong> sie sollen sich noch immer in Haft befinden. [...]<br />

Die Unterzeichnenden:<br />

[gez.] Martin G. Butter [gez.] Erhard Rimek<br />

Kulturjournalist, Theaterkritiker Architekt <strong>und</strong> Maler<br />

Karlstadter Str. 34<br />

1100 Berlin<br />

104 Flugblatt<br />

Flugblatt des AK „Gerechtigkeit“, welches während <strong>und</strong> nach dem Friedensgebet am 09.11.1988 verteilt<br />

wurde. Das Flugblatt wurde mit einer nicht lizenzierten Wachsmatritzen-Umdruck-Maschine hergestellt<br />

(ABL H 1, <strong>und</strong> in: Die Mücke).<br />

Initiative zur gesellschaftlichen Erneuerung der DDR<br />

309 Massive Behinderung von Gottesdienstbesuchen von Ausreisewilligen gab es schon im Februar 1988 (s. Anm.<br />

176). Zum Vorgehen von MfS <strong>und</strong> Abteilung Innere Angelegenheiten s. Mielke-R<strong>und</strong>schreibens Nr. 69/88 vom<br />

20.10.1989, besonders Anhang - abgedruckt in: Besier/Wolf, 567-570.<br />

176


Die Pogromnacht vor 50 Jahren mahnt uns:<br />

Die Menschen in Deutschland waren 1938 durch fünf Jahre faschistische Diktatur <strong>und</strong> Ideologie im<br />

Denken <strong>und</strong> Fühlen geprägt <strong>und</strong> deformiert. Haß <strong>und</strong> Gewalt gegenüber Andersdenkenden fanden in den<br />

Köpfen der Menschen damals ihre Legitimation. Die Angst vor dem totalitären Staatsgefüge <strong>und</strong> das<br />

Mißtrauen zu seinen Mitmenschen breiteten sich in der Gesellschaft aus. Unter dem ständigen Einfluß des<br />

faschistischen Massenkultes wurden Kritik <strong>und</strong> Aufbegehren bis ins eigene Denken selbst zensiert. Die<br />

Menschen zogen sich in die Privatsphäre zurück. Sie vollzogen eine innere Emigration oder mußten<br />

emigrieren. Wissen <strong>und</strong> Ahnung um Rassenverfolgung <strong>und</strong> Gewalt gegen Andersdenkende brachte nur<br />

wenige Menschen zum Handeln. Wir erfahren durch die Aufarbeitung der Zeit des Stalinismus aus den<br />

Zeitungen der Sowjetunion, wie Andersdenkende unter dem Deckmantel der marxistisch-leninistischen<br />

Ideologie verfolgt <strong>und</strong> ermordet wurden. Wir erleben in unserem Land, wie Menschen mit konstruktivkritischen<br />

Meinungen redualisiert <strong>und</strong> als Staatsfeinde verfolgt werden. Wir erleben Ausgrenzung <strong>und</strong><br />

Diskriminierung. Wie lange werden wir als mündige Bürgerinnen des ersten sozialistischen Staates auf<br />

deutschem Boden noch zusehen:<br />

Wenn Skinheads <strong>und</strong> einige Fußballfans neonazistische Parolen schreien? Wenn verfassungswidrige<br />

Ausländerfeindlichkeit gerade auch gegen das leidgeprüfte polnische Volk um sich greift?<br />

Wenn ein Vertreter der Kreisleitung der FDJ an der C.v.-Ossietzky EOS in Berlin, im Zusammenhang mit<br />

den Relegierungen <strong>und</strong> Schulstrafen gegen Schüler, die die offizielle „Speakers Corner“ zum friedlichen<br />

Meinungsstreit über die Situation in Polen <strong>und</strong> Militärparaden nutzten, sagte, man bemühe sich, um jeden<br />

zu kämpfen (z.B. um Grabschänder, Skinheads u.a.), aber in diesem Fall müßte die Trennung von<br />

eindeutig staatsfeindlichen Schülern erfolgen? 310<br />

Wenn die Freiheit der Presse, über alle gesellschaftlichen Bereiche zu berichten, durch die sogenannte<br />

Druckgenehmigungspraxis verhindert wird?<br />

Wenn junge Menschen, die sich anders kleiden als die Mehrheit der Bevölkerung, wie die Punks in<br />

Dresden wegen „unästhetischen Aussehens“ Ordnungsstrafen zahlen müssen oder physische Gewalt durch<br />

Polizisten erleiden müssen? 311<br />

Wenn Mitarbeiter der Kirche von unten in Weimar - wie z.B. Jörg Wilker - für ihr Engagement zur<br />

Aufklärung über IWF <strong>und</strong> Weltbank psychisch unter Druck gesetzt <strong>und</strong> physisch mißhandelt werden?<br />

Wenn Mitarbeitern kirchlicher <strong>und</strong> unabhängiger Gruppen - wie am 8.10.,1.11.,4.11. in Berlin <strong>und</strong><br />

zwischen dem 20.10. <strong>und</strong> 1.11. in Leipzig geschehen - auf Gr<strong>und</strong> ihres friedlichen Engagements <strong>und</strong> ihrer<br />

öffentlichen Meinungsbek<strong>und</strong>ung zugeführt <strong>und</strong> Ermittlungsverfahren wegen krimineller Handlungen<br />

angedroht werden? Wenn Schriftsteller - wie am 01.11. Johannes Bader - nach Lesungen, bei denen sie<br />

auch über gesellschaftliche Probleme informierten, polizeilich zugeführt <strong>und</strong> Manuskripte beschlagnahmt<br />

werden?<br />

Wenn wir das Gedenken an die Pogromnacht für uns annehmen, müssen wir unsere Verantwortung als<br />

Mensch wahrnehmen, die Verantwortung für die Unverletzlichkeit der Menschenwürde, die<br />

Verantwortung für die Freiheit der Menschen in unserem Land; die Verantwortung für Frieden,<br />

Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung.<br />

Wir protestieren gegen neostalinistische Tendenzen in der Gesellschaftsstruktur der DDR. Wir<br />

protestieren gegen neonazistische Tendenzen im Denken <strong>und</strong> Handeln einiger Menschen dieses Landes.<br />

Wir fordern die Regierung der DDR auf, die Kriminalisierung <strong>und</strong> Ausgrenzung von Andersdenkenden,<br />

die die Würde des Einzelnen achten, zu beenden. Wir fordern einen öffentlichen Dialog aller<br />

gesellschaftlichen Kräfte, der Kritik <strong>und</strong> Selbstkritik einschließt, über alle Problemfelder dieses Landes.<br />

Initiative zur gesellschaftlichen Erneuerung der DDR. Leipzig, den 9. Nov. 1988<br />

105 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />

Durchschrift des Briefes vom Stellvertretenden Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für Inneres vom<br />

310 s. Grammes/Zühlke <strong>und</strong> J. Kalkbrenner<br />

311 Diese <strong>und</strong> die folgenden Informationen wurden schon am 7.11. im FG des AKSK bekanntgegeben.<br />

177


312<br />

11.11.1988 an Landesbischof Hempel , von H. Reitmann unterzeichnet. Auf dem Exemplar wurde<br />

handschriftlich vermerkt: „RdB“ (ABL H 53).<br />

Sehr geehrter Herr Landesbischof [/] Dr. Dr. hc. Johannes Hempel!<br />

Tiefbesorgt über die Entwicklung im Umfeld der Nikolaikirche Leipzig wende ich mich heute auf diesem<br />

Wege an Sie. Wie Ihnen bekannt ist, war die Nikolaikirche in jüngster Zeit wiederholt Gegenstand von<br />

Gesprächen, die ich mit Vertretern des Landeskirchenamtes Sachsens <strong>und</strong> des Kirchentags- <strong>und</strong><br />

Kongreßausschusses geführt habe. Mit Betroffenheit mußte ich zur Kenntnis nehmen, daß trotz dieser<br />

Gespräche eine weitere Eskalation der Ereignisse eingetreten ist. So ist es am 9.11.1988 während eines in<br />

der Nikolaikirche durchgeführten Friedensgebetes zur Verteilung von Schriftgut „Initiative zur<br />

gesellschaftlichen Erneuerung der DDR“ gekommen, das ich in der Anlage beifüge.<br />

Unglücklicherweise war es wieder Pfarrer Führer, der nicht mit der nötigen Sorgfalt sein Verhalten zur<br />

Begleitung der sich nach dem Gebet vollziehenden Ereignisse bestimmte.<br />

Sehr geehrter Herr Landesbischof!<br />

Ich gebe Ihnen die Sache in die Hand <strong>und</strong> bin mir gewiß, daß Sie alles tun werden, damit vom Umfeld der<br />

Nikolaikirche die konstruktiven Beziehungen zwischen der Sächsischen Landeskirche <strong>und</strong> den staatlichen<br />

Organen nicht weiter gestört werden.<br />

Anlage 313<br />

Hochachtungsvoll [/ gez.] Dr. Reitmann<br />

106 Stellungnahme<br />

Schriftliche Erklärung von Pf. Führer, die zu Beginn der langen Friedensnacht der Friedensdekade („Abend<br />

für den Frieden“, am 11.11.1988) in der Nikolaikirche verlesen wurde (ABL H 1).<br />

Liebe <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> des Friedens!<br />

Der Abend für den Frieden hat begonnen. Am Anfang steht eine Erklärung, die seit spätestens gestern<br />

Abend nötig geworden ist. Wer regelmäßig von Sonntag bis gestern die Friedensgebete besucht hat, wird<br />

die eigenständigen Beiträge <strong>und</strong> Inhalte sowie die sehr unterschiedlichen Besucherzahlen registriert<br />

haben. Kein Pfarrer, auch ich nicht, hat sich in das Geschehen eingemischt. So konnte sich jeder Hörer<br />

sozusagen ein „unverfälschtes“ Bild davon machen, was unter dem Begriff „Friedensgebet“ geschah.<br />

1. Inwieweit die Informationen vom Sonntag <strong>und</strong> Montag 314 einer konstruktiven kritischen Absicht<br />

entsprangen oder gar dem Frieden dienten, möge jeder selbst entscheiden.<br />

2. Am Tag des Pogromgedenkens, Mittwoch, wurden am Ende des Friedensgebetes Blätter verteilt 315 ,<br />

ohne daß wir von dieser Tatsache, geschweige denn vom Inhalt auch nur andeutungsweise informiert<br />

worden sind. Wir können uns davon nur distanzieren. Einige scheinen unsere Kirche mit einem<br />

Warenumtauschplatz zu verwechseln.<br />

3. Was wir gestern Abend hier erlebten, läßt auch bei weitherzigster Auslegung den Begriff<br />

„Friedensgebet“ nicht mehr zu. Bibeltext, Gebet, Glaubensbezug überhaupt: Fehlanzeige. Statt dessen<br />

gab es - neben einem guten Einstieg <strong>und</strong> zwei inhaltlich durchdachten Beiträgen - einen bösen Angriff<br />

auf den vorherigen Jugendpfarrer, eine völlig sinnentstellte Darstellung der 83iger Vorgänge in unserer<br />

Kirche <strong>und</strong> ein sogenanntes Fürbittengebet, das zur Propagierung des Unglaubens, zu Tips für das<br />

Verhalten bei der nächsten Wahl <strong>und</strong> zu provokativ-politischen Appellen entartete. Wobei ich bei<br />

312 Am 10.11. hatte Jakel i.A. Reitmanns an das StfK ein IN-Telegramm gesandt, in dem über Flugblätter <strong>und</strong><br />

Schweigemarsch berichtet wurden. Dort heißt es: „Der Stellv. d. Vors. für Inneres des Rates des Bezirkes schlägt<br />

vor, Landesbischof Hempel brieflich über das Vorgefallene zu informieren <strong>und</strong> ihn aufzufordern, dafür Sorge zu<br />

tragen, daß die Leipziger Nikolaikirche nicht länger Ausgangspunkt für nichtgenehmigte Demonstrationen ist.“<br />

(StAL BT/RdB 21727)<br />

313 s. Dok. 104<br />

314 s. Dok. 104 <strong>und</strong> Anm. 311<br />

315 s. Dok. 104<br />

178


Provokationen dieser Art nach wie vor nicht weiß, von wem sie eigentlich kommen. Man kennt diese<br />

Menschen gar nicht... Die Kirche wurde zum Plenarsaal herabgewürdigt. Wie zum Hohn stand mir das<br />

Thema der Friedensdekade vor Augen: „Friede den Fernen <strong>und</strong> Friede den Nahen“.<br />

Sicherlich ist nun die Handvoll Personen, die unter dem Deckmantel einer Gruppe die Entchristlichung<br />

des Friedensgebetes betrieben, dicht vor ihrem Ziel. Andere wohl auch...<br />

Nun kann ich nur über all dem das Wort ausrufen Eph. 2, 14:<br />

„Christus ist unser Friede“. Möge ER heute <strong>und</strong> in den nächsten Tagen besonders unter uns sein.<br />

C.F., 17.30 Uhr [/ gez.] C. Führer<br />

107 Basisgruppenerklärung<br />

Schriftliche Stellungnahme des Arbeitskreises „Gerechtigkeit“ zur Erklärung von Pf. Führer, die im Anschluß<br />

an ein Podiumsgespräch während der Friedensnacht in der Nikolaikirche von Dr. B. Kohlbach verlesen wurde<br />

(ABL H 1).<br />

Wir als Mitarbeiter des Arbeitskreises Gerechtigkeit fühlen uns durch die Erklärung von Pfarrer Führer<br />

am Beginn des heutigen Abends ausgegrenzt. [/] Wir sind betroffen über diskriminierende Worte wie<br />

„unter dem Deckmantel von Gruppen“, <strong>und</strong> „der gestrige Abend wäre entartetes Friedensgebet“. [/] Wir<br />

hoffen nach wie vor, daß Christen <strong>und</strong> Nichtchristen ihr Denken in der Kirche äußern können. [/] Dieses<br />

Friedensgebet sollte Anstoß sein <strong>und</strong> nicht Anstoß werden. [/] Wir waren dankbar für ein konstruktives<br />

Gespräch zwischen Basisgruppen <strong>und</strong> Stadtkirchenleitung, der aber wird durch Ausgrenzungen <strong>und</strong><br />

Restriktionen, z.B. das Verbot, unsere Tafeln aufzustellen 316,<br />

behindert.<br />

Für die Sprecher des Arbeitskreises Gerechtigkeit zeichnen : 317<br />

[gez.] Thomas Rudolph gez. Bernd Oehler gez. Doreen Penno<br />

[... es folgen die jeweiligen Adressen]<br />

108 Stasi-Information<br />

Aktennotiz vom Leiter des Referates XX/4 der BV des MfS Leipzig (Major Conrad) vom 11.11.1988 zum<br />

Gespräch zwischen R. Sabatowska <strong>und</strong> Sup. Magirius über die Friedensgebete am 9./10.11.1988. Auf dem<br />

Exemplar wurde u.a. vermerkt „RdB“ (ABL H 53).<br />

Entsprechend der mit dem MfS abgestimmten Gesprächskonzeption erfolgte am heutigen Tage um 9.00<br />

Uhr die o.g. Gesprächsführung 318 . In Auswertung der „Friedensgebete“ vom 9.11.88 <strong>und</strong> 10.11.88 vertrat<br />

Sup. Magirius folgende Standpunkte/Meinungen:<br />

− Die politische Bewertung dieser Vorgänge sieht er gleichermaßen wie die staatlichen Organe.<br />

− Er sei sich im klaren darüber, daß sich eine Gruppe formiert habe, die sehr ernst zu nehmen ist, die eine<br />

politische Opposition darstellt.<br />

− Die staatlichen Organe würden die Namen dieser relativ kleinen Gruppe kennen (bezog sich auf<br />

vorhergehende Gespräche, in denen staatlicherseits Namen vorgegeben wurden). Es wären Leute, die<br />

jede Veranstaltung besuchen würden, egal welche Thematik stünde.<br />

− Sup. Magirius informierte über eine stattgef<strong>und</strong>ene Pfarrerkonferenz in Leipzig, in der ähnliche<br />

Einschätzungen diskutiert worden seien. Interessanterweise wäre dort Pfr. Wonneberger mit der<br />

Meinung aufgetreten, daß man nicht gleich von umstürzlerischen Aktivitäten sprechen solle, sondern<br />

von notwendigen „Reformbestrebungen“.<br />

316 Die 3 Tafeln gaben Informationen zur Ausreiseproblematik. Die AKG hatte mit Hilfe eines hektographierten<br />

Fragebogens („Mitglieder der Initiative für Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte fordern die öffentliche<br />

Auseinandersetzung mit der Ausreiseproblematik <strong>und</strong> ihren Ursachen“) Material dazu erarbeitet. vgl. S. 183<br />

317 Nur von Thomas Rudolph unterzeichnet.<br />

318 Zu diesem Gespräch fand sich in den Unterlagen der Referate Kirchenfragen kein Bericht!<br />

179


− Sup. Magirius wisse, daß die entsprechenden Personen es darauf ankommen lassen wollen, daß etwas<br />

passiert (Eingreifen der Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane).<br />

− Die Zustimmung zur Verantwortlichkeit eigenständiger Gruppen für Veranstaltungen der<br />

„Friedensdekade“ resultiere daraus, daß in den Gruppen auch ehrliche Christen mitarbeiten, denen man<br />

eine Chance geben wolle. Im Interesse dieser Personen sei so eine Entscheidung gefallen. Es zeige sich<br />

aber, daß die Veranstaltungen „rigoros mißbraucht werden“.<br />

− Es zeichne sich ab, daß der Kirchenvorstand der Nikolaikirche nach der „Friedensdekade“ bei seiner<br />

Entscheidung bleibt, die „Friedensgebete“ wieder so wie vor der „Friedensdekade“ durchführen zu<br />

lassen. Es gäbe sogar Stimmen, die sich dahingehend äußern, daß man an einem Punkt angelangt sei,<br />

wo man die Kirche am liebsten schließen möchte.<br />

− In Auswertung der Teilnahme des Pfr. [...] am „Kerzenmarsch“ in die Gottschedstraße habe er ihm<br />

bereits klar gemacht, daß diese Handlungsweise politisch unklug gewesen sei. [...] habe sich davon<br />

leiten lassen, „Ärgstes verhüten zu wollen“ (Sup. Magirius sprach von politischer Dummheit des Pfr.<br />

[...]).<br />

Sup. Magirius versprach Gen. Sabatowska, noch heute alle verantwortlichen Pfarrer zusammennehmen zu<br />

wollen <strong>und</strong> eine entsprechende Auswertung vorzunehmen, mit der Zielstellung, „ärgste politische<br />

Auswüchse verhindern zu helfen“. Er wird Einfluß darauf nehmen, daß keine kirchlichen Amtsträger an<br />

öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten teilnehmen, „um dem Staat auch Handlungsspielraum zu geben“. [/]<br />

Probleme sieht Sup. Magirius für den 11.11.88 („Nacht für den Frieden“) <strong>und</strong> den 13.11.88<br />

(„Espenhaintag“ in der Reformierten Kirche), da der angesprochene Personenkreis wieder daran<br />

teilnehmen wird. Diese Kirche wird sich darauf einstellen. [/] Da Sup. Magirius heute außerhalb Leipzigs<br />

ist, wird er erst den zweiten Teil des heutigen Abends selbst mit wahrnehmen können. [/]<br />

Schlußfolgerungen aus den bisherigen Aktivitäten werden auch für den 16.11.88 (Einweihung eines<br />

Gedenksteins an der Parthe) gezogen. Diesbezüglich wird eine kirchliche Ordnungsgruppe zum Einsatz<br />

kommen. Sup. Magirius formulierte, daß er sich auch im klaren darüber sei, daß derartige Aktivitäten von<br />

den Westmedien mißbraucht werden. Er sei deshalb dankbar für das bisherige Verhalten der staatlichen<br />

Organe, die sich nicht provozieren ließen.<br />

109 Stasi-Information<br />

Operativinformation Nr. 245/88 (Hinweis- <strong>und</strong> Merkmalskomplex 2) der Kreisdienststelle Leipzig-Stadt<br />

(Oberst Schmidt) des MfS vom 12.11.1988, die u.a. an die Abteilung XX, die Lagegruppe <strong>und</strong> die Abteilung<br />

AKG der BV Leipzig gingen (BStU Leipzig AIM 1228/89 II/1, 162-172).<br />

Zum Verlauf der Friedensdekade im Verantwortungsbereich wurden durch die Partner des<br />

Zusammenwirkens folgende Informationen zu durchgeführten Maßnahmen der Vorbeugung <strong>und</strong><br />

Einflußnahme bekannt: [/] Am 11.11.88 erfolgte eine Aussprache durch den Stellvertreter des OBM, Gen.<br />

Sabatowska, mit dem Superintendenten Magirius, Friedrich [...] zum Vorkommnis der Verteilung von<br />

Flugblättern „Initiative zur gesellschaftlichen Erneuerung der DDR“ am 09.11.88 zum Friedensgebet in<br />

der Nikolaikirche. Durch den M. wurde geäußert, daß er das Schreiben als eine politische Provokation<br />

werte <strong>und</strong> analoge Positionen wie das Staatsorgan dazu vertritt. Er meinte jedoch, daß die Schreiben nicht<br />

in der Kirche, sondern außerhalb verteilt wurden. Er äußerte, daß ein Teil von Basisgruppen, dabei bezog<br />

er sich auf die 10 Personen, die wegen Provokationen zugeführt <strong>und</strong> befragt wurden, sowie der Pfarrer<br />

Wonneberger alle Möglichkeiten nutzen werden, bei Friedensgebeten <strong>und</strong> anderen Veranstaltungen<br />

provokativ im Sinne des Aufrufes aufzutreten, um ihre Interessen <strong>und</strong> Ziele durchzusetzen. Als Beispiel<br />

nannte er eine vor kurzem stattgef<strong>und</strong>ene Pfarrerkonferenz, bei der über die Herausbildung einer<br />

zahlenmäßig kleinen, aber ernst zu nehmenden politischen Oppositionen, die Konfrontation <strong>und</strong> Umsturz<br />

zum Ziel habe, gesprochen [wurde]. Dazu soll Pf. Wonneberger geäußert haben: „Na, man muß es nicht<br />

gleich Umsturz nennen, es wäre genau so gut, wenn man es Reformierung nennen würde.“ M. brachte<br />

seine Bereitschaft zum Ausdruck, „politische Angriffe abzubiegen“, aber was auf der Straße passiert,<br />

darauf könne er keinen Einfluß ausüben, der Staat solle dort Ordnung schaffen. Er äußerte Angst über<br />

180


Verlauf <strong>und</strong> Ergebnis des zu erwartenden „Abend für den Frieden“, wo er weitere Provokationen nicht<br />

ausschließt. Sup. [... geschwärzt] würde an der Veranstaltung teilnehmen, er selbst wäre in Wurzen, wolle<br />

aber abends in die Nikolaikirche kommen. [/] Zur Teilnahme des Pf. [... durch BStU geschwärzt] am<br />

Kerzenmarsch zur ehemaligen Synagoge sagte M., daß [... geschwärzt] nur mitgemacht habe, um das<br />

Schlimmere zu verhindern, Provokationen auszuschließen. Er persönlich schätzt dies jedoch als politische<br />

Dummheit des [... geschwärzt] ein. [/] M. entschuldigte sich aufgr<strong>und</strong> eines entsprechenden Hinweises<br />

durch Gen. Sabatowska dafür, daß durch die abgestellten Kerzen am jüdischen Gedenkstein zusätzliche<br />

Säuberungsarbeiten notwendig wurden. [/] In Anbetracht der „derzeitigen kritischen Situation“ will M.<br />

veranlassen, daß am 16.11.88 bei der Gedenktafelenthüllung Parthenstr. eine eigene kirchliche<br />

Ordnungsgruppe zum Einsatz kommt, um einen möglichen Mißbrauch der Veranstaltung zu verhindern.<br />

Zum Vorkommnis des Auffindens von 2 Handzetteln mit der Aufschrift „Leben, statt sich leben lassen -<br />

ein Tag ohne Frust für die Jugend - Trödelmarkt <strong>und</strong> Liedermacher - Erlös für die ‘Grüne Scheune’ -<br />

20.00 Uhr Treffen im Kirchenkeller - Kuchen mitbringen - 12.11.88 - Pauluskirche Leipzig-Grünau an der<br />

Kaufhalle <strong>und</strong> an der S-Bahnhaltestelle Leipzig-Grünau[„], wurde am 11.11.88 durch den Stellvertreter<br />

für Inneres des Stadtbezirkes Leipzig-West, Gen. Strauß, ein Gespräch mit dem Pfarramtsleiter der<br />

Pauluskirche [... geschwärzt] geführt. [/] Pfarrer [... geschwärzt], dem der Gesprächsgegenstand peinlich<br />

war, brachte zum Gespräch den Diakon der Pauluskirche [/.../] mit. [... geschwärzt] erklärte, daß zur<br />

Veranstaltung kein Aushang geplant war <strong>und</strong> lediglich 20 Handzettel in der Jungen Gemeinde verteilt<br />

wurden. Er entschuldigte sich für die Verbreitung von 2 Handzetteln im WK 4, Grünau, zukünftig will er<br />

den Gen. Strauß über derartige Veranstaltungen informieren. Die Vorbereitung für diese Veranstaltung sei<br />

unter Regie des Diakons [... geschwärzt] gelaufen. Dies würde [... geschwärzt] auch zu weit gehen, zumal<br />

er nicht umfassend informiert wurde. [/] Pfarrer [... geschwärzt] werde den Vorfall mit dem Diakon<br />

auswerten. [... geschwärzt] liege sehr viel an einem guten Verhältnis zum örtlichen Staatsapparat. [/] In<br />

der genannten Veranstaltung werden nur 20-30 Mitglieder der Jungen Gemeinde teilnehmen. Über die<br />

Person <strong>und</strong> den Namen des Liedermachers würden [... geschwärzt] keine Kenntnisse vorliegen, aber er<br />

garantiert, daß von der Veranstaltung keine Belastungen auf das Verhältnis Staat-Kirche ausgehen <strong>und</strong> er<br />

selbst an der Veranstaltung teilnimmt. Bei der „Grünen Scheune“, für die der Erlös des Trödelmarktes<br />

bestimmt ist, handelt es sich um ein Projekt im Bezirk Frankfurt/Oder. [/] Durch die KD Leipzig-Stadt,<br />

Ref. XX/2 werden inoffizielle Kontrollmaßnahmen zur Veranstaltung eingeleitet. [/] Zum Ablauf des sog.<br />

„Espenhaintages“ am 16.11.88 in der Reformierten Kirche wurde inoffiziell bekannt, daß durch die AG<br />

„Umweltschutz Leipzig“ (Basisgruppe des Jugendpfarramtes Leipzig) folgende Termine genannt wurden:<br />

13.00 Uhr 3 Einführungsvorträge<br />

14.00 Uhr Podiumsgespräch, anschließend Diskussionsgruppen<br />

17.30 Uhr ökumenischer Gottesdienst durch Pfarrer [... geschwärzt], Abendbrot<br />

19.30 Uhr [... geschwärzt] <strong>und</strong> Gruppe<br />

21.00 Uhr [... geschwärzt]<br />

Durch zielgerichteten IM-Einsatz zum „Abend für den Frieden“ am 11.10.88 in der Nikolaikirche wurden<br />

folgende Erkenntnisse verarbeitet. Als Teilnehmer wurden identifiziert: [... Es folgen über 3 Seiten mit 43<br />

Namen, fast immer neben dem Namen auch Geburtsdatum, Beruf <strong>und</strong> Angaben über die Dienststelle des<br />

MfS, die die jeweilige Person „erfaßt“ hatte.]<br />

Die Eröffnung der sog. „Langen Nacht“ erfolgte mit Begrüßung <strong>und</strong> Friedensgebet durch den [/]<br />

Gemeindepfarrer [... geschwärzt], der [... geschwärzt] <strong>und</strong> einer weiteren männlichen Person. Die [...<br />

geschwärzt] fungierte des weiteren als Ansagerin der einzelnen Veranstaltungsteile zusammen mit der [...<br />

geschwärzt]. Nach dem ersten Friedensgebet (FG) ergriff Pfarrer [... geschwärzt] das Wort. [...<br />

geschwärzt] erklärte seine Distanz zu den Ereignissen am Mittwoch <strong>und</strong> Donnerstag während bzw. nach<br />

den Friedensgebeten. Am Mittwoch sei ein Papier verteilt wurden, wozu nicht seine Genehmigung vorlag.<br />

Das FG am Donnerstag habe 1-2 konstruktive Beiträge enthalten, aber die anderen Ausführungen könne er<br />

nicht billigen. Da hätten Einzelpersonen <strong>und</strong> nicht eine Basisgruppe gesprochen. Er sei auch enttäuscht,<br />

daß Pfarrer [... geschwärzt] verunglimpft wurde 319 . [/] Er habe jeden Tag am FG teilgenommen <strong>und</strong> habe<br />

gehofft, daß die Basisgruppen ihre Chance nutzen würden, aber das FG wurde aufs schärfste mißbraucht,<br />

319 vgl. Dok. 106<br />

181


es fehlten Gebete, Segen <strong>und</strong> Vater unser. Der Kerzenmarsch war hinter seinem Rücken organisiert<br />

worden, dieser war nicht abgesprochen. Am Donnerstag fand er es unverschämt, zu Fürbitten aufzurufen,<br />

<strong>und</strong> dann sprechen Antragsteller ihre politischen Haltungen aus. Unverschämt fand er, daß er eine Kerze<br />

überreicht bekam mit der Aufforderung, sich mit vor die Kirche zu stellen. Er äußerte, wir werden uns<br />

überlegen müssen, wie die Friedensgebete weitergehen, der KV der Nikolaikirche wird sich vorbehalten,<br />

Entscheidungen zu treffen.<br />

An der sog. Klagemauer kam [... geschwärzt] mit einer männlichen Person im ÜSE [sic!] in ein Gespräch,<br />

in dessen Verlauf sich ca. 25 Personen beteiligten. [... geschwärzt] wurde gefragt, wieso er dagegen sei,<br />

daß sich Ausreiseleute mit ihren Problemen an die Kirche wenden. [/...] ist nicht dagegen, aber es darf in<br />

der Kirche keinen Kampf ums Mikrofon geben. Solche Personen, wie sie am Donnerstag im FG<br />

aufgetreten sind, habe er noch nie in der Kirche gesehen, sie gehören keiner Gruppe an <strong>und</strong> hätten sich<br />

nicht mit ihren Problemen an ihn gewandt. [... geschwärzt] stellte zugleich fest, daß er als Pfarrer viele<br />

Aufgaben hat <strong>und</strong> nicht für ÜSE abgestellt ist. Er habe jedoch immer Zeit für persönliche Gespräche. Es<br />

darf aber nicht vorkommen, daß ein FG, wie geschehen, für Probleme der Wahlen <strong>und</strong> großer Politik<br />

mißbraucht wird. [/] An [... geschwärzt] wurde weiterhin die Frage gestellt, wie eine Äußerung des<br />

Pfarrers [... geschwärzt] in der Nordkapelle bezüglich der Betreuung von ÜSE zu verstehen sei. [/] Pfarrer<br />

[... geschwärzt] würde sich für die Betreuung <strong>und</strong> Beratung von ÜSE einsetzen, aber als Pfarrer leidet er<br />

auch unter Zeitmangel. Nach Kenntnis von [... geschwärzt] ist Pfarrer [... geschwärzt] jedoch immer<br />

bereit, Termine für Absprachen zu vergeben. Ein ÜSE stellte die Frage an [... geschwärzt], er versteht<br />

nicht, daß die Antragsteller ausgegrenzt werden. [... geschwärzt] entgegnete, die Antragsteller schließen<br />

sich zwar teilweise den Gruppen an, aber arbeiten dort nicht echt mit. Ihnen sind die Basisgruppen <strong>und</strong><br />

spektakuläre Aktionen nur Mittel zum Zweck der Übersiedlung. Die Antragsteller spielen die Gruppen<br />

<strong>und</strong> deren Arbeit auch leichtfertig aus. Dieses Gruppengespräch mit Pfarrer [... geschwärzt] dauerte ca. 40<br />

Minuten.<br />

Das Friedensgebet 19.00 Uhr wurde durch den [... geschwärzt] <strong>und</strong> den [... geschwärzt] gehalten, 20.00<br />

Uhr fungierten [... geschwärzt] <strong>und</strong> [... geschwärzt]. Die FG 20.00 Uhr <strong>und</strong> 23.00 Uhr wurden durch den<br />

Kath. Friedenskreis Leipzig-Grünau-Lindenau unter Beteiligung von [... geschwärzt], dessen Frau <strong>und</strong><br />

einem ehemaligen kath. Priester <strong>und</strong> dessen Ehefrau gehalten. Die FG der Katholiken waren rein<br />

theologisch aufgebaut.<br />

Ca. 22.15 Uhr wurde in der Nordkapelle durch die [... geschwärzt] ein Essay „Freiheit“ verlesen, was<br />

durch die Quellen als gesellschaftsfeindlich eingeschätzt wurde.<br />

Das Podiumsgespräch fand im Vorderschiff mit ca. 150 Personen statt <strong>und</strong> wurde durch Pf. [...<br />

geschwärzt] geleitet. Beteiligt waren Sup. [... geschwärzt], Pf. [... geschwärzt] <strong>und</strong> [... geschwärzt]. Zum<br />

Thema „Macht in der Kirche - oder weiter so“ wurden Fragen zur Situation in der Kirche zum<br />

Machtmißbrauch der Kirchenleitung zur Abgrenzung zwischen Kirche <strong>und</strong> Basisgruppen, innerkirchliche<br />

Demokratie diskutiert. Insbesondere durch die [... geschwärzt] <strong>und</strong> den [... geschwärzt] wurde der Sup. [...<br />

geschwärzt] massiv angegriffen, die Superintendenten verhindern mit ihrer Machtposition eine produktive<br />

Arbeit in der Kirche <strong>und</strong> für die Gesellschaft. Durch Sup. [... geschwärzt] folgten Antworten mit<br />

Bibelgesprächen <strong>und</strong> Zitaten von Bonhoeffer <strong>und</strong> Luther, die bei den Zuhörern Mißfallen hervorriefen.<br />

Auf die Frage, wer denn konkret Vorschläge zur Veränderung der Arbeitsweise <strong>und</strong> Struktur der Kirche<br />

habe, der könne nach vorn kommen, nutzte dies u.a. der [... geschwärzt], der Freiheit <strong>und</strong> die Arbeit der<br />

Basisgruppen forderte, von der Kirchenleitung erwarte, daß sie diese Gruppen unterstütze <strong>und</strong> Sup. [...<br />

geschwärzt] solle nicht immer um den heißen Brei reden <strong>und</strong> klare Stellung beziehen. Sup. [...<br />

geschwärzt] sagte dazu: „Herr [... geschwärzt], vor ihnen waren schon welche da, die das Fahrrad<br />

erf<strong>und</strong>en haben, sie sind da nicht der erste“, was von niemandem verstanden wurde <strong>und</strong> Sprachlosigkeit<br />

zur Folge hatte. Eine weibliche Person ging darauf zum Mikrofon <strong>und</strong> bezeichnete [... geschwärzt] als<br />

arrogant <strong>und</strong> überheblich, ängstlich <strong>und</strong> unfair. Eine weitere weibliche Person äußerte, daß sie die<br />

Streiterei satt habe, da sollte ein sachlicher Dialog gef<strong>und</strong>en werden. Das sog. Podiumsgespräch brachte<br />

außer der Offenbarung der unterschiedlichen Standpunkte kein Ergebnis.<br />

Gegen 21.30 Uhr wurde durch den Prof. [... geschwärzt], BRD, ein Dia-Vortrag über die Lage in San<br />

Salvador gezeigt. Der Vortrag war ohne operative Relevanz.<br />

Durch ca. 6 Mitglieder der Gruppe „Abgrenzung <strong>und</strong> Hoffnung“ wurden vor ca. 60 Personen ein<br />

182


Programm, ca. 45 min., gestaltet, in dem Angriffe gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR<br />

gebracht wurden. Schwerpunkte waren dabei der Zwang der kommunistischen Erziehung der Kinder in<br />

der Schule <strong>und</strong> gesellschaftlichen Organisationen, die sie in Konflikte zu ihrer christlichen Erziehung<br />

bringen würden, Probleme der Unfreiheit in der DDR, die Unfähigkeit des Staates in Wirtschaft <strong>und</strong><br />

politischer Mißbrauch einer angeblichen Dialogpolitik der Regierung. Durch die Quelle konnte kein<br />

Mitglied der Gruppe personifiziert werden.<br />

In der Nikolaikirche wurden während der sog. „Langen Nacht“ folgende Materialien verteilt bzw.<br />

befanden sich folgende Aushänge <strong>und</strong> Aufsteller. Aushang der Arche „Greenway“ zu einem Reiseservice<br />

für Besuche <strong>und</strong> Gegenbesuche auf privater Basis. [/] Kontaktadresse: [/.../] Dazu ein Fragebogen,<br />

welcher Name, Geburtsname, Adresse, Telefonnummer, Beruf, Geburtsdatum, Interessen,<br />

Sprachkenntnisse, Mitglied einer Ökogruppe, Öko-Sehenswürdigkeiten der Heimatstadt,<br />

Übernachtungsmöglichkeiten u.a. persönliche Angaben abfordert.<br />

Aushang mit Hinweisen für Treffmöglichkeiten der sog. „offenen Arbeit“ der Kirchgemeinde Mockau.<br />

Von Seiten der Initiativgruppe „Hoffnung Nikaragua“ wurden folgende Materialien angeboten:<br />

− Projektinformation „Gummistiefel für Nikaragua“<br />

− IHN Post 3, März 88<br />

320<br />

− Siegfried Lenz „Rede zur Verleihung des Friedenspreises“<br />

− Bericht einer Reise - Dezember 1987<br />

Den genannten Materialien, die der KD Leipzig-Stadt im Original vorliegen, sind jeweils Zahlkarten für<br />

Überweisungen an die Aktionsgemeinschaft INKOTA beigefügt. [/] Die IHN bot weiterhin Zigarren,<br />

Grog, Kaffee <strong>und</strong> Grafiken zum Verkauf bzw. Versteigerung an.<br />

Der AK „Bausoldaten“ hatte Informationstafeln zum Thema „Wehrdienst“. Auf diesen Informationstafeln<br />

befanden sich Hinweise zum Wehrdienst, Bausoldatendienst in der NVA <strong>und</strong> zum „SoFD“ 321 . Es war der<br />

Hinweis, daß in der Zeit vom 25.-28.02.89 ein Wochenende für Beratung in Wehrdienstfragen stattfindet,<br />

Anmeldungen im Jugendpfarramt Leipzig aufgetragen. Eine Aufschrift auf den Tafeln zum Thema<br />

„Wehrdienst“ hatte den Inhalt, „Es ist fehl am Platz anzusprechen, die Synode, die Leute vom Stand, die<br />

Kirchenvorstände. Die Beratung interessierter Personen erfolgte durch den Leiter des AK [...<br />

geschwärzt].“<br />

Eine Wandzeitung beschäftigte sich mit „Abtreibung“. Für die Gestaltung dieser Wandzeitung wurde<br />

Material aus BRD-Zeitungen verwendet. Welche Basisgruppe verantwortlich zeichnete, war nicht zu<br />

erkennen.<br />

Seitens der [... geschwärzt] wurde eine Informationstafel „Kontakte aktuell“ mit einer Ausgabe der<br />

„Kontakte“ 322 , ihrer Adresse <strong>und</strong> der Bitte, bei Wunsch nach den „Kontakten“ frankierte Briefumschläge<br />

zuzusenden, gestaltet.<br />

An sog. Basisgruppenaufsteller befand sich neben dem operativ-bekannten Material ein Antwortbrief des<br />

Schriftstellers Stefan Heym, in dem dieser eine Absage für sein Kommen mitteilt, aber hofft, daß es später<br />

einmal klappt.<br />

Zur sog. „Klagemauer“ wurden folgende Erkenntnisse erarbeitet.<br />

An die „Klagemauer“ wurden mit Kreide folgende Texte geschrieben:<br />

− Hoch lebe der arrogante Superintendent<br />

− Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung<br />

− Ich gehe 1989 wählen<br />

− Frieden ohne Grenzen <strong>und</strong> Mauern<br />

− Der Auftritt des Pfarrer [... geschwärzt] als Maulkorb<br />

− Auftritt der Pfarrer unseriös <strong>und</strong> pharisäerhaft<br />

Durch den [... geschwärzt] wurden 2 Fotos 7x10 cm von einer Demonstration in Prag/CSSR an der<br />

„Klagemauer“ befestigt <strong>und</strong> dazu aufgetragen „Ist das Frieden? Prager Frühling 1988“. [/] Diese Fotos<br />

320 Informationsblatt der Initiativgruppe „Hoffnung Nicaragua“ (ABL H Z 20)<br />

321 s. Anhang S. 376<br />

322 s. Anhang S. 387<br />

183


<strong>und</strong> die Unterschrift wurde durch Superintendent [... geschwärzt] entfernt <strong>und</strong> gleichzeitig ein Verbot an<br />

die AG [sic!] „Gerechtigkeit“ ausgesprochen, Plakate an der sog. „Klagemauer“ zu befestigen.<br />

Am Stand der AG „Umweltschutz“ befand sich [... geschwärzt] <strong>und</strong> [... geschwärzt]. Es lag eine Liste der<br />

Aktion „1 Mark für Espenhain“ 323 aus sowie eine Unterschriftensammlung für den neu zu erstellenden<br />

Antarktisvertrag 324 . [... geschwärzt] brachte gegenüber einer Quelle zum Ausdruck, daß er die letzten<br />

FG’e wegen der ÜSE <strong>und</strong> deren Störungen gemieden hat.<br />

Am Stand der Paketaktion für Tansania wurden u.a. von der [... geschwärzt] Fettschnitten <strong>und</strong> Gurken<br />

verkauft.<br />

Intern wurde zu einem IM von seiten des [... geschwärzt] <strong>und</strong> der [... geschwärzt] geäußert, daß der KV<br />

der Nikolaikirche <strong>und</strong> Pfarrer [... ] den Beschluß gefaßt haben, aufgr<strong>und</strong> der Vorkommnisse in den<br />

vergangenen Tagen nach der Friedensdekade keine FG durch Basisgruppen ausrichten zu lassen. [/] Im<br />

persönlichen Gespräch eines IM mit der [... geschwärzt] wurde erarbeitet, daß der nächste Treff des AK<br />

„Frauen für den Frieden“ am 14.11.88, 20.00 Uhr in der Nikolaikirche stattfinden wird. [/] Ein weiterer<br />

IM der KD Leipzig-Stadt führte mit dem [... geschwärzt] ein persönliches Gespräch zum FG am 09.11.88<br />

<strong>und</strong> der Verteilung des Blattes „Initiative zur gesellschaftlichen Erneuerung der DDR“. [... geschwärzt]<br />

brachte zum Ausdruck, daß das Blatt aus der „Arbeit“ der Gruppe „Gerechtigkeit“ <strong>und</strong> von Mitgliedern<br />

der IG „Leben“ <strong>und</strong> des AK „Solidarische Kirche“ entstanden sei. [... geschwärzt] sei in diesem Sinne<br />

Mitautor. Den Kerzenmarsch zum Gedenkstein Gottschedstraße hätte die „Initiative“ jedoch nicht<br />

vorbereitet. Dies sei eine von Antragstellern vorbereitete Sache gewesen, die bereits zum FG am 07.11.88<br />

propagiert wurde. [/] Einer anderen Quelle gegenüber äußerten die [... geschwärzt] <strong>und</strong> der [...<br />

geschwärzt], die Kerzenaktion zum FG am 09.11.88 wäre auf Initiative des AK<br />

„Gerechtigkeit“ entstanden. Die [... geschwärzt] habe in der Kirche das operativ-bekannte Papier<br />

„Initiative“ [... geschwärzt] verteilt <strong>und</strong> eine größere Menge des Papiers am Ausgang in der Nikolaikirche<br />

hinterlegt.<br />

Die eingesetzten Quellen verließen nach 24.00 Uhr den sog. „Abend für den Frieden“. Zu weiteren<br />

Erkenntnissen zur Veranstaltung erfolgt eine Ergänzungsinformation. Durch das Ref. AuI erfolgt die<br />

ZPDB-Einspeicherung des Sachverhaltes zu den für die KD Leipzig-Stadt erfaßten Personen.<br />

110 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

IN-Telegramm vom Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres beim RdB Leipzig (Reitmann, i.A. Jakel) an<br />

Löffler 325 , über ein Gespräch mit OKR Auerbach vom 14.11. (11.00 Uhr) (BArch O-4 1436).<br />

Informationsbericht ‘Friedensdekade’<br />

Zu 1<br />

Am Freitag, dem 11.11.1988, wurde Oberkirchenrat Auerbach im Landeskirchenamt der sächsischen<br />

Landeskirche in Dresden ein Brief des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für<br />

Inneres an Landesbischof Dr. Hempel übergeben 326 . Dieser Brief bezog sich, wie bereits informiert, auf<br />

die jüngsten Ereignisse im Umfeld der Nikolaikirche zu Leipzig. In einem halbstündigen Gespräch<br />

wurden von Auerbach, der vom Bischof die Vollmacht hatte, den Brief zu öffnen, alle vorgebrachten<br />

Argumente akzeptiert <strong>und</strong> die vorgelegten Papiere ‘Initiative zur gesellschaftlichen Erneuerung...’ 327<br />

sowie die gemeinsame Erklärung der Initiativgruppe ‘Leben’ <strong>und</strong> des Arbeitskreises ‘Gerechtigkeit’ 328 als<br />

demagogisch bezeichnet. Er könne dem Bischof nicht vorgreifen, aber man werde den<br />

Landesjugendpfarrer Brettschneider beauftragen, in Leipzig nach dem Rechten zu sehen.<br />

323 s. Anhang S. 385<br />

324 Dies war eine Initiative von Greenpeace, für die in Leipzig u.a. auch in den „Streiflichtern“ geworben wurde.<br />

325 Solche Telegramm-Berichte wurden während der Friedensdekade jeden Tag - auch aus anderen Bezirken - an den<br />

Staatssekretär für Kirchenfragen telegrafiert.<br />

326 s. Dok. 105<br />

327 s. Dok 104<br />

328 s. Dok. 99<br />

184


Die Veranstaltung am 11.11.1988 in der Nikolaikirche Leipzig ‘Abend für den Frieden’ beinhaltete<br />

verschiedene Programmteile <strong>und</strong> wurde vom Jugendkonvent Leipzig geleitet. Zu Beginn verlas Pfarrer<br />

Führer eine Erklärung, die sich gegen den bisherigen Mißbrauch der Friedensdekade durch Gruppen <strong>und</strong><br />

Personen wandte. Schwerpunkt der Veranstaltung war ein 1 1/2-stündiges Podiumsgespräch unter dem<br />

Thema ‘Kirche <strong>und</strong> Macht’. Hier nahmen teil: Landesjugendpfarrer Brettschneider, Superintendent<br />

Richter <strong>und</strong> Jugendpfarrer Kaden. Die massiven Angriffe gegen Sup. Richter wegen seiner konsequenten<br />

Haltung gegen Mißbrauch der Kirche wurden von bekannten Vertretern sogenannter Basisgruppen <strong>und</strong><br />

Übersiedlungsersuchstellern vorgetragen. Angriffe wurden gleichfalls gegen überholte Machtstrukturen<br />

der Kirche vorgetragen. Landesjugendpfarrer Brettschneider ist nicht gegen diese Angriffe aufgetreten.<br />

Von Vertretern der Arbeitsgruppe ‘Gerechtigkeit’ <strong>und</strong> Übersiedlungsersuchstellern wurde eine<br />

Gegenerklärung verlesen mit der Forderung ‘Christen <strong>und</strong> Nichtchristen müssen Gelegenheit haben, sich<br />

in der Kirche frei äußern zu können’ 329 . An den Veranstaltungen haben ca. 200 Personen teilgenommen.<br />

[... es folgen weitere Berichte über die Friedensdekade]<br />

111 Basisgruppenerklärung<br />

Schriftliche Erklärung des Arbeitskreises „Gerechtigkeit“ vom 14.11.1988, in der die Vorwürfe von Pf.<br />

Führer vom 11.11.1988 zurückgewiesen werden (ABL H 1).<br />

Am 10. November 1988 ist es im Zusammenhang mit dem Friedensgebet des „Arbeitskreises<br />

Gerechtigkeit“ zu Irritationen gekommen. Wir haben dies an der Erklärung von Pfarrer Führer am<br />

11.11. 330 <strong>und</strong> an der Reaktion verschiedener hauptamtlicher <strong>und</strong> ehrenamtlicher kirchlicher Mitarbeiter<br />

festgestellt. (Im Zusammenhang mit der Erklärung von Pfarrer Führer verweisen wir auch auf unsere<br />

Stellungnahme vom 11.11.) Es wurde Anstoß daran genommen, daß unter unserem Namen Antragsteller<br />

auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR <strong>und</strong> auf Übersiedlung in die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland das Friedensgebet mitgestalteten. Wir teilen zum wiederholten Male mit, daß der<br />

„Arbeitskreis Gerechtigkeit“ aus einer Koordinierungsgruppe, der zugleich die Aufgabe des Sprechers<br />

obliegt, <strong>und</strong> aus Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen besteht. Die Mitarbeiter der „Arbeitsgruppe<br />

Ausreise des Arbeitskreises Gerechtigkeit“, in der die Richtlinienkompetenz Nichtantragstellern<br />

obliegt 331,<br />

gestalteten das Friedensgebet des „Arbeitskreises Gerechtigkeit“ am 10. November.<br />

Die „Arbeitsgruppe Ausreise des Arbeitskreises Gerechtigkeit“ versucht das Problemfeld Ausreise als ein<br />

gesamtgesellschaftliches aufzuarbeiten <strong>und</strong> innerkirchlich zu thematisieren. Sie versucht nicht die<br />

individuelle Ausreise eines einzelnen Antragstellers voranzutreiben. Wir hoffen mit dieser Erklärung<br />

verdeutlicht zu haben, daß Antragsteller „nicht unter dem Deckmantel von Gruppen“, sondern als fester<br />

Bestandteil des „Arbeitskreises Gerechtigkeit“ das Friedensgebet am 10.11. mitgestalteten.<br />

In diesem Zusammenhang ist es von Belang, daß in die Koordinierungsgruppe Antragsteller nicht<br />

aufgenommen werden, also eine Überbetonung des Themas Ausreise schon von der Struktur des<br />

Arbeitskreises her ausgeschlossen bleibt. Der „Arbeitskreis Gerechtigkeit“ ist aber davon überzeugt, daß<br />

in der Gesellschaft der DDR über die Ursachen des Problems Ausreise mehr als zuvor nachgedacht<br />

werden muß. Für die Sprecherinnen des Arbeitskreises Gerechtigkeit zeichnen:<br />

[gez.] Gesine Oltmanns gez. Katrin Hattenhauer gez. Doreen Penno<br />

[... es folgen die jeweiligen Adressen]<br />

112 Stellungnahme<br />

Schriftliche Stellungnahme von Pf. Führer an den Arbeitskreis „Gerechtigkeit“, den Bezirkssynodalausschuß<br />

329 vgl. oben S. 179<br />

330 s. Dok. 106<br />

331 Für die Arbeit mit Ausreisewilligen war vor allem D. Penno (IMB „Maria“) zuständig (Erklärung der<br />

'Arbeitsgruppe Ausreise des Arbeitskreises Gerechtigkeit' - ABL H 2)<br />

185


<strong>und</strong> die Leipziger Gruppen zur Stellungnahme vom Arbeitskreis „Gerechtigkeit“ vom 16.11.1988 (ABL H 1).<br />

Stellungnahme zur Stellungnahme des Arbeitskreises Gerechtigkeit, die im Anschluß an das<br />

Podiumsgespräch am 11.XI. 1988 in der Nikolaikirche von Frau Dr. Babette Kohlbach verlesen wurde<br />

Frau Doreen Penno [/] Herrn Bernd Oehler [/] Herrn Thomas Rudolph<br />

Zunächst sende ich Ihnen die Ablichtung des Originals meiner Erklärung vom 11.XI.1988 um 18.00 Uhr<br />

in der Nikolaikirche zu332 . Daraus ersehen Sie, daß Sie falsch zitieren („der gestrige Abend wäre<br />

entartetes Friedensgebet“), so daß eine tendenziöse Absicht Ihrerseits deutlich wird. Bei Personen Ihrer<br />

Intelligenz, ich denke besonders an die klugen Ausführungen zur „Verwesung des Wortes“ 333 , darf ich<br />

wohl annehmen, daß Ihre Wortwahl nicht zufällig ist. Sodann w<strong>und</strong>ere ich mich nach wie vor, daß Sie so<br />

anklagend bei uns einfordern, wozu Sie <strong>und</strong> andere gerade in unserer Kirche die Möglichkeit haben: sich<br />

mit Ihrem Denken ungestört von Zwischenfällen äußern zu können. Im Rahmen kirchlicher Gruppen ist es<br />

geradezu unangetasteter Gr<strong>und</strong>satz, daß jeder sein Denken äußern <strong>und</strong> diskutieren kann.<br />

Ein Friedensgebet in der Kirche hat anderen Charakter. Es dient in jedem Fall der Verkündigung des<br />

Evangeliums im weitesten Sinn. In einer Kirche werden Menschen nicht aufgeputscht durch so richtig wie<br />

auch immer sein mögende politische Informationen am laufenden Band. Der Bezug zum Evangelium des<br />

gekreuzigten <strong>und</strong> auferstandenen JESUS CHRISTUS muß erkennbar werden, damit Menschen zum Leben<br />

ermutigt werden.<br />

Öffentliches Reden in der Kirche muß verantwortliches Reden sein. Dafür gibt es Spielregeln, die<br />

eingehalten werden müssen. Ich werde Ihnen einige dieser in der Kirche geltenden Spielregeln<br />

benennen 334:<br />

− Personen oder Gruppen bzw. die von ihnen geäußerten Inhalte dürfen dem Evangelium vom Kreuz<br />

CHRISTI als Wort von der Versöhnung nicht widersprechen <strong>und</strong> müssen auf dem Boden der Gebote<br />

Gottes insoweit stehen, als sie „Leben erhalten“ wollen.<br />

− Sie müssen bereit sein, sich in den kirchlichen Kontext zu stellen. D.h.: Sie müssen sich kritisch<br />

anfragen lassen. Das bedeutet keine Vorzensur von Texten, wohl aber sind die Erwartungen der Kirche<br />

rechtzeitig so deutlich zum Ausdruck zu bringen, daß eine kritische Auseinandersetzung, wenn nötig<br />

auch noch in der Veranstaltung selbst, nicht als Verstoß gegen die Gastfreiheit mißdeutet werden kann.<br />

− Zu diesen Erwartungen gehört ein Mindestmaß an Konstruktivität. Wirklichkeitsbeschreibung, die<br />

lediglich in Ausweglosigkeit endet, widerspräche der geforderten Mindestübereinstimmung mit dem<br />

Auftrag der Kirche.<br />

− Auch die Formen des Auftretens müssen mit den Inhalten in Einklang zu bringen sein. Das betrifft z.B.<br />

Herabwürdigung anderer oder Formen der Auseinandersetzung.<br />

− Die Spielregeln des Zusammenlebens in der Kirche müssen akzeptiert werden. Das heißt z.B., es muß<br />

Toleranzbereitschaft gegenüber anderen Aktivitäten <strong>und</strong> Positionen in der Kirche erwartet werden.<br />

− Unter Beachtung dieser Kriterien muß dann allerdings in der Kirche auch Raum sein für unbequeme<br />

oder anstößige Wahrheiten, die sich sonst nicht oder nicht genügend artikulieren können, ganz<br />

besonders dann, wenn Personen oder Gruppen dafür in Schutz zu nehmen sind.<br />

− Über die Aufnahme von Personen oder Gruppen in kirchliche Räume entscheidet der zuständige<br />

Rechtsträger. In der Gemeinde ist dies der Kirchenvorstand, der in allen sich aus diesen<br />

Gesichtspunkten ergebenden Fragen eng mit dem zuständigen Superintendenten zusammenwirkt.<br />

Kein Mitglied unseres Kirchenvorstandes einschließlich des Superintendenten <strong>und</strong> Pfarrers haben je Ihre<br />

Ausführungen gestört. Wir haben unsere Zeugnisse der Betroffenheit zu lange zurückgehalten. Und wenn<br />

wir sie, wie ich am Freitagabend, äußern, kommt sofort die Reaktion, in diesem Fall vom Podium aus. Da<br />

ich nicht im Podium vertreten war, hatte ich nicht einmal die Möglichkeit einer Richtigstellung. Sie<br />

332 s. Dok. 106<br />

333 Dies war eine Meditation von B. Oehler zum Gedenken an die Menschen, die im Nazideutschland ermordet<br />

wurden. In ihr hatte B. Oehler in poetischer Form Parallelen zwischen der Sprache des sogenannten „Dritten<br />

Reiches“ (Viktor Klemperer, LTI [Lingua Tertii Imperii], Halle 1957) <strong>und</strong> der den einzelnen verachtenden<br />

Sprachregelungen in der DDR gezogen. Leider ist das Manuskript dieser Meditation verloren gegangen.<br />

334 s. Anm. 356<br />

186


erzwingen immer wieder das letzte Wort. Verstehen Sie unter Demokratie <strong>und</strong> Gerechtigkeit dieses<br />

anmaßende, autoritäre Verhalten? Ich frage mich ernsthaft, wem Ihr Verhalten <strong>und</strong> Auftreten in der<br />

Nikolaikirche eigentlich dient, gewollt oder ungewollt.<br />

Zu einigen Einzelheiten Ihrer Stellungnahme:<br />

1. Sie nennen drei Namen (siehe oben) mit Adresse am Schluß als Sprecher des Arbeitskreises<br />

Gerechtigkeit. Unterzeichnet hat nur eine Person. Wie darf ich das verstehen?<br />

2. Sie schreiben: „Wir wären dankbar für ein konstruktives Gespräch zwischen Basisgruppen <strong>und</strong><br />

Stadtkirchenleitung ...“. Solch ein Gespräch ist seit längerer Zeit für den 21. Nov. 1988 zwischen<br />

Vertretern der Basisgruppen <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand bereits festgelegt, an dem der Unterzeichner<br />

Ihrer Stellungnahme selbst teilnimmt. Wie darf ich das verstehen?<br />

3. Das Verbot, Ihre Tafeln am Abend für den Frieden aufzustellen, war die Konsequenz aus dem<br />

vorhergegangenen Abend. Nach wie vor ist der Kirchenvorstand für das, was in der Nikolaikirche<br />

gesagt, getan <strong>und</strong> ausgestellt wird, verantwortlich.<br />

4. In Ihrer „Erklärung zum Friedensgebet am 10.11.88“ vom 14.XI.1988 stellen Sie fest: „Es wurde<br />

Anstoß daran genommen (gemeint ist meine Erklärung, d.U.), daß unter unserem Namen Antragsteller<br />

auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR ... das Friedensgebet mitgestalteten“. Das<br />

entspricht in keiner Weise der Wahrheit. Anstoß genommen habe ich daran, daß weder Bibeltext,<br />

Gebet, Segen noch überhaupt ein Glaubensbezug zu erkennen war, siehe weiter den Text meiner<br />

Erklärung.<br />

Eine Formulierung Ihres Schreibens spricht mich positiv an: „Dieses Friedensgebet sollte Anstoß sein <strong>und</strong><br />

nicht Anstoß werden“. In dieser Formulierung empfinde ich einen konstruktiven Ansatz. Wir geben die<br />

Hoffnung nicht auf, daß trotz aller Mißverständnisse <strong>und</strong> Verletzungen ein schmales Stück gemeinsamer<br />

Spur im Interesse all derer, die Nähe, Hilfe <strong>und</strong> Ermutigung in unserer Kirche suchen, zu finden ist. Ein<br />

Neuanfang ist nötig. Ist er auch möglich? Die Anerkennung der 7 „Spielregeln“ von beiden Seiten könnte<br />

die Chance des Neuanfangs der gestörten Beziehungen enthalten.<br />

Pfarrer [gez.] Führer [/] Kirchenvorstand/Vorsitzender<br />

PS: Da dieses Schreiben gr<strong>und</strong>sätzliche Ausführungen enthält, sende ich Durchschläge davon an die<br />

Synodal- <strong>und</strong> Gruppenvertreter.<br />

113 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />

Antwortbrief von Bischof Hempel vom 15.11.1988 an den Stellvertreter des Vorsitzenden des RdB Leipzig,<br />

Reitmann, auf dessen Brief vom 11.11.1988. Im RdB ging der Brief laut Eingangsstempel am 18.11.1988 ein.<br />

Vorlage war eine Kopie dieses Briefes (ABL H 53).<br />

Sehr geehrter Herr Dr. Reitmann!<br />

Ihren Brief vom 11.11.1988 335 habe ich erhalten <strong>und</strong> mit Aufmerksamkeit gelesen. Auch haben wir das,<br />

was Sie schreiben, im Kollegium des Landeskirchenamtes besprochen. Daß Sie über die Entwicklung im<br />

Umfeld der Nikolaikirche Leipzig besorgt sind, haben wir Ihrem Brief deutlich <strong>und</strong> intensiv entnommen.<br />

Auch wir, auch ich, beobachten diese Entwicklung genau <strong>und</strong> bemühen uns, das Gehörte an unserem<br />

christlichen Auftrag zu prüfen. Es vergeht keine Woche, in der wir nicht im internen Gespräch<br />

Informationen <strong>und</strong> Meinungen besprechen. Auch ich werde jetzt mit einigen Vertretern des Montag-<br />

Gottesdienstes in der Nikolaikirche das Gespräch aufnehmen.<br />

Nach wie vor ist mir deutlich, daß die Themen, die in der Nikolaikirche verhandelt werden, eigentlich <strong>und</strong><br />

zuerst mit Vertretern des Staates besprochen werden sollten. Daß es den Montag-Gottesdienst in der<br />

Nikolaikirche gibt, sehen wir auch als eine Folge dessen, daß die dort Zusammenkommenden keinen<br />

anderen adäquaten Gesprächsort finden. Außerdem beruhen nach unserer Sicht einige der in diesem<br />

Bereich zur Sprache gebrachten Probleme unserer Gesellschaft auf Tatsachen. Es ist eine alte Erfahrung<br />

der Kirche, daß Schwierigkeiten, die im Raum der Kirche auf Tatsachen beruhen, mit Druck nicht<br />

wirklich aus der Welt zu schaffen sind. Diese Erfahrung bewegt uns auch.<br />

335 s. Dok. 105<br />

187


Ich biete Ihnen, sehr geehrter Herr Dr. Reitmann, - wenn Sie einverstanden sind - etwa für Januar 1989<br />

(im Dezember bin ich leider nicht in Sachsen) ein Gespräch zwischen uns an, zu dem ich dann einen<br />

Begleiter mitbringen möchte. Im mündlichen Gespräch kann man sich besser erklären als schriftlich.<br />

Mit vorzüglicher Hochachtung [/ gez.] Dr. Hempel<br />

114 Staatliche Einschätzung<br />

Auszug aus der Gesamteinschätzung des Stellvertreters des Vorsitzenden für Inneres RdB Leipzig vom<br />

17.11.1988 zur Friedensdekade 1988. Computerausdruck mit Vermerk über Versendung an das StfK von<br />

Jakel 336 . (StAL BT/RdB 21959 <strong>und</strong> in: BArch O-4 1436, ABL H 53).<br />

Die Veranstaltungen der Friedensdekade der ev. Kirchen verliefen auf dem Territorium des Bezirkes<br />

Leipzig in ihrer überwiegenden Mehrheit politisch ruhig.<br />

So war der Beginn der Dekade am 6.11.1988 in den meisten ev. Kirchen durch feierliche Gottesdienste in<br />

den Städten <strong>und</strong> Gemeinden unseres Bezirkes nur um ein weniges höher als zu den<br />

Sonntagsgottesdiensten eingeschätzt wird.<br />

Ausnahmen bilden die Städte Leipzig <strong>und</strong> Altenburg (Thüring. Landeskirche). Diese sich hier andeutende<br />

Differenzierung bestätigt sich auch in der Auslegung bzw. Umsetzung der inhaltlichen Orientierung des<br />

BEK für die Friedensdekade 1988 337 . Das Thema „Friede den Fernen, Friede den Nahen“, welches<br />

einerseits die kirchlichen Veranstaltungen zum 50. Jahrestag des faschistischen Pogroms <strong>und</strong> auf das<br />

Nachgehen von Spuren jüdischen Lebens ausrichtet, andererseits aber auffordert, heutige<br />

Herausforderungen zu erkennen <strong>und</strong> zu deren Überwindung notwendige Schritte zu unternehmen, bot<br />

bereits progressive als auch negative politische Auslegungsmöglichkeiten. Dies insbesondere unter dem<br />

Aspekt, daß in den Hinweisen des BEK zur Arbeit der Kirchgemeinden für die Friedensdekade vermerkt<br />

war: „... daß man nicht den Zwängen (polit. Regierungen) glaubt, aus denen ihre Macht handelt, wenn sie<br />

Grenzen zu Trennmauern der Bevölkerung ausbaut <strong>und</strong> Umstände zu Feindschaften hochtreibt“ 338 , neben<br />

anderen ähnlichen Feststellungen. Hier ergab sich bereits ein breites Feld von Anknüpfungspunkten für<br />

politisch-negative Kräfte. Darüber hinaus sind es die Ergebnisse der BEK-Synode 1988 sowie der<br />

Tagungen der ökumenischen Versammlungen von Dresden <strong>und</strong> Magdeburg, die den Verlauf der<br />

Friedensdekade beeinflußten, unmittelbar - wie bereits angedeutet - in der Stadt Leipzig mit dem<br />

Schwerpunkt Nikolaikirche <strong>und</strong> in der Stadt Altenburg.<br />

[...] Der absolute Schwerpunkt des sich gegenwärtig vollziehenden Differenzierungs- <strong>und</strong><br />

Polarisierungsprozesses innerhalb der ev. Kirchen <strong>und</strong> zugleich erhöhter Aktivität negativ politisch<br />

orientierter Kräfte bleibt die Stadt Leipzig. Auffällig ist, daß Veranstaltungen, die von loyalen oder<br />

progressiven Gruppierungen durchgeführt werden, eine zahlenmäßig geringe Besucherzahl aufwiesen, von<br />

einigen Teilnehmern als „langweilig, nicht die Herzen erregend“ bezeichnet wurden (z.B. Gestaltung des<br />

Friedensgebetes Nikolaikirche durch die AG Lateinamerika vor 60 Personen am 8.11.1988 oder die<br />

Veranstaltung der CFK am 12.11. 1988, wo nur 30 Teilnehmer erschienen). Anhand der<br />

Schwerpunktveranstaltungen in der Stadt Leipzig bestätigte sich erneut die Funktion der Nikolaikirche als<br />

Sammelbecken von Provokateuren <strong>und</strong> subversiven Kräften. So wurden die täglichen Friedensgebete in<br />

der Nikolaikirche durch die verschiedensten Gruppierungen <strong>und</strong> Arbeitsgruppen kirchlicher Gremien zu<br />

provokativen Angriffen gegen die Regierung <strong>und</strong> die Politik der DDR genutzt, die bis hin zu<br />

Demonstrativhandlungen auch außerhalb kircheneigener Räumlichkeiten geführt haben. An diesen<br />

336 Die Exemplare des MfS <strong>und</strong> des StfK wurden von Reitmann unterzeichnet. Das MfS-Exemplar trägt den<br />

Stempelaufdruck (des RdB!) „Dienstsache Exempl. Nr. 3/88 04“ <strong>und</strong> verschiedene Bearbeitungsspuren.<br />

337 Gemeint ist die 43seitige Materialsammlung zur Vorbereitung der Friedensdekade, die das Sekretariat des BEK<br />

herausgegeben hatte.<br />

338 In der Bibelarbeit von Christoph Hinz zu Epheser 2,11-18 hieß es: „Wir werden <strong>und</strong> wollen als Christen nicht<br />

politische Regierungen ersetzen. Aber wir glauben nicht den Zwängen, aus denen ihre Macht handelt, wenn sie<br />

Grenzen zu Trennungsmauern der Bedrohung ausbaut <strong>und</strong> Unterschiede zu Feindschaften hochtreibt.“ (ebenda,<br />

S. 8, zitiert in J. Israel (Hrg.), 221)<br />

188


Veranstaltungen <strong>und</strong> Aktivitäten beteiligten sich auch zahlreiche Übersiedlungsersuchende, zum Teil aktiv<br />

auftretend, wie z.B. der Kinderarzt Dr. Winterstein. In der Veranstaltung „Ein Tag für Espenhain“ am<br />

13.11.1988 forderte er vor ca. 300 Zuhörern dringlich politische Veränderungen in der DDR, die in Polen,<br />

Ungarn <strong>und</strong> in der UdSSR bereits eingeleitet worden seien, <strong>und</strong> verlangte, daß endlich die Folgen der<br />

Umweltverschmutzung für Kinder beseitigt werden müssen, besonders im Gebiet Espenhain, Böhlen,<br />

Borna, das entsprechend seiner Umweltbelastung nach UNO-Einschätzungen als Wohngebiet ungeeignet<br />

sei. Er wisse, führte er weiter aus, daß diese Gesellschaft mehr Potenzen hat <strong>und</strong> sofort einschneidend die<br />

Lage verbessern könnte, wenn Schwerpunkte anders gesetzt würden.<br />

Am 9.11.1988 nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche wurden Handzettel einer „Initiative zur<br />

gesellschaftlichen Erneuerung in der DDR“ verteilt <strong>und</strong> eine nichtgenehmigte Demonstration vom<br />

Nikolaikirchhof durch die Leipziger Innenstadt zum Gedenkstein für die jüdischen Opfer durchgeführt, an<br />

der ca. 80 Personen einschließlich Pfarrer Führer teilnahmen. Im Ergebnis dessen wurde der Gedenkstein<br />

für jüdische Opfer in einen unwürdigen Zustand versetzt (hinterlassener Müll <strong>und</strong> Kerzenstummel), der<br />

durch die staatlichen Organe unter Einsatz zusätzlicher Reinigungskräfte angesichts der laufenden<br />

Feierlichkeiten beseitigt werden mußte, um das ehrende Gedenken an die Opfer faschistischen Ungeistes<br />

zu bewahren.<br />

Aufgr<strong>und</strong> dieser Ereignisse richtete der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für Inneres<br />

ein persönliches Schreiben an Landesbischof Dr. Hempel 339 , welches durch Oberkirchenrat Auerbach<br />

direkt entgegengenommen wurde. Auerbach distanzierte sich im persönlichen Gespräch von solchen<br />

Aktivitäten, nannte sie demagogisch, wolle aber seinem Landesbischof nicht vorgreifen. Das<br />

Landeskirchenamt habe angesichts dieser Ereignisse Landesjugendpfarrer Brettschneider beauftragt, in<br />

Leipzig nach dem Rechten zu sehen.<br />

Am 11.11.1988 erhielt der Sektor Kirchenfragen beim Rat des Bezirkes Leipzig postalisch eine in Berlin<br />

abgestempelte Erklärung (siehe Anlage 340 ), mit einem Protest gegen die Befragung von Personen, die sich<br />

der Friedens- <strong>und</strong> Bürgerrechtsbewegung zugehörig fühlen. Die Unterzeichner sind Vertreter der<br />

Initiativgruppe „Leben“ <strong>und</strong> des Arbeitskreises „Gerechtigkeit“, die auch wesentlich die provokatorischen<br />

Veranstaltungen innerhalb der Friedensdekade bestimmt haben. Beide Gruppen stellen nur einen<br />

Ausschnitt einer Vielzahl sogenannter kirchlicher Basisgruppen dar, wobei allen gemeinsam ist, daß sie<br />

ihre Angriffe sowohl gegen den Staat als auch gegen die Kirchenleitungen richten. Dies wurde u.a. auch in<br />

einem Podiumsgespräch am 11.11.1988 in der Nikolaikirche deutlich sichtbar, wo unter Teilnahme des<br />

Superintendenten Richter, des Landesjugendpfarrers Brettschneider <strong>und</strong> des Jugendpfarrers Kaden mit<br />

Vertretern von Basisgruppen das Thema „Wie verhält sich die Kirchenleitung zu Basisgruppen“ zur<br />

Diskussion stand. Die anwesenden Amtsträger, besonders Sup. Richter, brachten zum Ausdruck, daß<br />

− die derzeitigen Basisgruppen nicht die kirchliche Basis repräsentieren <strong>und</strong> dies auch nicht können, da<br />

viele ihrer Mitglieder keiner Kirchengemeinde angehören:<br />

− das Wollen die meisten der Basisgruppenmitglieder zwar begrüßenswert wäre, da es ihnen um<br />

Veränderungen im Sinne der Menschen ginge, aber die Form der Durchsetzung ihrer Forderungen<br />

nicht akzeptabel sei, sie sollten das Machbare kompetenten Leuten überlassen,<br />

− Angriffe gegen Kirchenstrukturen seien unrealistisch, denn wenn Basisgruppen zustandekommen <strong>und</strong><br />

lange Zeit zusammen sind, werden sie feststellen, daß sich im Laufe der Dinge auch bei ihnen<br />

Strukturen herausbilden <strong>und</strong> verfestigen.<br />

Im Ergebnis dieser Feststellungen kam es, wie bereits informiert, zu Angriffen gegen die Person des Sup.<br />

Richter durch Basisgruppenvertreter.<br />

Gleichfalls als Reaktion auf den Brief des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für<br />

Inneres an Bischof Hempel muß die Aussage des Pfarramtleiters der Nikolaikirche, Pfarrer Führer,<br />

gewertet werden, der sich am Abend des 11.11.1988 von den Ereignissen der Vortage, der<br />

Flugblattverteilung <strong>und</strong> den Demonstrationen distanzierte. Er betonte, daß seine Hoffnung, die<br />

Basisgruppen würden sich im Sinne der Friedensdekade profilieren, getäuscht wurde <strong>und</strong> der<br />

Kirchenvorstand der Nikolaikirche überlege, wie es jetzt weitergehen soll. Er habe viele Personen<br />

339 s. Dok. 105<br />

340 s. Dok. 99<br />

189


gesehen, die noch nie in der Kirche waren. Persönlich sei er zu individueller Seelsorge mit Antragstellern<br />

bereit, stelle aber fest, daß für Antragsteller die Tätigkeit der kirchlichen Basisgruppen nur Mittel zum<br />

Zweck sei.<br />

Keine besonderen oder politisch negativ zu bewertenden Aktivitäten sind aus den Kreisen Torgau,<br />

Delitzsch <strong>und</strong> Eilenburg (Kirchenprovinz Sachsen) bekannt geworden.<br />

Insgesamt muß eingeschätzt werden, daß die Kirchenleitung der Sächsischen Landeskirche bemüht ist,<br />

den festgeschriebenen Gr<strong>und</strong>sätzen des 6.3.1978 gerecht zu werden <strong>und</strong> auch in der Lage ist, ihre<br />

Amtsträger zu disziplinieren. Im Verhältnis zu den Basisgruppen <strong>und</strong> subversiven Kräften hat sie jedoch<br />

kein wirksames Konzept gef<strong>und</strong>en, um sich vor dem Mißbrauch der Religion <strong>und</strong> der Institution Kirche zu<br />

schützen. Das hat zur Folge, das der Polarisierungsprozeß innerhalb der Leipziger Ephorien sehr<br />

widersprüchlich verläuft, eine generelle Abgrenzung zu staatsfeindlichen Kräften praktisch nicht erreicht<br />

wurde. Bemerkenswert ist, das zunehmend Theologen sich nicht mehr öffentlich zu diesen Prozessen<br />

positionieren, sondern vielmehr einen Rückzug in die Wissenschaft antreten. Ähnliche Tendenzen zeigen<br />

sich auch bei Geistlichen mit loyalen bzw. progressiven Haltungen, die resignieren, nicht mehr an der<br />

Auseinandersetzung mit „diesen Chaoten“ teilnehmen <strong>und</strong> sich auf ihre Gemeinden beschränken, um<br />

wenigstens dort religiös zu arbeiten.<br />

115 Gesprächsprotokoll<br />

Protokoll eines Treffens zwischen Vertretern der Kirchenleitung <strong>und</strong> Vertretern von Leipziger Basisgruppen<br />

am 21.11.1988, 14.00 Uhr, im Missionshaus Leipzig von C. Führer. Xerokopie des Typoskripts (ABL H 1)<br />

Anwesend: Landesbischof Dr. J. Hempel [/] Frl. G. Oltmanns, Frau B. Moritz, die Herren Th. Rudolph, J.<br />

Lässig, . Müller, A. Radicke, Szynkowski (Name nach Gehör), E. Dusdal [/] Oberkirchenrat D. Auerbach,<br />

Superintendent F. Magirius, Superintendent J. Richter, Stadtjugendpfarrer K. Kaden, Studentenpfarrer M.<br />

Barthels, Pfarrer C. Führer<br />

Anlaß des Gespräches war der von 8 Personen unterzeichnete Brief an Herrn Landesbischof vom<br />

05.IX.1988 341 . Landesbischof Dr. Hempel eröffnete nach der Vorstellung der Teilnehmer das Gespräch<br />

mit der Frage: So kann es in Nikolai nicht weitergehen.“ Dazu gab es, wenn auch aus sehr<br />

entgegengesetzten Gründen, breite Zustimmung.<br />

Der erste Gesprächsgang befaßte sich mit dem Problemkreis Wortverkündigung <strong>und</strong> Macht. Beklagt wird<br />

der Mangel, sachlich über die Probleme sprechen zu können. Bedauert wird, daß die „Gruppen“ von<br />

eigenständiger Wortverkündigung ausgeschlossen sind. Demgegenüber wird festgestellt, daß es die jetzt<br />

beklagten Spannungen immer gab, daß sie sich lediglich verlagert haben.<br />

Verletzungen werden ausgesprochen. Beklagt wurde der Umgang einzelner aus den Gruppen mit der<br />

Wahrheit <strong>und</strong> der Öffentlichkeit. Die Lage spitzte sich im Hin <strong>und</strong> Her zu. Landesbischof Dr. Hempel<br />

stellte fest, daß er von einem der Unterzeichner klar hintergangen wurde <strong>und</strong> verletzt worden ist 342 . Er<br />

muß weiterhin feststellen, daß er das Bild von Nikolai nicht klar bekommt. „Ein Friedensgebet, daß<br />

Symptome einer Parteiversammlung hat, muß ich verbieten - oder zurücktreten.“ Weiterhin bezeichnete er<br />

es als unwahr, unreal <strong>und</strong> unwissend, uns Amtsträger als angepaßte Leute zu benennen.<br />

Das Bemühen um Verstehen ging dennoch im Gespräch nicht verloren.<br />

Eine 10minütige Pause wurde zur Klärung untereinander genutzt.<br />

Einige der Gruppenvertreter bzw. Unterzeichner wollten in der verbleibenden Zeit über Öffentlichkeit,<br />

Toleranz <strong>und</strong> indirekte Gewalt gesprochen wissen.<br />

Die Gruppe der Amtsträger wollte über Grenzen sprechen.<br />

Die Feststellung des Landesbischofs, „daß wir dasselbe machen mit unterschiedlichen Instrumenten“,<br />

brachte keine Konvergenz.<br />

341 s. Dok. 76<br />

342 Hier war vermutlich A. Holicki gemeint, der wenige Tage zuvor innerhalb von 24 St<strong>und</strong>en die DDR verlassen<br />

mußte. Er hatte das erste Gespräch mit J. Hempel (am 05.09.1988) geführt. Er hatte im Verteiler des Offenen<br />

Briefes keine westlichen Nachrichtenagenturen genannt (Brief 17.09.1988), doch denen war der Brief bekannt.<br />

190


Schließlich markierte Landesbischof Dr. Hempel 3 Grenzen für Öffentliches Auftreten in einer Kirche, in<br />

St. Nikolai Leipzig:<br />

1. Wenn politische oder gesellschaftliche Wahrheiten nur werden ohne Deutung.<br />

2. Wenn im Gottesdienst oder einer Andacht Dinge geschehen (anonymes Verteilen von<br />

Druckerzeugnissen z.B.), für die bei Nachfrage niemand die Verantwortung übernimmt.<br />

3. Wenn M<strong>und</strong>tücher (Aufschrift „Sprechverbot“) umgelegt, die Orgel abgeschaltet etc. werden, Stilfragen<br />

berührt werden.<br />

Die ersten beiden Punkte bedeuten Grenzüberschreitungen, Punkt drei Befindlichkeit an der Grenze.<br />

Der Ernst der Situation wurde unüberhörbar, als er noch anfügte, daß es zu einer bischöflichen Weisung<br />

an den Kirchenvorstand St. Nikolai - St. Johannis kommt, wenn es so wie bisher (d.h. mit den bekannten<br />

Störfällen) weitergeht.<br />

Da der Protokollant das Friedensgebet an diesem Tag zu halten hatte, konnte er das Ende des Gespräches<br />

nicht mehr abwarten. Ende der Aufzeichnung 16.10 Uhr. Pfarrer C. Führer<br />

116 Gesprächsprotokoll<br />

Bericht über ein Gespräch zwischen Basisgruppenmitgliedern <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand der<br />

Nikolaikirchgemeinde am 21.11.1988. Typoskript von L. Ramson unterzeichnet (ABL H 1).<br />

Gespräch des KV [Kirchenvorstand] St. Nikolai mit Bezirkssynodalausschuß/Basisgruppenvertretern am<br />

21. November 1988<br />

Thema: Die Situation des Friedensgebetes in der Nikolaikirche<br />

KV vertreten durch: Pf. Christian Führer, Sup. Friedrich Magirius, Anne Lehnert, Ursula Pörner, Siegfried<br />

Grötsch, Wilfried Grünert, Dirk Eichelbaum, Lutz Ramson.<br />

Ausschuß/Gruppen vertreten durch: Pf. Berger, Pf. Wonneberger, Gerd Klenk, André Bootz, Johannes<br />

Fischer, Thomas Rudolph, Edgar Dustal [sic!], Peter Kranz 343.<br />

Pf. Führer begrüßt Teilnehmer <strong>und</strong> äußert Erwartung, das Gespräch möge offen sein, alle sollten „hören<br />

<strong>und</strong> sehen“.<br />

Dann Vorstellungsr<strong>und</strong>e, Erwartungen der Teilnehmer an das Gespräch werden erfragt; alle sind<br />

aufgefordert, zu sagen, worüber gesprochen werden sollte.<br />

Stichworte:<br />

− zur Zukunft des Friedensgebetes<br />

− inhaltliche Klärung wäre nötig<br />

− gute Gedanken zur Zukunft werden gewünscht<br />

− wie geht es weiter? es möge weitergehen<br />

− über Absicht <strong>und</strong> Ziele des Friedensgebetes<br />

− über Zukunft des Friedensgebetes mit Ziel <strong>und</strong> Inhalt<br />

− Basisgruppen: ja oder nein?<br />

− Ängste <strong>und</strong> Bedenken sollten formuliert werden, um Pauschalurteile abzubauen, innerkirchliche<br />

Reibungsverluste sollten vermieden werden bzw. verringert<br />

− ein offenes Gespräch, Stereotypien sind zu vermeiden, als Ergebnis Modus vivendi, Rückkehr zu<br />

ähnlichen Formen wie in vergangenen Jahren<br />

− Basisgruppen sollten Friedensgebete gestalten <strong>und</strong> mitgestalten<br />

− Hintergründe sollten aufgezeigt werden sowie relevante politische Erwägungen<br />

− Basis der Verständigung sei der konziliare Prozeß 344,<br />

wo Inhalte vorgegeben seien<br />

− wie erlebt der Kirchenvorstand das Friedensgebet, Erwartungen des Kirchenvorstandes<br />

− Friedensgebet sollte weitergehen mit Form <strong>und</strong> Bedingungen, die alle akzeptieren<br />

343 Die Gruppenvertreter wurden am 19.11.1988 durch den BSA bestimmt (ABL H 2). Dort waren jedoch M. Schiel<br />

<strong>und</strong> C. Motzer an Stelle von G. Klenk <strong>und</strong> F. Richter gewählt worden.<br />

344 siehe Anhang S. 370<br />

191


− Wunsch nach klaren Definitionen<br />

Anschließend wurde Dr. Berger gebeten, seine Überlegungen zum politischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Hintergr<strong>und</strong> des Friedensgebetes vorzutragen. Er machte auf die Schutzfunktion der Kirche im weitesten<br />

Sinne aufmerksam, insbesondere im Zusammenhang mit der Ausreiseproblematik.<br />

Danach Diskussion. Verschiedene Meinungen wurden deutlich.<br />

Stichworte:<br />

− Friedensgebet <strong>und</strong> Arbeit der Gruppen sei älter als aktuelle Problematik, Friedensgebet würde durch<br />

Ausreisethema überlagert, dies würde von Gruppen als Defizit erfahren; durch zu rasches Eingreifen<br />

der Kirchenleitung würde Erfahrung <strong>und</strong> Auseinandersetzung der Gruppen untereinander verhindert<br />

(Selbstregulierung), eigene Strukturen könnten nicht gef<strong>und</strong>en werden. Als Lösung beide Anliegen in<br />

einer Veranstaltung oder Entflechtung.<br />

− Konsens wäre nur als Mittelmaß möglich, Mittelmaß wäre dann der Maßstab für das Mögliche, warum<br />

nicht in Leipzig Konsens wie woanders auch (Berlin). Friedensgebet seit Januar 1988 sei anders erlebt<br />

worden als durch Pf. Führer dargestellt. Es müßten mehr Gemeindemitglieder am Friedensgebet<br />

teilnehmen.<br />

− Kirche kann kein Probierfeld sein oder werden, wo sind die Schwerpunkte? Gruppen oder<br />

Schutzfunktion? Erfahrungen aller seien wichtig. Gr<strong>und</strong>konsens ist das Evangelium aber wie geht es<br />

weiter?<br />

− Versuch der Entflechtung sei durch praktische Schwierigkeiten gescheitert (zu große Zahlen),<br />

Zusammenarbeit würde scheitern durch einzelne Vertreter von Gruppen, die etwas „losmachen“<br />

wollten, Konsens sei mißbraucht worden, kein Vertrauen mehr in den Konsens. Friedensgebet als<br />

Ermutigung zum Leben vom Evangelium her.<br />

− Es sei zum unterschwelligen Hintergehen durch unklare Spielregeln gekommen, dadurch<br />

Unsicherheitskomponente.<br />

Es schließt sich an eine Diskussion von Verfahrensfragen sowie ein nochmaliges Benennen<br />

unterschiedlicher Sichtweisen der Ereignisse um das Friedensgebet seit Januar 1988.<br />

Mahnung zur Konstruktivität.<br />

Als Ergebnis der Diskussion schließlich: mögliche Übereinstimmung Kirchenvorstand mit<br />

Gruppenvertretern/Synodalausschuß sollten als Antrag dem Kirchenvorstand zugehen. Als Gr<strong>und</strong>lage<br />

dieser Suche nach Übereinstimmung wird von Dr. Berger die im Brief des Kirchenvorstandes vom<br />

30.08.1988 an Synodalausschuß <strong>und</strong> Gruppen festgelegte Ordnung des Friedensgebetes eingebracht.<br />

1. Begrüßung durch einen Pfarrer an St. Nikolai [/] 2. Lied [/] 3. Schriftlesung [/] 4. Auslegung<br />

durch einen ordinierten Pfarrer [/] 5. Gebet [/] 6. Informationen, Abkündigung [/] 7. Sendungswort [/] 8.<br />

Lied<br />

Zur Diskussion gestellt werden die Punkte 4 <strong>und</strong> 6, während die übrigen Punkte bereits als Inhalt einer<br />

nunmehr als möglich erscheinenden Übereinkunft betrachtet werden.<br />

Nach ausgiebiger Diskussion ergibt sich folgender Konsens:<br />

Das Friedensgebet sollte gestaltet werden von den im Synodalausschuß vertretenen Gruppen <strong>und</strong> einem<br />

ordinierten Pfarrer, der von den Gruppen gesucht wird.<br />

Eine Liste der jeweiligen Gruppen <strong>und</strong> Pfarrer soll durch den Synodalausschuß für jeweils ein Quartal<br />

erstellt <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand Nikolai einen Monat vor Beginn des entsprechenden Quartals vorliegen.<br />

Der Kirchenvorstand Nikolai seinerseits achtet darauf, daß keine Häufung von Gruppen oder Pfarrer in der<br />

Gestaltung des Friedensgebetes eintritt.<br />

Der Informationsteil sollte künftig verantwortet werden von:<br />

1. dem Begrüßungspfarrer, 2. dem Gruppenpfarrer, 3. einem Gruppenmitglied, 4. einem Mitglied des<br />

Kirchenvorstandes Nikolai.<br />

Der Informationsteil sollte von allen vier Partnern getragen werden. Bei Bedenken von Kirchenvorstands-<br />

Mitglied <strong>und</strong> Begrüßungspfarrer können diese nicht überstimmt <strong>und</strong> die entsprechende Information kann<br />

am jeweiligen Montag nicht gegeben werden.<br />

Einen Antrag in diesem von beiden Seiten als Konsens betrachteten Sinn wird der<br />

Bezirkssynodalausschuß dem Kirchenvorstand Nikolai zur nächsten Sitzung am 05.XII.1988 zuleiten.<br />

192


117 Innerkirchliche Mitteilung<br />

Brief des Vorsitzenden des Bezirkssynodalausschusses an den Kirchenvorstand von St. Nikolai zur weiteren<br />

Ordnung der Friedensgebete vom 26.11.1988 345 . Vorlage ist eine Xerokopie (ABL H 35).<br />

Betr.: Friedensgebete<br />

Nach dem Gespräch mit Vertretern des Kirchenvorstandes hat der Bezirkssynodalausschuß den Beschluß<br />

gefaßt, folgenden Antrag an den Kirchenvorstand zu stellen:<br />

Die Friedensgebete sollen wieder von den im Bezirkssynodalausschuß vertretenen Gruppen gestaltet<br />

werden. Als Gr<strong>und</strong>lage wird dafür nachstehende Ordnung als konsensfähig angesehen:<br />

1. Begrüßung durch einen Pfarrer an St. Nikolai [/] 2. Lied [/] 3. Schriftlesung [/] 4. Auslegung durch<br />

einen Pfarrer <strong>und</strong> der jeweiligen Gruppe unter Verantwortung des Pfarrers [/] 5. Gebet [/] 6.<br />

Informationen, Abkündigungen [/] 7. Sendungswort [/] 8. Lied<br />

Zu 6: Die Verantwortung für den Informationsteil soll getragen werden: von Begrüßungspfarrer, 1<br />

KV-Mitglied, 1 Mitglied der jeweiligen Gruppe <strong>und</strong> Dr. Berger (bzw. einem Vertreter).<br />

Der Planungszeitraum soll 2 Monate betragen, wobei der Plan 1 Monat vor dem Zeitraum dem KV<br />

vorzuliegen hat. Die Aufstellung des Planes geschieht in Verantwortung des Bezirkssynodalausschusses.<br />

Nicht besetzte Termine werden von St. Nikolai wahrgenommen.<br />

Der Bezirkssynodalausschuß hofft auf eine konstruktive Zusammenarbeit.<br />

[gez.] M. Berger Vors.<br />

118 Beschwerde<br />

Durchschlag eines Briefes von F. Sellentin an den Leiter des VPKA Leipzig vom 30.11.1988 aufgr<strong>und</strong> einer<br />

Ordnungsstrafverfügung (ABL H 1) 346 .<br />

Am 24.10.1988 war ich Besucher des montäglichen Friedensgebetes in der Leipziger Nikolaikirche <strong>und</strong><br />

beteiligte mich zusammen mit <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n aktiv an diesem Gottesdienst. In diesem Zusammenhang sollte in<br />

der Kirche eine Erklärung verlesen werden, die sich auf unsere Mitwirkung im Gottesdienst bezog.<br />

Unserem Anliegen, die Erklärung in der Kirche zu verlesen, wurde vom Superintendenten Magirius nicht<br />

stattgegeben. Um der Friedensgebetsgemeinde dennoch das Anliegen unserer Mitwirkung am<br />

Friedensgebet zu verdeutlichen, sah ich mich mit meinen <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n genötigt, diese Erklärung im Anschluß<br />

an den Gottesdienst vor der Nikolaikirche zu verlesen. Etwa vier Wochen später wurde durch das VPKA<br />

Leipzig/Schutzpolizei gegen mich eine Ordnungsstrafverfügung festgelegt. Darin heißt es: „Sie haben am<br />

24. Oktober 1988 eine Ordnungswidrigkeit begangen, indem Sie in 7010 Leipzig, Nikolaikirchhof, an<br />

einer Zusammenkunft teilnahmen, durch die die öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit beeinträchtigt wurde<br />

<strong>und</strong> gesellschaftliche Interessen mißachtet wurden. Ordnungswidrigkeit nach §§ 4 Abs. 1 Ziff. 3 der<br />

OWVO vom 22. März 1984 (GBl. I Nr. 14 S. 173)<br />

Es wird daher gegen Sie als Ordnungsstrafmaßnahme eine Ordnungsstrafe von 400.- Mark (in Worten)<br />

Vierh<strong>und</strong>ert - Mark festgesetzt.<br />

Begründung: Wer vorsätzlich das sozialistische Zusammenleben der Bürger stört, indem er eine<br />

Zusammenkunft, die geeignet ist, gesellschaftliche Interessen zu mißachten oder die öffentliche Ordnung<br />

<strong>und</strong> Sicherheit zu beeinträchtigen, organisiert, in sonstiger Weise daran mitwirkt, kann mit Ordnungsstrafe<br />

belegt werden.“<br />

Gegen die Ordnungsstrafverfügung S/88 lege ich hiermit Beschwerde bei Ihnen ein. Die Begründung zu<br />

genannter Ordnungsstrafmaßnahme ist für meine Handlungsweise nicht zutreffend. Deshalb verwehre ich<br />

mich dagegen. Wie Sie meinem Befragungsprotokoll vom 26.10.1988 durch die Mitarbeiter des<br />

Ministeriums für Staatssicherheit entnehmen können, war meine Entscheidung, auf dem Nikolaikirchhof<br />

345 Der Brief basiert auf einem Entschluß des BSA vom 25.11.1988 (ABL H 35)<br />

346 s.a. Dok. 98 <strong>und</strong> Dok. 124; Der Wortlaut der Beschwerde war mit allen anderen Betroffenen abgesprochen <strong>und</strong><br />

ist mit deren Beschwerde identisch.<br />

193


die gottesdienstliche Handlung zu beenden, eine spontane Reaktion auf die vorangegangenen Ereignisse in<br />

der Kirche. Ich sehe darin kein vorsätzliches Vergehen. Meine zweifelnde Anfrage im Hinblick auf die<br />

Berechtigung Ihrer Begründung bezieht sich auf die angebliche „Beeinträchtigung der öffentlichen<br />

Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit“ <strong>und</strong> die „Störung des sozialistischen Zusammenlebens der Bürger“. Soweit ich<br />

mich erinnern kann, war zur Zeit des Verlassens der Kirche der Nikolaikirchhof menschenleer <strong>und</strong> zudem<br />

von zwei Baustellen begrenzt. Auch wurden der Straßenverkehr <strong>und</strong> die Anwohner in ihrem Privatleben in<br />

keinster Weise behindert. Mir ist nicht bekannt, daß eine Beschwerde von Bürgern, die sich im<br />

„sozialistischen Zusammenleben“ beeinträchtigt fühlten, gegen mich vorliegt. Ich empfinde es als normal,<br />

daß die Friedensgebetsbesucher nach dem Verlassen der Kirche zusammenstehen <strong>und</strong> sich austauschen.<br />

Wieso wird mir diesbezüglich vorgeworfen, die „öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit“ beeinträchtigt<br />

sowie das „sozialistische Zusammenleben der Bürger“ gestört zu haben?<br />

Im Artikel 28 der Verfassung der DDR heißt es, daß alle Bürger das Recht haben, „sich im Rahmen der<br />

Gr<strong>und</strong>sätze <strong>und</strong> Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln“. Weiter heißt es im Artikel 28: „Die<br />

Nutzung der materiellen Voraussetzungen zur unbehinderten Ausübung dieses Rechts, der<br />

Versammlungsgebäude, Straßen <strong>und</strong> K<strong>und</strong>gebungsplätze, ... wird gewährleistet.“ Ich sehe hierin ein<br />

Diskrepanz zwischen diesen verfassungsmäßigen Gr<strong>und</strong>sätzen <strong>und</strong> der von Ihnen ausgesprochenen<br />

Ordnungsstrafmaßnahme. Es muß doch möglich sein, daß die in der Verfassung gegebenen Garantien<br />

auch für jeden Bürger persönlich erfahrbar sind, ohne daß er benachteiligt wird, wenn er von diesen<br />

verbürgten Rechten Gebrauch macht. Gleichzeitig protestiere ich gegen das willkürliche Bemessen von<br />

unterschiedlichen Ordnungsstrafmaßnahmen gegen einzelne Teilnehmer der Zusammenkunft am<br />

24.10.1988 auf dem Nikolaikirchhof, da dies eine schwerwiegende Verletzung der verfassungsmäßig<br />

geforderten Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz darstellt. Ich sehe, daß meine protokollarische<br />

Aussage in der Befragung durch die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit keinen<br />

entscheidenden Einfluß auf Ihre Entscheidungsfindung hatte. Hiermit bitte ich um Aufhebung der mir<br />

verkündeten Ordnungsstrafmaßnahme 347.<br />

[gez.] Frank Sellentin<br />

119 Flugblatt<br />

348<br />

Text eines Flugblattes , welches nach dem Friedensgebet am 05.12.1988 von einzelnen Gruppenvertretern<br />

(vor allem IG „Leben“) auf dem Nikolaikirchhof <strong>und</strong> später in Leipziger Briefkästen <strong>und</strong> öffentlichen<br />

Einrichtungen verteilt wurde (ABL H 1).<br />

10.Dezember - Internationaler Tag der Menschenrechte<br />

Am 10.12.1948 verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung<br />

der Menschenrechte. Nach 40 Jahren müssen diese Rechte immer noch in diesem Land eingeklagt werden.<br />

Vermutlich wird gerade am 10.12 das öffentliche Eintreten für die Menschenrechte durch massive<br />

Demonstration staatlicher Sicherheitskräfte im Planquadrat L 9 (Stadtplan Leipzig, 9.Auflage, 1987) 349<br />

verhindert 350.<br />

347 Die Ordnungsstrafe wurde nicht zurückgenommen. Alle in dem genannten Zusammenhang belegten<br />

Ordnungsstrafen wurden nicht gezahlt, weshalb das MfS im Jahre 1989 Pfändungen vorbereitete. Dazu kam es<br />

jedoch unseres Wissens nicht mehr.<br />

348 Das Flugblatt hat A4 Format <strong>und</strong> wurde per Ormig-Matrize, Essig <strong>und</strong> kleinen Wäschemangeln hergestellt.<br />

349 Entspricht dem damaligen Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz) zwischen Oper <strong>und</strong> Gewandhaus. Am<br />

10.12.1988 fand in der Oper eine Parteiaktivtagung der SED-Stadtleitung statt.<br />

350 Nachdem im November der Platz vor der Nikolaikirche als politische Bühne „erobert“ war, reifte bei<br />

verschiedenen Oppositionellen die Idee, eine Demonstration im Zentrum der Stadt zu organisieren. Als Termin<br />

war der „Tag der Menschenrechte“ anvisiert. Nach einer Kosten-/Nutzen-Abwägung wurde jedoch entschieden,<br />

darauf zu verzichten, <strong>und</strong> die Gründung einer „Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR“<br />

ohne öffentliche Aktion geschehen zu lassen. So wurde nur dieses Flugblatt verbreitet. Am 10.12.1988 wurde<br />

jedoch der Karl-Marx-Platz mehrfach inspiziert, um die Resonanz des Flugblattes zu erk<strong>und</strong>en. Dabei wurden<br />

194


Art.1: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit<br />

Alle Menschen sind frei <strong>und</strong> gleich an Würde <strong>und</strong> Rechten geboren.<br />

Sie sind mit Vernunft <strong>und</strong> Gewissen begabt <strong>und</strong> sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit<br />

begegnen.<br />

Art.2: Verbot der Diskriminierung<br />

Art.3: Recht auf Leben, Freiheit <strong>und</strong> Sicherheit der Person. [...]<br />

Art.12: Freiheitssphäre des einzelnen<br />

Niemand darf willkürlich in seinem Privatleben, seiner Familie, seinem Heim oder seinem<br />

Briefwechsel behindert werden, noch Angriffen auf seine Ehre <strong>und</strong> seinen Beruf ausgesetzt werden.<br />

Jeder Mensch hat Anspruch auf rechtlichen Schutz vor derartige Eingriffe oder Anschläge.<br />

Art.13: Freizügigkeit <strong>und</strong> Auswanderungsfreiheit<br />

1. Jeder Mensch hat das Recht auf Freizügigkeit <strong>und</strong> freie Wahl seines Wohnsitzes innerhalb eines<br />

Staates.<br />

2. Jeder Mensch hat das Recht jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein<br />

Land zurückzukehren. [...]<br />

Art.19: Meinungs- <strong>und</strong> Informationsfreiheit ohne Rücksicht auf Grenzen.<br />

Art.20: Versammlung- <strong>und</strong> Vereinsfreiheit<br />

2. Niemand darf gezwungen werden, einer Vereinigung anzugehören. [...]<br />

Art.29: Gr<strong>und</strong>pflichten<br />

1. Jeder Mensch hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie <strong>und</strong> volle<br />

Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist.<br />

120 Kirchenvorstandsprotokoll<br />

Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 45. Sitzung des Kirchenvorstandes der Nikolaikirchgemeinde<br />

vom 05.12.1988, in der über die neue Ordnung zum Friedensgebet beraten wurde (ABL H 54).<br />

Tagesordnung: 1. Rückblick auf Ereignisse der Friedensdekade [/] 2. Bericht der KV-Gruppe betr.<br />

Gespräch 22.11.88 [/] 3. Antrag des Bezirkssynodalausschusses [/] 4. Partnertreffen [/] 5. Information<br />

Gemeindeaufbau über Weihnachtsvorhaben [/] 6. Etwaige weitere Gegenstände<br />

Herr Hofmann hält die Andacht, der Vorsitzende eröffnet die Sitzung, <strong>und</strong> das Protokoll der letzten<br />

Sitzung wird verlesen.<br />

Zu 1. Auf Anfragen der Mitglieder des Kirchenvorstandes werden Auskünfte über die Ereignisse zur<br />

Friedensdekade gegeben.<br />

Zu 2 <strong>und</strong> 3) Das Protokoll der Sitzung der Vertreter des KV mit den Basisgruppenvertretern am 21.<br />

November 1988 liegt den einzelnen Mitgliedern vor351 . Zur damaligen Protokollierung der<br />

Gesprächsergebnisse wird der heute vorgelegte Antrag des Bezirkssynodalausschusses in Beziehung<br />

gebracht. Der Antrag des Bezirkssynodalausschusses vom 26.11.1988 wird unter folgenden Änderungen<br />

angenommen:<br />

1. Unter 4) wird „ordiniert“ vor „Pfarrer“ eingefügt.<br />

2. Unter 6) wird vom Konsens-Protokoll vom 21.11.1988 eingefügt: Bei Bedenken von KV-Mitglied <strong>und</strong><br />

Begrüßungspfarrer können diese nicht überstimmt <strong>und</strong> die entsprechende Information kann am<br />

jeweiligen Montag nicht gegeben werden.<br />

Einschub 352><br />

3. Als Präambel werden folgende Punkte benannt 353 : Personen oder Gruppen bzw. die von ihnen<br />

geäußerten Inhalte dürfen dem Evangelium vom Kreuz Christi als Wort von der Versöhnung nicht<br />

widersprechen <strong>und</strong> müssen auf dem Boden der Gebote Gottes insoweit stehen, als sie „Leben erhalten“<br />

u.a. auch „Demonstrationswillige“ gef<strong>und</strong>en, die auf „Organisatoren“ warteten.<br />

351 s. Dok. 116<br />

352 s. Einschub (2) S. 196<br />

353 s. Anm. 356<br />

195


wollen.<br />

− Zu diesen Erwartungen gehört ein Mindestmaß an Konstruktivität. Wirklichkeitsbeschreibung, die<br />

lediglich in Ausweglosigkeit endet, widerspräche der geforderten Mindestübereinstimmung mit<br />

dem Auftrag der Kirche.<br />

− [folgender Punkt wurde im Protokoll am Rand hinzufügt] Auch die Formen des Auftretens müssen<br />

mit dem Inhalt in Einklang zu bringen sein. Das betrifft z.B. Herabwürdigung anderer oder Formen<br />

der Auseinandersetzung.<br />

− Die Spielregeln des Zusammenlebens in der Kirche müssen akzeptiert werden. Das heißt z.B., es<br />

muß Toleranzbereitschaft gegenüber anderen Aktivitäten <strong>und</strong> Positionen in der Kirche erwartet<br />

werden.<br />

− Die Verteilung von Vervielfältigungen <strong>und</strong> Druckerzeugnissen in der Nikolaikirche ist untersagt.<br />

Ausnahmen liegen in der Verantwortung der unter 6.) genannten Personen.<br />

Das Schreiben wird von Pf. Führer 60fach ausgefertigt <strong>und</strong> den Mitgliedern des<br />

Bezirkssynodalausschusses, den Gruppenvertretern, den Mitgliedern des KV <strong>und</strong> dem LKA zugestellt.<br />

Die Gruppenvertreter werden aufgefordert, bis 6. Januar 1989 schriftliche Rückäußerung oder kurze<br />

Einverständniserklärung an den KV mitzuteilen, damit die Friedensgebete nach dem vereinbarten Konsens<br />

fortgeführt werden können.<br />

Einschub (2) - zusätzlich wird eingefügt:<br />

Die Kirchgemeinde St. Nikolai-St. Johannis gestaltet in der Regel einmal monatlich das Friedensgebet.<br />

[...]<br />

121 Innerkirchliche Mitteilung<br />

Brief von Pfarrer Führer vom 08.12.1988 für den Kirchenvorstand St. Nikolai (Briefkopf) an den<br />

Bezirkssynodalausschuß, in dem die „Gr<strong>und</strong>sätze“ für die Gestaltung der Friedensgebet benannt wurden<br />

(ABL H 35).<br />

Betr.: Friedensgebet montags 17.00 Uhr in St. Nikolai<br />

Die Friedensgebete sollen von den im „Bezirkssynodalausschuß für Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ der<br />

Bezirkssynode Leipzig Ost vertretenen Gruppen gestaltet werden.<br />

Basierend auf dem Gesprächsergebnis vom 21. November 1988354 (Gespräch des Kirchenvorstandes mit<br />

Vertretern des Bezirkssynodalausschusses <strong>und</strong> Gruppenvertretern) <strong>und</strong> dem Antrag des<br />

Bezirkssynodalausschusses vom 26. November 1988355 hält der Kirchenvorstand St. Nikolai - St.<br />

Johannis das Folgende für konsensfähig <strong>und</strong> für eine tragfähige Gr<strong>und</strong>lage zur weiteren Gestaltung der<br />

Friedensgebete an St. Nikolai:<br />

A) Gr<strong>und</strong>sätze<br />

1. Personen oder Gruppen bzw. die von ihnen geäußerten Inhalte dürfen dem Evangelium vom Kreuz<br />

Christi als Wort von der Versöhnung nicht widersprechen <strong>und</strong> müssen auf dem Boden der Gebote<br />

Gottes insoweit stehen, als sie „Leben erhalten“ wollen 356.<br />

2. Zu diesen Erwartungen gehört ein Mindestmaß an Konstruktivität. Wirklichkeitsbeschreibungen, die<br />

lediglich in Ausweglosigkeit enden, widersprächen der geforderten Mindestübereinstimmung mit dem<br />

354 s. Dok. 116<br />

355 s. Dok. 117<br />

356 wörtliche Übernahme aus dem Teil II. des Kirchenleitungsberichts auf der Sächsischen Synode Oktober 1987.<br />

Dort hieß es: „In letzter Zeit suchen aber einzelne Personen <strong>und</strong> auch Gruppen das 'Dach der Kirche', ohne selber<br />

im Vollsinne dazuzugehören oder sich mit der Kirche <strong>und</strong> ihrem primären Auftrag zu identifizieren. Es ist<br />

deshalb verständlich, daß kirchenleitende Gremien von Kirchenvorständen <strong>und</strong> auch von Gemeindegliedern nach<br />

Kriterien gefragt werden, wen <strong>und</strong> welche Gruppen die Kirche bei sich aufnehmen kann oder muß. Die<br />

Kirchenleitung hat folgende Gesichtspunkte zusammengestellt. Diese sind als Einheit zu betrachten.“ Daraufhin<br />

folgen 6 Punkte, die fast vollständig durch den KV übernommen wurden.<br />

196


Auftrag der Kirche . 357<br />

3. Auch die Formen des Auftretens müssen mit den Inhalten in Einklang zu bringen sein. Das betrifft z.B.<br />

Herabwürdigung anderer oder Formen der Auseinandersetzung 358.<br />

4. Die Spielregeln des Zusammenlebens in der Kirche müssen akzeptiert werden. Das heißt z.B., es muß<br />

Toleranzbereitschaft gegenüber anderen Aktivitäten <strong>und</strong> Positionen in der Kirche erwartet werden 359.<br />

5. Die Verteilung von Vervielfältigungen <strong>und</strong> Druckerzeugnisse in der Nikolaikirche ist untersagt.<br />

Ausnahmen liegen in der Verantwortung der unter „zu 6.“ genannten Personen 360.<br />

B) Ablauf, Ordnung<br />

1. Begrüßung durch einen Pfarrer an St. Nikolai<br />

2. Lied<br />

3. Schriftlesung<br />

4. Auslegung durch einen ordinierten Pfarrer <strong>und</strong> der jeweiligen Gruppe unter Verantwortung des Pfarrers<br />

5. Gebet<br />

6. Informationen, Abkündigungen<br />

7. Sendungswort<br />

8. Lied<br />

zu 6.: Die Verantwortung für den Informationsteil soll getragen werden von:<br />

− Begrüßungspfarrer<br />

− 1 Mitglied des Kirchenvorstandes St. Nikolai-St. Johannis<br />

− 1 Mitglied der jeweiligen Gruppe<br />

− Pfarrer Dr. Berger bzw. einem Vertreter<br />

Bei Bedenken von KV-Mitglied <strong>und</strong> Begrüßungspfarrer können diese nicht überstimmt <strong>und</strong> die<br />

entsprechende Information kann am betreffenden Montag nicht gegeben werden.<br />

Der Planungszeitraum soll 2 Monate betragen, wobei der Plan 1 Monat vor dem Zeitraum dem<br />

Kirchenvorstand vorzuliegen hat.<br />

Die Aufstellung des Planes geschieht in der Verantwortung des Bezirkssynodalausschusses.<br />

Die Kirchengemeinde St. Nikolai - St. Johannis gestaltet in der Regel einmal monatlich das Friedensgebet.<br />

C) Verfahren<br />

Die Mitglieder des Bezirkssynodalausschusses <strong>und</strong> die Gruppenvertreter erhalten dieses Schreiben <strong>und</strong><br />

werden damit aufgefordert, bis zum 6. Januar 1989 schriftliche Rückäußerungen oder eine kurze<br />

Einverständniserklärung dem Kirchenvorstand zukommen zu lassen 361 , damit die Friedensgebete<br />

möglichst bald nach dem vereinbarten Konsens fortgeführt werden können.<br />

122 Stasi-Information<br />

Auszug aus der Quartalseinschätzung IV/88 des Leiters der Abteilung XX/4 (Gro/Lb) der BV für<br />

Staatssicherheit Leipzig vom 14.12.1988 zu Aktivitäten von R. Müller (OV „Märtyrer“). Diese<br />

Quartalseinschätzung ist Teil der „Ausgewählten Quartalseinschätzungen über den OV Märtyrer der BV<br />

Leipzig“, die von IFM e.V./Forschungszentrum zu den Verbrechen des Stalinismus herausgegeben wurden.<br />

[...] Im Berichtszeitraum kam es zu einer weiteren Verstärkung der konfrontativen „Aktionen“ des<br />

Verdächtigen, wobei er als Inspirator <strong>und</strong> Organisator von feindlich-negativen <strong>und</strong> demonstrativen<br />

357 entspricht Pkt. 3 der Kriterien der Kirchenleitung<br />

358 entspricht Pkt. 4 der Kriterien der Kirchenleitung<br />

359 entspricht Pkt. 5 der Kriterien der Kirchenleitung<br />

360 Im Kirchenleitungsbericht stand als letzter Punkt: „Unter Beachtung dieser Kriterien muß dann allerdings in der<br />

Kirche auch Raum sein für unbequeme oder anstößige Wahrheiten, die sich sonst nicht oder nicht genügend<br />

artikulieren können, ganz besonders dann, wenn Personen oder Gruppen dafür in Schutz zu nehmen sind.“<br />

361 Die Gruppen trafen sich wohl am 03.01.1989 <strong>und</strong> verständigten sich entsprechend des Briefes von Pf.<br />

Wonneberger, der KV erhielt jedoch keine Mitteilung, so daß dieser am 09.01.1989 beschloß das Thema zu<br />

vertagen.<br />

197


Handlungen zielstrebig öffentlichkeitswirksam auftrat, um insbesondere andere Personen zu feindlichnegativen<br />

Handlungen gegenüber der sozialistischen Gesellschaft zu inspirieren. [/] Erneut konnte<br />

nachgewiesen werden, daß er die feindlichen Plattformen des politischen Untergr<strong>und</strong>es mitträgt <strong>und</strong><br />

versucht umzusetzen <strong>und</strong> dabei eng, koordiniert <strong>und</strong> abgestimmt mit überregional wirkenden PUT-<br />

Exponenten innerhalb der DDR zusammenarbeitet. [/] Darüber hinaus wurden operativ bedeutsame<br />

Verbindungen in das NSW sowie Kontakte zur sogenannten „Charta 77“ in der CSSR herausgearbeitet. [/]<br />

Die o.g. Einschätzung kann durch nachfolgende wesentliche operativ bedeutsame <strong>und</strong> relevante<br />

Handlungen des Verdächtigen belegt werden:<br />

− Während des „Friedensgebetes“ am 26.09.1988 verteilte M. mit weiteren Personen M<strong>und</strong>tücher mit der<br />

Aufschrift „REDEVERBOT“ <strong>und</strong> trug in der Nikolaikirche selbst solch ein Tuch. Hiermit soll gegen<br />

den Beschluß des Kirchenvorstandes von St. Nikolai zur Durchführung der „Friedensgebete“<br />

protestiert werden.<br />

− Am 29.09.1988 fand im ThSL eine sogenannte „Anhörung“ der Unterzeichner <strong>und</strong> Verteiler des<br />

„Offenen Briefes“ (vom 03.09. 1988 362 ) statt. Dabei wurde dem M. durch den Rektor des ThSL ein<br />

Verweis ausgesprochen <strong>und</strong> mit seiner Entlassung gedroht.<br />

− Nach dem „Friedensgebet“ am 03.10.1988 rief der M. vor der Kirche auf, am 04.10.1988 nach<br />

Zwickau zu fahren, da die Eröffnung einer „Umweltbibliothek“ durch staatliche Stellen dort<br />

unterb<strong>und</strong>en werden soll. Die operative Kontrolle am 04.10.1988 in Zwickau ergab, daß der M. selbst<br />

nicht dorthin gereist ist. Außerdem trug er während der Veranstaltung am 03.10.1988 erneut das<br />

M<strong>und</strong>tuch „REDEVERBOT“ in der Nikolaikirche.<br />

− Vom 06. 08.10.1988 fand in Leipzig die „V. Vollversammlung des AKSK“ statt, an welcher M. als<br />

Teilnehmer teilnahm.<br />

− Während des „Friedensgebetes“ am 10.10.1988 in der Nikolaikirche Leipzig trug M. mit mehreren<br />

Personen wiederum das M<strong>und</strong>tuch „REDEVERBOT“. Im Anschluß an die Veranstaltung trat M.<br />

erneut auf dem Kirchenvorplatz als Wortführer in Erscheinung. Er verlas unter dem Beifall der<br />

Anwesenden eine Protesterklärung der Berliner Initiativgruppe „Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte“ zur<br />

Rumänienproblematik. Darin wurde aufgefordert, soziale Hilfe zu leisten <strong>und</strong> nicht dem Ceausescu<br />

Orden zu schenken. Des weiteren forderte er zum Besuch der „Umweltbibliothek“ in Zwickau <strong>und</strong><br />

Berlin auf <strong>und</strong> teilte Veranstaltungstermine mit. Letztendlich informierte er darüber, daß seine Berliner<br />

<strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> am 10.10.1988 um 16.00 Uhr eine „Protestdemonstration“ zum Presseamt beim Ministerrat<br />

begonnen haben, um damit gegen die staatliche Zensur kirchlicher Presseerzeugnisse aufzutreten.<br />

− Am 11.10.1988 wurde M. als Teilnehmer des ÜSE-Treffens im sogenannten „Kadenkreis“<br />

identifiziert.<br />

− Nach dem „Friedensgebet“ am 17.10.1988 erfolgte eine Unterschriftensammlung durch M. <strong>und</strong> weitere<br />

Personen unter einen Brief, gerichtet an den Staatssekretär für Kirchenfragen Gen. Löffler, in welchem<br />

die Aufhebung der Zensur kirchlicher Presseerzeugnisse gefordert wird 363 . Auf dem Kirchenvorplatz<br />

wurde durch Holicki, Axel <strong>und</strong> Müller dieser Brief verlesen <strong>und</strong> aufgefordert, persönliche Eingaben zu<br />

schreiben. Darüber hinaus informierte Müller über den Verlauf des rechtswidrigen<br />

„Schweigemarsches“ feindlich-negativer Kräfte in Berlin <strong>und</strong> über die erfolgten Zuführungen.<br />

Gleichzeitig kündigte er an, daß für den 24.10.1988 in Berlin ein erneuter Marsch geplant sei.<br />

− Am 24.10.1988 trat M. während des „Friedensgebetes“ in der Nikolaikirche <strong>und</strong> im Anschluß auf dem<br />

Vorplatz mit weiteren Personen als Träger von Plakaten in Erscheinung. Das selbstgefertigte Plakat<br />

von Müller hatte folgenden Text: „Wir mahnen, an die zu denken, die gehen mußten“. Von den<br />

Plakatträgern wurde ein Brief verlesen, in welchem sie gegen die staatlichen Maßnahmen gegenüber<br />

ÜSE, gegen die Ablehnung der Bildung eines „Kommunikationszentrums“ (KOZ) in Leipzig <strong>und</strong> für<br />

die Unterstützung der ÜSE durch die Kirche protestierten 364 . Am 26.10.1988 wurden die Plakatträger<br />

in der Abt. IX [Untersuchungsabteilung] der BV Leipzig gemäß Paragr. 95 StPO<br />

362 gemeint ist der Offene Brief an Bischof Hempel vom 05.09.1988 (s. Dok.67)<br />

363 Auch im Herbst 1988 wurden verschiedene Artikel der Kirchenzeitungen zensiert (s. a. Anm. 198). Die<br />

„Streiflichter“ veröffentlichten in ihrer Oktober-Ausgabe einige dieser verbotenen Artikel.<br />

364 vgl. Dok. 97<br />

198


[Strafprozeßordnung] 365 befragt. Im Ergebnis der Befragung wurde gegen Müller auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

der OWVO [Verordnung vom 22. März 1984 zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten] gemäß<br />

Paragr. 4 Absatz 1 [„Vorsätzliche Störung des sozialistischen Zusammenlebens der Bürger“] ein<br />

Ordnungsstrafverfahren eingeleitet <strong>und</strong> mit einer Ordnungsstrafe in Höhe von 500,00 DM am<br />

18.11.1988 gegen Müller abgeschlossen. Von den o.g. Befragungen der Plakatträger informierte der M.<br />

am 27.10.1988 den Sup. Magirius, den Jugendpfarrer Klaus Kaden <strong>und</strong> die Poppe, Ulrike (OV<br />

„Zirkel“, HA XX/9) in Berlin. Am 27.10.1988 fand bei Rudolph, Thomas eine Zusammenkunft von ca.<br />

20 Personen statt, in welcher ein Protestschreiben gegen die o.g. staatlichen Maßnahmen verfaßt<br />

wurde. An dieser Beratung nahm M. ebenfalls teil. [...]<br />

− Am 31.10.1988 nahm M. an der Veranstaltung in der Lukaskirche Leipzig zum Thema „Sozialer<br />

Friedensdienst“ teil. Nach der Veranstaltung begab er sich gegen 23.00 Uhr mit weiteren Personen des<br />

AK „Gerechtigkeit“ in den Leipziger Hauptbahnhof zur Verabschiedung eines ÜSE. Dabei äußerte<br />

Müller erneut, daß ständig neue „Aktionen“ folgen müssen <strong>und</strong> immer wieder Demonstrationen<br />

durchgeführt werden sollten.<br />

− Während der „Friedensdekade 1988“ nahm der Verdächtige an den „Friedensgebeten“ am<br />

06./07./08./09. <strong>und</strong> 10.-11.1988 in der Nikolaikirche Leipzig teil. Dabei wurde am 06.11.1988 die<br />

gemeinsame Erklärung der Initiativgruppe „Leben“ <strong>und</strong> des AK „Gerechtigkeit“ vom 26.10.1988<br />

verlesen, in welcher gegen die Zuführungen der Mitglieder der Basisgruppen protestiert wird <strong>und</strong> dies<br />

als ein Versuch der Kriminalisierung <strong>und</strong> Einschüchterung durch den Staat bewertet wird. An der<br />

Erarbeitung dieser Erklärung war auch der Müller beteiligt. Ebenso an Unterschriftensammlungen<br />

unter diese Erklärung. Zum „Friedensgebet“ am 09.11.1988 wurde durch Müller <strong>und</strong> weitere<br />

Mitglieder des AK „Gerechtigkeit“ während <strong>und</strong> nach der Veranstaltung zum 50. Jahrestag der<br />

Pogromnacht selbstgedruckte A-4-Hetzzettel mit dem Titel „Initiative zur gesellschaftlichen<br />

Erneuerung der DDR“ verteilt. Im Anschluß fand unter Mißbrauch des Gedenktages eine organisierte<br />

Personenbewegung von der Nikolaikirche zum Gedenkstein in der Gottschedstraße statt. Dabei wurden<br />

weitere Hetzzettel verteilt <strong>und</strong> Kerzen am Gedenkstein abgestellt. (Zur Klärung dieser<br />

öffentlichkeitswirksamen feindlich-negativen Handlung wurde eine zeitweilige Arbeitsgruppe in der<br />

Abt. XX [des MfS] gebildet, mit dem Ziel, der Erarbeitung von Beweisen gemäß Paragr. 106 StGB<br />

[Strafgesetzbuch; Staatsfeindliche Hetze] zu dem Verdächtigen Müller <strong>und</strong> weiteren Personen 366 ).<br />

Zum „Friedensgebet“ am 10.11.1988 versuchten erneut die Mitglieder des AK „Gerechtigkeit“ unter<br />

erneuter Mitwirkung des M. einen „Schweigemarsch“ durch die Leipziger Innenstadt zu organisieren.<br />

Dazu wurden in der Kirche Kerzen verteilt, <strong>und</strong> über 100 Personen begaben sich mit den brennenden<br />

Kerzen auf den Kirchenvorplatz, wo gemeinsam Lieder gesungen wurden. Durch den offensiven<br />

Einsatz der eingesetzten operativen Kräfte konnte der geplante Marsch verhindert werden.<br />

Im Anschluß an die o.g. Veranstaltung fuhr Müller gemeinsam mit dem Schwabe, Uwe (erfaßt KD<br />

Leipzig-Stadt) am 10.11.1988 nach Altenburg, wo beide im Rahmen der „Friedensdekade“ einen<br />

Vortrag zum „Sozialen Friedensdienst“ <strong>und</strong> zur Lage in der VR Rumänien hielten.<br />

− Von Altenburg aus fuhr der Verdächtige in die CSSR mit dem Zug nach Prag, um am Treffen der<br />

Untergr<strong>und</strong>kräfte der sogenannten „Charta 77“ in der Zeit vom 11.11. 13.11.1988 teilzunehmen.<br />

Bisher konnte zu dieser operativ bedeutsamen Verbindung in die CSSR folgendes erarbeitet werden:<br />

− Am 07.10.1988 fand in Leipzig um 19.00 Uhr am Bach-Denkmal (Thomaskirche) eine organisierte<br />

Zusammenkunft von ÜSE statt. Dort wurde der Müller, Rainer durch eingesetzte operative Mitarbeiter<br />

sowie durch unterzeichnenden Mitarbeiter persönlich als Teilnehmer festgestellt. Diese ÜSE-<br />

Zusammenkunft löste sich in der Zeit von 20.40 21.00 Uhr auf. Die Einladung zu dieser<br />

Zusammenkunft erfolgte mittels kleiner Handzettel, die während eines Friedensgebetes in der<br />

365 Dort heißt es u.a.: „(1) Der Staatsanwalt <strong>und</strong> die Untersuchungsorgane sind verpflichtet, jede Anzeige oder<br />

Mitteilung entgegenzunehmen <strong>und</strong> zu überprüfen, ob der Verdacht einer Straftat besteht. [...] (2) Zu diesem<br />

Zweck sind die notwendigen Prüfungsverhandlungen vorzunehmen. Der Verdächtige kann befragt <strong>und</strong>, wenn es<br />

zu diesem Zwecke unumgänglich ist, zugeführt werden.“<br />

366 Die Arbeitsgruppe leitete der Stasi-Offizier Wittig. Das Ziel dieser Arbeitsgruppe war die Inhaftierung von R.<br />

Müller, Th. Rudolph <strong>und</strong> G. Oltmanns (BStU Leipzig AB 1031).<br />

199


Nikolaikirche Leipzigs verteilt wurden 367 . Hierin erfolgte die Aufforderung zu einem Treffen anläßlich<br />

„des 1. Geburtstages von Willi“. Aus einer Information der Abt. 26/A („Idealist“ Anschluß des<br />

Holicki, Axel [d.h. durch Abhören des Telefons von A. Holicki]) vom 07.10.1988 um 20.45 Uhr wurde<br />

bekannt:<br />

Rainer Müller spricht mit einer weiblichen Person in Prag (Tel.-Nr. 371154) in englischer Sprache. Die<br />

sinngemäße Übersetzung hat folgenden Wortlaut: [...]<br />

− Seit dem 14.11.1988 gibt es durch den AK „Gerechtigkeit“, unter Mitwirkung des Müller, verstärkte<br />

Aktivitäten zur Verbreitung eines „DDR-weiten Aufrufes“ zur Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung eines<br />

„DDR-weiten Aktionstages“ für den 27.11.1988. Es wurde erreicht, daß 6 Leipziger Basisgruppen<br />

diesen Aufruf unterschrieben. Inhaltlich geht es in dem Aufruf um feindlich-negative Forderungen zur<br />

Veränderung der sozialistischen Bildungspolitik. Als Vorwand wird hierbei die Relegierung von 4<br />

Berliner EOS-Schülern genommen 368 . Dabei verfolgen sie das Ziel, eine breite<br />

Solidarisierungsbewegung auszulösen, um damit den sozialistischen Staat unter „Druck“ zu setzen <strong>und</strong><br />

letztendlich zu erpressen. In Vorbereitung auf diese „Aktion“ fanden am 19.11.1988 in Leipzig<br />

mehrere konspirative Treffen von feindlich-negativen Kräften statt. Streng intern wurde erarbeitet, daß<br />

an einer Zusammenkunft in der Wohnung des Rudolph, Thomas (erfaßt Abt. XX) <strong>und</strong> im Anschluß in<br />

der Wohnung des Müller die PUT-Exponenten Werner Fischer [...] Till Böttcher <strong>und</strong> Peter Grimm [...]<br />

teilnahmen. Nachdem am 20.11.1988 in der Berliner Erlöserkirche mitgeteilt wurde, daß die<br />

Relegierungen der EOS-Schüler durch die staatlichen Organe nicht zurückgenommen sind, erfolgte die<br />

Aufforderung zur Auslösung der „DDR-weiten Aktion“. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e wurde am Rande des<br />

„Friedensgebetes“ am 21.11. 1988 in der Nikolaikirche Leipzig der „Aufruf“ verteilt. Nach dem<br />

„Friedensgebet“ konstituierte sich ein „Vorbereitungskreis“ unter Leitung der Brigitte Moritz (erfaßt<br />

Abt. XX). Auch der Müller wurde in den „Vorbereitungskreis“ aufgenommen. Es wurde beschlossen,<br />

am 27.11.1988 einen „Aktionstag“ durchzuführen. Die Veranstaltung soll in der Zeit von 14.00 18.00<br />

Uhr in der ESG Leipzig stattfinden.<br />

Zur Disziplinierung des Verdächtigen wurden im Berichtszeitraum erneut mehrere innerkirchliche<br />

Aussprachen im Zusammenhang mit dem Auftreten des M., insbesondere nach den „Friedensgebeten“<br />

(u.a. Auftreten als Wortführer, Verteilen von Pamphleten, Tragen von M<strong>und</strong>tüchern), durch den Rat des<br />

Bezirkes Leipzig mit kirchlichen Amtsträgern <strong>und</strong> mit dem Rektor des ThSL geführt. In deren Ergebnis<br />

distanzieren sich die kirchlichen Amtsträger deutlich von den Aktivitäten des M. <strong>und</strong> nahmen weiterhin<br />

Einfluß auf M. Diese Maßnahmen zeigten jedoch nur geringe Wirkung, auf Gr<strong>und</strong> der unbelehrbaren <strong>und</strong><br />

verfestigten Haltung des Verdächtigen. Im Oktober 1988 wurde M. für ein Jahr vom Studium beurlaubt<br />

<strong>und</strong> geht seit dieser Zeit keiner Tätigkeit nach. [...]<br />

123 Innerkirchliche Mitteilung<br />

Brief von Ausreiseantragstellern an den Kirchenvorstand von St. Nikolai, an den Bezirkskirchenausschuß<br />

Leipzig/Ost, Sup. Magirius <strong>und</strong> an den Bezirkssynodalausschuß vom 13.12.1988, in dem sie sich darüber<br />

beschweren, daß es keine Reaktion auf ihr Schreiben vom 13.09.1988 von seiten des Kirchenvorstandes<br />

gab 369 . Vorlage ist eine Xerokopie (ABL H 1).<br />

Betr.: Unsere Eingabe v. 13.09.88 zur Problematik d. Friedensgebetes<br />

Mit o.g. Eingabe wandten wir uns vertrauensvoll an Sie in der Hoffnung, daß ein Gespräch über die<br />

Situation der Ausreiseantragsteller <strong>und</strong> darüber, wie man dieser Gruppe des Evangelium verkünden <strong>und</strong><br />

den in Not lebenden Menschen praktische Lebenshilfe geben kann, wesentlich zur Entspannung der<br />

Situation um das Friedensgebet beitragen würde. Leider ist es bei einem Gespräch mit Superintendenten<br />

Richter geblieben. Um so enttäuschter sind wir, daß Ihrerseits keine Gesprächsbereitschaft signalisiert<br />

wurde. Ein Gespräch mit Ausreiseantragstellern liegt offensichtlich nicht in Ihrem Interesse. Das ist um so<br />

367 Am 12.09. wurden in der Nikolaikirche entsprechende Zettel verteilt.<br />

368 s. Anhang S. 403 unter 30. 09. 1988<br />

369 s. Dok. 86<br />

200


schmerzlicher, da einige der Briefunterzeichner Ihnen persönlich bekannt sind <strong>und</strong> genügend<br />

Möglichkeiten zur Terminvereinbarung gegeben waren. Zwischenzeitlich konnte eine positive Einigung<br />

mit den Basisgruppen erreicht werden, <strong>und</strong> so bleibt uns nur zu hoffen, daß dabei auch unsere Belange<br />

berücksichtigt wurden. Da die Entscheidungen über die Art <strong>und</strong> Weise der Weiterführung des<br />

Friedensgebetes nun gefallen sind, können wir nur noch Ihre Ignoranz bedauern <strong>und</strong> den staatlich<br />

verursachten Resignationen nun noch die kirchlichen hinzufügen. Wir bedauern, daß im kirchlichen<br />

Bereich gleiche Strukturen <strong>und</strong> Interessenlagen wie im staatlichen vorzuliegen scheinen.<br />

Wir wünschen Ihnen die Zeit <strong>und</strong> das Interesse - das ja auch Interesse an uns sein sollte -, über Ihren<br />

Arbeitsstil sowie über die vertane Chance zur Zusammenarbeit nachzudenken.<br />

[gez.] Christfried Heinze, Sabine Heinze, Dorothea Wirth, Klaus Wirth, Thomas Hanisch, Uta<br />

Hanisch, Petra Lehns, Matthias Lehns, Steffi Mücke, Gloria Veith, Matthias Veith<br />

124 Beschwerderückweisung<br />

Schreiben des Chefs der Bezirksbehörde der DVP Leipzig (i.V. Oberst der VP Sinagowitz) vom 19.12.1988<br />

an F. Sellentin, mit dem die Beschwerde vom 30.11.1988 zurückgewiesen wurde (ABL H 1) 370 .<br />

Werter Herr Sellentin<br />

Die von Ihnen am 30.11.88 eingelegte Beschwerde 371 gegen die Ordnungsstrafverfügung des Leiters des<br />

VPKA Leipzig vom 18.11.88 wurde durch die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Leipzig einer<br />

gründlichen Überprüfung unterzogen. Sachliche bzw. rechtliche Mängel wurden weder bei der<br />

Bearbeitung des Ordnungsstrafverfahrens noch im Zusammenhang mit der Entscheidung festgestellt.<br />

Deshalb wird folgendes verfügt:<br />

1. Die ausgesprochene Ordnungsstrafe wird aufrechterhalten.<br />

2. Innerhalb von 14 Tagen nach Zustellung dieser Entscheidung ist der Gesamtbetrag in Höhe von 400,75<br />

Mark auf das in der Ordnungsstrafverfügung angegebene Konto zu überweisen.<br />

Gemäß § 34 (2) 372 des Gesetzes zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten [OWG] ist diese<br />

Entscheidung endgültig.<br />

Begründung:<br />

Sie haben am 24.10.1988 an einer Zusammenkunft mitgewirkt, die geeignet war, gesellschaftliche<br />

Interessen zu mißachten bzw. die öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit zu beeinträchtigen. Zu dieser<br />

Handlungsweise haben Sie sich bewußt entschlossen, obwohl Sie die Möglichkeit zum pflichtgemäßen<br />

Verhalten hatten. Damit handelten Sie vorsätzlich im Sinne des § 9 (2) des OWG. Es ist dabei<br />

unerheblich, ob Sie Ihren Entschluß planmäßig oder spontan verwirklichten. Bei der Festlegung der<br />

Ordnungsstrafmaßnahme war zu berücksichtigen, daß Sie Ihnen obliegende Rechtspflichten gemäß § 3 (1)<br />

in Verbindung mit § 9 (2) der Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen mißachtet haben.<br />

Die differenzierte Anwendung von Ordnungsstrafmaßnahmen unter Berücksichtigung der § 13 <strong>und</strong> 14<br />

OWG steht nicht im Widerspruch zum verfassungsmäßigen Gleichheitsgr<strong>und</strong>satz, sondern ist vielmehr<br />

Ausdruck seiner umfassenden Verwirklichung.<br />

125 Innerkirchliche Information<br />

R<strong>und</strong>brief Pf. Wonnebergers an die im Bezirkssynodalausschuß vertretenen Gruppen vom 29.12.1988 zu den<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen des KV St. Nikolai zur weiteren Gestaltung der Friedensgebete. Der Brief wurde per Ormig-<br />

Verfahren vervielfältigt (ABL H 1).<br />

370 s. a. Dok. 98 <strong>und</strong> Dok.118. Da F. Sellentin - wie alle andern Betroffenen - die Strafe nicht zahlte, wurde am<br />

02.01.1989 in einem Schreiben die Pfändung angedroht. Dazu kam es jedoch nicht mehr. Am 28.05.1990 wurde<br />

F. Sellentin mitgeteilt, daß das Verfahren eingestellt wurde (ABL H 1).<br />

371 s. Dok. 118<br />

372 Dort heißt es, daß das übergeordnete Organ endgültig entscheidet.<br />

201


Wenn Ihr am 3. Jan. im Jugendpfarramt zusammenkommt, kann ich leider nicht dabei sein, weil ich<br />

Verpflichtungen hier in der Lukasgemeinde habe. Meinen Beitrag zur Meinungsbildung betr. Antwort an<br />

den Kirchenvorstand St. Nikolai in Sachen Friedensgebet deshalb per R<strong>und</strong>brief.<br />

1. zu A) Gr<strong>und</strong>sätze<br />

1.1 Die vom Kirchenvorstand St. Nikolai formulierten „Gr<strong>und</strong>sätze“ 1-4 373 sind dem<br />

Kirchenleitungsbericht vor der sächsischen Landessynode im Herbst 1987 entnommen 374 . Dort geht es<br />

um „einzelne Personen <strong>und</strong> auch Gruppen“, die „in letzter Zeit“ das „Dach der Kirche“ suchen, ohne<br />

selber im Vollsinne dazuzugehören oder sich mit der Kirche <strong>und</strong> ihrem primären Auftrag zu<br />

identifizieren. Der damalige Anlaß waren vor allem die Auftritte von St. Krawczyk <strong>und</strong> F. Klier in<br />

Kirchen. Um das Anliegen voll verstehen zu können, muß zwischen A)1 <strong>und</strong> A)2 der entsprechende<br />

Absatz des Kirchenleitungsberichtes ergänzt werden: „Diese Personen oder Gruppen müssen bereit<br />

sein, sich in den kirchlichen Kontext zu stellen. Das heißt: Sie müssen sich kritisch anfragen lassen.<br />

Das bedeutet keine Vorzensur von Texten, wohl aber sind die Erwartungen der Kirche rechtzeitig so<br />

deutlich zum Ausdruck zu bringen, daß eine kritische Auseinandersetzung, wenn nötig auch noch in<br />

der Veranstaltung selbst, nicht als Verstoß gegen die Gastfreiheit mißdeutet werden kann.“ Erst so wird<br />

auch der Anschluß von A)2 logisch.<br />

1.2 Bei A)2 sollte besser - wie im Original des Kirchenleitungsberichts - der Singular beibehalten werden:<br />

„Wirklichkeitsbeschreibung, die ... endet, widerspräche..“ Es geht ja um eine generelle Aussage <strong>und</strong><br />

nicht um den Einzelfall. Im Einzelfall kann ein solches Vorgehen sogar methodisch geboten sein.<br />

1.3 A)5 sollte nicht generell formuliert, sondern mit einer Einschränkung versehen sein: „Die Verteilung<br />

von Vervielfältigungen <strong>und</strong> Druckerzeugnissen durch Personen, die nicht zur verantwortlichen Gruppe<br />

gehören ...“ Gerade zum geplanten Ablauf des Friedensgebete durch eine Gruppe kann es notwendig<br />

sein, daß Vervielfältigungen zur Verfügung stehen, die nicht unter B)6. einzuordnen sind.<br />

1.4 Im ganzen halte ich es für eine Zumutung, Kriterien, die für die Aufnahme <strong>und</strong> das Auftreten von<br />

Kirchenfernen - Künstler <strong>und</strong> andere - formuliert sind, einfach zu übertragen auf die in einem<br />

Synodalausschuß vertretenen <strong>und</strong> im konziliaren Prozeß engagierten Arbeitsgruppen der Kirche.<br />

2. zu B) Ablauf/Ordnung<br />

Um einer gerechten Verteilung der Friedensgebete unter den inzwischen recht zahlreichen Gruppe<br />

willen, müßte der letzte Absatz geändert werden: „einmal vierteljährlich“<br />

3. zu C) Verfahren<br />

Wieso sich Synodale <strong>und</strong> Gruppenvertreter einzeln bis zum 06. Jan. äußern sollen an den KV Nikolai,<br />

ist nicht einsichtig. Der Antrag auf Übernahme der Friedensgebete durch die Gruppen ist am 26.11.88<br />

durch den Synodalausschuß an den Kirchenvorstand St. Nikolai gestellt worden. Die Antwort auf das<br />

Schreiben des Kirchenvorstandes sollte also entsprechend in der Sitzung des Synodalausschusses am<br />

13. Jan. 89 besprochen, formuliert <strong>und</strong> beschlossen <strong>und</strong> dann vom Ausschußvorsitzenden dem<br />

Kirchenvorstand St. Nikolai übermittelt werden.<br />

Ich hoffe, Ihr habt noch Zeit, vor dem oder am 03.01. die Sache zu bedenken <strong>und</strong> zu besprechen, gar einen<br />

Konsens zu finden. Früher ging es bei mir leider nicht. Weihnachten ist eben für einen Pfarrer kein<br />

Zuckerlecken.<br />

Auf weitere gute Zusammenarbeit, Euer [/] (gez.) Chr. Wonneberger<br />

126 Kirchenbucheintragung<br />

Eintragungen aus dem Gästebuch V der Nikolaikirche vom 03.01.1989 (Nikolaikirchgemeinde).<br />

Für ca. ein Jahr ist diese schöne Kirche für mich zu einem zweiten Zuhause geworden, der Montag<br />

oftmals zum Sonntag. Herzlichen Dank allen Mitarbeitern der Nikolai-Kirche verb<strong>und</strong>en mit allen guten<br />

Wünschen für die Zukunft.<br />

373 s. Dok. 121<br />

374 s. Dok. 121<br />

202


Besonderen Dank Herrn Pfr. Dr. Berger <strong>und</strong> den Leipziger Basisgruppen, die mit ihrer unkonventionellen<br />

Art der Verkündigung auch mir als einem Nichtchristen eine Spur dessen, was das Evangelium auch noch<br />

heute zu geben in der Lage ist, vermitteln konnten. Danke für viele Denkanstöße! [/] Evelyn Schneidereit<br />

127 Feststellung des Staatssekretariats<br />

Auszug aus Vorbereitenden Notizen „zur Gesprächsführung mit Bischof Hempel für den Staatssekretär für<br />

Kirchenfragen“ vom 05.01.1989. Als Ort wurde Berlin angegeben. Die 2 maschinengeschriebenen Blätter<br />

können also entweder vom ZK des SED, Arbeitsgruppe Kirchenfragen, oder aus dem Staatssekretariat für<br />

Kirchenfragen stammen (BArch O-4 1404).<br />

Im Zusammenhang mit der geplanten Gesprächsführung des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Gen.<br />

Löffler, mit Landesbischof Dr. Hempel am 9.1.89375 sind nachfolgende in der bisherigen<br />

Gesprächsführung mit Vertretern des LKA Dresden noch ungeklärte Fragen zu beachten:<br />

1. Entgegen der Forderung des LKA nach Bereitstellung des Leipziger Zentralstadions für den<br />

Abschlußgottesdienst wird staatlicherseits weiterhin auf die Nutzung des Geländes der Rennbahn<br />

orientiert, wobei technische Probleme gelöst werden. Sollte keine Bereitschaft des LKA für dieses<br />

Angebot erreicht werden, dann wird als „letzte Variante“ die Festwiese vor dem Zentralstadion (ohne<br />

Nutzung des Glockenturms) angeboten.<br />

2. Veranstaltungen auf öffentlichen Plätzen in der Stadt Leipzig wird staatlicherseits nicht zugestimmt.<br />

[... Nutzung „kultureller Einrichtungen“, ... nur „Sächsischer Kirchentag“... Teilnahme prominenter<br />

internationaler Gäste mit StfK abstimmen ...]<br />

Die angeführten staatlichen Standpunkte wurden am 19.12.88 mit dem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung<br />

Leipzig abgestimmt <strong>und</strong> von ihm gebilligt. Weiterhin wird im Gespräch der staatlichen Funktionäre mit<br />

den verantwortlichen kirchlichen Amtsträgern kontinuierlich auf die Belastungen hingewiesen, die sich<br />

aus der Fortführung politisch-negativer Aktivitäten kirchlicher Basisgruppen <strong>und</strong> des Mißbrauchs der<br />

Kirche für die Organisierung, Zusammenführung von ÜSE ergeben. Dies betrifft insbesondere<br />

− die Fortsetzung der montäglichen Friedensgebete in der Nikolaikirche, ab 1.2. wieder gestaltet durch<br />

Basisgruppen. - die in den „Streiflichtern“ (Innerkirchliche Monatspublikation der AG<br />

„Umweltschutz“ des Jugendpfarramtes Leipzig) vom 22.12.88 erfolgte Veröffentlichung über die<br />

Bildung der „Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR“, in der die beiden<br />

Leipziger Basisgruppen „Gerechtigkeit“ <strong>und</strong> „Menschenrechte“ (Pfr. Wonneberger) als „mittragende“<br />

Gruppen angeführt <strong>und</strong> zur Erweiterung des „Netzes“ mitbeteiligter Gruppen in der DDR aufgerufen<br />

wird (Abschrift siehe Anlage 376).<br />

Zu beachten sind weiterhin folgende, streng vertraulich bekannt gewordene Hinweise:<br />

− gegen den 1. Pfarrer der Nikolaikirche, Führer, sollen seitens der Landeskirchenleitung Dresden<br />

Disziplinarmaßnahmen erwogen werden (z.B. befinde er sich im „Wartestand“ 377)<br />

− zunehmend profiliere sich Pfarrer Wonneberger erneut als Organisator feindlich-negativer Aktivitäten.<br />

In seiner Gemeinde kam es gehäuft zu überregionalen Treffen von Vertretern politisch-negativer<br />

Gruppen sowie zur Verteilung dort eingelagerter feindlich-negativer Schriften. Wonneberger erklärte<br />

in internen Kreisen seine Bereitschaft, die Lukaskirche zur Durchführung der politisch-negativen<br />

„Friedensgebete“ zur Verfügung zu stellen, wenn dies in der Nikolaikirche nicht mehr möglich sei.<br />

− Neue Belastungen im Staat-Kirche-Verhältnis können sich aus der bereits begonnenen Vorbereitung<br />

375 Das Gespräch fand nicht am 9.1. sondern am 23.1.89 im LKA in Dresden statt. S. Dok. 132<br />

376 Der Aufruf, der in mehreren h<strong>und</strong>ert Exemplaren in der DDR verteilt wurde (ABL H 1), ist u.a. veröffentlicht<br />

worden in: Ost-/West-Diskussionsforum Nr. 5 (Januar 1989).<br />

377 Dies war eine Falschinformation. S. aber Einschätzung der BV des MfS, Abt. XX/4 vom 17.11.1988: „Führer sei<br />

mit seinen politischen Ansichten in den eigenen Reihen der Kirche gescheitert. Ausdruck dessen sei, daß er zu<br />

vielen Personen in Opposition stehe... Veränderungen in der kirchenamtlichen Funktion des Führer seien nach<br />

seiner Versetzung in den Wartestand abzusehen.“ (abgedruckt in: Sélitrenny/Weichert, 139, s.a. Auszüge aus OV<br />

„Igel“ in: Besier/Wolf, 658-668, dort 668)<br />

203


eines „2. Pleißemarsches“ am 04.06.89 sowie einer von Kräften des politischen Untergr<strong>und</strong>es<br />

geplanten überregionalen Veranstaltung „Freiheit mit Musik“ am 10.06.89 in Leipzig ergeben.<br />

− Vertreter politisch-negativer Basisgruppen halten an der Absicht fest, anläßlich des Kirchentages die<br />

negativ bekannten Aktivitäten („Markt der Möglichkeiten“ / „Kirchentag von unten“) zu realisieren.<br />

128 Stellungnahme<br />

Stellungnahme der beiden Superintendenten vom 16.01.1989 an alle Pfarrämter <strong>und</strong> kirchlichen<br />

Einrichtungen der Kirchenbezirke Leipzig-Ost <strong>und</strong> -West zur Demonstration am 15.01.1989. Das Schreiben<br />

wurde mit der Lizenznummer „Sup.L.W. 3382/1989“ vervielfältigt (ABL H 1).<br />

Im Blick auf die Ereignisse der vergangenen Tage in unserer Stadt 378 erklären wir:<br />

1. Der Respekt vor dem Blutzeugnis der Kommunisten Karl Liebknecht <strong>und</strong> Rosa Luxemburg sowie die<br />

Tatsache, daß beide bewußt als Vertreter der materialistischen Weltanschauung gelebt <strong>und</strong> gekämpft<br />

haben, verbietet uns die Inanspruchnahme ihrer Ideen für jede Form der kirchlichen Verkündigung.<br />

2. Das Zeugnis der Kirche ist <strong>und</strong> bleibt geb<strong>und</strong>en an die nicht austauschbare Botschaft vom Kreuz<br />

Christi, von der Liebe Gottes, seiner Solidarität <strong>und</strong> Versöhnung mit den Menschen <strong>und</strong> vom Ernst, der<br />

sich aus unserer Verantwortung unseres Lebens <strong>und</strong> Zeugnisses in Gottes Gericht ergibt. Wir vertrauen<br />

darauf, daß die daraus resultierende Botschaft der Kirche <strong>und</strong> das damit verb<strong>und</strong>ene konkrete Zeugnis<br />

eines jeden Christen weltweite <strong>und</strong> weltverändernde Wirkung hatte <strong>und</strong> immer haben wird. Insofern<br />

war, ist <strong>und</strong> bleibt sie ein unübersehbarer <strong>und</strong> unverwechselbarer Beitrag zu allen konkreten<br />

Bemühungen um Entspannung, Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Menschenwürde.<br />

3. Darum kann für uns politische Demonstration nicht die geeignete Form des Zeugnisses der Kirche sein.<br />

4. Wir stehen, wie immer schon, zu der Verpflichtung, uns für alle Menschen einzusetzen, die in innere<br />

äußere Not geraten oder in Gefangenschaft geraten sind. Diesen Einsatz machen wir nicht abhängig<br />

von der Beurteilung des Denkens dieser Menschen noch davon, wie diese Menschen uns beurteilen.<br />

Wir haben uns bisher nicht zu politischer Polarisierung verleiten lassen <strong>und</strong> werden dies auch um<br />

Christi willen jetzt nicht tun. Wir bekennen uns sowohl zum Einsatz für alle Menschen, die unserer<br />

Fürsorge <strong>und</strong> Fürsprache bedürfen als auch zum Dialog mit denen, die die Verantwortung in Staat <strong>und</strong><br />

Gesellschaft wahrnehmen. In beiden Fällen sehen wir unsere konkrete Verantwortung gegenüber Gott<br />

<strong>und</strong> den Menschen. Darin besteht der Beitrag zur Verwirklichung des Wohles der Menschen <strong>und</strong> die<br />

angemessene Antwort auf das uns entgegengebrachte Vertrauen, das ein wichtiges Gut ist.<br />

5. Wir geben den Gemeinden als Anlage379 eine Namensliste der uns bekannten polizeilichen zugeführten<br />

<strong>und</strong> noch in Haft befindlichen Männer <strong>und</strong> Frauen mit <strong>und</strong> bitten im Sinne unserer<br />

Positionsbeschreibung um verantwortliche Fürbitte in den Gottesdiensten <strong>und</strong><br />

Gemeindeveranstaltungen 380.<br />

gez. Friedrich Magirius gez. Johannes Richter<br />

Superintendent Superintendent<br />

378 Zu „Ereignisse der letzten Tage“ s. Chronik im Anhang. Der Bericht des MfS über die Flugblattaktion <strong>und</strong> der<br />

Demonstration für Meinungs- <strong>und</strong> Versammlungsfreiheit anläßlich des Todestages von R. Luxemburg <strong>und</strong> K.<br />

Liebknecht sind abgedruckt in: Mitter/Wolle, 11-13, dort auch das Flugblatt. Ein Foto der Demonstration am<br />

15.01. in: STASI intern, 259. S.a. Rüddenklau, 314-322, dort auch die Entgegnung Berliner Gruppen auf die<br />

Erklärung der Superintendenten.<br />

379 Namensliste ebenfalls im ABL. Die Namen „Carola Bornschlegel, Udo Hartmann, Michaela Ziegs, Constanze<br />

Wolf <strong>und</strong> Andre Botz [richtig: André Bootz]“ wurden durchgestrichen <strong>und</strong> mit Schreibmaschine Fred Kovac<br />

[richtig: Kowasch] hinzugesetzt. Es wurde also mit dieser Fürbittenliste gearbeitet.<br />

380 MfS-Generaloberst Mittig teilte am 16.01. den BV des MfS mit, daß außer in Leipzig, in Jena, Zwickau, Weimar,<br />

Halle, Naumburg <strong>und</strong> Berlin „Solidaritätsaktionen mit den inhaftierten Personen inszeniert“ würden<br />

(Pechmann/Vogel 34).<br />

204


129 Protokollnotiz aus dem ZK<br />

Auszug aus dem Vermerk zur Sitzung Jarowinskys mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen (K. Löffler)<br />

beim ZK der SED (mit Baron <strong>und</strong> Kraußer) zu den Leipziger Ereignissen am 18.01.1989 von Kraußer<br />

(SAPMO-BArch IV B 2/14/9).<br />

4. Was die ersten Fürbitten 381 im Zusammenhang mit den Leipziger Ereignissen betrifft, ist entsprechend<br />

der mit den Genossen von MfS vereinbarten Linie zu verfahren. Solche Dinge müssen auf jeden Fall<br />

unterb<strong>und</strong>en werden.<br />

Verantwortlich: Genosse Löffler<br />

Genosse Kraußer<br />

130 Basisgruppenerklärung<br />

Durchschlag der Erklärung der Anfang Januar inhaftierten Leipziger Bürgerrechtler, die zu Beginn des<br />

Friedensgebetes am 23.01.1989 von M. Arnold verlesen wurde 382 (ABL H 1).<br />

In der Zeit vom 12.-16.1.1989 wurden 12 Bürger in Leipzig verhaftet, weil sie sich an der Vorbereitung<br />

bzw. Durchführung einer Demonstration zum Gedenken an die Ermordung von Rosa Luxemburg <strong>und</strong> Karl<br />

Liebknecht beteiligten. Aufgr<strong>und</strong> einer breiten nationalen <strong>und</strong> internationalen Solidarität wurden Carola<br />

Bornschlegel, André Bootz, Udo Hartmann, Michaela Ziegs, Uwe Schwabe, Frank Sellentin, Rainer<br />

Müller, Constanze Wolf, Fred Kowasch, Gesine Oltmanns, Jochen Läßig <strong>und</strong> Michael Arnold bis zum 20.<br />

Januar aus der Haft entlassen. Wir danken Euch allen für die uns tief beeindruckende Unterstützung. Die<br />

Ermittlungsverfahren wegen „Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit“ werden<br />

jedoch durch die Staatsorgane fortgeführt. Mit der Verteilung von Flugblättern im gesamten Stadtgebiet<br />

riefen wir die Bevölkerung auf, sich am 15. Januar auf dem Markt vor dem Alten Rathaus zu<br />

versammeln 383 . Anliegen war es, die schon vor mehr als 70 Jahren von Rosa Luxemburg <strong>und</strong> Karl<br />

Liebknecht eingeforderten Rechte der Versammlungs- <strong>und</strong> Vereinigungsfreiheit, Meinungs- <strong>und</strong><br />

Pressefreiheit den Menschen unseres Landes nahezubringen. Dieser Aufruf gilt der gemeinsamen<br />

Forderung nach einem Demokratisierungsprozeß in unserer Gesellschaft. Als Voraussetzung dafür sehen<br />

wir die Überwindung politischer Teilnahmslosigkeit <strong>und</strong> Trägheit der Bürger zu bewußter<br />

Meinungsbildung <strong>und</strong> -äußerung basierend auf der gesetzlichen Garantie politischer Gr<strong>und</strong>rechte. Diesen<br />

Prozeß betrachten wir als eine Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft. Wir sind<br />

der Meinung, daß politische Auseinandersetzungen nicht durch das Strafgesetzbuch gelöst werden<br />

können.<br />

381 Fürbittengebete für die in Leipzig Inhaftierten gab es zu dieser Zeit in ca. 20 Städten der DDR. s.a.<br />

vorhergehende Fußnote<br />

382 Dieser Beitrag wurde bei Sup. Magirius erschlichen, mit der Behauptung, einen Dank der kurzzeitig Verhafteten<br />

an die Gemeinde zu sagen („Ein Satz!“). Im Anschluß an das FG stellte sich J. Läßig in den Mittelgang der<br />

Kirche <strong>und</strong> erklärte mit seiner kräftigen Stimme, daß das, was in den FG geschähe, für die Gruppen ein Schlag<br />

ins Gesicht sei. Er erinnerte an die Erklärung von Pf. Gröger in einem FG 1983: „Messer, Gabel, Schere, Licht /<br />

sind für kleine Kinder nicht“, mit der dieser Jugendliche von einer Kerzendemonstration abhalten wollte, <strong>und</strong><br />

meinte, daß diese Haltung der Kirche sich nicht geändert hätte. Außerdem lud er zu einem Konzert in der<br />

Leipziger Spielgemeinde, bei dem das Straßenmusikfestival (10.06.1989) vorbereitet wurde. Die Erklärung<br />

erschien 1989 im Informationsdienst des „Komitees zur Verteidigung <strong>und</strong> Verwirklichung der demokratischen<br />

Rechte <strong>und</strong> Freiheiten in Ost <strong>und</strong> West - in ganz Deutschland“, Nr. 50, S. 19. Hummitzsch vermerkte in seinem<br />

Arbeitsbuch zu einem Gespräch mit H. Schumann am 23.01., 13.50 Uhr: „[H.S.] will kurzes FS an ZK geben<br />

(Mißbrauch des Friedensgebets, Protest gegen EV [Ermittlungsverfahren])“. Das MfS war von dieser Aktion<br />

schon im voraus informiert, wie auch weitere Notizen Hummitzschs belegen (u.a. durch IM „Maria“, d.h. D.<br />

Penno). Der Leiter der operativen Lagegruppe des MfS teilte 17.35 Uhr das Verlesen der Erklärung Hummitzsch<br />

mit. Dieser notierte: „EV weiter / trommeln“ (BStU Leipzig AB 3843, 124-131).<br />

383 s. Anm. 378<br />

205


Trotz laufender Ermittlungsverfahren werden wir unsere Arbeit zu gesellschaftlichen Themen<br />

weiterführen. Wir bitten, besonders in unserer momentanen Situation, um Eure weitere Unterstützung <strong>und</strong><br />

Solidarität.<br />

131 SED-Information<br />

Information des 2. Sekretärs der SED-SL Leipzig an die SED-BL vom 24.01.1989 über den Ablauf des<br />

Friedensgebetes am 23.01.1989 <strong>und</strong> den Einsatz von gesellschaftlichen Kräften. Die Durchschrift wurde<br />

unterzeichnet von H. Schnabel (StAL SED A 5126).<br />

Am Montag, dem 23. Januar 1989, gegen 10.00 Uhr, wurde im Ergebnis einer Einschätzung zur Lage<br />

durch das Sekretariat der SED-Bezirksleitung der Auftrag erteilt, gesellschaftliche Kräfte 384 zur<br />

Verhinderung einer möglichen, erneut beabsichtigen Provokation im Stadtzentrum von Leipzig zum<br />

Einsatz zu bringen. In Übereinstimmung mit den Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorganen wurde mit direkter<br />

Einbeziehung der Stadtbezirksleitungen <strong>und</strong> der Leitungen des VPKA erreicht, daß ab 16.00 Uhr ca. 400<br />

Genossinnen <strong>und</strong> Genossen aus dem Partei- <strong>und</strong> Staatsapparat sowie aus Gr<strong>und</strong>organisationen der<br />

Kombinate <strong>und</strong> Betriebe zum Einsatz bereitstanden 385 . Die gesellschaftlichen Kräfte wurden im Kinosaal<br />

von Leipzig-Information politisch in ihre Aufgabe eingewiesen, sie erhielten Instruktionen zur<br />

Durchführung ihres Auftrages. In der Nikolaikirche versammelten sich in der Zeit von 17.00-17.50 Uhr<br />

ca. 470 Teilnehmer 386 an einem Friedensgebet. Es mußte aufgr<strong>und</strong> vorliegender Informationen damit<br />

gerechnet werden, daß erneut nach dieser Veranstaltung ein Versuch für eine Provokation in Gestalt eines<br />

Marsches oder einer Demonstration unternommen wird 387 . Nach Beendigung des Friedensgebetes<br />

verblieben ca. 200 Personen auf dem Vorplatz der Nikolaikirche, ohne daß es zu einer provokatorischen<br />

Handlung kam.<br />

Die gesellschaftlichen Kräfte, ihre Präsenz im Zusammenwirken mit Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorganen vor<br />

der Nikolaikirche <strong>und</strong> im Innern des Stadtzentrums trugen dazu bei, daß es zu keiner provokatorischen<br />

Handlung kam, so daß der Einsatz polizeilicher Mittel nicht erforderlich wurde 388 . Die Teilnehmer am<br />

Friedensgebet lösten sich zögernd auf, sie nahmen von den gesellschaftlichen Kräften Kenntnis <strong>und</strong><br />

suchten keine öffentliche Konfrontation. Gegen 18.30 Uhr war keine Absicht mehr zu erkennen, eine<br />

Provokation zu starten, so daß die gesellschaftlichen Kräfte zurückgezogen werden konnten. Es wurde<br />

bekannt, daß 2 Aufnahmeteams des BRD-Fernsehens ARD sich im Stadtzentrum aufhielten, ohne<br />

feststellen zu können, in welcher Weise Filmdokumentationen hergestellt wurden 389 . Der Einsatz der<br />

gesellschaftlichen Kräfte wie ihr Zurücknehmen aus dem Einsatzbereich erfolgte ohne Vorkommnis. Die<br />

Genossinnen <strong>und</strong> Genossen zeichneten sich durch hohe Einsatzbereitschaft <strong>und</strong> eine große Disziplin aus.<br />

Unter ihnen befanden sich 30 Schüler der Bezirksparteischule Leipzig.<br />

384 zu „gesellschaftliche Kräfte“ siehe Anhang S. 359<br />

385 Wie Protokoll Hummitzsch zum Telefonat Hackenberg am 23.01.89, 12.00 Uhr, zeigt, waren Hackenberg <strong>und</strong> H.<br />

Schnabel für die Bereitstellung der gesellschaftlichen Kräfte verantwortlich (BStU Leipzig AB 3843, 125). In<br />

diesem Telefonat wurden 300 Schüler der Bezirksparteischule als Einsatzkräfte angeboten.<br />

386 Die gleiche Zahl nannte Eppisch (MfS) am 23.01., 17.02 Uhr, Hummitzsch (BStU Leipzig AB 3843, 130).<br />

387 Mielke rief am 23.01., 15.15 Uhr, Hummitzsch an. Dieser notierte anläßlich des Telefonats: „Wenn sie laufen,<br />

aufladen. [...] müssen begreifen, daß wir das nicht dulden. Den [... geschwärzt] verpassen wir jetzt einen<br />

Denkzettel.“ Eine St<strong>und</strong>e später teilte H. Schumann mit, daß Beschluß des SED-Sekretariats vorbereitet wird.<br />

Darin ging es u.a. um verstärkte offensive politisch-ideologische Arbeit <strong>und</strong> eine Gesprächskampagne mit den<br />

Teilnehmern an der Demonstration am 15.01.1989 (BStU Leipzig AB 3843, 129).<br />

388 Während des Einsatzes fragten die Stellv. des Stasi-Ministers Neiber <strong>und</strong> Mittig mehrmals nach der Situation um<br />

die Nikolaikirche beim Leiter der BV nach, u.a. mit dem Hinweis, daß Krenz wissen wollte, „was los ist“ (BStU<br />

Leipzig AB 3843, 132).<br />

389 Sie fertigten Aufnahmen von den Organisatoren der Demonstration am 15.01.1989 (ohne dafür eine staatliche<br />

Filmgenehmigung erhalten zu haben).<br />

206


132 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Information des Staatssekretärs für Kirchenfragen vom 24.01.1989 über ein Gespräch mit Bischof Hempel am<br />

23.01.1989 im Landeskirchenamt in Dresden (5 Seiten Information <strong>und</strong> 3 Seiten Anlage). Die Information<br />

wurde von K. Löffler unterzeichnet (BArch O-4 973).<br />

Das seit einiger Zeit vorgesehene Gespräch fand am 23.01.1989 im Landeskirchenamt in Dresden statt.<br />

[...] Landesbischof Dr. Hempel dankte mit sichtbarer Bewegung für die Grüße <strong>und</strong> die Würdigung seines<br />

Wirkens. Er sprach den Wunsch aus, bei Gelegenheit eine neue Begegnung mit Genossen Dr. Jarowinsky<br />

zu haben. Zugleich betonte er, daß er stets für eine gerechte Beurteilung der Entwicklung der DDR, für die<br />

Anerkennung der dem Menschen dienenden Leistungen der sozialistischen Ordnung in der DDR als der<br />

dem christlichen Ideal am nächsten liegend auf deutschem Boden eingetreten sei <strong>und</strong> das auch weiterhin<br />

tun werde. Dabei sei es notwendig, in den kommenden Wochen im Blick auf die Wahlen <strong>und</strong> den 40.<br />

Jahrestag einige ihn <strong>und</strong> die Landeskirche Sachsens berührende Fragen zu besprechen, damit er guten<br />

Wissens die kirchlich geb<strong>und</strong>enen Bürger in ihrer Entscheidung begleiten kann. Ganz besonders sei nach<br />

seiner Auffassung notwendig, in der öffentlichen Information neben der Darstellung der unwiderlegbar<br />

vorhandenen sozialen Sicherheit <strong>und</strong> Geborgenheit für die Bürger auch das Sprechen über eigene<br />

Schwächen <strong>und</strong> Unzulänglichkeiten, über Mängel <strong>und</strong> daraus erwachsende Anforderungen einzubeziehen,<br />

da die ausnahmslosen „Erfolgsmeldungen“ im Widerspruch zu manchen Lebenstatsachen des Alltags<br />

stehen <strong>und</strong> so die Bürger zum Widerspruch herausfordern <strong>und</strong> Raum für Spekulationen über die<br />

Verbindung der Regierung zum Leben ließen. Nach seiner Meinung sei diese Offenheit <strong>und</strong> Souveränität<br />

der eigenen Leistung <strong>und</strong> den noch zu lösenden Aufgaben gegenüber besonders durch die „Initialwirkung<br />

Gorbatschows“ notwendig, wobei keine „Kopie sowjetischer Methoden in der DDR angefordert“ sei.<br />

[...] Im weiteren Verlauf des Gesprächs wurden von mir dringliche Bitten in bezug auf die unbedingt<br />

notwendige Einwirkung des Landesbischofs <strong>und</strong> des Landeskirchenamtes auf die künftige Verhinderung<br />

des politischen Mißbrauchs des kirchlichen Raumes für gegen die Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung der<br />

DDR gerichteten Aktivitäten von Basis- <strong>und</strong> anderen Gruppen geäußert. Dabei habe ich über die<br />

Vorgänge am 15.1.1989 in Leipzig <strong>und</strong> die konspirative Tätigkeit von feindlichen Kräften zur<br />

Vorbereitung dieser Aktion informiert, da Landesbischof Hempel erklärt hatte, daß ihm von keiner Seite<br />

rechtzeitig solche Informationen bekanntgemacht seien, die ein vorsorgliches Eingreifen ermöglicht<br />

hätten. Es war ihm starke Betroffenheit über den Umfang der bereits langdauernden negativen <strong>und</strong> auf<br />

politische Konfrontation zielenden Aktivitäten von kirchlichen Gruppen in Leipzig <strong>und</strong> deren weitere<br />

beabsichtigte Aktivitäten anzumerken. Er versicherte, daß er - wie in den letzten Monaten mehrfach<br />

praktiziert - auch weiterhin im Sinne der Vernunft wirken werden, wobei ihm aber „keinerlei Machtmittel<br />

zur Durchsetzung seiner Auffassung auch gegenüber Gemeindepfarrern“ zur Verfügung stünden. Er bat<br />

um verständnisvolle <strong>und</strong> wirksame Hilfe im offenen Gespräch mit derartigen Gruppen, „die oftmals für<br />

ihre Aktivität nützliche Felder, wie den Schutz der Umwelt, suchen oder manchmal nur ihre Meinung von<br />

der Seele reden wollen“. Er äußerte, daß die große <strong>und</strong> wachsende Unzufriedenheit bei vielen in diesen<br />

Gruppen auch darin begründet sei, daß ihnen niemand als Gesprächspartner zur Verfügung stehe. Ich habe<br />

dazu verwiesen auf Erfahrungen von kirchlichen Umweltgruppen bei der Zusammenarbeit mit<br />

Forstwirtschaftsbetrieben u.a. gesellschaftlichen Gruppen des Kulturb<strong>und</strong>es <strong>und</strong> in den Territorien, da<br />

verantwortliche gesellschaftliche Mitwirkung im Umweltschutz jederzeit angenommen wird, wenn damit<br />

nicht - wie es [in] der konfrontativ angelegten Aktion „Eine Mark für Espenhain“ 390 - politische[n]<br />

Attacke gegen die Umweltpolitik des Staates verb<strong>und</strong>en sind. [... zu den „Umwelt-“ bzw.<br />

„Friedensbibliotheken“ in Zwickau, Dresden, Großenhain <strong>und</strong> Großhennersdorf] Im Zusammenhang mit<br />

der Offenheit <strong>und</strong> vertrauensvollen Atmosphäre zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche habe ich auf eine mich<br />

verw<strong>und</strong>ernde Arbeitsweise des B<strong>und</strong>es (BEK) aufmerksam gemacht: Trotz vielfacher Bitten ist immer<br />

noch die geübte Praxis, daß wesentliche kirchliche Papiere, darunter Verlautbarungen, Pressemitteilungen<br />

<strong>und</strong> Beschlußentwürfe für künftige Tagungen, z.B. die 3. Session der Ökumenischen Konferenz in<br />

Dresden unmittelbar westlichen Medien übergeben werden, ohne gleichzeitige Übermittlung an meine<br />

Dienststelle, so daß regelmäßig die Erstinformation durch diese Medien mit den üblichen politischen<br />

390 s. Anhang, S. 385<br />

207


Entstellungen <strong>und</strong> Verdächtigungen erfolgt. (An dieser Stelle habe ich eine Auswahl von Meldungen der<br />

Westpresse zu den Leipziger Vorgängen <strong>und</strong> zu Dokumenten des BEK der jüngsten Zeit übergeben.) Ich<br />

habe gebeten, solche Materialien rechtzeitig - mit dem gewünschten Vertraulichkeitsgrad - zu erhalten, um<br />

jeder mißbräuchlichen Interpretation zuvorzukommen. Landesbischof Hempel akzeptierte diese Bitte,<br />

versprach, sich dafür einzusetzen <strong>und</strong> äußerte zugleich seine Verw<strong>und</strong>erung über den Grad der Beachtung<br />

der westlichen Medien in unserem Lande, wofür man in Dresden naturgemäß kein Verständnis habe <strong>und</strong><br />

im übrigen wisse man doch, wie es mit dem „Wahrheitsgehalt“ dieser Presseerzeugnisse seit Jahrzehnten<br />

aussehe. Deshalb habe er auch kein Verständnis für die Art <strong>und</strong> Weise der ADN-Meldung zu M.<br />

Stolpe 391 . (Dazu habe ich die mit sichtbarer Erleichterung zur Kenntnis genommene festgelegte<br />

Argumentation verwendet.) In einem abschließenden Unter-Vier-Augen-Gespräch wurde von mir mit der<br />

Bitte um eine verantwortungsbewußte Prüfung die Frage nach der Zweckmäßigkeit der Wahl Leipzigs als<br />

Ort des für Juli 1989 vorgesehenen Kirchentages der Landeskirche Sachsen aus Anlaß des 450.<br />

Jahrestages der Reformation gestellt (Text siehe Anlage).<br />

Landesbischof Hempel nahm diese Darstellung aufmerksam zur Kenntnis <strong>und</strong> äußerte, daß sie „selbst<br />

über den möglichen Mißbrauch des Kirchentages in Leipzig bereits gesprochen haben“. Obwohl ihm der<br />

Umfang <strong>und</strong> der Grad der Organisiertheit illegaler Strukturen in Leipzig bisher in dieser dargestellten<br />

Weise nicht bekannt gewesen seien, verstehe er die vorgetragenen Bedenken, die es dem Landesausschuß<br />

für den Kirchentag vortragen werde. Er nannte als besonders problematische Umstände für eine<br />

Ortsveränderung: [...]<br />

Insgesamt verlief das Gespräch in einer ruhigen <strong>und</strong> sachlichen Atmosphäre, ohne jegliche Spannungen<br />

<strong>und</strong> Schärfe. Landesbischof Hempel ließ seine Erleichterung über die Fortführung der Begegnungen <strong>und</strong><br />

gezeigte Bereitschaft zu vertraulichem Dialog spüren. Er bat noch einmal, die herzlichen Grüße an<br />

Genossen Dr. Jarowinsky zu übermitteln <strong>und</strong> dankte für den ausgesprochenen Vertrauensbeweis.<br />

[gez.] Löffler<br />

Anlage:<br />

zum Gespräch mit Landesbischof Dr. Hempel zum Kirchentag Leipzig<br />

[...] Nachdem bereits zu den Leipziger Messen im Jahre 1988, der Internationalen Leipziger Dokumentar-<br />

<strong>und</strong> Kurzfilmwochen u.a. Gelegenheiten öffentlich politisch-konfrontative Aktivitäten durchgeführt<br />

wurden, sind die Friedensgebete u.a. nicht den Ausübungen des Glaubens gewidmete politische<br />

Veranstaltungen mit Angriffen gegen den sozialistischen Staat, die Volksbildung u.a. staatlicher<br />

Verantwortung stattgef<strong>und</strong>en haben <strong>und</strong> stattfinden, ist mit der Flugblatt-Aktion <strong>und</strong> der<br />

Zusammenrottung am 15.1.89 der bisherige Höhepunkt der staatsfeindlichen Aktivitäten erreicht worden.<br />

[/] Offensichtlich finden die verantwortungsbewußt handelnden kirchlichen Amtsträger in Leipzig keine<br />

genügende Unterstützung in ihrem Umfeld, sind die inneren ges<strong>und</strong>en Kräfte der Kirche nicht stark<br />

genug, dieser unguten Entwicklung Einhalt zu gebieten, während die auf Zerstörung des bewährten Staat-<br />

Kirche-Verhältnisses hinarbeitenden negativen Kräfte sich bereits illegale Strukturen für ihre feindlichkonspirative<br />

Tätigkeit geschaffen, nahezu DDR-weite Verbindungen aufgebaut <strong>und</strong> Nachrichtenwege in<br />

das imperialistische Ausland errichtet haben, wie die Meldungen aus der Westpresse darstellen. Besonders<br />

bedenklich ist, daß bei derartigen Aktionen eine zunehmende Anzahl von Personen beteiligt ist, die<br />

Mitarbeiter kirchlicher Institutionen sind - wie z.B. aus der Inneren Mission u.a...<br />

Es steht außer jedem Zweifel, daß die Konzentration der feindlichen Aktivitäten auf Leipzig - immer zu<br />

betonen: trotz des Widerstandes vieler kirchlicher Amtsträger der Stadt gegen solche Aktivitäten -, daß die<br />

Errichtung illegaler Strukturen <strong>und</strong> deren Erprobung durch konspirative Aktionen eindeutig auf die<br />

politische Störung des beabsichtigten Kirchentages im Juli gerichtet ist. Eine derartige Aktion im Juli<br />

würde unweigerlich für unabsehbare Zeit zu schweren Belastungen des Staat-Kirche-Verhältnisses führen,<br />

ja, das bestehende gute Vertrauensverhältnis empfindlich stören.<br />

Zur Zeit gibt Pfarrer Wonneberger den negativen - auch außerkirchlichen - Kräften umfangreiche<br />

Unterstützung - auch durch Einlagerung illegaler Schriften.<br />

391 Am 11.01.1989 hatte das „ND“ einen ADN-Kommentar unter der Überschrift „Herr Stolpe <strong>und</strong> der Idealfall“<br />

veröffentlicht, in dem M. Stolpe scharf attackiert wurde.<br />

208


Die ab 2.1.1989 wieder von „Basisgruppen“ gestalteten montäglichen sog. Friedensgebete geben zu<br />

ernsten Sorgen Anlaß 392 . Ihre Übernahme in die Lucas-Kirche wird von diesen Gruppen bereits<br />

ausgestreut. [...]<br />

133 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Information des Rates des Bezirkes Leipzig, [Bereich Kirchenfragen], über ein Gespräch am 25.01.1989<br />

zwischen dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres, H. Reitmann, <strong>und</strong> Landesbischof J.<br />

Hempel 393 <strong>und</strong> OKR Auerbach vom gleichen Tag. Unterzeichnet wurden die 4 maschinengeschriebenen<br />

Seiten von W. Jakel (StAL BT/RdB 21962 <strong>und</strong> in: BArch O-4 986, SAPMO-BArch IV B 2/14/104, ABL H<br />

53).<br />

Das Gespräch fand statt auf Gr<strong>und</strong>lage eines Schriftverkehrs, den Gen. Dr. Reitmann auf Gr<strong>und</strong> der<br />

Ereignisse am 09.11.1988 im Rahmen der Friedensdekade mit Landesbischof Dr. Hempel geführt hatte394 .<br />

Im Zusammenhang mit der Provokation am 15.01.1989 in Leipzig <strong>und</strong> den damit zusammenhängenden<br />

Vorkommnissen war eine neue Gesprächssituation eingetreten.<br />

Gen. Dr. Reitmann eröffnete das Gespräch mit einem Dank an den Landesbischof für die Bemühungen,<br />

die belasteten Staat-Kirche-Beziehungen zu normalisieren, „Schaden zu begrenzen“. Er ging darauf ein,<br />

daß dies beiderseitig geschehen müßte im Sinne von „Vertrauen wagen“. Gen. Dr. Reitmann schilderte die<br />

Entwicklung der Situation in <strong>und</strong> um die Nikolaikirche <strong>und</strong> teilte dem Landesbischof mit, daß er die<br />

Leipziger Superintendenten informiert hatte, daß es sich um 12 Personen handelt, die alle bis auf Herrn<br />

Rainer Müller beigetragen haben, daß Geschehen aufzuklären395 . Er könne jetzt dem Landesbischof<br />

mitteilen, daß alle 12 Ermittlungsverfahren eingestellt worden sind, wobei diese staatliche Entscheidung<br />

geprägt wurde durch den erreichten Stand der Staat-Kirche-Beziehungen im Raum Leipzig <strong>und</strong> um des<br />

gedeihlichen Verhältnisses wegen, obwohl die strafrechtliche Relevanz voll gegeben ist. Die Aussagen<br />

des Genossen Dr. Reitmann mündeten in der Fragestellung, ob das Friedensgebet in der Nikolaikirche<br />

noch beherrschbar ist, wie es weitergeführt werden kann, ob es nicht Zeit ist, ein verantwortliches Wort<br />

dazu zu sagen?<br />

Die Erwiderung Landesbischofs Dr. Hempel enthielten zusammengefaßt folgende Aussagen:<br />

− Er ist dankbar <strong>und</strong> überrascht, daß die E-Verfahren niedergeschlagen wurden. Er sehe, daß dies<br />

geschehen ist, um des 06.03.78 wegen.<br />

− Er wolle alles tun, daß Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit eingehalten werde <strong>und</strong> es nicht erneut zu Straftaten<br />

kommt, er könne aber keine Garantien übernehmen.<br />

− Er wolle prüfen, ob das Friedensgebet abgesetzt werden kann, glaube es aber nicht. Sein Bestreben ist,<br />

das Friedensgebet zu qualifizieren, viele Gespräche zu führen.<br />

− Er sagte zu, die Gestaltung des Friedensgebetes während der Leipziger Messe <strong>und</strong> die Durchführung<br />

des sogenannten Messemännerabends persönlich abzusichern 396.<br />

− Er stelle sich voll <strong>und</strong> ganz hinter die Aussage des Rechtsanwaltes Schnur, daß sowohl das Flugblatt<br />

als auch der Schweigemarsch eigenständige politische Entscheidungen bzw. Aktionen der Beteiligten<br />

392 vgl. Dok. 136 <strong>und</strong> Dok. 138<br />

393 Dieses Protokoll ging am 30.01. im StfK ein. Am 31.01. sandte der Stellvertreter des Staatssekretärs, Kalb, eine<br />

Kopie des Protokolls zusammen mit einem Brief Bischof Hempels vom 26.01. an Jarowinsky (ZK der SED).<br />

Kalb schrieb dazu: „Es ist nunmehr notwendig, gemeinsam mit den verantwortlichen örtlichen Organen schnell<br />

einen präzisen Maßnahmeplan zu erarbeiten, der realistische Kräfte in der Leitung der sächsischen Landeskirche<br />

in ihrem Wirken für einen konstruktiven Verlauf des Kirchentages unterstützt <strong>und</strong> einen politischen Mißbrauch<br />

der Veranstaltung konsequent ausschließt.“ (SAPMO-BArch IV B 2/14/104)<br />

394 Zu diesem Gespräch hatte Dr. Reitmann Bischof Hempel schon im Dezember gebeten. Aufgr<strong>und</strong> von<br />

Terminschwierigkeiten legte Bischof Hempel das Gespräch jedoch auf den 25.01.1989.<br />

395 Gemeint sind die Personen, die durch das MfS inhaftiert wurden, da sie Flugblätter hergestellt bzw. verteilt<br />

hatten. R. Müller machte bei den Verhören keine Aussagen.<br />

396 Dieser Absatz ist im Exemplar von Major Conrad (Abteilung XX/4 der BV des MfS) angestrichen worden.<br />

209


waren, weder eine staatliche noch eine kirchliche Veranstaltung bemüht oder mißbraucht wurde.<br />

− Er wolle informieren, daß er im Gespräch mit Staatssekretär Löffler397 von diesem darauf hingewiesen<br />

worden sei, die Durchführung des Kirchentages doch nach Riesa zu verlegen. Dies werde nicht gehen,<br />

es ist zu spät, es ist international bekannt, die ranghohen Ökumeniker sind im Juni/Juli 1989 in Europa<br />

zur Zentralausschußtagung des Ökumenische Rates in Moskau, wo sollten wir in Riesa die benötigten<br />

Kapazitäten hernehmen; entweder Leipzig - oder gar nicht 398.<br />

Diese Kerngedanken des Landesbischofs können zum Teil wörtlich wiedergegeben werden.<br />

„Zum Problem, unter Weglassen aller Formfragen, stehe dasselbe, was wir seit 15 Jahren sagen. Das<br />

Dauerthema ist: Sagen Sie bitte mehr, was konkret ist hier im Lande, mehr Wahrheiten. Die Gruppen<br />

sagen Dinge, die in der Substanz stimmen, Umweltschutz <strong>und</strong> Meinungsäußerungen. Auf der anderen<br />

Seite verletzen diese Leute natürlich die Formen des Umgangs, so wie wir zum Beispiel mit Ihnen (dem<br />

Staat) reden. Die Form des Gespräches - das ist unser Zwiespalt. Es gibt einzelne, mit denen ich mich<br />

nicht mehr solidarisiere. [/] Wir haben aber Schwierigkeiten, jetzt zu sagen, Schluß mit den<br />

Friedensgebeten in der Nikolaikirche. Diese Leute haben keinen anderen Ort, etwas zu besprechen. Diese<br />

Leute meinen nicht uns, sondern Sie. Es gibt ein jahrh<strong>und</strong>ertelanges Tabu der Kirchenräume, das hat die<br />

DDR von Anfang an immer respektiert!“<br />

Bischof Dr. Hempel meinte, wenn ein Bischof Gottesdienst verbietet, geht das in die immerwährende<br />

Geschichte ein. Aus der Tatsache heraus, daß diese Leute das bei uns machen, folgere ich doch, daß Sie<br />

dann die Leute auf dem Hals haben. Verbieten hieße, das Phänomen wandert in eine andere Ecke aus. Es<br />

hängt nicht am Hause Nikolaikirche. Kern ist, daß die Leute sagen: „Geben Sie uns einen Ort, wo wir<br />

reden können.“ [/] „Er bitte, der Landeskirche Zeit zu lassen für qualitative Schritte. Anderes Handeln<br />

würde sich herumsprechen in Europa. Sie haben doch unsere Bemühungen bemerkt im Januar. Wir<br />

werden beraten. Wir haben aufmerksam zugehört“. [/] „Ich habe keine Kraft mehr, Sie zu verletzen. Ich<br />

muß aber sagen, wie ich es schon immer gesagt habe: „Irgendwann kommt die Quittung für das nicht<br />

Gute“. [/] Sie sagen uns, es gibt kein Gespräch mit der Volksbildung. Wir hören es. Wir w<strong>und</strong>ern uns<br />

nicht, daß junge Leute so aggressiv werden. Es wird immer wieder erklärt, was die Wahrheit ist, das haben<br />

die Leute zu schlucken. Wo können die Leute reden? Wo werden sie gehört? Wo? [/] „Ich bin Leiter, ich<br />

bekomme auch die Dresche wie Sie. Das Volk ist klug, es sieht, was los ist! - Warum schreiben Sie das<br />

nicht? Kirche ist nicht besser als Sie, wir verstehen die Jugend aber im Kern. Für Verbieten haben wir<br />

geringeres Instrumentarium, theologische Gründe haben wir auch nicht.[„]<br />

Dr. Hempel wolle das machen, was möglich ist, sich zu bemühen, das Friedensgebet zu qualifizieren. Dies<br />

ginge nicht deklamatorisch, verbieten hieße, großen Schaden anrichten. Er verurteile die Kommunikation<br />

mit den Westmedien. Kirche habe nur die Waffen des Lichtes. Sie wollen alles tun, daß es nicht zu<br />

Straftaten komme. Er verwies darauf, daß die Kirche nur das Pfarrerdienstrecht <strong>und</strong> einige Verordnungen<br />

habe. Er habe aber aufmerksam gehört, was der Staat zu ihm sage. „Wir müssen sehen, daß wir<br />

weiterkommen. Wir leben auch im Müntzer-Jahr. In den Gemeinden haben wir heiße Debatten, die uns<br />

die Regierung eingebrockt hat; Müntzer hat ja in die Politik eingegriffen. Was soll ich am 25.05. zur<br />

Predigt in der Nikolaikirche dazu sagen? Ich hoffe, daß die Regierung Organe schafft, die mit den Leuten<br />

reden. Auge in Auge zu reden, ist so wichtig, es muß raus aus dem Bauch. Er betonte in der<br />

Zusammenfassung des bisher Gesagten, Nikolaikirche <strong>und</strong> die Friedensgebete abzusetzen, sehe er keine<br />

Möglichkeiten, dann seien die Leute draußen. Wie wir qualifizieren, müssen wir im Kollegium beraten;<br />

Erfolg könne er aber nicht garantieren. Ein Stück regelmäßiger Prügel gehöre auch zu seiner<br />

Leitungserfahrung. Er sprach sich gegen die Westpresse aus, die redet über alles, sie werde dafür bezahlt.<br />

Zum Abschluß des Gesprächs stellte der Landesbischof Fragen zum Kirchentag. Staatssekretär Löffler<br />

habe zum Ausdruck gebracht, daß man von Leipzig weggehen solle, „darüber haben wir noch nicht oft<br />

397 Bei der meist wöchentlichen Beratung der AG Kirchenfragen beim ZK der SED mit Jarowinsky wurde am<br />

16.1.1989 beschlossen, Löffler zu beauftragen, bei dem schon geplanten Gespräch mit Hempel die „Leipziger<br />

Ereignisse“ als Grind für eine Verlegung des Kirchentages mit anzusprechen (SAPMO-BArch IV B 2/14/19).<br />

Das Gespräch fand am 23.01.1989 statt (s. vorhergehendes Dok.).<br />

398 Diese Position teilte Bischof Hempel am folgenden Tag per Brief auch dem Staatssekretär für Kirchenfragen mit<br />

(StAL BT/RdB 21459).<br />

210


genug geschlafen“. Es ist aber zu spät, international ist es bekannt, nur Leipzig würde in der Reformation<br />

gewürdigt von Luther. Wo sollte man z.B. in Riesa die Unterbringungskapazität hernehmen? Entweder<br />

Leipzig oder gar nicht! Die internationalen Gäste sind im Juni/Juli in Europa, da ÖRK-Tagung in Moskau.<br />

Es gibt keine Alternative zu Leipzig. Landesbischof Hempel betonte in seinen abschließenden<br />

Bemerkungen, es ist wichtig, irgendwo reden zu können, auch als Voraussetzung für die innere<br />

Ges<strong>und</strong>heit.<br />

134 Innerkirchliche Mitteilung<br />

Brief des Vorsitzenden des Bezirkssynodalausschusses vom 26.01.1989 an den Kirchenvorstand der<br />

Nikolaikirchgemeinde, in dem gr<strong>und</strong>sätzlich der vorgeschlagenen Friedensgebetsordnung zugestimmt<br />

wurde 399 . Vorlage ist eine Xerokopie (ABL H 35).<br />

Betr.: Friedensgebet - unser Schr. v. 26.11.88400 Zu Ihrem Schreiben vom 08.12.88 401 nimmt der Ausschuß wie folgt Stellung 402:<br />

− Die Gruppen fühlen sich von den Gr<strong>und</strong>sätzen A 1-4 nicht direkt betroffen, da die ursprüngliche<br />

Zielrichtung für nichtkirchl. Gruppen oder Einzelpersonen gedacht war403 (s. Kontext des<br />

Synodalpapiers). Inhaltlich stimmt der Ausschuß jedoch mit dem KV überein, jedoch werden diese<br />

Kriterien als Selbstverständlichkeit für unsere Gruppen <strong>und</strong> zumal für den die Verantwortung<br />

tragenden ordinierten Pfarrer angesehen.<br />

− Die in A 5 aufgeführte generelle Regelung für Nikolai erübrigt sich in einer Übereinkunft, da dieser<br />

Sachverhalt speziell für die Friedensgebete in B 6 geregelt ist. Dazu wäre inhaltlich anzumerken, daß<br />

Vervielfältigungen, die zur Gestaltung des Gottesdienstes dienen, in die Verantwortung des<br />

ordin[ierten] Pfarrers fallen. Eine Entscheidung über Gestaltungselemente des Gottesdienstes kann<br />

nicht kurz vor dem Gottesdienst getroffen werden.<br />

Unter Kenntnis der gemachten Erläuterungen kann der vom KV vorgeschlagenen Ordnung B<br />

zugestimmt werden. Sollten in der Sitzung vom 13.02. keine gr<strong>und</strong>sätzlichen Bedenken durch den KV<br />

erhoben werden, kann nach diesem Ablauf ab 01.04. verfahren werden.<br />

135 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Information des Rates des Bezirkes Leipzig, Bereich Kirchenfragen (A. Müller), über ein Gespräch am<br />

30.01.1989 zwischen Mitarbeitern der Bezirksstaatsanwaltschaft (Munkwitz, Kurzke) <strong>und</strong> des RdB<br />

(Reitmann, A. Müller) mit OKR Auerbach, Sup. Richter <strong>und</strong> Sup. Magirius aufgr<strong>und</strong> der Verhaftungen Mitte<br />

Januar 1989. Diese Information vom 31.01.1989 ging an die SED-BL, an das Staatssekretariat für<br />

Kirchenfragen, an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes <strong>und</strong> an die BV Leipzig des MfS 404 .<br />

Unterzeichnet wurde die Information von A. Müller (StAL BT/RdB 20749 <strong>und</strong> in: StAL BT/RdB 21962,<br />

BArch O-4 1117, ABL H 53).<br />

Zielstellung des Gespräches war, den kirchlichen Vertretern mit weitergehenden Fakten über die<br />

Ergebnisse der Ermittlungsverfahren bekanntzumachen, die im Ergebnis der stattgef<strong>und</strong>enen Provokation<br />

am 15.01.1989 in Leipzig gegen einen den kirchlichen Vertretern bekannten Personenkreis eingeleitet<br />

399 Der Brief gab den Beschluß des BSA vom 13.01.1989 wieder (ABL H 35)<br />

400 s. Dok. 117<br />

401 s. Dok. 121<br />

402 Der Brief entspricht inhaltlich dem Protokoll der BSA-Sitzung vom 13.01.1989 (ABL H 35).<br />

403 Im Protokoll von Pf. Berger heißt es: „... da für unsere Gruppen nicht zutreffend, ursprünglich für nichtkirchl.<br />

Gruppen oder Einzelpersonen inhaltl. werden diese Kriterien als Selbstverständlichkeit für Gruppen <strong>und</strong><br />

verantwortl. ordinierten Pfarrer angesehen“ (ebenda).<br />

404 Dieses Gespräch hatte die HA IX des MfS am Vormittag des 25.01.1989 zusammen mit Gesprächen Kurzkes mit<br />

allen Beschuldigten mit dem Ziel der „Differenzierung“ emp- bzw. befohlen (BStU Leipzig AB 3843, 137).<br />

211


werden mußten <strong>und</strong> die dem Stellv. d. Vorsitzenden des Rates für Inneres im Gespräch mit Bischof<br />

Hempel am 25.01.1989 im Detail so noch nicht vorlagen. Gleichzeitig sollten die kirchlichen Vertreter,<br />

unter Beachtung der juristischen Bewertung gem. den strafrechtlichen Bestimmungen in die Lage versetzt<br />

werden, innerkirchlich diese Prozesse zu verfolgen <strong>und</strong> verantwortungsbewußt darauf Einfluß zu nehmen.<br />

Im Zusammenhang damit wurden die staatlichen Erwartungshaltungen den kirchlichen Vertretern<br />

mitgeteilt bzw. erläutert. Einleitend dankte der Stellvertreter für Inneres den kirchlichen Vertretern über<br />

die Art <strong>und</strong> Weise, wie sie im Umfeld der Ereignisse versachlichend <strong>und</strong> beruhigend gewirkt haben. Dies<br />

sei ein Ausdruck der kontinuierlichen Linie, die schon über eine lange Zeit zwischen der Evangel[isch-<br />

]Luther[ischen] Landeskirche Sachsens <strong>und</strong> dem Rat des Bezirkes bzw. Rat der Stadt Leipzig Praxis ist.<br />

Darauf hinzuweisen sei wichtig für das weitere Zusammenwirken, um Schaden nicht nur zu begrenzen,<br />

sondern in den Beziehungen zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche Kontinuität <strong>und</strong> Vertrauen weiter zu gewinnen.<br />

Genosse Munkwitz informierte danach die kirchlichen Vertreter sehr ausführlich über die Ergebnisse der<br />

Ermittlungsverfahren <strong>und</strong> bewertete die Tatbeteiligung der einzelnen Personen differenziert auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage des § 214 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 Strafgesetzbuch 405 . Dabei wurde klar herausgearbeitet, daß daran auch<br />

kirchliche Mitarbeiter beteiligt waren <strong>und</strong> daß durch Verletzungen der Aufsichtspflicht des<br />

Pfarramtsleiters der Markuskirchgemeinde begünstigende Bedingungen geschaffen wurden, die einen<br />

Mißbrauch von kirchlichen Druckvervielfältigungsgeräten möglich gemacht haben.<br />

Gleichzeitig wurde deutlich herausgearbeitet, daß die Inspiratoren die Kirche als Deckmantel für die<br />

Vorbereitung ihrer Aktion nutzten. Der kriminelle <strong>und</strong> konspirative Charakter dieser Aktion sowie der<br />

damit verb<strong>und</strong>ene Vorsatz dieser Personen wurde an Fakten gegenüber den kirchlichen Vertretern<br />

nachgewiesen.<br />

Der Stellvertreter für Inneres leitete daraus gegenüber den kirchlichen Vertretern folgende staatliche<br />

Erwartungshaltung ab:<br />

1. Die kirchliche Aufsichtspflicht über die Benutzung der in den Räumen der Kirche befindlichen<br />

Vervielfältigungstechnik ist verstärkt wahrzunehmen. Eine exakte Nachweisführung über gefertigte<br />

Druckerzeugnisse ist zukünftig zu gewährleisten. Der Personenkreis, der diese Geräte benutzen darf,<br />

ist konkret festzulegen. Es kann nur das vervielfältigt werden, was der verantwortliche Pfarramtsleiter<br />

akzeptiert bzw. verantworten kann. Nur allein der Vermerk „Nur für innerkirchlichen Dienstgebrauch“<br />

schließt einen Mißbrauch nicht aus.<br />

2. Da auch kirchliche Mitarbeiter als Mitorganisatoren in Erscheinung getreten sind, ist die<br />

Dienstaufsichtspflicht der Leiter dieser Einrichtungen gegenüber diesen Personen verstärkt<br />

wahrzunehmen. Des weiteren aber auch gegenüber dem Personenkreis, die in den Basisgruppen der<br />

Kirche mitwirken. Es gilt die Aktivitäten dieser Leute auf den innerkirchlichen Raum zu beschränken<br />

<strong>und</strong> somit ihren Spielraum einzuengen, da sie ansonsten immer mehr zur Belastung des Staat-Kirche-<br />

Verhältnisses werden.<br />

3. Die Friedensgebete in der Nikolaikirche machen deutlich, daß sie von diesem Personenkreis nach wie<br />

vor zum Gegenstand für Angriffe gegen den Staat genutzt werden. Durch die Superintendenten wie<br />

durch das LKA ist weiter intensiv daran zu arbeiten, daß der theologische Gehalt der Friedensgebete<br />

noch weiter in den Vordergr<strong>und</strong> gerückt wird <strong>und</strong> diese Gebete durch befähigte <strong>und</strong> qualifizierte<br />

Pfarrer bzw. Theologen durchgeführt werden. Ausgehend von der derzeitigen Lage sollte<br />

kirchlicherseits ernsthaft geprüft werden, die Friedensgebete in der Nikolaikirche bis auf weiteres<br />

abzusetzen.<br />

4. Durch das LKA <strong>und</strong> den Superintendenten ist nun gegenüber Pf. Wonneberger konkret disziplinierend<br />

Einfluß zu nehmen, da dieser immer mehr zu einem Problem an sich wird 406 . Es zeigt sich immer<br />

deutlicher, daß Wonneberger bei allem politisch Negativen seine Hände mit im Spiel hat, über alles<br />

Bescheid weiß <strong>und</strong> als Berater <strong>und</strong> Kontaktperson für diesen Personenkreis zur Verfügung stand <strong>und</strong><br />

steht. Staatlicherseits wird über Wonneberger mit der Kirche nicht mehr lange geredet.<br />

405 vgl. Anm. 26 <strong>und</strong> 28<br />

406 Das MfS hatte das Ziel, C. Wonneberger aus Leipzig zu vertreiben. So heißt es anläßlich einer Absprache<br />

zwischen Referatsleiter der Abt. XX <strong>und</strong> Eppisch am 23.3.89 „Wonneberger - diskreditieren, mies machen<br />

(kirchl. Disziplinierung anweisen) [/] Ziel: weg von Leipzig“<br />

212


Der Stellvertreter für Inneres machte deutlich, daß durch das LKA <strong>und</strong> durch beide Superintendenten<br />

schnell gehandelt werden muß. Es gilt im Vorfeld der Leipziger Messe, der Kommunalwahlen aber auch<br />

des KTK <strong>und</strong> KT, daß gegenüber den Basisgruppen ernstzunehmende Zeichen gesetzt werden <strong>und</strong> damit<br />

der Rahmen ihres Wirkens durch die Kirche bestimmt wird. Mit Nachdruck wurde darauf hingewiesen,<br />

daß jeder Versuch dieser Kräfte, die staatliche Ordnung zu unterlaufen, durch die betreffenden Organe<br />

konsequent unterb<strong>und</strong>en wird. Darüber sollte auch nicht die Einstellung der Ermittlungsverfahren bei<br />

diesen Kräften hinwegtäuschen. Gegenüber den kirchlichen Vertretern wurde klar aufgezeigt, daß die<br />

Ermittlungsverfahren nicht aufgr<strong>und</strong> fehlender Straftatbestände eingestellt wurden, sondern um das Staat-<br />

Kirche-Verhältnis nicht weiter zu belasten. Somit sollten daraus insgesamt keine falschen<br />

Schlußfolgerungen gezogen werden.<br />

Durch die kirchlichen Vertreter wurden dazu folgende Standpunkte vertreten:<br />

1. OKR Auerbach machte deutlich, daß die Vorgänge in <strong>und</strong> um die Nikolaikirche, aber auch die<br />

Vorkommnisse um den 15.01.1989, in der Landeskirchenleitung Wirkung haben <strong>und</strong> daß man sich<br />

stärker dazu profilieren muß <strong>und</strong> dies auch tun wird. Die Superintendenten von Leipzig haben dies<br />

schon mit ihren R<strong>und</strong>schreiben an alle Gemeinden in der Stadt Leipzig, wo sie zu den Vorgängen um<br />

den 15.01.1989 Stellung nehmen, klar getan <strong>und</strong> sich von diesen Leuten distanziert407 . Die Kirche wird<br />

auf diese Herausforderung reagieren. Dies erfordert aber einen langen Weg. Man sollte der Kirche aber<br />

dazu Zeit lassen.<br />

2. OKR Auerbach verwies darauf, daß es innerkirchliche Regelungen gibt, die genau festlegen, welche<br />

Materialien unter den Begriff „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“ fallen. Damit wird<br />

gleichzeitig der Adressatenkreis genau bestimmt. Somit stellt man sich als Kirche auch nicht hinter<br />

diesen Personenkreis <strong>und</strong> den [sic!] damit verb<strong>und</strong>enen Aktivitäten. Man wird sich am Dienstag in der<br />

Kirchenleitungssitzung zu diesen Fragen verständigen, vor allem hinsichtlich der verstärkten<br />

Wahrnehmung der Aufsichtspflicht durch die Leiter kirchlicher Einrichtungen bzw. Pfarramtsleiter, die<br />

im Besitz solcher Geräte sind. Höchstwahrscheinlich wird ein R<strong>und</strong>schreiben an alle Pfarrämter bzw.<br />

kirchlichen Einrichtungen in der Landeskirche zu dieser Problematik ergehen 408.<br />

3. Nach Auffassung von Auerbach sind die betroffenen Mitarbeiter der Inneren Mission Leipzig-Stadt<br />

bzw. die ehemaligen Studenten des Theologischen Seminars gute Leute (in ihrer Arbeit <strong>und</strong> in ihren<br />

Leistungen). Nach seiner Meinung kann man sie nicht als Kriminelle in diesem Sinne bezeichnen. Sie<br />

beschäftigen sich schon über einen längeren Zeitraum mit den Menschenrechten <strong>und</strong> ihrer<br />

Verwirklichung. Für die Kirche ist aber entscheidend die theologische Frage, in welcher Form <strong>und</strong> mit<br />

welchen Mitteln diese Rechte eingeklagt werden können. Die Formen <strong>und</strong> Methoden, mit denen diese<br />

Leute dies tun wollen, kann aber die Kirche nicht gutheißen <strong>und</strong> somit auch nicht tolerieren. Auf der<br />

anderen Seite kann sich aber die Kirche auch nicht von diesen Leuten trennen, da sie gegenüber diesen<br />

eine Verantwortung wahrzunehmen hat.<br />

4. Sup. Richter gab zu verstehen (ebenfalls Magirius <strong>und</strong> Auerbach), daß man die Sorge des Staates gehört<br />

habe <strong>und</strong> man sie als Kirche teilt. Darüber bestehe ein Konsens. Man wolle das in ihren Kräften<br />

stehende tun, um eine Versachlichung <strong>und</strong> Beruhigung der Lage schnellstens herbeizuführen. Dafür<br />

gibt es nur einen gangbaren Weg, d.h., mit den Gruppen weiter intensiv im Gespräch zu bleiben. In<br />

ihren R<strong>und</strong>schreiben an die Gemeinden haben sie gesagt, was zu sagen ist <strong>und</strong> was sie vom politischen<br />

Dialog halten. Dieses Papier wird auch weiter im Mittelpunkt der Diskussion im innerkirchlichen<br />

Bereich stehen. Inwieweit man damit Erfolg hat ist jetzt noch nicht abzusehen. Auf der anderen Seite<br />

sieht er sich aber auch überfordert. Der Staat gibt den Leuten die „lange Leine“ <strong>und</strong> er soll die Leute an<br />

die „kurze Leine“ legen.<br />

407 s. Dok. 128<br />

408 Pf. Turek hatte Gruppenmitglieder an das Ormig-Gerät der Gemeinde gelassen, ohne sich zu vergewissern, daß<br />

nur die genehmigten Matrizen abgezogen wurden. So wurde Anfang Januar ein Teil der Flugblätter zur<br />

Demonstration am 15.01.1989 auf diesem Gerät hergestellt. Pf. Turek wurde deshalb vom Staat aber auch von<br />

der Kirchenleitung (Operativinf. 87/89 des Ref. XX/2 der KD Leipzig Stadt, abgedruckt in: Besier Wolf, 671f.)<br />

zur Rede gestellt. Das Landeskirchenamt gab daraufhin eine Anweisung an alle Pfarrer heraus, wie sie mit den<br />

Vervielfältigungsgeräten umzugehen haben (LKA Reg.-Nr. 2402/89 - ABL H 1).<br />

213


5. Durch Sup. Magirius wurde klargestellt, daß man alles tun will, um die Friedensgebete wieder in die<br />

richtigen Bahnen zu leiten. Diese Bemühungen trägt auch der Kirchenvorstand der Nikolaikirche mit.<br />

Gelingt dies nicht, wird man die Friedensgebete bis auf weiteres absetzen 409 . Diese Maßnahme, sollte<br />

sie zum Tragen kommen, birgt aber Gefahren in sich. Dies kann zu einer Verlagerung der<br />

Friedensgebete in andere Kirchen der Stadt Leipzig z.B. in die Lukas- oder Michaeliskirche führen. So<br />

etwas kann aber nicht gewollt sein, da man dann wieder am Anfang steht <strong>und</strong> vor noch schwierigeren<br />

Problemen.<br />

6. Zur Person Wonneberger machte Auerbach deutlich, daß die Landeskirche um die Person <strong>und</strong> dem<br />

damit verb<strong>und</strong>enen Problemen weiß. Sie ist gewillt, sich mit Wonneberger „kämpferisch“<br />

auseinanderzusetzen, um ihn auf den richtigen Weg zu bringen. Vor Wonneberger <strong>und</strong> diesen Leuten<br />

habe die Kirche keine Angst. Sie ist dem gewachsen. Auch wenn sich die Kirche mit Wonneberger hart<br />

auseinandersetzt, wird sie aber auch gleichzeitig für diesen Mann bis zuletzt eintreten.<br />

Im Verlaufe des Gesprächs, daß trotz des ernsten Anlasses in einer sachlichen <strong>und</strong> vertrauensvollen<br />

Atmosphäre verlief, äußerten die kirchlichen Vertreter nachfolgende Meinung:<br />

OKR Auerbach<br />

Was manche Personen vor der Nikolaikirche versuchen zu veranstalten, also außerhalb der Kirche, ist<br />

nicht die Folge von dem, was in der Kirche gesagt wurde. Die Gruppen sind untereinander uneins <strong>und</strong><br />

zersplittert. Die Kirche steht damit vor einer schwierigen Situation. Viele Pfarrer aus Leipzig kennen die<br />

Friedensgebete in der Nikolaikirche nicht, da sie diese noch nie besucht haben.<br />

Sup. Richter<br />

Nach seiner Meinung wird aus der Gesamtproblematik ein Generationsproblem, vor allem in bezug auf<br />

die Jugend, sichtbar. Man sollte gemeinsam über die Ursachen nachdenken. Tut man dies nicht, können es<br />

morgen schon mehr Straftaten sein. Die Generation heute denkt anders als die in den 50er Jahren. Die<br />

Kirche hat es mit Menschen zu tun. Dort, wo Menschen sind, besteht auch eine Bandbreite von<br />

Meinungen. Ein Gr<strong>und</strong>konsens zu den Fragen Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung ist<br />

erreicht. Es gibt aber auch Leute, die dort nicht stehen bleiben wollen, die mehr <strong>und</strong> weiter gehen<br />

möchten. Die Situation am letzten Montag vor der Nikolaikirche, hervorgerufen durch Polizei <strong>und</strong> andere<br />

Kräfte, war für ihn beängstigend. Es geht ihm darum, daß die Stimmung nicht weiter angeheizt wird. Nach<br />

seiner Meinung fehlen die staatlichen Initiativen, die diese Aktivitäten auffangen bzw. Gesprächspartner<br />

für diese jungen Leute in den Gruppen organisieren. Nach seinem Wissen steht auch 1989 wiederum ein<br />

„Pleißemarsch“ ins Haus. Wo ist der Kulturb<strong>und</strong>, der diese Aktivitäten kompensiert?<br />

Sup. Magirius<br />

Die Kirche hat nur die Möglichkeit, mit diesen Leuten zu reden. Gesprächskontakte mit den Gruppen sind<br />

weiter notwendig. Man sollte die Gruppen sich nicht selbst überlassen. Nach seiner Meinung redet sonst<br />

niemand mit diesen Personen. Sie sind aber da. Hinsichtlich der Einflüsse: Sie sind nicht allein nur vom<br />

Westen gegeben. Aus den sozialistischen Ländern kommen Neuerungen, über die in den Gruppen geredet<br />

<strong>und</strong> diskutiert wird. Es sind Fragen, die das tägliche Leben berühren. Es wird alles getan, um die<br />

Friedensgebete in der Nikolaikirche wieder zu dem zu machen, was sie früher waren. In diesem<br />

Zusammenhang äußert er die Bitte, die gesellschaftlichen Kräfte zukünftig nicht mehr so präsent in<br />

Erscheinung treten zu lassen. Am 28.01.1989 habe auch Rechtsanwalt Schnur noch einmal mit dem<br />

betreffenden Personenkreis zur juristischen Sachlage geredet. Dabei ist deutlich geworden, daß dies bei<br />

einigen Personen auf einen schwierigen Boden fällt, d.h., daß sie sich ihres Fehlverhaltens nicht bewußt<br />

werden wollen.<br />

Zum Abschluß wurde durch den Stellvertreter für Inneres auf die jüngsten einseitigen<br />

Abrüstungsinitiativen in der DDR <strong>und</strong> der anderen sozialistischen Länder verwiesen. Dabei wurde<br />

hervorgehoben, daß diese Initiativen auch unter den Amtsträgern bzw. unter den Friedensgruppen in der<br />

409 Dieser Satz wurde Anlaß für eine Kontroverse in der Leipziger Volkszeitung im Januar 1992 (25./26.01.1992, S.<br />

1+2 <strong>und</strong> Leserbriefe in den folgenden zwei Wochen).<br />

214


Kirche ein klares Bekenntnis hinsichtlich der Befürwortung auslösen müßten. Mit diesen Initiativen<br />

werden Forderungen heute konkret in Angriff genommen, für die die Friedensgruppen 1982/83 beharrlich<br />

eingetreten sind. Warum melden sich diese Gruppen heute nicht zu Wort, die gestern gerufen haben?<br />

Warum steht man heute nicht mehr zu dieser Meinung?<br />

Im Ergebnis des Gespräches wurde zum Gr<strong>und</strong>anliegen <strong>und</strong> zur Lageeinschätzung ein Konsens erzielt,<br />

mit der Maßgabe, daß die kirchlichen Vertreter beruhigend, versachlichend <strong>und</strong> disziplinierend gegenüber<br />

diesen [sic!] Personenkreis bzw. Gruppen wirken, auch mit Blick auf das sich bewährende Staat-Kirche-<br />

Verhältnis. Dabei sollte es auch um die Bürger christlichen Glaubens gehen, die aus religiösen <strong>und</strong> nicht<br />

aus politischen Motiven in die Kirche gehen wollen.<br />

136 Kirchenvorstandsprotokoll<br />

Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 47. Sitzung des Kirchenvorstandes St. Nikolai vom<br />

13.02.1989. An der Sitzung nahm Sup. Magirius nicht teil. Das Protokoll schrieb W. Hofmann (ABL H 54).<br />

Tagesordnung: 1. Besetzung 3. Pfarrstelle [/] 2. Ausschreibung Gemeindeschwesternstelle [/] 3. Neue<br />

Kanzleisituation [/] 4. Bauarbeiten, Stand <strong>und</strong> Vorhaben [/] 5. Gesprächsergebnis FG [/] 6. Etwaige<br />

weitere Gegenstände<br />

[...] Dafür wird unter TOP 4 die Friedensgebet-Situation behandelt. 410 Das Schreiben des<br />

Bezirkssynodalausschusses für Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit vom 26.1.89 an den Kirchenvorstand wird<br />

verlesen <strong>und</strong> beraten411 . Es ist eine Antwort auf die gefaßten Gr<strong>und</strong>sätze des KV vom [neue Seite] 8. Dez.<br />

1989412 . Entsprechend der selbstverständlichen Gr<strong>und</strong>sätze 4, 1-5, <strong>und</strong> der Ablaufordnungen B wird bei<br />

den Friedensgebeten künftig verfahren, da im Schreiben des Bezirkssynodalausschusses vom 26.1.89 die<br />

Zustimmung allen dort vertretenen Gruppen vorliegt. Wir weisen daraufhin, daß die nächste KV-Sitzung<br />

am 6. März stattfindet. [...]<br />

Mit 7 Ja-Stimmen <strong>und</strong> 1-Nein-Stimme gibt der KV die Erlaubnis zur Durchführung einer<br />

Informationsveranstaltung zur Wahl in der DDR im Gemeindesaal St. Nikolai.<br />

Lesung 413 Günter Graß am Dienstag, 21.11.89, im Rahmen der Friedensdekade in der Kirche 414.<br />

[...]<br />

137 Friedensgebetstexte<br />

Texte aus dem Friedensgebet am 27.02.1989, welches von Pf. Führer zusammen mit dem<br />

Ausreisegesprächskreis „Hoffnung“ gestaltet wurde. Vorlage sind die maschinengeschriebene Entwürfe, die<br />

teilweise handschriftliche Anmerkungen <strong>und</strong> Zusätze tragen (C. Führer).<br />

1. Begrüßung durch Pfarrer M. Wugk, [dem] stellvertetenden Superintendenten, mit der Tageslosung<br />

2. Lied: O komm, DU Geist der Wahrheit (V. v. Törne)<br />

3. Lesung: Matth. 5,3-12<br />

4. Predigt über Röm. 12,12/19/21<br />

[Pf. Führer:] Liebe Montagsgemeinde des Friedensgebetes!<br />

Wenn wir uns Montag für Montag hier versammeln, dann hat das seinen Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> seine Gründe. Für<br />

viele von uns ist das Friedensgebet ein Bedürfnis geworden, entstanden aus einer persönlichen Situation<br />

der Betroffenheit. Mancher kann seine Betroffenheit in Worte fassen, andere hingegen nicht, etliche<br />

finden sich in dem wieder, was andere formulieren <strong>und</strong> aussprechen. Wir hören jetzt solche Zeugnisse der<br />

Betroffenheit: [folgende Texte sind in der Vorlage auf extra Blättern zu finden]<br />

410 Am Rand wurde „15.02.“ gestempelt, als Datum der Umsetzung des Beschlusses.<br />

411 s. Dok. 134<br />

412 Vermutlich ist der Brief vom 8.12.1988 gemeint, s. Dok. 121<br />

413 Am Rand wurde „14.02.“ gestempelt, als Datum der Umsetzung des Beschlusses.<br />

414 Die Lesung fand am 21.11.1989 in der Nikolaikirche statt.<br />

215


Frau Dr. Zehner [... die Blätter haben jeweils die Kopfzeilen: „Gesprächskreis Hoffnung St. Nikolai<br />

Zeugnis der Betroffenheit“]:<br />

Irgendwann habe ich begriffen, daß es über meine Kräfte geht, weiter das mitzumachen, was man „Weg<br />

zum Sozialismus“ nennt. Und so manches möchte ich da auch nicht mitverantworten.<br />

Es werden durch den Totalitätsanspruch der marxistisch-leninist[ischen] Weltanschauung in allen<br />

gesellschaftlichen Bereichen, vor allem aber im Bildungswesen, ständig Bekenntnisse <strong>und</strong><br />

Verpflichtungen verlangt, hinter denen der Einzelne [sic!] oft gar nicht steht. So erfolgt eine Erziehung zu<br />

Heuchelei, zu Denken <strong>und</strong> Handeln in vorgeschriebenen Bahnen. Das administrierend-verfügende<br />

Regiment von Partei <strong>und</strong> Staat mit einem Informationssystem, das in seiner Ideologieabhängigkeit nur die<br />

Fakten durchläßt, die in seine Richtung passen, führt zu Spannungen zwischen Regierenden <strong>und</strong><br />

Regierten. Es hat sich ein Gemisch aus Apathie, organisierter Verantwortungslosigkeit, Tabuisierung <strong>und</strong><br />

Verleugnung von Problemen ergeben. Eine gesellschaftliche Partizipation ist nicht erwünscht, es wird den<br />

Menschen lediglich die Rolle zustimmenden Mittuns, nicht aber die kritische Partnerschaft eingeräumt.<br />

Mündigkeit wird außerdem gehindert durch ein weit verbreitetes Gefühl der Angst <strong>und</strong> die andauernde<br />

Erfolglosigkeit eigener Bemühungen entmutigt. Das führt zu einer Resignation, aus der ich nicht<br />

herausfinden kann. Meinte ich anfangs noch, Wellenbrecher <strong>und</strong> Gegenpol sein zu müssen, wollte ich<br />

später doch wenigstens in einem begrenzten Bereich Einfluß ausüben. Schließlich nur noch <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong><br />

tragen. Alles mündete im Rückzug auf den privaten Bereich. Ich bin nicht der Typ, der sich mit einer<br />

Fahne, welcher auch immer, auf die Straße stellt. Ich organisiere auch keine Untergr<strong>und</strong>bewegung oder<br />

halte Staatsmaschinerien auf. Ich möchte das sagen <strong>und</strong> tun können, was ich für richtig halte. Ich möchte<br />

keinem anderen Menschen Schaden zufügen <strong>und</strong> suche einen Einklang zwischen mir <strong>und</strong> meinem<br />

Lebensraum. Leben heißt auch Veränderung!<br />

Herr Kunze [... s.o.]: Einige Gedanken: Ich glaube, in der DDR wird zuviel Für- <strong>und</strong> Vorsorge an der<br />

falschen Stelle getrieben. Der Glücksanspruch des einzelnen bleibt auf der Strecke. Mit materieller<br />

Sicherheit, mit Arbeitsplatz <strong>und</strong> Lehrstelle für jeden, mit preiswerten Wohnungen, Straßenbahn <strong>und</strong> Brot<br />

für Pfennige allein ist der Mensch kaum zufriedenzustellen...<br />

Das administrierte Glück für alle hat nicht nur einen faden Beigeschmack, sondern produziert auch<br />

apathische Unzufriedenheit.<br />

Frau Kreyßig [... s.o.]: Einige Gedanken: Für mich ist Sozialismus eine Staatsform, die mit großem<br />

Anspruch angetreten ist, jetzt aber immer mehr erstarrt. Ich kann nicht mehr an ihre Zukunftsträchtigkeit<br />

glauben. Bedauerlich ist, daß der Praxis mehr <strong>und</strong> mehr die Idee verloren geht.<br />

Kommunistisches Ethos <strong>und</strong> christliches hatten viel gemeinsam. Als Erlöser nicht Jesus, sondern die<br />

Arbeiter. Und die sollen das Himmelreich schon auf Erden errichten. Bloß, was errichten sie wirklich? ...<br />

Es wachsen mit: Gleichheit, Gleichmacherei <strong>und</strong> Gleichgültigkeit. Woher soll die Motivation kommen?<br />

Mit Menschen ist das nicht zu machen! ... Obwohl Sozialismus Materialismus lehrt, fordert er unentwegt<br />

Idealismus.<br />

[Pf. Führer:] Ich selbst möchte noch eine Betroffenheit hinzufügen. Was Christoph Hein in seinem Roman<br />

„Horns Ende“ beschreibt, läßt sich in Variationen auch heute erfahren. Ich hörte vor 14 Tagen von einem<br />

Gewi-Lehrer 415 <strong>und</strong> Genossen, 59 Jahre alt. Es ist mit seiner Frau von einer BRD-Reise nicht<br />

zurückgekehrt, ist „drüben“ geblieben. Nun, da beginnen die Gedanken zu laufen. Da hat der Mann den<br />

Schülern jahrelang den Sozialismus verkündet in der bekannten Art <strong>und</strong> Weise. Da hat der Mann<br />

jahrelang christlichen Kindern das Leben schwergemacht. Und nun sieht er in der BRD seiner gesicherten<br />

Beamtenpension in DM-West, versteht sich, entgegen. Wie viele solche Menschen leben noch unter uns?<br />

Wie viele solcher Menschen mögen heute noch den Sozialismus <strong>und</strong> die Vorteile <strong>und</strong> Zukunftsträchtigkeit<br />

dieses Systems dozieren, um bei günstiger Gelegenheit die Früchte des dem Untergang geweihten<br />

Kapitalismus zu genießen?<br />

Wahrscheinlich hat jeder von uns irgendwo ein Gefühl der Betroffenheit. Sei es an einer der<br />

angesprochenen oder anderen Stellen. Viele von uns leben mit der geheimen Last auf der Seele. Wie man<br />

sich da fühlt, beschreibt Aitmatow in der „Richtstatt“ (S. 95): „Wie groß die Erde auch sein mag, wie<br />

schön neue Eindrücke sein mögen - alles ist nichts wert <strong>und</strong> gibt weder dem Verstand noch dem Herzen<br />

415 Lehrer der „Gesellschaftswissenschaften“, d.h. des Marxismus-Leninismus<br />

216


etwas, wenn im Bewußtsein auch nur ein winziger Schmerzpunkt existiert, der das Allgemeinbefinden <strong>und</strong><br />

das Verhältnis zur Umwelt aus dem Verborgenen bestimmt.“<br />

Wie entledigt man sich dieser geheimen Last, wie beseitigt man den Schmerzpunkt? [/] - Durch Ausreise?<br />

[/] - Durch Resignation? [/] - Durch blinde Anpassung zum Zweck der Sicherung eigener Vorteile?<br />

Den Ausreisewilligen wird oft vorgeworfen, sie seien verantwortungslos diesem Land gegenüber <strong>und</strong><br />

ließen es im Stich. Sehen wir uns doch einmal einen DDR-Bürger an, der hier lebt, <strong>und</strong> der so typisch<br />

anscheinend schon ist, daß er bereits vor Jahren im Kabarett glossiert wurde (Wem die Mütze paßt, S.<br />

118 416 ): „Mein Gr<strong>und</strong>satz lautet: Vorwärts - aber mit Rückendeckung! Hinter mir das jeweils letzte<br />

Plenum [des ZK der SED], vor mir meine gesicherte Zukunft! Und so kann ich denn sagen: Plenen<br />

kommen <strong>und</strong> gehen, aber meine Karriere, die bleibt bestehen! Denn das ist der Weisheit letzter Schluß:<br />

Der Weise tut nichts, was er verantworten muß. [/] Shiguli [PKW-Modell] <strong>und</strong> Bungalow sind des Weisen<br />

Zeichen. Meidest du das Risiko, kannst du sie erreichen. Darum denke jederzeit nach, was andre denken.<br />

Und vor allem: Sei bereit, sofort umzuschwenken, wenn der Wind sich dreht. Kurz: Sei up do date! Denn<br />

es wechseln - ihr Naiven - schnell die schönsten Direktiven! [/] Gestern noch alles für die<br />

Datenverarbeitung, heute schon wieder Kopfrechnen! Da heißt es, das Ohr an der richtigen Masse haben!<br />

Als Leiter muß man eben manchmal seiner Zeitung voraus sein. Ahnen ist besser als planen. Einen guten<br />

Gedanken zum falschen Zeitpunkt äußern, das kann die ganze Intelligenzrente kosten! Lieber zehn Fehler<br />

mitmachen, als einen allein. Denn mitgemachte Fehler brauchst du dir nicht zu Herzen zu nehmen. Nimm<br />

sie in den M<strong>und</strong> <strong>und</strong> käue wieder: ich bin klein - mein Motiv war rein - sollte ich denn klüger als alle<br />

sein? Und du wirst sehen: Geteilter Schneid bringt selten Leid. Und so sitz ich sieben Jahr sicher auf dem<br />

Posten. Fahr zwar keinen Jaguar, doch das liegt am Osten. Hab zwei Konten <strong>und</strong> zwei Fraun,<br />

Swimmingpool - ‘nen kleinen - hab ‘ne Villa mit ‘nem Zaun, bloß Charakter keinen. Daß ich den verlor,<br />

brauchte nur Komfort. Denn ich hab ihn - ihr Naiven - eingetauscht für Direktiven! [/] Alle sagen,<br />

Charakterlosigkeit sei etwas Schlechtes. Ich sage: Erwirb sie, um was zu besitzen!“<br />

Wie ist das nun mit der eindeutigen Schuldzuweisung? Stellt sich bei näherem Hinsehen nicht doch die<br />

Frage, wer verantwortungsloser handelt, wer diesem Land mehr Schaden zufügt, der Ausreisewillige oder<br />

der eben beschriebene DDR-Bürger? [/] Gefühle der Betroffenheit <strong>und</strong> die geheime Last der Seele, der<br />

Schmerzpunkt - wie gehen wir damit um? Haben wir da einen Hinweis oder einen Rat bereit, hier im<br />

dieser Kirche des JESUS CHRISTUS? Etwas, was für uns alle gilt, für die, die gehen wollen, wie auch für<br />

die, die bleiben wollen? Für die, die gehen müssen, wie auch für die, die bleiben müssen?<br />

„Seid fröhlich in Hoffnung, standhaft in allen Schwierigkeiten, werdet nicht müde im Beten... [/]<br />

Greift der Strafe GOTTES ... nicht vor, liebe <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>! Denn es heißt: „ICH habe MIR die Vergeltung<br />

selbst vorbehalten“, sagt der HERR. „ICH selbst werde es ihnen heimzahlen“. Laß dich also vom Bösen<br />

nicht besiegen, sondern überwinde es durch das Gute.“ (Röm. 12,12/19/21)<br />

1. „Fröhlich in Hoffnung!<br />

Als Alexander der Große zu einem seiner Feldzüge in den Orient aufbrach, verteilte er alle möglichen<br />

Geschenke an seine <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>. Er trennte sich in seiner Freigebigkeit [sic!] von sehr vielem, was es<br />

besaß. Einer seiner <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> sagte zu ihm: „Du wirst selbst nichts mehr behalten!“ „O doch“, erwiderte<br />

Alexander, „ich behalte meine Hoffnungen!“<br />

Wir brauchen eine Hoffnung, die hüben <strong>und</strong> drüben gilt, eine Hoffnung, die unabhängig ist von den<br />

Fahnen, die draußen wehen. Eine Hoffnung über den Ideologien. Eine Hoffnung auf morgen. Eine<br />

Hoffnung, die uns fröhlich macht, aufrichtet, ermutigt, auch wenn uns Ablehnung, Resignation oder<br />

Anpassung einschränken <strong>und</strong> fertigmachen wollen. Im Blick auf den gekreuzigten <strong>und</strong> auferstandenen<br />

JESUS CHRISTUS leben Christen nach der Devise: „Das Beste kommt noch!“ Weil wir die Gnade<br />

GOTTES, die Liebe unseres HERRN JESUS CHRISTUS <strong>und</strong> die Gemeinschaft des Heiligen<br />

GEISTES erfahren in unserem Leben, weil uns im Tiefpunkt unseres Lebens, an der dunkelsten Stelle<br />

das Wort JESU erreicht: „Laß dir an MEINER Gnade genügen, denn MEINE Kraft ist in den<br />

Schwachen mächtig“, darum kommen wir immer wieder auf die Beine, innerlich <strong>und</strong> äußerlich. So<br />

wagen wir den Satz: Es gibt keine aussichtslosen Situationen im Leben, sondern nur Menschen, die die<br />

Hoffnungen aufgegeben haben. Echte Christen geben die Hoffnungen nie auf. Ich lade uns alle heute<br />

416 Aus: P. Ensikat, Bürger schützt eure Anlagen oder Wem die Mütze paßt, Berlin 1983, 118f.<br />

217


erneut ein zu CHRISTUS, der Hoffnung über den Ideologien.<br />

2. „Standhaft in allen Schwierigkeiten“<br />

Diese Aufforderung gelingt nur als 2. Schritt, wenn der erste Schritt „fröhlich in Hoffnung“ heißt.<br />

Auch heißt dies, sich den Schwierigkeiten nicht ausliefern, nicht preisgeben. Jemand, der tapfer seine<br />

Schwierigkeiten <strong>und</strong> Leiden aushielt, wurde gefragt: „Leiden verleiht dem Leben Farbe, nicht wahr?“<br />

Darauf der Betreffende: „Das stimmt. Doch ich beabsichtige, die Farbe selbst zu wählen.“ Diese<br />

Haltung atmet ein Stück Freiheit. Standhaft in Schwierigkeiten zu sein, weil Glaube <strong>und</strong> Hoffnung den<br />

Rücken uns stärken, wär’n [sic!] ein schönes Ziel. Menschen ohne Rückgrat hab’n wir schon zuviel.<br />

3. „Werdet nicht müde im Beten“.<br />

Wer noch nie am Abgr<strong>und</strong> des Lebens gestanden hat, der wird die einmalige Möglichkeit des Gebetes<br />

unterschätzen. Vielleicht gehört ein großer Teil von ihnen oder denen, die von Amts wegen hier sind,<br />

zu den Menschen, die Beten als einen Ersatz oder gar Gegensatz zum Handeln ansehen. Dem sei das<br />

Gebet der stummen Kattrin aus Mutter Courage von B. Brecht empfohlen 417 . Erstaunlich, was Brecht<br />

hier über das Verhältnis von Beten <strong>und</strong> Tun auszudrücken vermag. Ja, in Wirklichkeit ist Beten die<br />

Voraussetzung für verantwortliches Handeln, für Mut zur Wahrheit, für aufrechten Gang. Beten schafft<br />

innen, in der Schaltzentrale, Ordnung <strong>und</strong> Klarheit. Und wenn es innen stimmt in mir, dann wirft mich<br />

so leicht nichts um. Wenn es innen in mir jedoch kippelig <strong>und</strong> unsicher ist, dann werde ich zum<br />

Spielball der Ämter <strong>und</strong> Instanzen, dann verliere ich den Kopf in Auseinandersetzungen, <strong>und</strong> auch der<br />

Körper hält es nicht mehr aus; <strong>und</strong> die Organe fangen an zu schreien.<br />

Wer in Not ist, wem die geheime Last der Seele zu schwer wird, der kann nicht auf das Beten verzichten,<br />

wenn er nicht in den Abgr<strong>und</strong> der Verzweiflung <strong>und</strong> der Depression versinken will. Darum gehört das<br />

Gebet unbedingt zu Hoffnung <strong>und</strong> Standfestigkeit.<br />

„Seid fröhlich ... es durch das Gute. [Wiederholung der Bibelverse]“ Amen.<br />

5. Fürbittengebet<br />

Ehe wir mit dem Gebet beginnen, werden wir einen Stein bringen. Wenn wir ihn ansehen, dann denken<br />

wir an das, was uns bedrückt, beschwert, was auf uns lastet. Wir werden unsere Fürbitten dann auch unter<br />

den Stein legen.<br />

Und wir haben Kerzen. Wenn wir sie dann brennen sehen, dann wissen wir: wir haben in Christus eine<br />

unauslöschliche Hoffnung, jenseits aller Ideologien, in uns, bei uns, unter uns. Darum sind wir hier.<br />

Herr Zehner: HERR, wir denken an all diejenigen, die in der Welt Macht durch Gesetz ausüben. Wir<br />

bitten dich, gib denen, die diese Gesetze erlassen <strong>und</strong> verantworten, die Überzeugung, daß die Gesetze für<br />

die Menschen <strong>und</strong> nicht die Menschen für die Gesetze da sind. Herr, für alle, die reisen oder ausreisen<br />

wollen, ist eine neue gesetzliche Regelung Gr<strong>und</strong>lage der Antragstellung geworden. Viele haben nach<br />

einer gerechten <strong>und</strong> überprüfbaren Regelung gerufen <strong>und</strong> sind nun enttäuscht über diese Bestimmungen.<br />

Hilf, daß die Auslegung der Verordnung großzügig <strong>und</strong> gerecht erfolgt, <strong>und</strong> sei bei denen, die schwere<br />

St<strong>und</strong>en überstehen müssen. Wir alle haben die Enttäuschung hinnehmen müssen <strong>und</strong> waren gleichzeitig<br />

dankbar für die aufrichtenden Worte an jedem Montag. HERR, wir bitten Dich, die Friedensgebete noch<br />

lange für uns bestehen zu lassen. Zeige all jenen, die auf Gewalttätigkeiten warten, daß dies für uns keine<br />

Lösung sein kann. HERR, wir rufen zu Dir...<br />

[Gemeinde: Kyrie, Kyrie eleison] Während des Kyrie Fürbitte unter den Stein, Kerze anzünden.<br />

Frau Theuner: HERR, wir ahnen, daß nur der wirklich frei sein kann, dessen Leben einen Sinn hat. Wir<br />

bitten Dich, gib jedem von uns einen Blick für den eigenen Sinn des Lebens <strong>und</strong> gib uns die Kraft, dies<br />

auch in ausweglosen Situationen unseres Daseins nicht zu vergessen. HERR, wir wissen, daß unsere<br />

Freiheit immer Unfreiheit für andere bedeuten kann. Wir bitten Dich, gib uns das richtige Gefühl für<br />

unseren Nächsten <strong>und</strong> dessen Freiheit. Laß uns den gegenseitigen Charakter der Freiheit erkennen. HERR,<br />

wir denken an die vielen Menschen, die in Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart für die Freiheit gekämpft haben<br />

bzw. kämpfen, ohne die Aussicht, diese Freiheit selbst zu erleben. Wir bitten Dich, gib dieser Welt immer<br />

417 Im vorletzten Aufzug von „Mutter Courage <strong>und</strong> ihre Kinder“ wird die Kattrin aufgefordert zu beten, da scheinbar<br />

keine Rettung der Stadt vor den „kaiserlichen Truppen“ mehr in Sicht ist. Kattrin jedoch trommelt, so daß die<br />

Wächter der Stadt auf das sich heranschleichende Heer aufmerksam gemacht wird (B. Brecht, Werke. Stücke 6,<br />

Berlin, Weimar, Frankfurt/Main 1989, 81f.).<br />

218


wieder neue Anwälte der Benachteiligten, der Gequälten <strong>und</strong> Unterdrückten. Hilf, HERR, daß die neuen<br />

KSZE-Vereinbarungen nicht nur Papier bleiben, sondern mit Leben <strong>und</strong> Menschlichkeit erfüllt <strong>und</strong> für<br />

jeden Bürger unseres Landes spürbar werden. HERR, wir rufen zu Dir...<br />

Frau Jokiel: HERR, wir denken an die vielen Menschen, die in unserem Lande apathisch <strong>und</strong> ohne<br />

Hoffnung leben. Wir bitten Dich, gib ihnen Zuversicht in die Zukunft <strong>und</strong> den Mut, an den erforderlichen<br />

gesellschaftlichen Veränderungen aktiv mitzuarbeiten. Hilf, HERR, daß der konziliare Prozeß in allen<br />

Gemeinden in Gang kommt <strong>und</strong> daß sich noch mehr kirchliche Mitarbeiter dafür engagieren. Laß uns alle<br />

erkennen, daß die Kirche ein wichtiges Mandat in unserem Lande hat, <strong>und</strong> gib den Verantwortlichen in<br />

der Kirche die nötige Kraft, den richtigen Weg zu weisen. HERR, wir rufen zu Dir...<br />

Frau Geißler: HERR, Du kennst unseren Wunsch nach einem zivilen Wehrersatzdienst <strong>und</strong> weißt, daß<br />

damit Pflege <strong>und</strong> Führsorge für die älteren Menschen unseres Landes gewährleistet werden könnte. Hilf,<br />

daß im Rahmen der Abrüstung <strong>und</strong> Truppenreduzierung auch dieser wichtige Schritt getan wird. Hilf,<br />

HERR, all denen, die in Einrichtungen der Volksbildung in Gewissenskonflikte geraten <strong>und</strong> Nachteile in<br />

Kauf nehmen müssen, weil sie die vormilitärische Ausbildung der Jugend so nicht akzeptieren können.<br />

Laß die Verantwortlichen zu der Einsicht kommen, daß aus dem jetzigen System der Wehrerziehung ein<br />

neues System der friedlichen Konfliktbewältigung geschaffen werden muß. HERR, wir rufen zu Dir...<br />

Herr Kunze: HERR, wir wissen, daß viele in der Welt in ein gesellschaftliches System hineingeboren<br />

werden, daß sie nicht akzeptieren können. Gib all denen die Chance, das Land freier Wahl zu erreichen.<br />

HERR, wir denken an die ungezählten Menschen, die einen Antrag auf Ausreise aus der DDR gestellt<br />

haben. Wir sehen besorgt, wie diese Gruppe in das gesellschaftliche Abseits gedrängt <strong>und</strong> die<br />

Beweggründe, die diese Menschen haben, negiert werden. Hilf, HERR, daß in unserer Gesellschaft ein<br />

offener Dialog darüber möglich wird. Gib, daß die Gespräche mit den staatlichen Stellen von<br />

Menschlichkeit <strong>und</strong> Verständnis geprägt werden. HERR, wir rufen zu Dir...<br />

Pf. Führer: Nun, HERR, wollen wir Stille lassen für alle geheimen Lasten, für jede unausgesprochene Not,<br />

die unter den hier Versammelten da ist. Wir gedenken auch der in unserem Nachbarland CSSR<br />

verhafteten <strong>und</strong> mit hohen Strafen belegten Bürger:<br />

Gebetsstille<br />

HERR, wir rufen zu DIR: (wie nach jedem Gebetsanliegen das gesungene Kyrie)<br />

[Gemeinsames Gebet] Vater unser ...<br />

6. Segen<br />

7. Lied: „Komm, HERR, segne uns...“<br />

138 Kirchenvorstandsprotokoll<br />

Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 48. Sitzung des Kirchenvorstandes von St. Nikolai vom<br />

06.03.1989. An der Sitzung nahm zeitweise OKR Auerbach teil. Das Protokoll wurde von D. Eichelbaum<br />

geschrieben (ABL H 54).<br />

Tagesordnung: 1. Haushaltplan 89 [/] 2. Anfrage des Rates der Stadt bezüglich Orgelkonzerte [/] 3.<br />

Kindergarten, Personalfragen [/] 4. 2-Monate-Plan für Friedensgebete [/] 5. Umpfarrung [...] [/] 6. Etwaige<br />

weitere Gegenstände<br />

Nach Verlesen des Protokolls durch den Vorsitzenden beginnt die Sitzung mit einem zusätzlichen<br />

Tagesordnungspunkt! OKR Auerbach informiert über ein Gespräch von Vertretern des LKA beim Rat des<br />

Bezirkes, Abt. Inneres, über die Problematik Friedensgebete 418 . Es schließt sich eine längere Aussprache<br />

an. (siehe Schluß des Protokolls). [/] Zu Pkt. 1 [...]<br />

Zu Pkt. 4 [/] Der vom Bezirkssynodalausschuß für Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit vorgelegte Plan für die<br />

Friedensgebete vom 03.04. bis 03.07. wird verlesen. Es wird dazu <strong>und</strong> zu weiteren Inhalten folgendes<br />

festgelegt: Die eingetragenen Gruppen, die ohne verantwortlichen Pfarrer in dem Plan eingetragen sind,<br />

müssen bis spätestens 22.03. einen solchen benennen. Anderenfalls kommt die Gruppe für den Zeitraum<br />

April bis Anfang Juli nicht in Frage. Eine Sonderregelung irgendwelcher Art für die CFK-Gruppe kommt<br />

418 s. Dok. 139<br />

219


nicht in Frage. Der Kirchenvorstand bestätigt die benannten verantwortlichen Pfarrer einschließlich der<br />

(nicht ordinierten) <strong>und</strong> vom Kirchenvorstand als Sonderfälle anerkannten Vikar Dusdal <strong>und</strong> Doz. Dr.<br />

Zimmermann.<br />

Pkt. 5 Der Umpfarrung [...] [/] Pkt 2. <strong>und</strong> 6. verschoben<br />

Als Resümee der Aussprache beim Rat des Bezirkes nahm der Kirchenvorstand mit Verw<strong>und</strong>erung <strong>und</strong><br />

Kopfschütteln den Bericht von Herrn OKR Auerbach auf, daß insbesondere wegen des Friedensgebetes<br />

am 27.2., gestaltet von Pf. Führer mit der Gruppe „Hoffnung“, massive <strong>und</strong> ungerechtfertigte Vorwürfe<br />

gegen Pf. Führer geäußert wurden. Der Kirchenvorstand machte Herrn Auerbach klar, daß der<br />

Kirchenvorstand sowohl hinter dem Anliegen des Friedensgebetes als auch hinter der Person <strong>und</strong><br />

Verkündigung von Pf. Führer steht! [/] Ende der Sitzung 22.30 Uhr [/] [... Unterschriften]<br />

Nachtrag zum zusätzlichen Tagesordnungspunkt: Gespräch mit OKR Auerbach [/] OKR Auerbach bittet,<br />

folgende Erklärung in das Protokoll des Kirchenvorstandes St. Nikolai-St. Johannis, sein Gespräch<br />

betreffend, aufzunehmen: [/] Die Absicht seines Besuches im Kirchenvorstand war, „nach dem Gespräch<br />

beim Rat des Bezirkes am 3.3. die sichtbar gewordenen Meinungen über das Friedensgebet mit dem<br />

Gremium zu besprechen, das eine Mitverantwortung trägt. Dabei habe ich einleitend betont, daß das<br />

Landeskirchenamt<br />

1. das Friedensgebet stets auch vor staatlichen Stellen vertreten hat, selbstverständlich als Gottesdienst der<br />

Nikolaikirchgemeinde <strong>und</strong><br />

2. eine Verbindung zwischen Friedensgebet <strong>und</strong> Kirchentag von uns stets abgelehnt <strong>und</strong> zurückgewiesen<br />

wurde.“<br />

16. März 1989, [gez.] C. Führer, Pfarrer<br />

139 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Information des Rates des Bezirkes Leipzig, [Bereich] Kirchenfragen, vom 07.03.1989 an den Vorsitzenden<br />

des RdB, Opitz, zum Gespräch des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates für Inneres, Reitmann,<br />

zusammen mit W. Jakel <strong>und</strong> A. Müller, mit dem OLKR Schlichter, OKR Auerbach <strong>und</strong> Herrn Hänisch, in<br />

dem über das Friedensgebet vom 27.02.1989 in der Nikolaikirche gesprochen wurde. Die Information wurde<br />

unterzeichnet von A. Müller (StAL BT/RdB 38326 <strong>und</strong> in: SAPMO-BArch IV B 2/14/104, BArch O-4 1117).<br />

Gen. Dr. Reitmann informierte die kirchlichen Vertreter über den Anlaß des Gespräches. Der<br />

Ausgangspunkt ist das Friedensgebet vom 27.02.1989 in der Nikolaikirche, das durch Pfarrer Führer <strong>und</strong><br />

die Gruppe „Hoffnung“ (ausschließlich Antragsteller) inhaltlich gestaltet wurde419 . Ausgehend von Form<br />

<strong>und</strong> Inhalt stellte das Friedensgebet einen massiven Angriff gegen Staat <strong>und</strong> Gesellschaft dar420 . Durch<br />

Pfarrer Führer <strong>und</strong> Mitglieder der Gruppe wurde der Versuch unternommen, die Teilnehmer des<br />

Friedensgebetes zu manipulieren, gegen Verfassungsgr<strong>und</strong>sätze der DDR aufzutreten bzw. zu handeln.<br />

Pfarrer Führer hat sich hier als Demagoge versucht zu profilieren. Staatlicherseits werden diese Ereignisse<br />

sehr ernst bewertet. Darin wird eine Eskalierung des Gesamtereignisses gesehen <strong>und</strong> zugleich ein<br />

Widerspruch zu den am 21.02.1989 gemeinsam getroffenen Absprachen, vor allem im Hinblick auf die<br />

Einflußnahme gegenüber den Gruppen durch das Landeskirchenamt <strong>und</strong> dem Landesausschuß Kongreß<br />

<strong>und</strong> Kirchentag 421.<br />

419 s. Dok. 137, vgl. Bericht in Quartalseinschätzung I/89 des OV „Igel“, abgedruckt in: Besier/Wolf, 658-660, dort<br />

659<br />

420 Dieser Satz wurde im Exemplar des StfK unterstrichen.<br />

421 An der „Absprachen“ waren Reitmann, Sabatowska, Jahn (StfK) u.a. <strong>und</strong> OLKR Zweynert, Hänisch, Kahle <strong>und</strong><br />

Cieslak beteiligt (Protokoll A. Müller - StAL BT/RdB 38326). Ziel Reitmanns in dem Gespräch war es, daß der<br />

Kirchentag ein regionaler (sächsischer) wird <strong>und</strong> der Landesausschuß für den Kirchentag die Lage um die FG<br />

bzw. der Basisgruppen „beruhigt“. Von den kirchlichen Vertretern wurden Gespräche mit Gruppenvertretern<br />

versprochen. J. Cieslak machte vor allem Pf. Berger als „Agent Provokateur“ für die komplizierte Lage<br />

verantwortlich. Von einer „Absprache“ im konkreten Sinne zur Frage der Basisgruppen ist sowohl in dem<br />

Protokoll des RdB als auch des StfK (BArch O-4 1405) zu dem Gespräch am 21.02.1989 nichts zu finden. Bei<br />

einer Beratung zwischen dem Staatssekretär für Kirchenfragen <strong>und</strong> den Stellv. der Vorsitzenden des RdB der<br />

220


Gegenüber den kirchlichen Vertretern wurden staatlicherseits folgende Probleme verdeutlicht:<br />

1. Die Gesamtlage zeigt, daß es sich nicht schlechthin um die Gruppen handelt, die versuchen, die<br />

Situation in Leipzig anzuheizen, sondern einige Pfarrer sich dabei mit kräftig engagieren.<br />

Staatlicherseits ist der Eindruck vorherrschend, daß das Landeskirchenamt auf diese Pfarrer seinen<br />

Einfluß verloren hat.<br />

2. Diese Pfarrer (Führer, Wonneberger, Tureck [sic!], Kaden, Weidel, Dr. Berger) vertreten in<br />

Gottesdiensten in Verbindung mit den Gruppen Positionen, die durch den Staat nicht mitgetragen<br />

werden können. Es hat den Anschein, daß das Landeskirchenamt <strong>und</strong> die Kirchenleitung diese<br />

Entwicklung nicht deutlich genug sieht, was letztlich den Erfahrungen <strong>und</strong> dem erreichten Stand im<br />

Verhältnis von Landeskirche <strong>und</strong> Rat des Bezirkes Leipzig schaden kann.<br />

3. Einige Leute in der Kirche gehen mit den Möglichkeiten, die der Staat bzw. die Verfassung der DDR<br />

der Kirche insgesamt bietet, verantwortungslos um. Das Friedensgebet am 27.02.1989 hat deutlich<br />

gemacht, daß das, was mit dem Landeskirchenamt <strong>und</strong> dem Landesausschuß abgesprochen bzw. im<br />

Kirchenvorstand der Nikolaikirche beschlossen wurde, offensichtlich nicht mehr gilt.<br />

Auch die nachfolgenden geplanten Friedensgebete, die Lesung von Stefan Heym am 17.03.1989 in der<br />

Nikolaikirche <strong>und</strong> der beabsichtigte „Pleißemarsch“ 422 lassen deutlich erkennen, daß die alternativen<br />

Gruppen in der Kirche wieder stärker agieren können. Wenn solche Leute, wie Quester, Pfarrer<br />

Wonneberger, Rudolph, Arnold, Schwabe <strong>und</strong> andere mehr die inhaltliche Seite der Friedensgebete<br />

wieder bestimmen können, ist auch klar, was dabei herauskommt. Es kommt zu einer Verschärfung der<br />

Lage <strong>und</strong> damit zu Spannungen im Verhältnis zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche.<br />

Auch Pfarrer Tureck [sic!] scheint aus den Ereignissen um den 15.01.89 keine Konsequenzen gezogen<br />

zu haben423 . Sonst würde er seinen Gemeinderaum nicht für Gruppen zur Verfügung stellen, die dort<br />

beraten wollen, wie man Wahlveranstaltungen bzw. Wahlhandlungen am 07.05.1989 stören kann 424.<br />

4. Die Information in kirchlichen Zeitungen über das Treffen von alternativen Gruppen in Karl-Marx-<br />

Stadt <strong>und</strong> über die Forderungen, die diese Gruppen auf diesem Treffen gestellt haben, führt zu<br />

Irritationen seitens des Staates, da wertfrei informiert wurde. Das läßt den Schluß zu, daß man sich als<br />

Landeskirche Sachsen hinter die Forderungen der Gruppen in bezug auf den Kirchentag in Leipzig<br />

stellt 425.<br />

Mit der staatlichen Wertung wurden folgende Erwartungen gegenüber den kirchlichen Vertretern<br />

verb<strong>und</strong>en:<br />

1. Das Landeskirchenamt <strong>und</strong> der Landesausschuß halten die gemeinsam getroffenen Absprachen, über<br />

die man sich in den Gesprächen in Vorbereitung des KTK/KT hinsichtlich der Beruhigung der Lage in<br />

sächsischen Bezirke am 18.01.1989 wurde u.a. beschlossen, „auf folgende Schwerpunkte zu orientieren: [...] -<br />

Einflußnahme auf die kirchlichen Verantwortlichen zur Disziplinierung negativer Kräfte (Basisgruppen)“<br />

(Protokoll Röfke - BArch O-4 1404). In einer Information der Abt. II des StfK vom 08.03. heißt es: „Zugleich ist<br />

den staatlichen Organen zugesagt worden, daß sich die Kirchenleitung dafür einsetzen wird, daß keine Störung<br />

des Kirchentages von im kirchlichen Bereich angesiedelten Gruppen ausgehen werden.“ (BArch O-4 1405)<br />

422 Zum Pleißemarsch s. Anhang S. 375<br />

423 s. Anm 408<br />

424 Der Satz „die dort beraten ... am 07.05.1989 stören kann“ wurde im Exemplar des ZK der SED (AG<br />

Kirchenfragen) unterstrichen <strong>und</strong> es wurde am Rand vermerkt: „Das kann ernste Konsequenzen haben!“ Am<br />

28.03.1989 fand im Gemeindesaal St. Markus ein wichtiges Treffen der Leipziger Gruppen zum Umgang mit der<br />

„Kommunalwahl“ statt, das offensichtlich verhindert werden sollte.<br />

425 Bei dem sächsischen Treffen der Basisgruppen in Chemnitz (Karl-Marx-Stadt) wurde von den Gruppen die Art<br />

des Auswahlprinzips ihrer aktiven Teilnahme am Leipziger Kirchentag kritisiert. Politisch engagierte Gruppen<br />

hatten keine Möglichkeit, am „Treffpunkt Glauben heute“ einen eigenen Stand zu bekommen. In dem Artikel „In<br />

Gruppen <strong>und</strong> im ganzen“ („Der Sonntag“ 05.03.1989, S. 2) wurden die Gruppen als Teil der Kirche dargestellt<br />

<strong>und</strong> ihre Kritik an der Kirchentagsgestaltung wörtlich zitiert. B. Albani berichtete in „Die Kirche“<br />

(„Lebensveränderung lernen wir nicht durch Texte“, 19.02.1989, S. 1) sogar von dem Beschluß der Gruppen,<br />

anstelle der Beteiligung am offiziellen Kirchentag nun ein eigenes Programm zu gestalten (Statt-Kirchentag).<br />

Schon in einem Gespräch am 21.02.1989 hatte Reitmann J. Cieslak einen Bericht der ENA (6/89) über dieses<br />

Treffen vorgehalten (BT/RdB 38326).<br />

221


<strong>und</strong> um die Nikolaikirche verständigt hat, ein. Der Einfluß des Landeskirchenamtes auf Pfarrer Führer<br />

ist zu verstärken. Aus dem Verhalten einiger Pfarrer kann man schließen, daß diese nicht wollen, daß<br />

ein Kirchentag in Leipzig stattfindet 426.<br />

2. Durch das Landeskirchenamt ist mit dem Kirchenvorstand der Nikolaikirche stärker zu arbeiten. Dies<br />

gilt auch gegenüber den kirchlichen Strukturen in ihrer Gesamtheit. Die Landeskirche muß verstärkt<br />

Überlegungen anstellen, um mehr auf die Gesamtproblematik Einfluß zu bekommen, zumal eine<br />

Vernetzung der Gruppen immer sichtbarer wird <strong>und</strong> sich damit die Lage zuspitzt.<br />

3. Die Friedensgebete während der Messewoche <strong>und</strong> darüber hinaus müssen zu der alten Form<br />

zurückgeführt werden. Die Gruppen dürfen kein Mandat für deren inhaltliche Ausgestaltung<br />

bekommen. Sollte sich so etwas wie am 27.02.1989 wiederholen, wäre das für die Gesamtlage <strong>und</strong> für<br />

das Gesamtverhältnis Staat/Kirche nicht zuträglich. Es geht um 6 Pfarrer in Leipzig, auf die die<br />

Landeskirche ihren Einfluß umgehend verstärken muß. Gelingt ihr das nicht, werden weitere<br />

Gespräche in Frage gestellt. Der Staat ist gewillt, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen.<br />

4. Mit Nachdruck wurde darum gebeten, daß der Bischof, die Kirchenleitung <strong>und</strong> der Landesausschuß<br />

Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag über das Gespräch umgehend informiert werden <strong>und</strong> der Stellvertreter des<br />

Vorsitzenden des Rates für Inneres durch Herrn OLKR Schlichter danach telefonisch noch einmal<br />

informiert wird.<br />

Im Verlauf des Gespräches äußerten die kirchlichen Vertreter folgende Meinungen <strong>und</strong> Standpunkte:<br />

OLKR Schlichter<br />

Das LKA sei von diesem Friedensgebet ebenso überrascht gewesen. In Absprache mit dem LKA, den<br />

Superintendenten <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand existiert ein feststehendes Programm, wie das Friedensgebet<br />

ablaufen soll. Es ist eindeutig, daß Pfarrer Führer von diesem Programm abgewichen ist. Im Vorfeld habe<br />

Führer aber nicht informiert. 427 Der Staat weiß um die Schwierigkeit der Kirche zu administrieren. Er hat<br />

nur über das Gespräch die Möglichkeit, Einfluß zu nehmen. Was in der Nikolaikirche geschieht, dafür<br />

trägt kirchenrechtlich der Kirchenvorstand die Hauptverantwortung. Das heißt, die Kirchenleitung bzw.<br />

das Landeskirchenamt kann nur um Besonnenheit bitten, sie kann Besonnenheit nicht anweisen 428 . Es ist<br />

auch schwierig, an Pfarrer Führer heranzukommen bzw. ihn zu disziplinieren, solange er als Pfarrer von<br />

der Gemeinde <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand getragen wird. Das Friedensgebet in dieser Form, wie am<br />

27.02.1989 stattgef<strong>und</strong>en, wird seitens des Landeskirchenamtes mißbilligt. Die Kirche hat aber die<br />

Antragsteller nicht gerufen. Wird die Nikolaikirche für diese Leute geschlossen, dann suchen sie sich<br />

andere Möglichkeiten. 429 Die Landeskirche steht aber in diesem Zusammenhang vor einer generellen<br />

Sorge: Es gelingt ihr immer schwerer, diesen Leuten, aber nicht nur diesen, Mut zu machen bei der<br />

Überwindung ihrer vielfältigen Probleme.<br />

Durch OLKR Schlichter wurde folgendes hervorgehoben:<br />

426 Dieser Satz ist im Exemplar der AG Kirchenfragen des ZK der SED dick angestrichen. Am 02.03.1989 hatte die<br />

AG Kirchenfragen eine Information für Jarowinsky verfaßt, in der empfohlen wurde, eine Zusage für die<br />

Durchführung des Kirchentages zu geben (die bis dahin noch nicht erfolgt war!). Als Bedingung wurde u.a.<br />

genannt: „kein 'Markt der Möglichkeiten' zur Selbstdarstellung alternativer, außerhalb der kirchlichen Strukturen<br />

tätiger Gruppen“ (SAPMO-BArch IV B 2/14/104). Am 03.03.1989 fand ein wichtiges Gespräch zwischen dem<br />

Staatssekretär K. Löffler <strong>und</strong> dem SED-Bezirkschef H. Schumann zur „endgültigen Entscheidung über die<br />

Durchführung des Kirchentages“ statt (Gesprächsnotiz von Löffler vom 02.03.1989 - ebenda). Die letzte<br />

Entscheidung über das Stattfinden des Kirchentages lag jedoch bei E. Honecker. Ihn bat H. Schumann am<br />

07.03.1989 brieflich um dessen Zustimmung (BArch O-4 986). Am 15.03.1989 wurde dann eine konkrete Zusage<br />

der staatlichen Unterstützung des Kirchentages gegeben (s. Dok. 145). In einem handschriftlichen Vermerkes auf<br />

einer Information der Abt. II des StfK lautet es: „Antwort E. H[onecker] Nicht kolportieren [/] Ja, aber als<br />

Ausnahme [...] In dieser Woche Gespräch Staatssekretär - Bischof Hempel [...]“ (BArch O-4 1405). Mit dieser<br />

prinzipiellen Zusage war die SED-BL Leipzig für die „Absicherung“ zuständig.<br />

427 Im Exemplar der AG Kirchenfragen des ZK der SED steht links neben diesem Absatz: „Das ist die ständige<br />

Ausrede!“<br />

428 Anmerkung am Rand des ZK-Exemplars: „Lt. Kirchenverfassung kann sie anweisen!“<br />

429 Anmerkung am Rand des ZK-Exemplars: „Na <strong>und</strong> ?“<br />

222


1. Er sieht es genau so wie die staatlichen Vertreter, daß man mit dem Kirchenvorstand der Nikolaikirche<br />

stärker in das Gespräch kommen muß. Dies wird auch geschehen.<br />

2. Er selbst kann sich Form <strong>und</strong> Inhalte der Friedensgebete auch anders vorstellen. Darüber wird man mit<br />

dem Kirchenvorstand <strong>und</strong> mit Pfarrer Führer reden. Das Landeskirchenamt wird seinen Einfluß geltend<br />

machen, daß ähnliches nicht noch einmal passiert.<br />

3. Das LKA, aber auch der Landesausschuß Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag haben ihre Zusage eingehalten. Es<br />

wurde mit den Gruppen <strong>und</strong> mit den bestimmten Pfarrern bis hin zum Bischof mehrmals gesprochen.<br />

Das Problem besteht nur darin, daß man keine Möglichkeit der Disziplinierung hat. Insofern wird<br />

immer ein Restrisiko 430 bleiben.<br />

4. Das LKA kann dem einzelnen Pfarrer seine persönliche politische Meinung bzw. Haltung nicht<br />

vorschreiben.<br />

Herr Hänisch<br />

Ende August 1988 wurde der Kirchenvorstand der Nikolaikirche für Form <strong>und</strong> Inhalt der Friedensgebete<br />

verantwortlich gemacht. Ebenfalls gab es eine Abmahnung der Superintendenten mit dem<br />

Kirchenvorstand in der Weise, daß das Friedensgebet eine Ordnung erhält. Dies ist auch geschehen. Es ist<br />

aber nicht das erste Mal, daß Führer bei Abwesenheit von Sup. Magirius sich nicht an die Ordnung<br />

gehalten hat, ähnlich wie am 27.02.1989. Sup. Richter habe vorher mit Führer noch einmal gesprochen.<br />

Dieser habe versichert, daß alles in Ordnung gehe. Damit sei Richter durch Führer hintergangen worden.<br />

Nach seiner Meinung habe Führer bewußt diese Schärfe in das Friedensgebet hineingetragen. Nach seiner<br />

Ansicht ist dies eine eindeutige Provokation. Das LKA habe aber mit der Person Führer schon einige<br />

Erfahrungen gemacht. Insgesamt muß das LKA entscheiden, was mit Führer geschehen muß431 .<br />

Kirchenrechtlich hat das LKA keine Möglichkeiten. Hänisch informierte dann über den Verlauf eines<br />

Gespräches, das der Landesausschuß Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag mit Gruppenvertretern am 21.02.1989 im<br />

Gemeindesaal der Thomaskirche geführt hat 432.<br />

Hier sei sehr massiv der Vorwurf gekommen, daß der Landesausschuß Gruppen vom KTK/KT aussperren<br />

wolle. Das Argument, daß auf Gr<strong>und</strong> der räumlichen Bedingungen nur eine begrenzte Anzahl von<br />

Gruppen teilnehmen kann, wurde von den Gruppenvertretern nicht akzeptiert. Tief erschüttert sei er vom<br />

Auftreten des Pf. Dr. Berger gewesen, der in diesem Gespräch zur Durchführung eines „Kirchentages von<br />

unten“ aufgerufen hat. Dieser Mann habe nach seiner Beobachtung ein sehr großes Geltungsbedürfnis,<br />

aber auch noch andere persönliche Probleme, die es aber schwierig machen, mit Dr. Berger vernünftig zu<br />

sprechen. Insgesamt hat er den Eindruck gewonnen, daß diese Leute nicht das Gespräch, sondern die<br />

Konfrontation suchen 433.<br />

Herr Dr. Geisler<br />

Die Positionen, die Dr. Reitmann wie auch Herr Hänisch zum Ausdruck gebracht haben, werden von ihm<br />

geteilt. Er befindet sich genau auf dieser Linie. Er möchte darauf aufmerksam machen, daß die von Herrn<br />

Cieslak in den geführten Gesprächen geäußerten Positionen echt sind. Er hat die Hoffnung, daß es dem<br />

Landesausschuß gelingen möge, den größeren Teil der Mitglieder der Gruppen in den KTK/KT zu<br />

integrieren. Er weiß aber auch, daß ein kleiner Teil dieser Gruppen problematisch bleibt. Im Hinblick auf<br />

die in der Kirchenzeitung „Die Kirche“ erschienenen Informationen zum Treffen der Gruppen in Karl-<br />

Marx-Stadt 434 hat der Landesausschuß reagiert. Er hat ein Schreiben an die Redaktion abgesetzt, wo diese<br />

zur Richtigstellung aufgefordert wird.<br />

430 „Restrisiko“ im Exemplar des StfK unterstrichen.<br />

431 Im ZK-Exemplar ist dieser Satz unterstrichen.<br />

432 Hänisch war am 23.02.1989 schon bei A. Müller (RdB) <strong>und</strong> berichtete nahezu denunziatorisch über dieses<br />

Treffen (Gruppenvertreter nannte er u.a. „Chaoten“) (BT/RdB 20749). Eine Kopie der Teilnehmerliste dieser<br />

Sitzung befindet sich in den Unterlagen H. Reitmanns (StAL BT/RdB 20749).<br />

433 Im ZK-Exemplar ist dieser Satz unterstrichen.<br />

434 s. Anm. 425<br />

223


OKR Auerbach<br />

Er war noch zum Zeitpunkt des Friedensgebetes (27.02.1989) im Urlaub <strong>und</strong> konnte deshalb nicht daran<br />

teilnehmen. Insgesamt aber war er davon ausgegangen, daß eine Beruhigung der Lage eingetreten ist. Um<br />

so peinlicher ist es, daß bei Abwesenheit des Superintendenten Pfarrer aus der Reihe tanzen. Er wird ein<br />

Gespräch mit der Gruppe „Hoffnung“ führen. Die Kirche hat aber nicht zu fordern, sondern sie kann nur<br />

zur Geduld mahnen. Mit Pfarrer Führer wird ebenfalls gesprochen. Den auslösenden Faktor sieht er aber<br />

darin, daß die Friedensgebete nach wie vor von Ausreisewilligen mit besucht werden. Er teilt die<br />

Meinung, daß nur im gemeinsamen Bemühen erreicht werden kann, daß die Sache nicht weiter eskaliert.<br />

Es konnte noch nicht erreicht werden, die Gruppen in den Kirchentag zu integrieren. Es darf aber nichts<br />

unversucht bleiben, um dieses Ziel noch zu erreichen. Auch mit Pfarrer Wonneberger habe er schon<br />

mehrere Gespräche geführt. Im letzten Gespräch habe ihm dieser glaubhaft versichert, vom 15.01.1989<br />

erst erfahren zu haben, als er in seinem Briefkasten ein Flugblatt vorfand. Er habe Wonneberger<br />

beauftragt, alles was außerhalb der Kirche geplant ist, gemäß der Veranstaltungsordnung, bei den<br />

zuständigen Stellen anzumelden. Erst müssen alle legalen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Wird dann<br />

eine staatliche Zustimmung versagt <strong>und</strong> man ist von der Richtigkeit der Sache überzeugt, sollte man die<br />

Veranstaltung auch ohne Zustimmung durchführen. Wonneberger sei von ihm aufgefordert worden, den<br />

geplanten „Pleißemarsch“ anzumelden. Mit der Information über das Treffen der Gruppen in Karl-Marx-<br />

Stadt, wie sie in kirchlichen Zeitungen u.a. im „Sonntag“ zu lesen war, ist er auch nicht einverstanden. Er<br />

konnte darauf keinen Einfluß nehmen, da zu diesem Zeitpunkt der „Sonntag“ bereit gedruckt war. Auf der<br />

anderen Seite gibt es in der Landeskirche keine Zensur. Sie wird nicht zentralistisch geleitet. Es bleibt<br />

dabei, daß die Kirche für alle eine Verantwortung trägt. Sie wird diese Verantwortung auch weiterhin<br />

wahrnehmen. Er sieht aber Möglichkeiten, die Probleme so zu bündeln, daß die Sache durchschaubar<br />

gemacht wird bzw. bleibt.<br />

Durch den Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres wurden die kirchlichen Vertreter<br />

abschließend mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß die Landeskirche Sachsens bei der Position des<br />

B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen bleiben sollte, d.h., die Antragsteller ausschließlich seelsorgerlich zu<br />

betreuen. Deshalb kann auch seitens des LKA nicht mehr darüber hinweg gesehen werden, daß Pfarrer<br />

Führer der Gruppe „Hoffnung“ in der Nikolaikirche ein Aktionsfeld ermöglicht, wo die Gruppe gegen<br />

Verfassungsgr<strong>und</strong>sätze <strong>und</strong> Gesetze der DDR arbeiten kann.<br />

140 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Aktennotiz des Rates der Stadt Leipzig, Bereich Kirchenfragen, vom 08.03.1989 über das Gespräch am<br />

07.03.1989 zwischen dem Stellv. des SBBM für Inneres des SB Mitte, Loyal, den Mitarbeitern des Bereich<br />

Kirchenfragen des RdS Hillebrand <strong>und</strong> Apitz <strong>und</strong> Pf. Führer, Pf. Wugk <strong>und</strong> L. Ramson. Der Durchschlag der<br />

Aktennotiz wurde von Hillebrand unterzeichnet. Die zwei Blätter tragen Bearbeitungsspuren (StAL BT/RdB<br />

20749).<br />

Auf die Vorwürfe zur inhaltlichen Gestaltung des Friedensgebetes vom 27.2.89 in der Nikolaikirche <strong>und</strong><br />

die damit verb<strong>und</strong>ene Beeinträchtigung des Vertrauensverhältnisses zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche reagierten<br />

beide Pfarrer <strong>und</strong> Herr Ramson mit Verw<strong>und</strong>erung. Pfarrer Führer hob hervor, daß die „Befreiung des<br />

Staates von der Vorm<strong>und</strong>schaft der Kirche <strong>und</strong> die Befreiung der Kirche von der Vorm<strong>und</strong>schaft des<br />

Staates“ für die ev. Kirche kein Zurückziehen hinter dicke Kirchenmauern bedeute, sondern die<br />

Beschäftigung mit gesellschaftlichen Problemen einschließt. Jährlich finden in der Nikolaikirche etwa 40<br />

Friedensgebete statt, davon behandeln höchstens 2 Veranstaltungen die Probleme der Antragsteller. Die<br />

„Zeugnisse der Betroffenheit“ haben eine lange Tradition in der Kirche, denn Kirche ist dazu da, daß sich<br />

Menschen in ihrer Not äußern können. Man dürfe diese „Zeugnisse der Betroffenheit“ nicht losgelöst vom<br />

dazugehörigen Bibeltext betrachten.<br />

Pfarrer Wugk stellte sich als amtierender Superintendent voll hinter Pf. Führer. Er bestritt, daß<br />

staatsfeindliche Meinungen während der Veranstaltung vorgetragen wurden. Es seien nur subjektive<br />

Erfahrungen, <strong>und</strong> die Möglichkeit, sie zu äußern, entlaste die Betroffenen. Er räumte ein, daß nicht nur<br />

fromme Christen die Friedensgebete besuchen, ist aber froh über dieses Vertrauen <strong>und</strong> hofft, daß nun<br />

224


staatlicherseits auf die Kirche kein Druck ausgeübt werde, dieses Vertrauen selbst zu unterdrücken. Pf.<br />

Wugk forderte vom Staat mehr Toleranz im Umgang mit den Basisgruppen <strong>und</strong> ein Ende der<br />

Verteufelung der ÜSE 435.<br />

Pf. Führer meinte, man dürfe keineswegs die Basisgruppen mit den ÜSE in Zusammenhang bringen. Zwar<br />

sind beide mit den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht zufrieden, aber die Mitglieder der Basisgruppen<br />

wollen bleiben <strong>und</strong> verändern, die ÜSE dagegen resignieren. Die Kirche will vermitteln, daß die<br />

Menschen mit ihren Problemen immer kommen können. Das Bedürfnis nach Seelsorge ist sehr groß <strong>und</strong><br />

übersteigt die Möglichkeiten der individuellen Seelsorge. Deshalb werden zahlreiche Gesprächsr<strong>und</strong>en<br />

durchgeführt.<br />

Warum es in der letzten Zeit Provokationen während der Friedensgebete gegeben hat, kann sich Pf. Führer<br />

nicht erklären, ihm seien diese Leute unbekannt. Aber es ist ihm verständlich, daß junge Menschen<br />

aggressiv reagieren, wenn sie nach dem Friedensgebet aus der Kirche kommen <strong>und</strong> so viele Uniformierte<br />

sehen wie am 22.2.89436 . Die Polizeiketten hätten diese Aktion erst provoziert <strong>und</strong> die Situation<br />

zugespitzt. Solche bürgerkriegsähnlichen Maßnahmen dienten nicht dem Frieden in der Stadt. Pf. Führer<br />

stritt ab, daß ein zahlenmäßiges Anwachsen der Teilnehmer am Friedensgebet zu verzeichnen ist, wenn<br />

die Veranstaltung von Basisgruppen durchgeführt wird. Daß auch an den Messemontagen die Zahl der<br />

Besucher steigt, hänge damit zusammen, daß viele Messegäste in Leipzig weilen. Pf. Führer versicherte,<br />

daß auf Beschluß des Kirchenvorstandes in der Nikolaikirche nicht gefilmt werden darf. Pf. Wugk<br />

informierte darüber, daß die Teilnahme der Basisgruppen an der Durchführung der Friedensgebete ab<br />

April vom Kirchenvorstand beschlossen wurde. Im gesamten Gespräch versuchten beide Pfarrer die<br />

Vorwürfe abzuschwächen <strong>und</strong> zu verharmlosen. Wie das verkündete Wort auf die Menschen wirke, sei<br />

nicht vorherzusehen. Jeder Mensch reagiere anders, dafür könne niemand die Verantwortung übernehmen.<br />

Außerdem müsse der Staat die Stärke haben, auch eine öffentliche Artikulation der Kritik zu verkraften.<br />

Pf. Führer äußerte sich weder zur Andacht aus Anlaß der Verhaftungen in der CSSR noch zum Kalender<br />

<strong>und</strong> Malwettbewerb 437.<br />

141 Stasi-Information<br />

Aktennotiz von Hauptmann Hotop der KD Leipzig-Stadt vom 13.03.1989 (BStU Leipzig AOPK 1436/89,<br />

353).<br />

Kowasch erhielt die Auflage, die DDR bis zum 10.3.89 zu verlassen 438 . Inoffiziell war bekannt, daß er<br />

Mitorganisator der für den 13.3.89 geplanten öffentlichtswirksamen [sic!] Aktion im Anschluß an das<br />

Friedensgebet in der Nikolaikirche war <strong>und</strong> sehr bedauerte, nicht mehr daran teilnehmen zu können. Zur<br />

Verhinderung von Überraschungen wurde am 10.3.89 durch [den] Unterzeichner der Wohnbereich in der<br />

Menckestr. überprüft. Am 13.3.89 wurde über den GMS „Zöllner“ organisiert, daß eine legendierte<br />

Wohnungsbegehung gemeinsam mit dem Nachlaßverwalter realisiert wurde, um zu prüfen, ob eventuell<br />

Flugschriften zeitweilig deponiert oder das Quartier durch andere feindl.-negative Personen als Absteige<br />

genutzt wird. Beides wurde nicht festgestellt.<br />

142 Stasi-Information<br />

Information Nr. 14/89 des Leiters der BV des MfS Leipzig (Hummitzsch) vom 14.03.1989, über „eine<br />

provokatorische Personenbewegung am 13.3.1989 im Stadtzentrum von Leipzig“. Mit dem Vordruck-<br />

435 An dieser Stelle folgt ein handschriftlicher Vermerk: „Stellt sich hinter Führer. [/] Als Kirchenmann solidarisch“<br />

436 Am Mittwoch, dem 22.02., fand kein FG statt. C. Führer konnte 1994 den Herausgebern keine Erklärung zur<br />

Entstehung dieser Notiz geben.<br />

437 Es folgt handschriftlich: „hat nicht geantwortet“<br />

438 Im gleichen Zusammenhang erhielten auch andere Ausreiseantragsteller die Ausreisegenehmigung (u.a.<br />

Christfried Heinze).<br />

225


Vermerk: „Streng vertraulich! Um Rückgabe wird gebeten!“. Die Vorlage (4. Exemplar) wurde nicht<br />

unterzeichnet (ABL H 8) 439 .<br />

Am 13.3.1989 fand in der Zeit von 17.00 Uhr bis 17.40 Uhr in der Nikolaikirche das montägliche<br />

Friedensgebet statt, an dem 650 Personen, darunter ein erheblicher Teil von Antragstellern auf ständige<br />

Ausreise, teilnahmen. Das Friedensgebet trug rein religiösen Charakter. Nach kurzem Aufenthalt vor der<br />

Kirche bewegte sich ein großer Teil über die Ritterstraße-Grimmaische Straße in Richtung Markt (ca. 300<br />

Personen). Durch den entsprechend der abgestimmten Einsatzkonzeption erfolgten Einsatz von Kräften<br />

des MfS [Ministeriums für Staatssicherheit], VP [Volkspolizei] in Zivil <strong>und</strong> gesellschaftliche Kräften zur<br />

Abdrängung, Zersetzung <strong>und</strong> Auflösung wurde die Formierung eines geschlossenen Marsches verhindert,<br />

die Personenbewegung in Richtung Thomaskirche unterb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> gegen 18.30 Uhr auf dem Markt nach<br />

Zurücklegung von 300 Metern zur Auflösung gebracht440 . Teilnehmer der Bewegung waren vorwiegend<br />

Antragsteller, darunter einzelne Personen mit Kleinkindern. Plakate oder schriftliche Symbole wurden bis<br />

auf eine Ausnahme nicht festgestellt441 . Als Reaktion auf die Maßnahmen der eingesetzten Kräfte kam es<br />

zu verleumderischen Rufen (u.a. „Stasischweine“, „Stasi raus“). Es kam auch zu Rufen: Freiheit -<br />

Menschenrechte.<br />

Bereits im Vorfeld des Friedensgebetes gab es eine Reihe interner Informationen zu geplanten Aktivitäten<br />

von Journalisten <strong>und</strong> Korrespondenten. Bisher wurden Vertreter von 16 [vermutlich richtig: 15] zur<br />

Frühjahrsmesse 1989 in Leipzig akkreditierten Medien festgestellt (siehe Anlage442 ). Ein Teil befand sich<br />

in der Kirche, nachdem sie vorher ihren Presseausweis von der Kleidung entfernt hatten. Nach dem<br />

Verlassen der Kirche durch die Teilnehmer des Friedensgebetes heizten die Medienvertreter durch ihre<br />

Anwesenheit <strong>und</strong> ihr Verhalten die Teilnehmer des Friedensgebetes an. Die journalistischen Aktivitäten<br />

hielten bis zur völligen Auflösung an 443.<br />

Die Präsenz der VP-Angehörigen in Uniform war vor, während <strong>und</strong> nach der Personenbewegung gegeben.<br />

Entsprechend der Konzeption <strong>und</strong> der Lage erfolgte kein aktives Eingreifen. Mehrere der uniformierten<br />

Kräfte waren zur Sicherung der westlichen Fernseh-Korrespondenten eingesetzt444 . Eine Person wurde<br />

zur Klärung des Sachverhaltes des Tragens eines Plakates (A 3) zugeführt <strong>und</strong> wieder entlassen 445.<br />

439 vgl. auch Information über eine provokatorisch-demonstrative Aktion von Antragstellern auf ständige Ausreise in<br />

Leipzig (MfS, ZAIG Nr. 122/89), abgedruckt in: Mitter/Wolle, 28. Diese Information hat E. Honecker am<br />

14.03.1989 gegengezeichnet. Mittig teilte Hummitzsch am 13.03., 19.30 Uhr, mit, daß das oben abgedruckte<br />

Fernschreiben „im Laufe der Nacht“ abgesetzt werden sollte. Außerdem teilte er mit, daß er mit Krenz telefoniert<br />

hatte, der H. Schumann anrufen wolle (BStU Leipzig AB 3843, 157). Die Information des 1. Sekretärs der SED-<br />

BL ungefähr gleichen Inhalts hatte E. Honecker allen Mitgliedern <strong>und</strong> Kandidaten des Politbüros zugestellt<br />

(Przybylski (1992), 101f.) <strong>und</strong> am 14.03. im Politbüro über die „Vorkommnisse“ in Leipzig berichtet (SAPMO-<br />

BArch J IV 2/2/2319). Mittig bestätigte am 14.03., 7.08 Uhr, das hier wiedergegebene Fernschreiben. Dazu<br />

notierte Hummitzsch: „Linie richtig“ (BStU Leipzig AB 3843, 157). Herger teilte am 16.03. Hummitzsch mit,<br />

daß die Parteiinformation richtig war <strong>und</strong> E. Honecker die „Bilder gesehen“ hat. Hummitzsch notierte die<br />

Bewertung Hergers zum Einsatz gegen die Demonstration: „Konnten wir zum Halten bringen.“ (ebenda, 162)<br />

440 Hummitzsch notierte zu Telefonat mit Mittig am 13.03.1989, 7.08 Uhr: „Keine Prügeleien [/] massiver Einsatz [/]<br />

hohe Präsenz“ (BStU Leipzig AB 3843, 151).<br />

441 In der Meldung der SED-SL heißt es: „Symbole <strong>und</strong> Losungen wurden nicht mitgeführt.“ (STASI intern, 64f.,<br />

dort 64)<br />

442 Die Anlage enthält 15 Namen von Journalisten.<br />

443 s. z.B. H. Schwilk, in: Zurück zu Deutschland, 136-141, 141<br />

444 Diese Aktion wurde durch einen IM-Bericht verursacht, s. S. 235 <strong>und</strong> Anm. 471 <strong>und</strong> fand Eingang in die<br />

Berichterstattung der Journalisten, z.B. Spiegel 12/1989: „Besonders eindrucksvoll wurde die maßvolle Haltung<br />

des Leipziger Bezirkssekretärs am vergangenen Montag dokumentiert. Da brauchte die Stasi eine St<strong>und</strong>e, um das<br />

Protestspektakel von r<strong>und</strong> 600 ausreisewilligen Menschen in der Messestadt zu beenden - nicht zuletzt dank der<br />

Leipziger Vopo. Die uniformierten Beamten bremsten nicht nur die handfeste Einsatzfreude der MfS-Leute<br />

gegen Demonstranten, sie versuchten sogar, westliche Kamerateams vor Stasi-Tritten zu schützen.“<br />

445 Die Presseagentur AP (I. Schwelz) meldete am 16.03., daß Gunter Schröder inhaftiert wurde, da er ein Plakat mit<br />

der Aufschrift „Reisefreiheit statt Behördenwillkür“ trug (s.a. Mitter/Wolle, 28). Die SED-GO der BDVP Leipzig<br />

fragte im Monatsbericht an die SED-BL u.a. an: „- Warum werden im ZH [Zusammenhang] mit<br />

226


Maßnahmen zur Identifizierung von Wortführern <strong>und</strong> Initiatoren wurden eingeleitet.<br />

Insgesamt befanden sich im Zusammenhang mit dem Friedensgebet im Einsatz 250 Mitarbeiter des MfS,<br />

250 gesellschaftliche Kräfte446 sowie 350 VP-Angehörige, darunter 50 Angehörige der VP-Bereitschaften<br />

in Reserve, die nicht zum Einsatz kamen 447.<br />

Beginnend mit dem 13.3.1989 - 19.00 Uhr - wurde in vorgenanntem Zusammenhang eine abgestimmte<br />

Kampagne in den Massenmedien der BRD zur weiteren Forcierung der politisch-ideologischen Diversion<br />

eingeleitet.<br />

Es wird vorgeschlagen, eine ADN-Veröffentlichung vorzunehmen.<br />

143 Staatlicher Ereignisbericht<br />

Information des Rates des Bezirkes Leipzig, [Bereich] Kirchenfragen, vom 14.03.1989 „zum Friedensgebet in<br />

der Nikolaikirche am 13.03.1989“. Typoskript ohne Unterschrift (StAL BT/RdB 38326 <strong>und</strong> in: BArch O-4<br />

1478).<br />

Teilnehmer: ca. 650 Personen<br />

Sup. Magirius begrüßte.<br />

Er verwies nochmals auf die Bedeutung des Friedensgebets <strong>und</strong> dessen Tradition. Das Streben nach<br />

Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Erhaltung der Schöpfung muß aus der Mitte des Evangeliums heraus<br />

geschehen. Er sprach die Überzeugung aus, daß die Teilnehmer diesen Gr<strong>und</strong>satz akzeptieren <strong>und</strong> danach<br />

handeln. Prof. Kühn, Rektor des Theologischen Seminars, hielt im Anschluß daran die Predigt. In den<br />

Mittelpunkt stellte er Jeremia 29. Kapitel, vor allem den Spruch: „Suchet der Stadt Bestes ..., denn wenn<br />

es ihr wohl gehet, so gehet es auch euch wohl“. Ausgehend von diesem Text stellte er die biblische<br />

Geschichte zu Babel dar. Die Stadt Babel sei ein Ort gewesen, wo Gerechtigkeit <strong>und</strong> Menschenwürde mit<br />

Füßen getreten wurden. Und doch hat der Prophet die dort gefangenen Juden aufgefordert, der Stadt<br />

Bestes zu suchen. Dies kann man auch in unsere heutige Zeit hineinstellen. Auch heute noch, nach über 40<br />

Jahren, tragen Deutsche an der Schuld, was Hitler <strong>und</strong> der 2. Weltkrieg in Europa <strong>und</strong> in der Welt<br />

angerichtet haben.<br />

Rolf [sic!] Biermann, so Prof. Kühn, habe kurz vor seinem Weggang aus der DDR gesagt, „daß er hier<br />

weg möchte, aber zugleich auch wieder hier sein möchte“. (gemeint die DDR). Nach Kühn komme in<br />

diesem Satz die „Zerrissenheit“ von Menschen in beiden deutschen Staaten, aber auch die Zerrissenheit<br />

der Welt zum Ausdruck. Menschen in dieser Gesellschaft, aber nicht nur in dieser Gesellschaft, haben sich<br />

aufgemacht, der „Stadt Bestes“ zu suchen. Sie nehmen an einer „Suchbewegung“ teil, die nicht nur in der<br />

DDR sondern auch in anderen osteuropäischen Ländern eingesetzt hat. Der konziliare Prozeß entspricht<br />

dieser „Suchbewegung“, wenn er mehr Gerechtigkeit, mehr Demokratie, mehr Informationsfreiheit, mehr<br />

Durchsichtigkeit der politischen Machtstrukturen fordert <strong>und</strong> sich für die „getretene Schöpfung“ einsetzt.<br />

Die Forderung ist aber nur die eine Seite. Die andere Seite ist, daß man sich auch für deren<br />

Verwirklichung einsetzt. Kühn begrüßte die Durchführung von Andachten <strong>und</strong> anderen Veranstaltungen,<br />

die für die in der CSSR Inhaftierten durchgeführt werden. Diese Inhaftierten gehörten auch der<br />

„Suchbewegung“ an. Es muß alles getan werden, daß diese Bewegung nicht gehemmt wird. Er warf dann<br />

die Frage auf, ob sich schon alle, die der „Stadt Bestes“ suchen auch zusammengef<strong>und</strong>en haben zu einer<br />

„Solidargemeinschaft“.<br />

nichtgenehmigten Demonstrationen keine strafrechtlichen Maßnahmen durchgeführt (siehe CSSR)? Durch<br />

Inkonsequenz werden Antragsteller <strong>und</strong> Basisgruppen immer unverschämter. - Warum erfolgte zu Ereignissen<br />

am 13.03.89 keine Presseveröffentlichung? Dadurch würde Falschmeldungen entgegengewirkt.“ (StAL SED A<br />

5847)<br />

446 In der Information der SED-SL Leipzig heißt es, daß die „gesellschaftlichen Kräfte“ in der Leipzig-Information<br />

<strong>und</strong> in der SED-Stadtbezirksleitung Leipzig-Mitte durch die SED-Stadtleitung <strong>und</strong> die Kreisdienststelle des MfS<br />

eingewiesen wurden (Dokument abgedruckt in: STASI intern, 64f.).<br />

447 Der Leiter der BV notierte sich: „200 ges. Kräfte [/] 150 op. MA [Mitarbeiter des MfS] [/] 70 VP (Zivil) [/] 3<br />

Züge S [?] 1 Kpg. VPB [Bereitschaftspolizei] <strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>und</strong>“ (BStU Leipzig AB 3843, 153).<br />

227


Nach Kühn handeln alle die im Sinne von Jesus Christus, die sich für Verbesserungen in der Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> in der Welt einsetzen. Denn für diese Ziele sei Jesus Christus am Kreuz gestorben. In diesem<br />

Zusammenhang machte er auch deutlich, daß es gilt, für diese Ziele zu beten. Das Beten, so Kühn, gehört<br />

mit zu einer Gesellschaft. In einer Gesellschaft, wo nicht gebetet wird, dies sei eine „kranke“ Gesellschaft.<br />

Im Anschluß daran wurden Fürbittgebete gesprochen, u.a. auch dafür, daß<br />

- man darum streiten muß, was das „Beste“ für die Stadt Leipzig, für die Gesellschaft <strong>und</strong> für die Welt ist;<br />

- <strong>und</strong> daß man sich nicht entmutigen lassen soll, wenn das eigene Engagement nicht gewollt, nicht gefragt<br />

ist.<br />

144 Staatliche Einschätzung<br />

Information des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Rates des Bezirkes Leipzig für Inneres über<br />

geplante Veranstaltungen <strong>und</strong> die Beteiligung von Gruppen an der inhaltlichen Gestaltung der Friedensgebete.<br />

Das Exemplar trägt handschriftliche Notizen - vermutlich von R. Opitz (StAL BT/RdB 38326).<br />

Leipzig, den 15.03.1989<br />

Geplante Veranstaltungen, Pläne <strong>und</strong> Absichten der ev. Kirchen bzw. Gruppentätigkeit<br />

1. Buchlesung mit Stefan Heym 17.03.1989 [/] Nikolaikirche [/] 20.00 Uhr<br />

2. „Tag der Volksbildung“ [/] 01.04.1989 [/] Heilandskirche [/] 10.00-22.00 Uhr<br />

448<br />

Es ist vorgesehen, daß ab 03.04.1989 die Friedensgebete in der Nikolaikirche wieder in Form von<br />

Gruppentätigkeit <strong>und</strong> unter Verantwortung der Gruppen durchgeführt werden. Dazu wurden bisher<br />

folgende Vorhaben bekannt 449:<br />

AG „Gerechtigkeit“ (Rudolf [gemeint: T. Rudolph]) 10.04.1989<br />

AG „Menschenrechte“ (Pf. Wonneberger) 17.04.1989<br />

IG „Leben“ (Arnold, Schwabe) 23.04.1989<br />

Kirchgemeinde Nikolai/St. Johannis 01.05.1989<br />

AG „Solidarische Kirche“ 08.05.1989<br />

Christliche Friedenskonferenz (Münnich, Schneider) 22.05.1989<br />

AK „Friedensdienst“ 29.05.1989<br />

AG „Umweltschutz“ (Quester, Elsässer)<br />

Durchführung des „Pleißenmarsches“<br />

05.06.1989<br />

„Freiheit mit Musik“ 10.06.1989<br />

(Eröffnung Pressefest, Eröffnung Agra)<br />

AG „Umweltschutz“ 450 (Gemeindehaus Lindenau <strong>und</strong> Grünau) 12.06.1989<br />

Kirchgemeinde Nikolai/St. Johannis 19.06.1989<br />

Friedenskreis Gohlis 26.06.1989<br />

Jugendkonvent 03.07.1989<br />

[Unter diesen Text schrieb Opitz [?] in seinem Handexemplar mit stenographischen Kürzeln:]<br />

[... nicht zu entziffernde Wendung] Führer, Wonneberger, Turek [?], Weidel, Kaden,<br />

[folgende Zeile umkreist:] für das [?] Berger<br />

[folgende Zeile:] mit Kirchenvorständen [Wort nicht zu entziffern], daß sie das nicht zulassen.<br />

145 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Information des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig vom 16.03.1989 über ein<br />

Gespräch zwischen dem Staatssekretär für Kirchenfragen (Löffler), dem Ratsvorsitzenden des RdB (Opitz)<br />

448 Die Veranstaltung nannte sich „Schule in Bewegung“.<br />

449 Der Friedensgebetsplan wurde am 20.02.1989 im BSA beschlossen. (Protokoll Berger - ABL H 2)<br />

450 Dies ist ein offensichtlicher Abschreibfehler, richtig wäre Friedenskreis (o.ä.) gewesen.<br />

228


451<br />

<strong>und</strong> Bischof Hempel . An dem Gespräch am 15.03., 15.00 Uhr, nahmen außerdem teil: H. Reitmann, Dr.<br />

Wilke, W. Jakel, OLKR Schlichter, J. Cieslak. Unterzeichnet wurde die Information von Reitmann (StAL<br />

BT/RdB 20715 <strong>und</strong> in: ABL H 53).<br />

Das Gespräch wurde durch den Staatssekretär eingeleitet. Den kirchlichen Vertretern wurden zu zwei<br />

gr<strong>und</strong>sätzlichen Punkten staatliche Entscheidungen <strong>und</strong> Erwartungshaltungen mitgeteilt:<br />

Erstens informierte der Staatssekretär über die Bereitschaft der staatlichen Organe, die Durchführung des<br />

Kirchentages zum vorgeschlagenen Thema <strong>und</strong> zum Inhalt zu unterstützen 452.<br />

Die Bereitschaft, dem Kirchentag in einer solchen Dimension zuzustimmen, ist Ausdruck des Vertrauens,<br />

der Achtung <strong>und</strong> Bewahrung des gemeinsamen Weges nach dem 06.03.1978 im Bereich der sächsischen<br />

Landeskirche. Der Staatssekretär übermittelte dem Bischof die Feststellung Erich Honeckers, daß er<br />

dieses Vertrauen teilt <strong>und</strong> es zugleich keine Normalität, sondern eine Ausnahme ist, daß der Leipziger<br />

Kirchentag in einer solchen Größenordnung stattfindet.<br />

Zweitens wurde dem Landesbischof <strong>und</strong> seiner Begleitung die außerordentlich starke Besorgnis<br />

übermittelt, daß die Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung des Kirchentages nicht durch weitere Aktivitäten<br />

reaktionärer Kräfte gestört wird. Die letzten Ereignisse am Messemontag haben wiederholt gezeigt, daß es<br />

ernst zu nehmende Kräfte gibt, die den kirchlichen Raum mißbrauchen. Das, was sich am Montag trotz<br />

staatlicher Einflußnahme auf die kirchenleitenden Kräfte abgespielt hat, ist geeignet, den Kirchentag<br />

ernsthaft zu gefährden. Genosse Löffler beeinspruchte die gegenwärtige <strong>und</strong> vorgesehene Gestaltung der<br />

Friedensgebete. Er brachte insbesondere das Unverständnis der staatlichen Organe zum Ausdruck, daß<br />

nun wieder die „Gruppen“ das Friedensgebet verantworten sollen.<br />

Dem Bischof wurde eine komplette Aufstellung der vorgesehenen Friedensgebete im ersten Halbjahr<br />

übergeben 453 . Des weiteren wurde herausgearbeitet, daß es eine politische Zumutung ist, wenn der<br />

vorgesehene zweite Pleißemarsch kirchlicher Umweltgruppen parallel zur Eröffnung der Agra <strong>und</strong> des<br />

LVZ-Pressefestes stattfindet.<br />

Die Landeskirche wurde aufgefordert, generell die Arbeit mit den sogenannten Gruppen zu überdenken<br />

<strong>und</strong> sie stärker zu beeinflussen.<br />

Diese Erwartungshaltung wurde sowohl im Hinblick auf den Kirchentag als auch auf die Vorbereitung<br />

einer sogenannten DDR-weiten Aktion für die in der CSSR inhaftierten Personen herausgearbeitet. Dem<br />

Bischof wurde die Abschrift eines Flugblattes übergeben, das auf der Vervielfältigungsmaschine <strong>und</strong> mit<br />

der Vervielfältigungsnummer von Pfarrer Turek hergestellt wurde 454 . Das sind derselbe Pfarrer <strong>und</strong><br />

dieselbe Technik wie bei den Ereignissen im Januar 1989. Genosse Löffler hob die staatliche<br />

Erwartungshaltung hervor, die davon ausgeht, daß der Landesbischof <strong>und</strong> der Kirchentagsausschuß alle<br />

Kraft aufwenden müssen, den Kräften zu wehren, die letztlich dahin arbeiten, den geplanten<br />

Kirchentagskongreß <strong>und</strong> Kirchentag zu torpedieren. Es gehe um eine Maximalität der Zusicherung, alles<br />

getan zu haben, jegliche Irritationen im Zusammenhang des Staat-Kirche-Verhältnisses von vornherein<br />

auszuschließen.<br />

Im Anschluß an die Ausführungen des Staatssekretärs für Kirchenfragen sprach der Vorsitzende des Rates<br />

des Bezirkes Leipzig, Rolf Opitz, zu der Notwendigkeit, alles zu tun, daß der geplante<br />

Kirchentagskongreß <strong>und</strong> Kirchentag in Leipzig eine gute Atmosphäre hat. Genosse Opitz formulierte die<br />

Erwartungshaltung an die Landeskirche <strong>und</strong> den Kirchentagsausschuß:<br />

− die religiöse Dimension des Kirchentages einzuhalten,<br />

− den Charakter des Kirchentages als Kirchentag der Landeskirche Sachsens <strong>und</strong> die volle<br />

451 Die Information ging u.a. an den Stellvertretenden Leiter der BV des MfS (Eppisch). Auf dem MfS-Exemplar<br />

wurde vermerkt: „Abt. XX zum Verbleib E[ppisch]“.<br />

452 Am gleichen Tag beschloß das Sekretariat der SED-BL Genehmigung <strong>und</strong> Absicherung der „Durchführung eines<br />

Kirchentagskongresses <strong>und</strong> Kirchentag der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens vom 6.-9. Juli 1989 in der Stadt<br />

Leipzig“, Beschluß-Nr. 124/89 (StAL SED A 5527)<br />

453 s. Dok. 144<br />

454 vgl. zu dieser Behauptung Operativinformation Nr. 78/89 (Hinweis- <strong>und</strong> Merkmalskomplex 2) der KD Leipzig-<br />

Stadt vom 11.03.1989, in: Besier/Wolf, 671-673<br />

229


Verantwortung für die Gewährleistung von Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit vor <strong>und</strong> während des Kirchentages<br />

zu übernehmen.<br />

Landesbischof Hempel führte aus, daß er zwei Dinge sehe, einesteils die ungeklärte Frage, wie weit<br />

Kirche politisch gehen darf, <strong>und</strong> daß er gr<strong>und</strong>sätzlich bei all seinen Aussagen den Gruppen sagen müsse,<br />

daß all die „beschwerenden Dinge“, die die Gruppen so drücken, ja auch <strong>und</strong> immer wieder mit dem Staat<br />

besprochen werden. Er sehe also unter dem Aspekt des 06.03.1978 eine große sachliche Identität, aber<br />

auch sachliche Unklarheit eben zu dem Problem, wie weit könne Kirche politisch sein. Dr. Hempel<br />

erläuterte die „protestantischen Möglichkeiten“ einer Disziplinierung, die er als außerordentlich gering<br />

beschrieb, betonte aber, daß er sehr wohl verstanden habe, der Staat will nun, daß endlich mit den leidigen<br />

Geschichten in der Nikolaikirche Schluß gemacht wird. „Ich habe den Schritt in die Öffentlichkeit immer<br />

gescheut, was daran liegt, daß ich dann auf die Dinge kommen muß, die wir unter uns besprechen.“<br />

Bischof Dr. Hempel sagte zu, daß er mit dem Pfarrer der Nikolaikirche, Herrn Führer, sprechen werde.<br />

Das Friedensgebet am 27.02.1989 war als Gottesdienst gesehen ein „disqualifizierter Akt der Kirche“.<br />

„Wir werden uns weiter um die theologische Qualifizierung des Friedensgebetes bemühen, so wie das<br />

Prof. Kühn am 13.03.1989 getan hat“. Im weiteren Gespräch gelang es den staatlichen Vertretern,<br />

eindringlich hervorzuheben, daß die absolute Notwendigkeit gegeben ist, ein gr<strong>und</strong>sätzliches<br />

theologisches Wort des Landesbischofs zu sprechen, wozu er sich schließlich bereit erklärte 455 . „Ein<br />

theologisches, aber differenziertes Wort. Die Sachen, die diese wollen, haben wir auch besprochen, das<br />

muß ich dazu sagen.“ Es konnte festgestellt werden, daß bei Oberlandeskirchenrat Schlichter <strong>und</strong> Herrn<br />

Cieslak starke Unsicherheit <strong>und</strong> Betroffenheit vorhanden war, die dazu führte, daß Bischof Hempel in<br />

seinen Aussagen keine verbale Unterstützung erhielt, Schlichter <strong>und</strong> Cieslak erst dann sprachen, als sie<br />

durch den Staatssekretär persönlich angesprochen wurden <strong>und</strong> dann aber nur zu Detailproblemen der<br />

Vorbereitung des Kirchentages bzw. der „Notwendigkeit einer Veränderung der Preispolitik“ in der DDR,<br />

so Schlichter, Aussagen trafen. Im Verlaufe des Gespräches wurde eine Reihe von gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />

Problemen angesprochen <strong>und</strong> diskutiert. In diesem Zusammenhang positionierte sich Landesbischof Dr.<br />

Hempel mehrfach. Einige Aussagen können wörtlich wiedergegeben werden: „Er ist enttäuscht, daß<br />

manches anders geworden ist seit dem 06.03.1978. Unsere Regierung stellt sich auch anders dar. Ich muß<br />

aber bei allem darauf verweisen, auf die staatliche Primärverantwortung.“ „Es gibt Defizite, die sich<br />

mehren, Rede- <strong>und</strong> Meinungsfreiheit. Ich vermisse bei ihnen ein Stück Selbstkritik. Hätte ich nicht meinen<br />

Glauben, wäre es für mich schwer, hier zu leben.“ „Zur Volksbildung haben sie uns ja mehrfach gesagt,<br />

daß es keine Gespräche gibt. Was fürchten sie eigentlich? Es sind doch auch die ihrigen [sic!], die sie<br />

[sic!] ja ausgebildet haben.“ „Wir sprechen über die gleichen Themen, wie schon immer vorher. Es ist hier<br />

ein Raum nicht da, den viele Leute brauchen. Das haben wir viele Male schon gesagt <strong>und</strong> sagen es immer<br />

wieder.“ Landesbischof Dr. Hempel brachte seine persönliche Betroffenheit über die Ernsthaftigkeit der<br />

staatlichen Aussagen im Zusammenhang mit der Zustimmungserklärung für die Durchführung des<br />

Kirchentages zum Ausdruck. Zur weiteren Vorbereitung des Kirchentages wurde vereinbart, daß am<br />

Dienstag, dem 21.03.1989, eine Beratung mit dem Kirchentagsausschuß stattfindet <strong>und</strong> das vorgelegte<br />

Programm des Kirchentages beraten wird.<br />

Durch den Vorsitzenden des Landeskirchentagsausschusses wurde ausdrücklich betont,<br />

− daß es ein Kirchentag der Landeskirche Sachsens ist, zu dem nur einzelne Teilnehmer <strong>und</strong> keine<br />

Gruppenanmeldungen erfolgen, (bisher liegen 2500 Einzelanmeldungen zum Kongreß vor)<br />

− daß es während des Kongresses den Medien untersagt wird, an den Beratungen teilzunehmen <strong>und</strong> eine<br />

Medienarbeit über Pressekonferenzen erfolgt,<br />

− daß noch keine Übersicht über die ausländischen Teilnehmer besteht, ihre Einladung <strong>und</strong> Einreise aber<br />

ausdrücklich über die Dienststelle des Staatssekretärs für Kirchenfragen zu klären ist,<br />

− daß ein Angebot des Staatssekretärs für Kirchenfragen geprüft wird, Karten für Kirchentagsteilnehmer<br />

zu öffentlichen Kultur- <strong>und</strong> Filmveranstaltungen zu bestellen.<br />

Das Gespräch verlief insgesamt in einer sehr sachlichen <strong>und</strong> vertrauensvollen Atmosphäre. Bischof<br />

Hempel gelang es nicht, eine starke Betroffenheit zu überspielen.<br />

455 Über das Gespräch berichtete Opitz am 03.04.1989 auch an den Vorsitzenden des Ministerrates (StAL BT/RdB<br />

21395). Dort heißt es, daß Hempel ein „gr<strong>und</strong>sätzliches theologisches Wort“... „in Aussicht stellte“.<br />

230


Seine Begleiter waren nicht in der Lage, ihn in der Gesprächsführung zu unterstützen.<br />

146 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Aktennotiz vom Rates der Stadt Leipzig, Bereich Kirchenfragen, vom 20.03.1989 über ein Gespräch am<br />

17.03.1989 zwischen Sabatowska, Sup. Magirius <strong>und</strong> Sup. Richter. Inhalt des Gesprächs waren die<br />

Friedensgebete <strong>und</strong> verschiedene Veranstaltungen der Leipziger Basisgruppen. Unterzeichnet wurde die Notiz<br />

von Hillebrand. Das Exemplar trägt mehrere Unterschriften von Mitarbeitern der BV des MfS, die diese<br />

Aktennotiz zur Kenntnis nahmen, u.a. von Eppisch, Strenger <strong>und</strong> Conrad (ABL H 53) 456 .<br />

Gen. Sabatowska ging zunächst auf die Vorgänge in der Leipziger Innenstadt am Messemontag ein, wobei<br />

es den westlichen Medien gelungen sei, den Teilnehmerkreis des Friedensgebets politisch zu<br />

mißbrauchen. Er unterstrich nachdrücklich die Bedeutung des Friedensgebets in der Nikolaikirche für das<br />

Verhältnis Staat-Kirche in der Stadt Leipzig. Am Beispiel des Versuchs einer politischen Provokation<br />

unter dem Vorwand der Ehrung der Geschwister Scholl machte Gen. Sabatowska die Vorgehensweise der<br />

Antragsteller zur Durchsetzung ihrer Ziele deutlich 457 . Aus seiner Sicht sei die Entscheidung, den<br />

Gruppen ab April wieder die Gelegenheit zur Gestaltung des Friedensgebetes zu geben, nicht geeignet, die<br />

Situation zu entspannen. Schließlich äußerte er seine Bedenken gegenüber solchen im kirchlichen Raum<br />

geplanten Veranstaltungen wie der Aktionstag für die politisch Inhaftierten in der CSSR (19.3.89), der<br />

Pleißegedenkumzug im Juni sowie der Nachmittag „Schule in Bewegung“ 458 am 1.4.89. Er drückte die<br />

staatliche Erwartungshaltung aus, daß die Superintendenten ihren Einfluß geltend machen, damit diese<br />

Veranstaltungen frei von Provokationen bleiben. Die Superintendenten äußerten sich in folgender Weise<br />

dazu:<br />

Sup. Magirius:<br />

− Dank „für die maßvolle Begleitung der Dinge durch den Staat“<br />

− man könne nicht genug darüber staunen, wie bei diesen Aktivitäten durch den Staat zugesehen wird<br />

− Bitte an die Sup., hier mehr zu regulieren <strong>und</strong> einzugrenzen, jedoch immer wieder von staatlicher Seite<br />

angetragen<br />

− hier müsse man endlich weiterkommen (Probleme müßten in der Öffentlichkeit behandelt werden)<br />

− man differenziere genau zwischen Jugendlichen mit echten Anliegen <strong>und</strong> „solchen, die sich unter diese<br />

mischen <strong>und</strong> die westlichen Medien informieren“, diese Vermischung sei furchtbar<br />

− die Frage sei, wie man die, die es ehrlich meinten, fördern könne<br />

− man fühle sich mittlerweile vielfach als „Tempelpolizei“, da „andere Polizei offenbar nicht handeln<br />

kann“<br />

− dieser Zustand sei unbefriedigend<br />

− eigentlich „sitze man sehr nah beieinander“, selbst müsse man sich innerhalb der Kirche rechtfertigen,<br />

<strong>und</strong> Herr Sabatowska müsse dies vor seinen Genossen tun<br />

− in dieser Rolle fühle man sich nicht wohl<br />

− die Gruppen erhalten nicht das Recht, das Friedensgebet selbständig zu organisieren, sondern sie<br />

456 Da von E[ppisch] die Aktennotiz an die Abt. XX adressiert wurde, kann man annehmen, daß sie offiziell dem<br />

MfS übergeben wurde.<br />

457 Für den 23.02.1989 hatte der Küster der Friedenskirche (Leipzig-Gohlis), Christfried Heinze, anläßlich des 46.<br />

Jahrestages der Ermordung der Geschwister Scholl einen Gedenkmarsch bei der VP beantragt. Nach der<br />

Demonstration am 15.01.1989 befürchteten die staatlichen Stellen, daß dies zu einer erneuten<br />

Protestdemonstration führen würde. Das Sekretariat der SED-Kreisleitung beschloß auf seiner Sitzung am 16.02.<br />

aus diesem Gr<strong>und</strong> einen Maßnahmekatalog, um diese Demonstration zu verhindern (StAL SED N 892). Durch<br />

verschiedene Gespräche mit Heinze (Polizei <strong>und</strong> MfS) <strong>und</strong> anderen Mitgliedern der Friedensgruppe<br />

(Ausreiseantragsteller) erreichten die staatlichen Stellen, daß der Antrag zurückgenommen wurde. Dafür fand am<br />

22.02. in der Friedenskirche ein Scholl-Gedenkgottesdienst statt (Jahn an Löffler am 22.02.1989, BArch O-4 973<br />

<strong>und</strong> Information der SED-SL Leipzig vom 14.02.1989 - StAL SED A 5322). s.a. S. 275<br />

458 Veranstaltung zur Auseinandersetzung mit der staatlichen Pädagogik<br />

231


werden es gemeinsam mit einem erfahrenen Pfarrer vorbereiten<br />

− diese Pfarrer erscheinen vorher bei Sup. Magirius zum Vorgespräch<br />

− er sei auch weiterhin bereit, seine Aufsichtspflicht wahrzunehmen<br />

− zum Umwelttag sei es am besten, wenn man eine Form finden würde, die einen Pleißemarsch<br />

erübrigt 459<br />

− man habe bereits vermutet, daß der Messemontag durch die Westmedien gesteuert wurde<br />

− es sei zu überlegen, ob man unter diesen Bedingungen zur Messe künftig überhaupt noch ein<br />

Friedensgebet durchführen kann<br />

460<br />

Sup. Richter:<br />

− Genugtuung über bestehenden verläßlichen Kontakt Staat-Kirche in der Stadt<br />

− Gespräch von SR [Stadtrat] Packmohr mit der AG Umweltschutz sei ein mutiger Schritt gewesen<br />

− er bedaure, daß angesichts der gesellschaftlichen Situation heute „manche Organisationen auf<br />

Tauchstation gegangen sind“<br />

− Problem Antragsteller sei ein Stück Wirklichkeit, nicht wir setzten dies in Gang<br />

− Gespräche mit dem Küster der Friedenskirche Gohlis geplante Veranstaltung für Geschwister Scholl<br />

hätten Nachholebedarf der Kirche beim Umgang mit Personen des Widerstands erkennen lassen<br />

− er hoffe, daß der staatliche Dialog, der auch kritische Töne aushalten müsse, bei den Menschen<br />

ankommt<br />

− er werde mit dem Kirchenvorstand der Heilandkirche wegen der Veranstaltung „Schule in Bewegung“<br />

sprechen<br />

462<br />

− zum Kirchentag sei es wohl günstig, alle Gruppen an einem Ort zu konzentrieren <strong>und</strong> ihnen einen<br />

entsprechenden Raum anzubieten, „damit sie hier Dampf ablassen können“, leider biete die<br />

Gesellschaft insgesamt keine Plätze für diese Leute<br />

− mit Sup. Magirius sei man sich einig, daß durch das bei Pfr. Turek gedruckte Blatt zum Aktionstag am<br />

19.3.89 „die Kirche etwas damit zu tun habe“<br />

− das Selbstbewußtsein der Leute sei erheblich gewachsen, man könne nicht mehr nach dem Motto „Wir<br />

denken schon für euch!“ mit ihnen verkehren<br />

− neue Reiseregelungen 463 sind positiv, den Menschen würden damit die Augen geöffnet werden<br />

Das Gespräch verlief in einer offenen <strong>und</strong> sachlichen Atmosphäre.<br />

147 Stasi-Information<br />

Auszug aus der Information über die westlichen Journalisten „im Zusammenhang mit provokatorischen<br />

Handlungen feindlich-negativer Personengruppen am 12/13. März 1989 in Leipzig“ (ZAIG Nr. 127/89). Die<br />

Information ging u.a. an Krenz, Herrmann <strong>und</strong> verschiedene leitende Mitarbeiter des MfS (BStU ZAIG<br />

3752).<br />

Nach dem MfS vorliegenden streng internen Hinweisen haben in der DDR akkreditierte Korrespondenten<br />

westlicher Publikationsorgane wesentlichen Anteil an der Initiierung <strong>und</strong> Organisierung der<br />

459 Dieser Absatz wurde per Hand angestrichen.<br />

460 Dieser Absatz wurde per Hand angestrichen.<br />

461 Das Gespräch kam aufgr<strong>und</strong> einer Eingabe der AGU zu Fragen der Kernenergie zustande. Daran nahmen<br />

Vertreter des Ministeriums für Kohle <strong>und</strong> Energie <strong>und</strong> des StfK auf der einen Seite <strong>und</strong> Sup. Richter, Jugendpf.<br />

Kaden <strong>und</strong> u.a. R. Quester teil (s.a. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 267).<br />

462 Dieser <strong>und</strong> der folgende Absatz wurden per Hand angestrichen.<br />

463 Mit der Verordnung über Reisen von Bürgern der DDR nach dem Ausland vom 30.11.1988 war es für Personen<br />

im Alter über 50 Jahre ab 1.1.1989 möglich, eine Besuchsreise in die B<strong>und</strong>esrepublik zu beantragen (vorher ab<br />

60 Jahre). Außerdem sollte es ab Juli 1989 möglich werden, daß Nichtgenehmigungen gerichtlich überprüft<br />

werden (vgl. Lochen/Meyer-Seitz, 594 u.ö.). Die erste Durchführungsbestimmung (01.04.1989) dieser<br />

Verordnung erweiterte den Kreis der Anteilsberechtigten erneut.<br />

461<br />

232


provokatorischen Handlungen feindlich-negativer Personengruppen, insbesondere Antragsteller auf<br />

ständige Ausreise, zu Beginn der Frühjahrsmesse am 12./13. März 1989 in Leipzig. So wurden bereits<br />

Tage vor den geplanten Provokationen Absprachen geführt zwischen ständig in der DDR akkreditierten<br />

Korrespondenten von Publikationsorganen der BRD <strong>und</strong> dem MfS bekannten <strong>und</strong> dem politischen<br />

Untergr<strong>und</strong> zuzuordnenden Kräften aus Leipzig sowie Antragstellern auf ständige Ausreise mit dem Ziel,<br />

ein abgestimmtes arbeitsteiliges Zusammenwirken <strong>und</strong> feindlich-negative Motivierung der handelnden<br />

gegnerischen Kräfte während der für den vorgesehenen Zeitraum geplanten provokatorischen Aktionen,<br />

insbesondere des als Höhepunkt vorgesehenen „Schweigemarsches“, zu gewährleisten <strong>und</strong> den<br />

Gesamtablauf der Provokationen medienpolitisch vermarktungsfähig als Auftakt einer neuen<br />

Verleumdungskampagne gegen die DDR zu inszenieren. So organisierten die genannten Kräfte für den 12.<br />

März 1989, 10.10 bis 11.45 Uhr einen auf Öffentlichkeitswirksamkeit gerichteten Fahrradkorso mit ca. 20<br />

vorwiegend jugendlichen Personen vom Nikolaikirchhof bis zum Völkerschlachtdenkmal <strong>und</strong> zurück zum<br />

Stadtzentrum (Johannisplatz), der jedoch ohne öffentliche Beachtung blieb. Zu den Aktivitäten der<br />

akkreditierten Korrespondenten aus nichtsozialistischen Ländern während des Fahrradkorsos wurde<br />

folgendes bekannt:<br />

− Das ZDF-Team unter der Leitung von Brüssau realisierte vor Beginn des Fahrradkorsos<br />

Filmaufnahmen auf dem Vorplatz der Nikolaikirche.<br />

− Die Mehrzahl der Korrespondenten begleitete die ihre Fahrräder schiebenden Jugendlichen über ca.<br />

300 m von der Nikolaikirche bis zum Gewandhaus, dem Ausgangspunkt des sogenannten<br />

Fahrradkorsos.<br />

− Gegen 11.30 Uhr wurde die Rückkehr der Gruppe in der Nähe des Johannisplatzes vom „Spiegel“-<br />

Korrespondenten Mehner fotografisch dokumentiert, der dazu einen günstigen Platz in einem<br />

Gr<strong>und</strong>stück ausgewählt hatte.<br />

Während des von gegnerischen Kräften am 13. März 1989, von 17.45 bis 18.30 Uhr nach dem<br />

montäglichen „Friedensgebet“ in der Nikolaikirche Leipzig organisierten provokatorischen<br />

„Schweigemarsches“ mit ca. 300 Personen von der Nikolaikirche über die Ritterstraße, Grimmaische<br />

Straße bis zum Markt (in der Information des MfS Nr. 122/89 vom 14. März 1989 wurde über den Ablauf<br />

der Provokation informiert464 ), wurden insgesamt 15 akkreditierte Korrespondenten aus dem<br />

nichtsozialistischen Ausland tätig (siehe Anlage 465).<br />

Dabei kam ihre inspirierende <strong>und</strong> koordinierende Rolle in folgenden Aktivitäten zum Ausdruck: Am 13.<br />

März 1989 wurden bereits vor 17.00 Uhr - zu diesem Zeitpunkt begann das „Friedensgebet“ in der<br />

Nikolaikirche Leipzig - durch die Fernsehteams von ARD <strong>und</strong> ZDF unter der Leitung von Börner bzw.<br />

Schmitz in der Innenstadt von Leipzig, vor allem in unmittelbarer Nähe der Nikolaikirche, Filmaufnahmen<br />

gefertigt. Ein großer Teil (11) der insgesamt 15 namentlich bekanntgewordenen <strong>und</strong> an den Provokationen<br />

beteiligten Korrespondenten aus dem nichtsozialistischen Ausland begab sich mit in die Kirche, wobei sie<br />

vor Betreten der Kirche ihre entsprechend den gewährten Arbeitsbedingungen offen zu tragenden<br />

Akkreditierungsausweise entfernten. Nach dem „Friedensgebet“, d.h. unmittelbar vor der Formierung des<br />

„Schweigemarsches“, postierten sich die Fernsehteams von ARD <strong>und</strong> ZDF vor der Kirche <strong>und</strong> begannen<br />

mit Filmaufnahmen. Sowohl während der gesamten provokatorischen Personenbewegung als auch bei der<br />

Personenansammlung am Markt wurden weitere Filmaufnahmen getätigt. Dabei bewegten sich die Teams<br />

zumeist einige Meter vor der Personengruppe in der von den Organisatoren vorgesehenen<br />

Bewegungsrichtung, z.T. jedoch auch innerhalb derselben. Das offensichtliche Zusammenwirken der<br />

westlichen Korrespondenten mit Kräften der feindlich-negativen Personengruppierung, das auf eine<br />

möglichst wirksame <strong>und</strong> mediengerechte Vermarktung der Provokation abzielte, wurde besonders<br />

während des „Schweigemarsches“ deutlich:<br />

− Der ARD-Korrespondent [... geschwärzt] forderte wiederholt die feindlich- negativen Personen durch<br />

Zurufe zum Stehenbleiben auf, damit er ordentliche Fernsehaufnahmen fertigen könne.<br />

− Die anwesenden R<strong>und</strong>funkkorrespondenten fertigten Tonaufnahmen von den im Zug initiierten, die<br />

Sicherheitsorgane diskriminierenden <strong>und</strong> auf die angebliche Verletzung von Menschenrechten in der<br />

464 ZAIG 122/89 abgedruckt in: Mitter/Wolle, 28<br />

465 In der Anlage wurden die Namen der Journalisten aufgeführt.<br />

233


DDR verweisenden Rufen.<br />

So hatte der Reisekorrespondent des Norddeutschen R<strong>und</strong>funks, Pagel, für diesen Zeitpunkt aus dem<br />

R<strong>und</strong>funkstudio des Pressezentrums eine Direktschaltung zu seinem Sender bestellt. Er überspielte den<br />

Live-Kommentar mit der Originalgeräuschkulisse (einschließlich der Rufe), wobei er seine<br />

Berichterstattung selbst intern als „sensationell“ einschätzte.<br />

− Durch die Korrespondenten [... geschwärzt] (Ost-Europa-Foto/fertigte ständig Fotoaufnahmen) <strong>und</strong> [...<br />

geschwärzt] (Saarbrücker Zeitung) sowie den ARD-Techniker [... geschwärzt] wurden in einer nicht<br />

genehmigten Befragung fortwährend Antragsteller auf ständige Ausreise zu Gründen ihres<br />

Ausreiseantrages, den Zielen ihrer „Demonstration“ <strong>und</strong> den Erwartungen hinsichtlich ihres Auftretens<br />

befragt. Die Antworten entsprachen den üblichen Klischees.<br />

− Der akkreditierte ständige Korrespondent der amerikanischen Nachrichtenagentur AP führte Gespräche<br />

mit in Leipzig anwesenden Exponenten des politischen Untergr<strong>und</strong>es aus Berlin (Rathenow, Scheffke).<br />

Streng internen Hinweisen zufolge sollten Antragsteller auf ständige Ausreise absprachegemäß die BRD-<br />

Fernsehteams gezielt bei der Ausübung ihrer Tätigkeit behindern <strong>und</strong> deren Kameras beschädigen, um<br />

diese Maßnahmen den DDR-Sicherheitsorganen anzulasten. Zur Sicherung der Teams erfolgte deshalb der<br />

Einsatz von VP-Angehörigen in Uniform 466 . Diese forderten die Teams im Verlauf der<br />

Personenbewegung mehrmals auf, im Interesse ihrer Sicherheit Abstand von der Personengruppe zu<br />

halten. Wiederholt erfolgte durch die VP-Angehörigen das Abdrängen von Personen, die sich den Teams<br />

nähern wollten. Beim Verlassen des Marktes „bedankten“ sich beide Teams bei den VP-Angehörigen für<br />

den Schutz <strong>und</strong> die Gewährleistung ihrer Arbeitsmöglichkeiten.<br />

Sowohl während als auch nach der Provokation wurden intern weitere Feststellungen getroffen, die Pläne,<br />

Absichten <strong>und</strong> persönliche Haltungen westlicher Korrespondenten deutlich machen:<br />

− Der Fotograf [... geschwärzt] (Ost- <strong>und</strong> Europafoto) brüstete sich gegenüber anderen Journalisten der<br />

BRD, daß er den „Schweigemarsch“ nach dem „Friedensgebet“ nicht nur „im Kasten“, sondern auch<br />

mitorganisiert habe.<br />

− Nach Ende der Provokation äußerte [... geschwärzt] im Pressezentrum, daß er solche Aktionen<br />

dokumentieren müsse, das sei sein Geschäft.<br />

− Kurz vor der endgültigen Auflösung der Personenansammlung auf dem Markt äußerte ein Mitglied des<br />

ZDF-Teams gegenüber einem Team-Angehörigen: „Jetzt brauchen wir nicht mehr zu provozieren. Wir<br />

haben, was wir wollen.“<br />

Kennzeichnend für die Inszenierung dieser Provokation <strong>und</strong> die Rollenverteilung im Interesse westlicher<br />

Medien waren auch die Äußerungen einer namentlich bekannten Antragstellerin auf ständige Ausreise,<br />

wohnhaft Leipzig, die mehrmals während der Filmaufnahmen von ARD <strong>und</strong> ZDF hysterisch <strong>und</strong><br />

aggressiv mit anmaßenden Forderungen nach Ausreise in Erscheinung trat (war ständig in vorderer<br />

Reihe/schrie ins Mikrofon, sie habe Kinder <strong>und</strong> wolle zu ihrem Mann, sowie „jetzt haben wir keine Angst<br />

mehr“).<br />

Nach vorliegenden zuverlässigen internen Feststellungen bestätigte diese Person, daß<br />

− sich führende Kräfte aus dem Kreis der Antragsteller auf ständige Ausreise in Vorbereitung dieses<br />

„Schweigemarsches“ mit Vertretern des ZDF mehrmals getroffen hätten, um ein abgestimmtes<br />

Vorgehen zu sichern;<br />

− sie mit der Rolle betraut worden sei, während des „Schweigemarsches“ ihre „Lebensgeschichte“ vor<br />

der ZDF-Kamera darzustellen;<br />

− das Ziel <strong>und</strong> der Wunsch des ZDF-Teams darin bestanden habe, daß es zu einer tätlichen<br />

Auseinandersetzung zwischen den Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorganen <strong>und</strong> den Antragstellern auf ständige<br />

Ausreise komme, die mit Zuführungen ende. Die entsprechenden Filmaufnahmen sollten dazu genutzt<br />

werden, die DDR der Verletzung der Menschenrechte zu bezichtigen.<br />

Zu einer Reihe der in dieser Information genannten akkreditierten Korrespondenten von<br />

Publikationsorganen der BRD liegen aus den letzten Jahren Erkenntnisse zu wiederholten rechtswidrigen<br />

Aktivitäten vor. [... Es folgen einige Beispiele zwischen 1985 <strong>und</strong> 1989]<br />

466 vgl. Dok. 148<br />

234


148 Stasi-Information<br />

Auszug aus der Quartalseinschätzung I/89 der BV des MfS Abteilung XX/4 (Major Strenger, i.A. Tinneberg<br />

<strong>und</strong> Hauptmann Große gro-tr) vom 30.03.1989 über R. Müller (OV „Märtyrer“), <strong>und</strong> seine Aktivitäten in<br />

Leipzig. Diese Quartalseinschätzung ist Teil der „Ausgewählten Quartalseinschätzungen über den OV<br />

Märtyrer der BV Leipzig“, die von IFM e.V./Forschungszentrum zu den Verbrechen des Stalinismus<br />

herausgegeben wurden.<br />

− Der Verdächtige beteiligte sich mit weiteren Personen in der Nacht vom 11. zum 12.01.89 an einer<br />

Flugblattaktion im Leipziger Stadtgebiet. Dabei wurde in dem Flugblatt mit dem Titel „Aufruf an alle<br />

Bürger der Stadt Leipzig“ zu einer nichtgenehmigten Zusammenkunft für den 15.01.89 um 16.00 Uhr<br />

auf dem Markt in Leipzig aufgefordert. In diesem Zusammenhang erfolgte am 13.01.89 die Zuführung<br />

des Verdächtigen in die UHA [Untersuchungshaftanstalt] des MfS Leipzig <strong>und</strong> die Einleitung eines<br />

Ermittlungsverfahrens gemäß Paragr. 214 (1) <strong>und</strong> (3) StGB 467 . Die Verteidigung des M. übernahm<br />

Rechtsanwalt Schnur, Wolfgang. Während der Untersuchungshaft war der Verdächtige als einziger<br />

Beschuldigter nicht aussagebereit <strong>und</strong> nicht geständig. Aufgr<strong>und</strong> einer zentralen politischen<br />

Entscheidung erfolgte die Einstellung der Ermittlungsverfahren auf der Gr<strong>und</strong>lage des Paragr. 25<br />

Ziffer 2 StGB 468 <strong>und</strong> gemäß Paragr. 148 (1) 3 StPO sowie am 19.01.89 die Entlassung aus der<br />

Untersuchungshaft. Im Rahmen der Untersuchung der o.g. öffentlichkeitswirksamen Aktion <strong>und</strong> der<br />

dazu inoffiziell erarbeiteten Erkenntnisse wurde erneut das abgestimmte Zusammenwirken mit<br />

PUT 469 -Exponenten in der DDR <strong>und</strong> mit westlichen Journalisten durch die Mitglieder des AK<br />

„Gerechtigkeit“ herausgearbeitet <strong>und</strong> nachgewiesen. Am Abend des 19.01.89 fand dann bei M. in der<br />

Wohnung eine Zusammenkunft aller „Inhaftierten“ statt. M. äußerte dabei: „Ich bin enttäuscht, daß die<br />

Freilassung erfolgte. Somit ist der Schaden für die DDR nur gering!“<br />

− Am 20.01.89 nahm M. in der Markusgemeinde Leipzig an einem „Fürbittgottesdienst“, gemeinsam mit<br />

allen freigelassenen Flugblattverbreitern, teil. In Anwesenheit von Rechtsanwalt Schnur sowie den<br />

Mitgliedern der Initiative „Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte“ Berlin, Fischer, Werner <strong>und</strong> Grimm, Peter<br />

verabschieden die Teilnehmer eine „Erklärung der von den Verhaftungen betroffenen Gruppen“ 470 .<br />

Darin werden eine aktive Solidarität <strong>und</strong> die Einstellung der Ermittlungsverfahren gefordert.<br />

Außerdem wird unterstellt, daß durch den Staat versucht wird, „die Arbeit von gesellschaftlich <strong>und</strong><br />

politisch engagierten Gruppen zu kriminalisieren“.<br />

− Im Auftrag der „Betroffenen“ verliest Arnold, Michael während des „Friedensgebetes“ am 23.01.89 in<br />

der Nikolaikirche Leipzig eine gemeinsame Erklärung, in welcher sie sich zur Flugblattaktion<br />

bekennen <strong>und</strong> ihren Willen bek<strong>und</strong>en, trotz laufender Ermittlungsverfahren so weiter zu arbeiten.<br />

Diese Erklärung ist auch durch M. unterzeichnet (liegt in der DE [Diensteinheit] vor). Nach dem<br />

„Friedensgebet“ finden vor der Moritzbastei in Leipzig Fernsehaufnahmen mit den „Betroffenen“<br />

durch das ARD statt. Die Ausstrahlung dieser Aufnahmen erfolgte am 25.01.89 im ARD in der<br />

Sendung „Brennpunkt“.<br />

− Am 12.03.89 um 20.00 Uhr fand in der Wohnung des Rudolph eine Beratung in Vorbereitung des<br />

13.03.89 statt. Daran nahmen die Walther, Kathrin; Hollitzer, Tobias; Quester, Roland <strong>und</strong> der<br />

Verdächtige teil. Im Anschluß äußerte M. gegenüber einer Quelle unserer DE folgendes 471 : „Nach dem<br />

„Friedensgebet“ am 13.03.89 wird es einen Marsch von der Nikolaikirche zur Thomaskirche geben.<br />

Mit den AStA ist bereits alles abgesprochen. Sie sollen die VP angreifen. Die Fernsehkameras der<br />

BRD sollen herunter gerissen werden. Im Westfernsehen soll dies dann als Aktion der<br />

Sicherheitskräfte dargestellt werden. Die Absprache mit den BRD-Journalisten erfolgt noch heute<br />

467 s. Anm. 28 § 214 (3) lautete: „Wer zusammen mit anderen eine Tat nach den Absätzen 1 oder 2 begeht, wird mit<br />

Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.“<br />

468 „Von Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist abzusehen, wenn die Straftat infolge der<br />

Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsverhältnisse keine schädliche Auswirkung hat.“<br />

469 s. Abkürzungsverzeichnis S. 437<br />

470 s. Dok. 130<br />

471 Als Quelle ist der IM „Fuchs“ (B. Becker) zu identifizieren (BStU Leipzig AB 3843, 151f.).<br />

235


durch Rudolph, Thomas“.<br />

− Am 13.03.89 nahm M. am „Friedensgebet“ in der Nikolaikirche teil. Vor der Veranstaltung gab es am<br />

Eingang der Kirche ein Zusammentreffen zwischen Rudolph, M. <strong>und</strong> einem Korrespondenten der<br />

ARD. Über den Inhalt des Gespräches wurde nichts bekannt. Nach dem „Friedensgebet“ kam es zu der<br />

geplanten, nichtgenehmigten Personenbewegung durch die Leipziger Innenstadt. Die ca. 300<br />

Teilnehmer zogen mit Sprechchören bis zum Marktplatz, wo die Auflösung erfolgte. Der Verdächtige<br />

beteiligte sich nicht an dieser „Aktion“, sondern führte Gespräche in <strong>und</strong> vor der Nikolaikirche. In<br />

diesem Zusammenhang wurde bekannt, daß er erneut für den 1. Mai 1989 plant, mit einem eigenen<br />

Transparent in Borna zu demonstrieren.<br />

− Am 14.03.89 besuchte der Verdächtige um 19.00 Uhr den „Fürbittgottesdienst für die Inhaftierten in<br />

der CSSR“ in der katholischen Liebfrauengemeinde. [...]<br />

− Zum „Friedensgebet“ am 20.03.89 überstieg M. gemeinsam mit Schwabe, Uwe das Absperrseil in der<br />

Nikolaikirche <strong>und</strong> entfaltete an der Empore über der Jugendkapelle mit einer weiteren unbekannten<br />

männlichen Person ein Transparent. Darauf stand „Freiheit für Havel <strong>und</strong> alle politischen <strong>und</strong><br />

religiösen Inhaftierten in der CSSR“. Arnold, Michael fotografierte den Sachverhalt <strong>und</strong> übergab den<br />

Film an Rudolph, Thomas. Dieser will den Film an westliche Medien übergeben.<br />

− Die bisher eingeleiteten Disziplinierungsmaßnahmen sowie Ordnungsstrafen <strong>und</strong> strafprozessuale<br />

Maßnahmen zeigten beim Verdächtigen keinerlei Wirkung. Erneut trat M. unverzüglich nach seiner<br />

Untersuchungshaft im Januar 1989 mit demonstrativen öffentlichkeitswirksamen Handlungen in<br />

Erscheinung <strong>und</strong> versuchte verstärkt seinen konfrontativen Kurs gegenüber staatlichen Organen<br />

fortzusetzen. Hierbei wurde wiederum die unbelehrbare <strong>und</strong> verfestigte feindlich-negative Haltung des<br />

Verdächtigen deutlich. Begünstigend für die Fortsetzung der Aktivitäten des M. ist die Tatsache, daß<br />

sowohl die Ordnungsstrafen <strong>und</strong> das eingeleitete Ermittlungsverfahren aufgr<strong>und</strong> zentraler politischer<br />

Entscheidungen nicht realisiert bzw. eingestellt wurden. Außerdem nutzt der Verdächtige, da er ohne<br />

Arbeitsrechtsverhältnis ist, seinen gesamten Zeitfond für die Untergr<strong>und</strong>aktivitäten.<br />

− Entsprechend der Jahresplanaufgabenstellung zum OV erfolgte eine Präzisierung der<br />

Bearbeitungskonzeption, ausgewiesen im Komplex „Spuk“ 472 . Durch den stellv. Leiter der Abteilung,<br />

Gen. Oberstleutnant Tinneberg wurde am 10.01.89 mit dem Leiter der HA XX/9, Gen. Oberst Reuter,<br />

eine Koordinierungsabsprache realisiert.<br />

− Zur Realisierung von Maßnahmen der Abteilung 26/B [Einbau von Wanzen] zum OV<br />

(Jahresplanaufgabe) wurden im Wohngebiet des Verdächtigen umfangreiche Aufklärungs- <strong>und</strong><br />

Vorbereitungsarbeiten durchgeführt. Aufgr<strong>und</strong> einer zentralen Weisung erfolgte am 30.01.89 durch die<br />

Abteilung 26 die Aussetzung der geplanten Maßnahme 473.<br />

[...]<br />

149 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Auszug aus einer Information des Rates des Bezirkes Leipzig, Bereich Kirchenfragen (Ebisch), vom<br />

10.04.1989 über ein Gespräch am 04.04.1989 zwischen Reitmann <strong>und</strong> Theologen der Leipziger Universität<br />

(Prof. Moritz, Prof. Kretzschmar, Prof. Haustein, Dr. Zimmermann, Dr. Wartenberg, Dr. Petzold) 474 . Der<br />

Computerausdruck wurde von Ebisch unterzeichnet <strong>und</strong> trägt Bearbeitungsspuren (ABL H 53).<br />

472 Eine genaue Aussage darüber, was alles in diesem Bearbeitungskomplex bearbeitet wurde, läßt sich noch nicht<br />

machen, vermutlich alle politisch-alternativen Gruppen in Leipzig.<br />

473 R. Müller war durch Anwohner auf die Bemühungen des MfS aufmerksam gemacht worden. R. Müller wohnte<br />

zusammen mit mehreren Jugendlichen in einem Haus, in dem zwei leerstehende Wohnungen von ihnen besetzt<br />

waren. „Die Marianne“ - wie die Wohnungen (<strong>und</strong> der Hinterhof) unter Gruppenmitgliedern hieß - war ein<br />

wichtiges Kommunikationszentrum der Basisgruppenmitglieder (auch aus anderen Städten). Die zentrale<br />

Anweisung war vermutlich eine Reaktion auf das Entdecken mehrerer Wanzen durch R. Eppelmann in seiner<br />

Wohnung (Anzeige von M. Stolpe vom 20.12.1988).<br />

474 Am 28.03. gab es eine „traditionelle Begegnung von Marxisten <strong>und</strong> Christen“ auf Einladung von Reitmann, an<br />

der u.a. P. Zimmermann, M. Hausstein, H. Seidel <strong>und</strong> J. Richter teilnahmen.<br />

236


[...] Dr. Zimmermann bezog sich auf die Montagsveranstaltungen in der Nikolaikirche bzw. ihre<br />

Auswirkungen auf der Straße <strong>und</strong> bezeichnete sie als „juristischen Wildwuchs“, da keiner von<br />

kirchenrechtlichen Bestimmungen ausgehe, die eine geordnete Kirchenstruktur brauche. Die<br />

Kirchgemeinde versuche zwar Kirche zu sein, aber hier hätten ja sogenannte Christen der Straße Macht<br />

über die Kirche. Dr. Reitmann sprach die Vertreter der Sektion an, unterstützender wirksam zu werden im<br />

Zusammenhang der Friedensgebete in der Nikolaikirche, diese mehr zu theologisieren, das würde benötigt<br />

zur vorbeugenden Verhinderung von Aktivitäten. Es müssen Prämissen <strong>und</strong> Normen gesetzt werden zu<br />

der Arbeit mit den vielfältigen Gruppen. Bischof Hempel hätte dazu geschrieben <strong>und</strong> auch Krusche 475 . Es<br />

gelte neue Überlegungen anzustellen, wie es weiter gehen soll mit den Gruppen in der Kirche, <strong>und</strong> wie<br />

müßte die Arbeit gestaltet werden. Dr. Zimmermann meinte, daß zu dieser Problematik ein Disput<br />

angebracht sei, wo stärker attraktive theolog. Argumente in der Aufgabenstellung formuliert werden <strong>und</strong><br />

in Lehrüberlegungen eingehen, um das Dilemma zu packen. [...]<br />

150 Kirchenvorstandsprotokoll<br />

Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 49. Sitzung des KV St. Nikolai vom 10.4.1989 (ABL H 54).<br />

Tagesordnung: 1.) Friedensgebete-Plan bis Juli 1989 [/] 2.) Arbeitsgruppen des KV: Personalbestand <strong>und</strong><br />

nächste Vorhaben [/] 3a) Stand der Bauarbeiten [/] b) Vorüberlegungen des Herrn Dr. Pasch <strong>und</strong> Dr.<br />

Magirius zur möglichen Aufstellung des Kunstgutes [/] 4.) Anfrage des Rates der Stadt bezüglich<br />

Orgelmusiken [/] 5.) Gemeindeabend zu „Sommerstück“ von Christa Wolf [/] 6.) Nachfolge für Frl.<br />

Lehnert im KV [/] 7.) Etwaige weitere Gegenstände<br />

Nach der Andacht von Pfarrer Führer wurde das Protokoll der letzten KV-Sitzung verlesen.<br />

Zu Pkt. 1 Sup. Magirius, Pfarrer Führer <strong>und</strong> Herr Ramson informierten über das heutige Friedensgebet.<br />

Es schloß sich eine längere Diskussion an. Besonders wurde der Informationsteil kritisiert, weil sich in<br />

diesem die Gruppen über das zeitliche <strong>und</strong> inhaltliche Maß darstellten. Aus diesem Gr<strong>und</strong> sollte in den<br />

Vorgesprächen (Beginn 16.30) darauf geachtet werden, daß die Gr<strong>und</strong>sätze zum Friedensgebet vom<br />

08.12.88 konsequent durchgesetzt werden. Anschließend wurden die Verantwortlichen des KV für den<br />

Informationsteil des Friedensgebetes bestimmt.<br />

10.4 Herr Ramson [usw... jeweils mindestens ein KV-Mitglied pro FG]<br />

zu Pkt. 2 <strong>und</strong> 3 [...]<br />

Herr Führer informierte über seine Information an das LKA über mehrere Fälle in denen sich Mitglieder<br />

des Erwachsenenseminars <strong>und</strong> der Gruppe „Hoffnung“ an Herrn Führer gewendet haben, weil sie vom<br />

MfS angeworben wurden. [...]<br />

151 Stasi-Information<br />

Auszug aus Bericht der ZAIG des MfS über Vorkommnisse am 1. Mai im Rahmen der Wochenübersicht der<br />

ZAIG (BStU ZAIG 4594, 37-41).<br />

Die mit dem Ziel der vorbeugenden Verhinderung eines Wirksamwerdens politisch negativer Kräfte,<br />

insbesondere von Antragstellern auf ständige Ausreise, anläßlich der Feierlichkeiten zum 1. Mai durch das<br />

MfS in Abstimmung mit der Partei sowie im engen Zusammenwirken mit der Deutschen Volkspolizei,<br />

zuständigen staatlichen Organen sowie gesellschaftlichen Einrichtungen <strong>und</strong> Kräften in der Hauptstadt der<br />

DDR, Berlin, sowie in den Bezirken eingeleiteten <strong>und</strong> realisierten differenzierten Aufklärungs- <strong>und</strong><br />

Sicherungsmaßnahmen gewährleisteten im gesamten Territorium der DDR eine hohe staatliche Sicherheit<br />

<strong>und</strong> öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit. [... Es folgt ein Bericht über eine Kerzendemonstration vor dem<br />

Brandenburger Tor in Berlin von 5 Jugendlichen]<br />

Von westlichen Medien als „Gegendemonstration von 100 Personen in Leipzig“ spektakulär hochgespielt,<br />

475 Was hier im einzelnen gemeint war, konnte nicht festgestellt werden.<br />

237


wurde folgender Sachverhalt: Am 1. Mai 1989, gegen 17.00 Uhr kamen Besucher zur Nikolaikirche in<br />

Leipzig, die verschlossen war. Zum montäglichen Friedensgebet am 24. April 1989 war bekannt gegeben<br />

worden, daß am 1. Mai kein Friedensgebet stattfindet. In der Zeit zwischen 17.10 <strong>und</strong> 17.30 Uhr bewegten<br />

sich etwa 50 Personen, darunter Ehepaare mit Kindern, wie Spaziergänger von der Nikolaikirche über den<br />

Markt in Richtung Thomaskirche <strong>und</strong> zurück. Dabei wurden keine öffentlichkeitswirksamen Symbole<br />

oder Losungen mitgeführt <strong>und</strong> keine mündlichen Äußerungen getätigt. Kräfte des politischen<br />

Untergr<strong>und</strong>es wurden nicht festgestellt. Die Öffentlichkeitswirksamkeit der Personenbewegung war<br />

gering. Durch die allgemein starke Frequentierung der Innenstadt wurden die Personen durch andere kaum<br />

wahrgenommen. Angehörige der Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane sowie gesellschaftliche Kräfte waren im<br />

Einsatz, ohne daß sie aktiv eingreifen mußten. Die über den gesamten 1. Mai in Leipzig anwesenden<br />

Angehörigen eines ZDF-Teams ([...] <strong>und</strong> 3 weitere Personen) fertigten von den genannten, sich zwischen<br />

Thomas- <strong>und</strong> Nikolaikirche bewegenden Personen Filmaufnahmen an. In der Folgezeit zerstreuten sich<br />

die Personen.<br />

Versuche politisch negativer Kräfte, in Demonstrationszüge mit selbstgefertigten Plakaten <strong>und</strong> Symbolen<br />

wirksam werden zu wollen, wurden in 7 Fällen im Anfangsstadium unterb<strong>und</strong>en. [...] In 3 Fällen gelang es<br />

entsprechenden Personen, sich in die Demonstrationszüge einzureihen. (Eine Person in<br />

Ludwigslust/Schwerin sowie 2 Personen in Leipzig [...]<br />

152 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Auszug aus einer Information vom Rat des Bezirkes Leipzig, Bereich Kirchenfragen (A. Müller), vom<br />

04.05.1989 über ein Gespräch zum Thema Kirchentag zwischen dem Vertreter des StfK, Wilke, dem Stellv.<br />

des Vors. des RdB, Reitmann, dem Stellv. des OBM, Sabatowska, den Referenten für Kirchenfragen des RdB<br />

Karl-Marx-Stadt, Klemm, Dresden, Stein <strong>und</strong> Leipzig, A. Müller <strong>und</strong> Vertretern des Landesausschusses<br />

Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag J. Cieslak, Hänisch <strong>und</strong> Kahle am 03.05.1989. Das Exemplar trägt mehrere<br />

Bearbeitungsspuren <strong>und</strong> wurde nicht unterzeichnet (StAL BT/RdB 20715 <strong>und</strong> in: BA O-4 1405; SAPMO-<br />

BArch IV B 2/14/104).<br />

[...] 476 6. Öffentliche Werbung<br />

Den Vertretern des Landesausschusses wurde mitgeteilt, daß eine öffentliche Werbung an Litfaßsäulen im<br />

Vorfeld des Kirchentages nicht möglich ist. Es wurde auf die Nutzung von kirchlichen Schaukästen<br />

orientiert. Cieslak hob hervor, daß man kirchlicherseits mit mehr Großzügigkeit seitens des Staates<br />

gerechnet habe, zumal für jeden sichtbar ist, daß jeder „Kaninchenzüchterverband“ öffentlich plakatieren<br />

darf. Aufgr<strong>und</strong> der Äußerung von Cieslak wurde durch den Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für<br />

Inneres die gr<strong>und</strong>sätzliche staatliche Auffassung zu der derzeitigen kirchlichen Situation, insbesondere<br />

zum Verlauf der Synode der Landeskirche Sachsens, den zunehmend provokativen Aktivitäten<br />

sogenannter alternativer kirchlicher Gruppen, die auch von hauptamtlichen kirchlichen Kräften unterstützt<br />

werden, <strong>und</strong> zu den sogenannten Friedensgebeten in der Nikolaikirche, dargelegt. Es wurde deutlich<br />

hervorgehoben, daß die staatlichen Organe die derzeitige kirchenpolitische Situation sehr ernst nehmen.<br />

Gleichzeitig habe man den Eindruck, daß dies von kirchenleitenden Kräften nicht so gesehen wird. Ein<br />

korrigierender Einfluß seitens des Bischofs, des LKA oder der Superintendenten sei zur Zeit wenig<br />

spürbar. An Cieslak wurde die dringende Bitte gerichtet, den Landesbischof über die staatliche<br />

Auffassung <strong>und</strong> Erwartungshaltung, die darin besteht, daß kirchlicherseits disziplinierend auf die Gruppen<br />

gewirkt wird, umgehend zu unterrichten. Cieslak, sichtlich beeindruckt, sagte zu, den Bischof darüber zu<br />

informieren. Er <strong>und</strong> andere in der Landeskirche nehmen dies auch sehr ernst. Sie wollen als Kirche nicht<br />

mißbraucht werden, <strong>und</strong> man setzt [sich] auch dagegen zur Wehr. Trotzdem möchte er die Bitte äußern,<br />

daß die getroffene staatliche Entscheidung noch einmal überdacht wird. Sie bringt innerkirchlich<br />

zusätzliche Probleme, die sich insgesamt erschwerend auswirken werden.<br />

476 Auf der Rückseite des Blatt 1 befinden sich handschriftliche Notizen, die mit H. Sch[umann] überschrieben sind.<br />

Dort heißt es u.a.: „Friedensgebet weg oder in andere Kirche. [/] entsprechend machen oder neu nachdenken.“<br />

Vermutlich wurden sie von H. Reitmann verfaßt (s. Anm. 504)<br />

238


Hänisch informierte, daß der Landesbischof vor kurzem mit Vertretern der Gruppen <strong>und</strong> einigen Pfarrern,<br />

die diese Gruppen unterstützen, gesprochen hat. Der Bischof habe deutlich gemacht, daß die<br />

Friedensgebete in der Nikolaikirche diesem Anspruch nicht gerecht werden. Es sind vielmehr<br />

„Aggressionsgebete“. Er habe zur Pflicht gemacht, daß die Gebete der Gruppen durch verantwortliche<br />

Pfarrer zu begleiten sind. Der Bischof betonte, daß sich Pfarrer bzw. Kirchenvorstände die sich an seine<br />

Weisungen nicht geb<strong>und</strong>en fühlen, sich damit außerhalb der Landeskirche stellen. Gleichzeitig wurde aber<br />

auch sichtbar, daß der Bischof an die kirchenrechtliche Stellung des Kirchenvorstandes geb<strong>und</strong>en ist.<br />

[...]<br />

153 Kirchenbucheintragung<br />

Eintragungen aus dem Gästebuch VI der Nikolaikirche vom 07. <strong>und</strong> 08.05.1989. Rechtschreibung wurde<br />

nicht verändert (Nikolaikirchgemeinde).<br />

Hier in der Kirche finde ich ein kleines Stück Freiheit. [/] (Freiheit fängt dort an, wo Bevorm<strong>und</strong>ung<br />

aufhört) [/] - 3 Jahre Antrag - Michael 7.5.89<br />

[Es folgen zwei fast wortgleiche Einträge vom gleichen Tag]<br />

Wir wünschen <strong>und</strong> hoffen, daß der Frieden den die Menschen in dieser Kirche praktizieren, auch endlich<br />

von den Herrschenden dieses Staates ernstgenommen wird, die nur von ihm reden. [/] Rose-Marie Becker<br />

[/] 8.5.89 I. Becker<br />

Ich hab’s heute geschafft! Danke für den Mut [/] Juliane M<br />

9.5.89 Von dieser Kirche sind wir beeindruckt! [/ ... nicht zu entziffern]<br />

8.5.89 Wir hoffen mit Gottes Hilfe auf baldige Erlaubnis, die DDR verlassen zu dürfen / Fam. Herrmann<br />

Bernburg<br />

8.5.89 Es hat uns sehr gut gefallen [/] Sandra F. aus Strausberg<br />

8.5.89 Schön <strong>und</strong> Beeindruckend Bianca Altner [... Ortsname nicht zu entziffern] bei Berlin<br />

Die „Aktion“ am 7. Mai 89 um 18.00 Uhr, die von den sogenannten Sicherheitsorganen durchgeführt<br />

wurde, hat mir nur wieder gezeigt, daß der Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR nur<br />

richtig war. Ich hoffe für mich u. unsere Familie es in Ruhe u. Frieden bis zum Tag der Entlassung noch<br />

zu ertragen. [/] H. Schmidt, Merseburg<br />

Hier am 7.5.89 hat man das wahre Gesicht der „DDR“ <strong>und</strong> seiner „Demokratie“ gesehen. Man kann sich<br />

vor soviel Diktatur nur abwenden <strong>und</strong> so etwas nennt sich „Deutschen Demokratischen Republik“. Eine<br />

Schande ist es. [/] Dominikus Dickel<br />

Dem kann ich mich nur anschließen. [/] B. [?] Wulff<br />

Da ich Dienst hatte am 7.05. kann ich zwar mir kein Bild machen, was für eine schändliche u.<br />

niederträchtige Aktion diese Staatsileute (erinnert an Gestapo!) durchführten - möchte mich dennoch der<br />

obigen Meinung anschließen u. bedaure jene gewählt zu haben, die gegen jene Verletzung der<br />

Menschenrechte hier in diesem Land nichts unternehmen. Wann endlich wacht man auf! Warum nur<br />

werden einseitig die Verletzungen der demokratischen Gr<strong>und</strong>freiheiten generell nur in den westl. Ländern<br />

angeprangert! Ich kann dieses Gesellschaft nur als heuchlerisch bezeichnen! [/] Gerd Reichel [/] 7202<br />

Böhlen<br />

154 Friedensgebetstexte<br />

477<br />

Manuskript der Initiativgruppe „Leben“, die das Friedensgebet am 08.05.1989 gehalten hat (M. Arnold).<br />

Thema: Auftrag <strong>und</strong> Dienst der Kirche<br />

477 Dieses FG sollte ursprünglich am 23.04.1989 gehalten werden. Da die von der Gruppe benannte Pastorin<br />

Bickhardt (Weinböhla bei Dresden) kurzfristig absagte, wurde das FG am 23.04.1989 durch Pf. Führer gehalten.<br />

Der verantwortliche Theologe am 08.05.1989 war der damalige Vikar E. Dusdal (s. Dok. 138).<br />

239


Michael Arnold: - Einleitung -<br />

Ich möchte heute mit einem Zitat beginnen. Der Vorsitzende des Kirchenb<strong>und</strong>es, Landesbischof Leich,<br />

sagte: „Wenn die evangelische Kirche auch nicht Kirche für den Sozialismus zu sein vermöge, so verstehe<br />

sie sich doch als Kirche Jesu Christi unter den Bedingungen der DDR.“ Das Zitat dient mir als Anstoß,<br />

über den Auftrag <strong>und</strong> den Dienst der Kirche in unserer Gesellschaft nachzudenken. Im Kontakt unserer<br />

Gruppe mit der Kirche, d.h. mit der Kirchenleitung als auch mit den Gemeinden, ist es immer wieder<br />

notwendig geworden, solche gr<strong>und</strong>sätzlichen Fragen neu aufzuwerfen. Ob es um die Einrichtung eines<br />

Kommunikationszentrums in Leipzig geht, ob es um einen Pleißegedenkumzug geht, anläßlich des<br />

Weltumwelttages, oder um die Gestaltung eines Friedensgebetes in der Nikolaikirche, ob es um Solidarität<br />

für die Verfolgten in der CSSR geht oder allgemein um die Vermittlung der gesellschaftlichen<br />

Verantwortung jedes Einzelnen im heutigen Dasein, geht es immer wieder in der Auseinandersetzung mit<br />

der Kirchenleitung um den sehr unterschiedlich ausgelegten Auftrag <strong>und</strong> Dienst der Kirche. Wie sich<br />

heute viele Mitglieder der Kirchenleitung verhalten, wollen wir anhand eines Ereignisses aus dem Jahr<br />

1989 näher beleuchten. Am 15.Januar fand in Leipzig eine Demonstration im Zentrum [der Stadt] statt,<br />

bei der Menschen anläßlich des 70. Jahrestages der Ermordung von Rosa Luxemburg <strong>und</strong> Karl Liebknecht<br />

demokratische Gr<strong>und</strong>rechte einforderten, wie z.B. das Recht auf freie Meinungsäußerung,<br />

Versammlungsfreiheit <strong>und</strong> Pressefreiheit. Durch diese Demonstration sollte darauf aufmerksam gemacht<br />

werden, daß Forderungen, wie sie schon vor mehr als 70 Jahren bestanden haben, noch heute aktuell sind.<br />

Repräsentativ für viele Christen halten wir ein Schreiben, welches anläßlich der Demonstration <strong>und</strong> der<br />

Verhaftung Beteiligter an die Pfarrämter <strong>und</strong> kirchlichen Einrichtungen der Stadt durch die<br />

Superintendenten dieser Stadt verschickt wurde. In diesem Schreiben heißt es, „Im Blick auf die<br />

Ereignisse der vergangenen Tage in unserer Stadt erklären wir: Das Zeugnis der Kirche ist <strong>und</strong> bleibt<br />

verb<strong>und</strong>en an die nicht austauschbare Botschaft vom Kreuz Christi, von der Liebe Gottes, seiner<br />

Solidarität <strong>und</strong> Versöhnung mit den Menschen <strong>und</strong> vom Ernst, der sich aus unserer Verantwortung<br />

unseres Lebens <strong>und</strong> Zeugnisses in Gottes Gericht ergibt. Wir vertrauen darauf, daß die daraus<br />

resultierende Botschaft der Kirche <strong>und</strong> das damit verb<strong>und</strong>ene konkrete Zeugnis eines jeden Christen<br />

weltweite <strong>und</strong> weltverändernde Wirkung hatte <strong>und</strong> immer haben wird. Insofern war, ist <strong>und</strong> bleibt sie ein<br />

unübersehbarer <strong>und</strong> unverwechselbarer Beitrag zu allen konkreten Bemühungen um Entspannung,<br />

Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Menschenwürde. Wir haben uns bisher nicht zu politischer Polarisierung<br />

verleiten lassen <strong>und</strong> werden dies auch um Christi Willen jetzt nicht tun.“ 478 Wenn auch schon dieser letzte<br />

Satz aufschlußreich genug sein müßte, so möchte ich doch noch den Inhalt der Erklärung deutlicher<br />

hervorheben. Es heißt also, der Einzelne darf <strong>und</strong> soll seinem eigenen Gewissen entsprechend politisch<br />

handeln <strong>und</strong> Partei ergreifen, aber die Kirche als Institution, die Gemeinde als juristische Person kann <strong>und</strong><br />

soll dies nicht tun, weil sie nach Meinung von Herrn Superintendent Magirius zur politischen Neutralität<br />

verpflichtet ist. Diese Meinung hat nicht zuletzt dazu beigetragen, daß die Kirche als Großkirche hat<br />

überleben können - aber wer fragt nach den Opfern <strong>und</strong> dem Schaden an jenen Menschen, die durch diese<br />

Kirchenpolitik Schaden erleiden mußten. Diese scheinbare Neutralität der Kirche, von der die Rede ist, hat<br />

natürlich die Loslösung vom Heute, von den aktuellen Problemen <strong>und</strong> von der Geschichte zur Folge.<br />

Unserer Meinung nach ist aber die Verkündigung des Evangeliums, d.h. das Wort Gottes, in der<br />

Geschichte des Christentums nie anders praktiziert worden als das untrennbar mit der jeweiligen Situation<br />

des Menschen verb<strong>und</strong>ene Wort. Ob es sich um die Befreiung Israels aus der Macht des Pharao handelt<br />

oder um die Befreiung der ersten Christen vom Irrglauben an eine imaginäre Heilswirkung. Immer war<br />

das ganze Volk angesprochen, <strong>und</strong> immer war dies verb<strong>und</strong>en mit einer Änderung der Macht- <strong>und</strong><br />

Gewaltstrukturen. Ist nicht gerade die Verkündigung eines zeitlosen, unpolitischen Evangeliums mit daran<br />

schuldig, einen Unrechtsstaat aufrecht zu erhalten? Ich werde im folgenden Äußerungen der<br />

Kirchenkritikerin Dorothee Sölle nutzen 479 , da sie die gleiche Aktualität in der Praxis der Verkündigung<br />

hierzulande widerspiegeln. Wenn es heißt im Text der Superintendenten, „wir haben uns bisher nicht zu<br />

politischer Polarisierung verleiten lassen...“, so meinen wir, daß Jesus Christus in seinem Einsatz für<br />

478 vgl. Dok. 128<br />

479 Die Gruppe beschäftigte sich Anfang 1989 mit D. Sölle, Arbeit <strong>und</strong> Lieben, Stuttgart 1985. D. Sölle hatte im Juni<br />

1984 zu diesem Thema im ThSL eine Gastvorlesung gehalten.<br />

240


Unterdrückte <strong>und</strong> Benachteiligte eindeutig Partei nahm. Nun ergibt sich daraus nicht allein ein neuer<br />

Verkündigungsauftrag für unsere Pfarrer oder eine veränderte Kirchenpolitik der Kirchenleitung, sondern<br />

auch für Sie <strong>und</strong> uns als Christen in diesem Land, politisch engagiert zu handeln. Das ist wohl für viele ein<br />

Prozeß des Umdenkens <strong>und</strong> des Lernens, jedoch ein unabdingbarer Weg, der christlichen Verantwortung<br />

gerecht werden zu können. Wenn wir den Weg der Nachfolge Jesus Christi wirklich gehen wollen, bleiben<br />

wir Verfolgte, heißt das Benachteiligung, heißt das die Last des Kreuzes auf sich nehmen. Wer von Ihnen<br />

will den Weg der Wahrhaftigkeit wirklich noch gehen? Was hindert uns auf diesem Weg? Ist es die Angst,<br />

nicht studieren zu können, die Angst davor, Bekannte jenseits der Grenze nicht mehr besuchen zu können,<br />

die Angst, einen Kirchentag untersagt zu bekommen, die Angst, politisch verfolgt zu sein <strong>und</strong><br />

möglicherweise inhaftiert zu werden? Hier finden wir schon eine Antwort im Evangelium. Im Matthäus-<br />

Evangelium heißt es, „<strong>und</strong> fürchtet Euch nicht vor denen, die den Leib töten <strong>und</strong> die Seele nicht können<br />

töten.“ 480<br />

Ich möchte zurückkommen auf das bereits zitierte Schreiben der Superintendenten Magirius <strong>und</strong> Richter,<br />

in dem es weiter heißt: „Der Respekt vor dem Blutzeugnis der Kommunisten Karl Liebknecht <strong>und</strong> Rosa<br />

Luxemburg sowie der Tatsache, daß beide bewußt als Vertreter der materialistischen Weltanschauung<br />

gelebt <strong>und</strong> gekämpft haben, verbietet uns die Inanspruchnahme ihrer Ideen für jede Form der kirchlichen<br />

Verkündigung.“ Wir als Mitglieder der Initiativgruppe Leben möchten hingegen auch von<br />

Andersdenkenden lernen, wenn sie für die Interessen ihrer Nächsten eingetreten sind. Als Arbeitsgruppe<br />

werden wir weiter für Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung eintreten <strong>und</strong> deshalb für<br />

Versammlungsfreiheit, für die Pressefreiheit, für die Vereinigungsfreiheit <strong>und</strong> die Reisefreiheit für alle<br />

Menschen in unserem Land eintreten, da dieses Handeln nicht zu trennen ist von christlicher<br />

Verantwortung. Wenn wir uns lediglich um Alkoholkranke, um psychisch Kranke, um verlassene Alte in<br />

den Pflegeheimen, um die Seelsorge allein kümmern, aber letztlich die Ursache außer acht lassen, bleiben<br />

wir allein ein Trostpflästerchen für die Not auf der Erde <strong>und</strong> in diesem Land - solange bleiben wir<br />

unglaubwürdig vor Gott <strong>und</strong> den Menschen <strong>und</strong> dulden begangenes Unrecht! Im Schreiben an die<br />

Leipziger Gemeinden heißt es weiter, „Darum kann für uns politische Demonstration nicht die geeignete<br />

Form des Zeugnisses der Kirche sein.“ Wir sagen, daß die Botschaft des Evangeliums Christen zu<br />

öffentlichen Bekenntnissen verpflichtet. Dabei beginnt das öffentliche Bekenntnis bei der seelsorgerischen<br />

Arbeit, aber schließt ebenso öffentliche Demonstrationen mit ein. Denken wir an Martin Luther King, der<br />

die Bevölkerung von der Kanzel aus aufrief zu Protestdemonstrationen gegen den Rassismus. Und denken<br />

wir an den Olof-Palme-Friedensmarsch in unserem Land! Ich werde im folgenden zum letzten Mal Bezug<br />

nehmen auf das Schreiben der beiden Superintendenten, denn dort heißt es, „ Wir bitten im Sinne unserer<br />

Positionsbeschreibung um verantwortliche Fürbitte in den Gottesdiensten <strong>und</strong> Gemeindeveranstaltungen.“<br />

Wir sind nicht der Meinung, daß kirchliche Amtsträger der evangelischen Kirche ihre Gemeinden auf<br />

verbindliche Positionsbeschreibungen festlegen dürfen. Fürbitte <strong>und</strong> Gebet stellen für Christen einen<br />

wichtigen Teil des Gottesdienstes dar. Jedoch die Art <strong>und</strong> Weise der traditionellen Gebetsform sollte<br />

unserer Meinung nach ebenfalls neu überdacht werden. Als Bürger dieses Landes, der nach der Zeit der<br />

Konzentrationslager lebt, frage ich mich, was wohl zwischen 1939 <strong>und</strong> 1945 in Deutschland gebetet<br />

worden ist, wofür <strong>und</strong> mit welchen Worten. Ich denke dabei nicht in erster Linie an jene, die für den<br />

„Führer“ beteten, von denen es ja in beiden Großkirchen genug Christen gegeben hat. Eine ernsthaftere<br />

Gefahr scheint mir eigentlich die schweigende Mehrheit der Traditionalisten darzustellen, die beteten, wie<br />

sie es immer getan hatten, die eine Sprache beteten, die niemandem weh tat, kaum verständlich war <strong>und</strong><br />

folgerichtig erlaubt war. Noch immer igelt man sich in der Kirche ein, den Blick senkrecht nach oben,<br />

aber möglichst nicht zur Seite. Das Gebet kann zu einem Alibi werden, das zur Zeit des Verbrechens die<br />

Nutznießer <strong>und</strong> Mitschuldigen davon abhält, irgendetwas gewußt zu haben, es kann zu einer Passivität<br />

verführen, die lieber mit Martin Luther singt, „Verleih uns Frieden gnädiglich“ als mit Franziskus<br />

„Werkzeug deines Friedens“ 481 selber zu werden. Immer noch nicht gebannt ist die Gefahr, das Gebet mit<br />

Magie zu verwechseln. Magisches Beten rechnet mit dem w<strong>und</strong>erbaren Eingreifen eines extram<strong>und</strong>anen<br />

Wesens, das unsere Schwierigkeiten <strong>und</strong> Probleme plötzlich <strong>und</strong> ohne unser Zutun löst. Wir sollten, wenn<br />

480 Matthäus 10,28<br />

481 s. Dok. 24<br />

241


wir derartige Gebete hören oder wenn wir uns selber bei solchen „Stoßseufzern“ <strong>und</strong> Bitten ertappen,<br />

nicht vom gepriesenen „kindlichen Gottvertrauen“ sprechen. Wir müssen lernen vor allem im politischen,<br />

im öffentlichen Gebet, aufzuhören, die eigene Ohnmacht zu verklären <strong>und</strong> auf den alles vermögenden,<br />

allmächtigen Papa, der die Sache schon in Ordnung bringen wird, zu starren. Denn Gott, jedenfalls der,<br />

der mit Jesus lebte, hat keine anderen Hände als die unsrigen, keine anderen Augen <strong>und</strong> keine anderen<br />

Ohren. Gott handelt meiner Meinung nach nicht unmittelbar, [durch] W<strong>und</strong>ertat[en] <strong>und</strong> von oben herab,<br />

er will unsere Hände, unsere Augen <strong>und</strong> unsere Ohren gebrauchen. An einem einfachen Beispiel möchte<br />

ich dies näher erläutern. Hat es einen Sinn zu sagen, „Senke die Rüstungsausgaben, Herr, <strong>und</strong> erhöhe den<br />

Entwicklungsstand in unserem Land“? Das mag ein überspitztes Beispiel sein, <strong>und</strong> doch können wir diese<br />

Form heute noch beobachten, geprägt von einer magischen Erwartungshaltung. Eine weitere Form des<br />

Betens sieht oft so aus: „Gib den Mächtigen Einsicht, Herr, laß sie die Rüstungsausgaben senken <strong>und</strong> die<br />

Hungernden nicht vergessen.“ Auch diese Form ist noch an den Glauben der Magie geb<strong>und</strong>en, wenn dann<br />

noch wie meist der erste Teil der Bitte, der immerhin Entwicklungshilfe in ein Abhängigkeitsverhältnis<br />

zur Rüstung setzt, weggelassen wird, dann wird das in dieser Form häufig gesprochene Gebet „Für die<br />

Hungernden“ nicht nur politisch harmlos, sondern erst recht theologisch [harmlos]. Diese Form verbreitet<br />

ein fröhliches Gottvertrauen, möglichst ohne viel nachzudenken <strong>und</strong> ganz sicher [ohne? 482 ] Erkenntnis<br />

der Sünde. Wie könnte aber der genannte Inhalt zu einem verantwortungsvollen christlichen Gebet<br />

werden? Eine Voraussetzung ist die Information. Wir können für einen einzelnen Menschen, auch für uns<br />

selber heut[e] nicht beten, wenn wir uns nicht genau Rechenschaft geben über die psychischen <strong>und</strong><br />

sozialen Ursachen seiner Probleme <strong>und</strong> Schwierigkeiten; ein Gebet, das eine solch gr<strong>und</strong>legende<br />

Information nicht mit einbezieht, verstößt gegen die Aufmerksamkeit der Liebe.<br />

Ein Gebet könne möglicherweise so aussehen. „Laß uns nicht aufhören, politisch <strong>und</strong> privat die Wahrheit<br />

über die Hungernden <strong>und</strong> von uns Ausgebeuteten zu sagen. Vergib uns nicht, solange wir ihnen nicht<br />

vergeben <strong>und</strong> solange wir Menschen anderer Hautfarbe ausgrenzen. Bring uns diese Schande zu<br />

Bewußtsein, solange zu den Mitschuldigen zu gehören, solange wir deren Probleme <strong>und</strong> Ursachen<br />

schweigsam dulden. Gibt uns die Phantasie für unser Auftreten in der Öffentlichkeit gegen das Unrecht in<br />

unserem Land.“<br />

Warum habe ich nun so ausführlich über das politische Mandat der Kirche gesprochen? Ich möchte meine<br />

Worte als eine Anregung <strong>und</strong> einen Aufruf für jeden heute Anwesenden verstanden wissen. In der DDR<br />

ist der prozentuale Anteil der Christen von ehemals ca. 60% auf 31 % der Bevölkerung zurückgegangen,<br />

<strong>und</strong> die Anzahl der Christen wird weiter absinken, wenn die heutige Kirchenpolitik weiter praktiziert<br />

wird. Ein nicht unwesentlicher Gr<strong>und</strong> für den Rückgang ist darin zu finden, daß den Christen eine<br />

Verkündigung des Evangeliums verb<strong>und</strong>en mit den aktuellen <strong>und</strong> gegenwärtigen Problemen unserer<br />

Menschen fehlt, daß das zeitlose Predigen, bei dem Konflikte bewußt umgangen werden, die Menschen<br />

mit ihren Sorgen allein läßt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

Fürbitte[n]:<br />

Gesine Oltmanns: Wir tragen mit Schuld daran, daß so viele Menschen dieses Land für immer verlassen<br />

wollen, weil wir diese Menschen allein gelassen haben mit Problemen <strong>und</strong> Konflikten, die es gilt<br />

gemeinsam zum lösen, weil wir noch immer mit unserem politischen Desinteresse <strong>und</strong> der Resignation<br />

Ungerechtigkeit in unserem Land zulassen. Herr, laß uns beginnen, neu anzufangen <strong>und</strong> nicht wieder<br />

aufzuhören, öffentlich <strong>und</strong> privat die Wahrheit zu sagen, laß uns die Angst überwinden, die uns zu<br />

Duldern des Unrechts macht.<br />

Michael Arnold: Herr, wir sind mit schuld daran, wenn heute noch Menschen an der Grenze unseres<br />

Landes erschossen werden, weil sie keinen anderen Ausweg mehr gef<strong>und</strong>en haben, ihre Probleme zu<br />

lösen. Laß uns beginnen, neu anzufangen <strong>und</strong> nicht wieder aufzuhören, öffentlich <strong>und</strong> privat die Wahrheit<br />

zu sagen, laß uns die Angst überwinden, die uns zu Duldern des Unrechts macht.<br />

Gesine Oltmanns: Herr, wir sind mit schuld daran, wenn politisch Andersdenkende noch immer<br />

strafrechtlich verfolgt <strong>und</strong> inhaftiert werden, weil wir es bis jetzt unterlassen haben, für eine öffentliche<br />

Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit <strong>und</strong> die Reisefreiheit für alle Bürger dieses<br />

Landes einzutreten. Laß uns beginnen, neu anzufangen <strong>und</strong> nicht wieder aufzuhören, öffentlich <strong>und</strong> privat<br />

482 im Original: „ihnen“<br />

242


die Wahrheit zu sagen, laß uns die Angst überwinden, die uns zu Duldern des Unrechts macht.<br />

155 Friedensgebetstext<br />

Textauslegung von E. Dusdal (AK „Solidarische Kirche“) zum Friedensgebet am 08.05.1989 in der<br />

Nikolaikirche Leipzig. Xerokopie (ABL H 1).<br />

Exodus 3,7-8b<br />

Und Gott sprach: Ich habe das Elend meines Volkes, das in Ägypten ist, wohl gesehen, <strong>und</strong> ihr Schreien<br />

über ihre Treiber habe ich gehört, ja ich kenne seine Leiden. Darum bin ich herabgestiegen, um es aus der<br />

Gewalt der Ägypter zu befreien <strong>und</strong> es aus diesem Land herauszuführen in ein schönes Land, in ein Land,<br />

das von Milch <strong>und</strong> Honig fließt. Das Volk Israels lebte im Lande Ägyptens. Es hatte sich schon vor Zeiten<br />

dort niedergelassen, um dort zu wohnen <strong>und</strong> zu wachsen. Es hatte sich allmählich dort eingelebt.<br />

Eingelebt auch in die wachsende Unterdrückung. Sie war zur Gewohnheit geworden. Gelebter Alltag.<br />

Unterdrückter Alltag. Es hatte sich arrangiert mit den Verhältnissen. Versucht sein Bestes daraus zu<br />

machen. Sich eingerichtet, sozusagen seine Nische gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> alles andere laufen gelassen: Solln sie<br />

doch sehen, was sie davon haben. Materiell gesehen ging es sogar ganz gut. Es ging eigentlich alles ganz<br />

gut, wenn man nicht nach rechts oder links sah, solange gut, bis der Unmut wuchs <strong>und</strong> die Repressalien<br />

zunahmen. Doch da sprach Gott: Ich habe das Elend meines Volkes gehört, ja, ich kenne seine Leiden.<br />

Darum bin ich herabgestiegen, um es zu befreien. Doch es ist schwer, Altes aufzubrechen, Gewohntes<br />

abzustreifen. Die Gewohnheit der Macht ruht auf der Macht der Gewohnheit. Es ist unsäglich schwer,<br />

einfach aufzustehen <strong>und</strong> loszugehen. Was man kennt, das kennt man, <strong>und</strong> was danach kommt, weiß man<br />

nicht. Unbekanntes ängstigt. Unbekannte Freiheit ängstigt um so mehr, denn sie muß mit Leben gefüllt<br />

werden. Doch mit Gottes Hilfe befreit sich das Volk, <strong>und</strong> es zieht hinaus aus der Unterdrückung. Es läßt<br />

seine Unterdrücker hinter sich zurück. Es läßt zurück, gängelnde Gesetze, die alles Leben in ein<br />

Zwangskorsett pressen, es läßt zurück, die vielen Bürokraten, die immer mehr gelten als man selber, es<br />

läßt zurück einen übermächtigen ungeliebten Staatsapparat. Aber, was findet es vor sich, das Volk, wo<br />

sieht es sich auf einmal hineingestellt? Der Weg in die Mündigkeit, der Weg hin zur Selbstbestimmung<br />

führt zuerst in eine Wüste. Die ersten Erfahrungen sind hart <strong>und</strong> steinig. Man sehnt sich zurück zu den<br />

Fleischtöpfen Ägyptens. Doch die alten Gesetze gelten nicht mehr. Neue müssen erst noch gef<strong>und</strong>en<br />

werden. Gott, der sein Volk die bittere Erfahrung der eigenen Freiheit machen ließ, schenkt seinem Volk<br />

neue Gesetze, die zehn Gebote, denn Freiheit will gefüllt sein. Aber das Volk versagt. Es ist nicht in der<br />

Lage die göttliche Freiheit anzunehmen <strong>und</strong> zu leben, stattdessen schafft es sich eigene Götzen, ein<br />

Goldenes Kalb, <strong>und</strong> versucht in der Anbetung des Konsums seine Freiheit zu finden, ohne zu bemerken,<br />

daß es sich neu verkauft in die Sklaverei. Auch wir sind oft wie dieses Volk <strong>und</strong> haben unsere Ägypter.<br />

Heute ist der 8. Mai, der Tag der Befreiung. Und es fällt schwer, daran vorbeizureden. Jahr für Jahr jährt<br />

er sich wieder, dieser Tag, an dem das dt. Volk - nun schon vor 44 Jahren- befreit wurde. Wovon befreit<br />

wurde? Es wurde befreit von der schlimmsten Diktatur dieses Jahrh<strong>und</strong>erts, von einem der grausamsten<br />

Systeme der Weltgeschichte, von einem Regime, das Millionen Menschen ermordete. Doch wozu wurden<br />

wir befreit, wir Deutschen, die heute in der DDR leben? Haben wir die Chance der Befreiung genutzt?<br />

Unser Gang ist nach wie vor schleppend, <strong>und</strong> das Ende der Wüste nur hin <strong>und</strong> wieder in Sicht. Sind wir<br />

wirklich befreit von Obrigkeitsdenken? Haben wir unsere Untertanenmentalität schon abgelegt? Sind wir<br />

frei geworden von Ausländerhaß? Befreiung ist ein mühseliger Prozeß, <strong>und</strong> er führt oft genug auch in<br />

Irrwege. Die uns von Gott verheißene Freiheit in seinem Reich werden wir nie erreichen, sie kann uns<br />

Gott nur schenken. Aber wir können uns in der von ihm gemeinten Freiheit hin bewegen.<br />

156 Kirchenvorstandsprotokoll<br />

Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 50. Sitzung des KV St. Nikolai vom 08.05.89, in dem die<br />

Umbenennung des Friedensgebetes in Montagsgebet beschlossen wird (ABL H 54).<br />

243


Tagesordnung: (abgeändert) [/] 1. Potsdam-Wochenende [/] 2. Situation des FGB [Friedensgebetes] [/] 3.<br />

Terminfragen Uni-Chor [/] 4. Umpfarrung [...] [/] 5. Dichterlesung Grass [/] 6. Anfrage - Stadt -<br />

Orgelmusik vertagt [/] 7. Etwaige weitere Gegenstände<br />

[...] Pkt. 2 [/] Pf. Führer informiert über ein Gespräch mit dem Landesbischof am 14.4. zum Thema<br />

„Friedensgebet“, u.a. über den Vorschlag, FGB in Montagsgebet 483 umzubenennen, über die<br />

Rechtsstellung [?] des Synodalausschusses. Das Gespräch wurde als positiv <strong>und</strong> der gegenseitigen<br />

Klärung dienend eingeschätzt. Ergebnis: Das Friedensgebet geht weiter, es wird von der Kirchenleitung<br />

mitgetragen <strong>und</strong> wird vom Bischof gegenüber dem Staat vertreten. Dem Vorschlag, das Friedensgebet in<br />

„Montagsgebet“ umzubenennen, stimmt der KV mit 7 Stimmen bei 1 Enthaltung zu.<br />

157 Stasi-Information<br />

Bericht von der Kreisdienststelle Leipzig-Stadt des MfS (Ref. XX/2 schön-wl) vom 08.05.1989 über den<br />

inhaltlichen Verlauf der „Montagsandacht“ am 08.05.1989 in der Nikolaikirche. Unterzeichnet wurde der<br />

Bericht von Leutnant Schönerstedt (ABL H 8).<br />

− Begrüßung durch Pfarrer Führer mit Ankündigung, daß das Gebet durch Vikar Dusdal <strong>und</strong> die Gruppe<br />

„Solidarische Kirche“ durchgeführt wird.<br />

− Bekanntgabe, daß alle am 7.5. Inhaftierten bis auf eine bekannte Person freigelassen wurden484 .<br />

(starker Beifall) Nach dem Lied „Sonne der Gerechtigkeit“ 485 teilte die Bornschlegel, Carola mit, daß<br />

ein Irrtum vorläge <strong>und</strong> das Friedensgebet durch die „Initiativgruppe Leben“ durchgeführt werde.<br />

− Die B. gab an, daß die IGL eine kirchliche Basisgruppe sei.<br />

− Die IGL beschäftige sich mit Fragen wie der notwendigen Umgestaltung in der Gesellschaft <strong>und</strong> der<br />

Kirche, mit Umweltproblemen <strong>und</strong> mit Bürgerrechtsfragen im Zusammenhang mit der KSZE.<br />

− Thema des Friedensgebetes sei „Politisches Mandat der Kirche“.<br />

− Die SED spricht der Kirche ein politisches Mandat ab.<br />

− Kirche sieht ihr Mandat aus Selbstverständnis <strong>und</strong> nicht aus einer Position gegen Staat <strong>und</strong> Partei.<br />

− Die Kirche hat die Verpflichtung, politisch zu sein<br />

− Die Kirche ist offen für alle, sie nimmt sich aller Notleidenden an<br />

− Die B. bezeichnet die Anwesenden als den Teil der Gesellschaft, den man bei Kranken Fieber nennt 486.<br />

− Die Kirche habe die Aufgabe, an der Heilung mitzuwirken<br />

− Der Staat habe die Aufgabe, das Leben im Sinne der Menschen zu gestalten<br />

(starker Beifall, danach Musik)<br />

1. mP [männliche Person]<br />

− Die Kirche hat ein politisches Mandat<br />

− Zitat von Landesbischof Dr. Leich<br />

− Ev. Kirche kann nicht Kirche für Sozialismus sein, sondern Kirche in soz. Verhältnissen<br />

− Am 15.01. fand in Leipzig eine öffentliche Begegnung statt.<br />

− Menschen forderten demokratische Rechte anläßlich des 70. Jahrestages der Ermordung von Karl<br />

Liebknecht <strong>und</strong> Rosa Luxemburg wie Recht auf freie Meinungsäußerung, Recht auf Versammlungs-<br />

<strong>und</strong> Vereinigungsfreiheit, Pressefreiheit.<br />

− Forderungen von vor mehr als 70 Jahren sind heute noch aktuell.<br />

483 Bischof Hempel hatte schon im Brief vom 11.11.1988 eine entsprechende Formulierung verwendet (s. Dok. 113;<br />

s. auch S. 139).<br />

484 Oberleutnant Seidel notierte anläßlich der Dienstversammlung der BV des MfS am 11.05.1989 zur Rede von<br />

Oberst Eppisch (Rechtsschreibung unverändert): „Hetzveranst. am 8.5. in Nikolaikirche. Es waren doppelt soviel<br />

Menschen drin ca. 700 Pfarrer gab Anzahl der inhaftierten bekannt 72 Personen. Wo werden Informationen<br />

preisgegeben??“ (BStU Leipzig AB 3838, MfS 41b)<br />

485 Evangelisches Kirchengesangbuch, Nr. 218<br />

486 vgl. die Rede Prof. U. Kühn, S. 228<br />

244


− Anläßlich der Ereignisse am 15.01. wurde ein Schreiben (von Kirchenleitung in Leipzig) an die<br />

Pfarrämter <strong>und</strong> kirchliche Einrichtungen geschickt.<br />

wP [weibliche Person]<br />

− zitiert genanntes Schreiben<br />

− wir haben uns nicht politisch polarisieren lassen <strong>und</strong> werden es auch jetzt nicht tun<br />

1. mP.<br />

− der einzelne soll also Partei ergreifen, aber die Kirche kann dies nicht tun, weil sie zur politischen<br />

Neutralität verpflichtet ist<br />

− diese Meinung trug zum Überlegen der Kirche bei, aber wer fragt nach den Opfern<br />

− in der Kirchengeschichte gäbe es Gegenbeispiele (Auflistung aus biblischer Geschichte)<br />

− immer ist das ganze Volk angesprochen, <strong>und</strong> immer ist das mit einer Änderung von Machtstrukturen<br />

verb<strong>und</strong>en gewesen<br />

− „Ist nicht gerade die Verkündigung eines zeitlosen unpolitischen Evangeliums mitschuldig, einen<br />

Unrechtsstaat mit vorbereiten zu helfen“. [/] (starker Beifall)<br />

− daraus ergibt sich nicht nur eine Veränderung der Kirchenpolitik, sondern auch Engagement des<br />

Einzelnen [sic!] als Notwendigkeit<br />

− wenn wir diesen Weg gehen, können wir verfolgt werden<br />

− ist es die Angst, die uns abhält?<br />

− ist es die Angst, einen Kirchentag untersagt zu bekommen oder politisch verfolgt zu sein <strong>und</strong> inhaftiert<br />

zu werden?<br />

− Antwort steht im Evangelium<br />

„Und fürchtet Euch nicht vor denen, die den Leib töten“<br />

wP<br />

− zitiert o.g. Schreiben weiter<br />

− der Umstand, daß Luxemburg <strong>und</strong> Liebknecht ihre materialistische Weltanschauung konsequent<br />

lebten, verbietet uns die Inanspruchnahme ihrer Ideen für kirchliche Verkündigung<br />

1. mP<br />

− wir möchten bereit sein, von den Ideen Andersdenkender zu lernen<br />

− wir wollen uns weiter um Redefreiheit, Versammlungsfreiheit <strong>und</strong> Pressefreiheit bemühen<br />

wP<br />

− zitiert weiter<br />

− politische Demonstration kann nicht kirchliches Zeugnis sein<br />

1. mP<br />

− Christen müssen sich öffentlich bekennen<br />

wP zitiert weiter<br />

− Bitte um Verantwortungsbewußtsein bei den Fürbitten<br />

1. mP<br />

− Kirchliche Würdenträger dürfen ihre Gemeinden nicht auf verbindliche Positionsbeschreibungen<br />

festlegen<br />

− Gebetsform sollte neu überdacht werden<br />

− Gefahr, daß die Probleme des Alltags an ein imaginäres Wesen delegiert werden<br />

− im Gebet sollten wir Verantwortung für unsere Welt nehmen<br />

− rhetorische Beispiele<br />

− wir müssen die Ursachen für unsere Probleme mit in unser Gebet aufnehmen<br />

− beispielhaft forderte er auf, gegen das Unrecht in unserem Land aufzutreten [/] (Beifall)<br />

2. mP<br />

− heute ist der 8.5.<br />

− Zitat aus der Bibel zur Befreiung Ägyptens<br />

− Hoffnung auf Gottes Hilfe bei Befreiung<br />

− der Weg zur Mündigkeit <strong>und</strong> Selbstbestimmung führt zuerst in eine Wüste<br />

245


− heute ist der 8.5.<br />

− wir wurden von der schrecklichsten Gesellschaftsordnung befreit, aber wofür wurden wir befreit<br />

− haben wir die Chance der Befreiung genutzt<br />

− sind wir befreit vom Obrigkeitsdenken<br />

− haben wir unsere Untertanenmentalität schon abgelegt<br />

− bei der Freiheit gab es schon oft Irrwege [/] (Beifall)<br />

1. mP fordert zum Lied „Wohin soll ich gehen“ 487 auf (mit Orgelbegleitung)<br />

2. mP<br />

− Fürbitte (zu Klopfgeräuschen vom Nagel eines Kreuzes)<br />

− Kritik am Vorfall bei FG AG Menschenrechte (Pf. Wonneberger), wo einer mP das Sprechen verwehrt<br />

wurde<br />

− wir sind mit schuldig an den Mißständen in dieser Welt, um uns herum.<br />

− wir machen uns schuldig, wenn wir uns abwenden <strong>und</strong> alles dulden.<br />

− Bitte um Bewahrung der Schöpfung.<br />

wP<br />

− Wir tragen mit Schuld, daß viele Menschen dieses Land verlassen wollen.<br />

1. mP<br />

− Wir tragen mit Schuld, daß Menschen an unserer Grenze erschossen wurden, weil sie keinen anderen<br />

Weg zur Lösung ihrer Probleme sehen. Laß uns die Angst überwinden, die uns zu Duldern des<br />

Unrechts macht.<br />

wP<br />

− wir sind schuld, daß politisch Andersdenkende noch immer verfolgt werden<br />

Landeskirchenpräsident Auerbach<br />

− hat 8.5.45 in Leipzig erlebt, als Gericht Gottes<br />

− Geschichte noch nicht aufgearbeitet<br />

− „Die Gedanken, die heute geäußert wurden, hätten auch in der Kirchenleitung geäußert werden<br />

können, wir ringen um unseren Auftrag für unsere Kirche <strong>und</strong> für unser Volk“.<br />

− drei Gedanken von der ökumenischen Vollversammlung<br />

− Hilfe für Arme, Kranke, Schwache, Gefangene<br />

− in gewaltloser Weise den Frieden auszuweiten <strong>und</strong> im persönlichen Leben Gewalt auszuschließen<br />

− Eintreten für das Leben gegen Angst <strong>und</strong> Tod<br />

− Bitte um das, was auch in Dresden praktiziert wird, die Veranstaltung in Ruhe <strong>und</strong> Gelassenheit zu<br />

verlassen <strong>und</strong> geduldig nach Hause zu gehen.<br />

− ist keine Bitte aus der Angst, sondern aus Gelassenheit, die ich von Christen gelernt habe <strong>und</strong> die ich<br />

immer wieder von Gott erbitte.<br />

− Bitte um den Segen<br />

− Bei den Ausführenden des FG handelte es sich um Bornschlegel, Carola; Arnold, Michael; Oltmanns,<br />

Gesine <strong>und</strong> Niemann, Matthias 488<br />

158 Stasi-Information<br />

Information des Leiters der BV des MfS Leipzig, i. V. Oberst Eppisch, vom 08.05.1989 „über die<br />

Unterbindung des Versuches einer organisierten Personenbewegung im Anschluß an das ‘Friedensgebet’ in<br />

der Nikolaikirche am 8.5.1989“. Die Information trägt Bearbeitungsspuren <strong>und</strong> wurde nicht unterzeichnet.<br />

Am rechten oberen Rand wurde „IX“ vermerkt. Vermutlich ging die Vorlage der Kopie in die Abteilung IX<br />

der BV des MfS (ABL H 8).<br />

487 Singt <strong>und</strong> klingt, Nr. 115<br />

488 vgl. Dok. 154 <strong>und</strong> Dok. 155<br />

246


Am 8.5.1989 fand in der Zeit von 17.05. Uhr bis 18.00 Uhr in der Nikolaikirche Leipzig das traditionelle<br />

montägliche Friedensgebet statt, an dem ca. 700 Personen teilnahmen. Das Friedensgebet wurde von<br />

Mitgliedern der kirchlichen Basisgruppe „Interessengemeinschaft Leben“ gestaltet, die dem politischen<br />

Untergr<strong>und</strong> zuzuordnen ist. Die Darlegungen, die eindeutige politische Angriffe auf die Politik der Partei-<br />

<strong>und</strong> Staatsführung enthielten, waren geeignet, die Teilnehmer in feindlichen <strong>und</strong> oppositionellen<br />

Haltungen zu bestärken 489 . Zum Abschluß forderte Oberkirchenrat Auerbach vom Landeskirchenamt<br />

Sachsen die Teilnehmer auf, ruhig nach Hause zu gehen (ausführliche operative Informationen zum<br />

Verlauf des Friedensgebetes werden erarbeitet). Nach Beendigung des Friedensgebetes verließ die<br />

Mehrheit der Teilnehmer die Kirche <strong>und</strong> das Stadtzentrum. Ca. 300 Personen hielten sich anschließend<br />

vor der Kirche in losen Gruppen diskutierend auf, wobei weitere Personen das Terrain verließen. 18.25<br />

Uhr erfolgte der Beginn einer Personenbewegung in losen Gruppen von ca. 200 Personen über die<br />

Nikolaikirche [handschriftlich: „ca. 100 m“] in Richtung Grimmaische Straße. Bereits 18.28 Uhr war<br />

diese Abgangsmöglichkeit in Richtung Innenstadt <strong>und</strong> auch andere Abgangsstraßen in dieser Richtung<br />

durch Kräfte der VP abgesperrt. Nach Aufforderung 490 durch die VP zur Auflösung erfolgte ca. 18.40 Uhr<br />

der zögernde Rücklauf in Richtung Nikolaikirche <strong>und</strong> dann der Weggang in mehreren Richtungen außer<br />

der Innenstadt. 19.05 Uhr war der Versuch der Personenbewegung endgültig beendet. Während der losen<br />

Ansammlung nach dem Friedensgebet auf dem Nikolaikirchhof <strong>und</strong> der Bewegung wurden keine<br />

Symbole oder Transparente gezeigt, <strong>und</strong> es erfolgten auch keine negativen mündlichen Bek<strong>und</strong>ungen. Die<br />

Öffentlichkeitswirksamkeit des Versuches dieser Provokation sowie der durchgeführten Maßnahmen der<br />

VP im Zusammenwirken mit dem MfS war gering. Es wurde keine Anwesenheit von westlichen<br />

Journalisten festgestellt. Bisherigen Erkenntnissen zufolge handelt es sich bei einem erheblichen Teil der<br />

an der Bewegung beteiligten Personen um Antragsteller auf ständige Ausreise. Die vorbereiteten<br />

Gesamtmaßnahmen erwiesen sich als zweckmäßig. Hervorzuheben ist das exakte Zusammenwirken<br />

zwischen MfS <strong>und</strong> DVP 491 sowie das zügige Handeln der VP-Kräfte bei der Unterbindung der versuchten<br />

Provokation. An der Identifizierung der Anstifter <strong>und</strong> Organisatoren sowie der Teilnehmer wird<br />

gearbeitet 492 , um weitere differenzierte politisch-operative Maßnahmen einzuleiten. Es erfolgten<br />

insgesamt 12 Zuführungen wegen unterschiedlicher Handlungen. (Einschätzung ist noch nicht möglich, es<br />

erfolgt Nachmeldung.)<br />

159 Stasi-Information<br />

Bericht der Untersuchungsabteilung BV des MfS Leipzig, Oberst Etzold, vom 08.05.1989 über die<br />

„Untersuchungsergebnisse im Zusammenhang mit den Verhaftungen im Anschluß an das Friedensgebet am<br />

8.5.1989“. Unterzeichnet wurde die Information von einem Oberstleutnant, dessen Name nicht eindeutig zu<br />

entziffern ist (ABL H 8).<br />

Im Zusammenhang mit den Vorkommnissen nach dem Friedensgebet wurden insgesamt 12 Personen<br />

zugeführt 493.<br />

Alle Personen wurden in Abstimmung mit der HA IX nach einer schriftlichen Belehrung<br />

489 In der Anlage zur Wochenübersicht Nr. 19/89 der ZAIG des MfS „Hinweise auf einen erneuten Versuch<br />

provokatorisch-demonstrativen Verhaltens von Personen im Zentrum von Leipzig“ heißt es: „Alle von<br />

Mitgliedern der sogenannten kirchlichen Basisgruppe 'Interessengemeinschaft [sic!] Leben' im Rahmen des<br />

„Friedensgebetes“ entwickelten Aktivitäten hatten keinerlei religiösen Bezug <strong>und</strong> trugen eindeutig politischen<br />

<strong>und</strong> provozierenden Charakter.“ (BStU ZAIG 4594, 71)<br />

490 handschriftliche Überarbeitung aus „Nach mehreren Aufforderungen...“<br />

491 Dieser Satz wurde handschriftlich verändert in: „... Zusammenwirken zwischen MfS, DVP <strong>und</strong> gesell. Kräfte,<br />

[...]“<br />

492 Handschriftlich wurde geändert in „An der Aufklärung <strong>und</strong> Identifizierung der Teilnehmer wird gearbeitet, [...]“.<br />

493 Die Verhafteten wurden in den Gebäudekomplex der Polizei <strong>und</strong> Staatsanwaltschaft zwischen<br />

Beethovenstr./Dimitroff-/Harkort-Straße <strong>und</strong> Peterssteinweg gebracht. Dort hatte auch die Staatssicherheit einen<br />

eigenen Trakt (u.a. mit den Zellen <strong>und</strong> „Schweinebuchten“ der Untersuchungshaft). Nach Aussagen von<br />

Kriminalpolizisten hatten sie ab dem 08.05.1989 jeden Montag Einsatzbereitschaft. Im Zimmer des Leiters der<br />

Kriminalpolizei quartierten sich während der Vernehmungen der Verhafteten mindestens zwei Mitarbeiter der<br />

247


entlassen.<br />

1. K. [...], S. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] Feinblechner im VEB Polygraph, [/] 7010 Leipzig [/] Abt. XII nicht<br />

erfasst<br />

K. [...] wurde zugeführt, da er in Verdacht stand, Sicherungskräfte fotografiert zu haben aus Richtung<br />

Ritterstraße in Richtung Nikolaikirche. Der Film wurde entwickelt. Er enthielt keine relevanten<br />

Aufnahmen. Zu den Vorkommnissen konnte kein Zusammenhang nachgewiesen werden. [/]<br />

Entlassung 21.30 Uhr494 2. S. [...], K. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] Pfarrer, ev.-luth. Freikirche [.../] erfaßt für KD Leipzig-Stadt (KK)<br />

[/] AStA 2/89 495, Rahmengliederung 496 gefertigt [/] Entlassung 21.30 Uhr [/] <strong>und</strong><br />

3. S. [...], R. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] Haushalthilfe bei seiner Mutter Dr. med. H. S. [.../] erfaßt für KD<br />

Leipzig-Stadt (KK) [/] AStA 2/89, Rahmengliederung gefertigt [/] Entlassung 21.30 Uhr<br />

S. [...], K. [...] holte seine Kinder R. [...] <strong>und</strong> U. [...] vom Friedensgebet ab. Er bemerkte, daß zwei<br />

Zivilisten den Sch. [...] (lfd.-Nr. 5) „mit einem sehr rohen Griff“ abführten. [/] Er mischte sich ein mit<br />

den Worten „aber nicht so“. Daraufhin sei ihm der Arm nach hinten gedreht <strong>und</strong> der Kopf auf die<br />

Motorhaube eines Pkw geschlagen worden. Gleichzeitig habe man ihm eine Kette angelegt <strong>und</strong> wegen<br />

seiner Hilferufe den M<strong>und</strong> zugehalten. Als sein Sohn R. [...] ihm zu Hilfe kam, wurden beide<br />

zugeführt. Das Verhalten der zivilen Kräfte sei auf deren Haß auf alle Leute zurückzuführen, die sich<br />

dort bewegten. Die uniformierten Polizisten dagegen hätten sich korrekt verhalten.<br />

4. W. [...], P. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] Taxifahrer, VEB Taxi Leipzig [/] erfaßt für KD Leipzig-Stadt<br />

(VSH) [/] Entlassung 22.30 Uhr<br />

W. [...] will am 8.5.1989 erstmals am Friedensgebet teilgenommen haben. Er hat die Absicht, einen<br />

Antrag auf ständige Ausreise zu stellen. Nach dem Friedensgebet wollte er nach Hause gehen, kam<br />

aber nicht aus dem Sperrkreis. Als in seiner Nähe ein Tumult ausbrach, sei er plötzlich zugeführt<br />

worden. Ihm konnten keine relevanten Handlungen nachgewiesen werden.<br />

5. Sch. [...], M. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] Beton-Facharbeiter, VEB Betonstein Dessau [/] erfaßt für KD<br />

Dessau [/] AStA 4/89 [/] Entlassung 23.00 Uhr<br />

Sch. [...] kam mit Ehefrau <strong>und</strong> 2 Kindern nach Leipzig zur Teilnahme am Friedensgottesdienst mit<br />

Pkw von Dessau. Er schloß sich dem Marschzug in Richtung Grimmaische Straße an, um auf sich<br />

aufmerksam zu machen. Er betrachtete den Marsch als eine Art „stiller Protestmarsch“. Er beteiligte<br />

sich am Klatschen der Menge. Als der Zug umkehrte, befand er sich mit an dessen Spitze <strong>und</strong> wurde<br />

zugeführt.<br />

6. Dietrich, Christian [/] PKZ: [.../] HW: [.../] NW: [.../] Student, Theologisches Seminar Leipzig [/] erfaßt<br />

für BV Leipzig, Abt. XX [/] Entlassung 23.00 Uhr [/] <strong>und</strong><br />

7. D. [...], E. [.../] PKZ: [.../] HW: [.../] NW: [.../] Vikar, [.../] erfaßt für BV Leipzig, Abt. XX [/]<br />

Entlassung 23.00 Uhr [/] <strong>und</strong><br />

8. H. [...], K. [.../...] HW: [.../] NW: [.../] ohne ARV [Arbeitsrechtsverhältnis], ehem. Studentin [.../] erfaßt<br />

für BV Leipzig, Abt. XX [/] Entlassung 23.00 Uhr<br />

<strong>und</strong><br />

9. I. [...], B. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] Betriebshandwerker, [...] erfaßt für KD Leipzig-Stadt, VAE [/]<br />

AStA 2/89 [/] 3/89 Rahmengliederung gefertigt [/] Entlassung 23.00 Uhr<br />

Die Genannten (6-9) bemerkten die Zuführung des Sch. [...]. Dietrich wollte den Gr<strong>und</strong> der Zuführung<br />

von einem VP-Angehörigen erfragen <strong>und</strong> Sch. [...] Namen wissen. Als er deshalb selbst zugeführt<br />

werden sollte, setzte er sich auf den Fußboden (Grimmaische Straße). D. [...], die H. [...] <strong>und</strong> I. [...], die<br />

in der Nähe waren, folgten seinem Beispiel, wobei lt. Zuführungskräfte die H. [...] eine inspirierende<br />

Staatssicherheit ein. Die Vernehmungen wurden sowohl durch das MfS als durch die Kriminalpolizei<br />

durchgeführt.<br />

494 Nach DDR-Recht durfte eine „Zuführung“ höchstens 24 St<strong>und</strong>en dauern. Die Festnahmen nach den FG Ende<br />

Mai, Juni <strong>und</strong> September dauerten im allgemeinen bis zum Mittag/Nachmittag des folgenden Tages.<br />

495 Ausreiseantragsteller Februar 1989<br />

496 Rahmengliederung war eine MfS-interne Bezeichnung für die Anlage einer Akte aufgr<strong>und</strong> eines<br />

Ausreiseantrages.<br />

248


Rolle spielte. [/] Alle wollten gegen die Zuführung Sch. [...] protestieren bzw. ihre Solidarität mit ihm<br />

bek<strong>und</strong>en.<br />

10. Sch. [...], B. [.../] PKZ: [.../] HW: [.../] NW: [.../] Studentin, Theologisches Seminar Leipzig [/] erfaßt<br />

für BV Leipzig, [/] Abt. XX, AK „Solidarische Kirche“ [/] Entlassung 23.00 Uhr [/] <strong>und</strong><br />

11. W. [...], M. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] Student, Theologisches Seminar Leipzig [/] erfaßt für BV<br />

Leipzig, Abt. XX [/] Entlassung 23.00 Uhr<br />

Der Sachverhalt konnte mit den Genannten nicht eindeutig geklärt werden. Der Ausgangspunkt für die<br />

Zuführung bestand offensichtlich darin, daß die Sch. [...] gegen die Zuführung einer anderen Person<br />

einschritt. Als sie deshalb durch Kräfte in Zivil zugeführt werden sollte, schrie sie <strong>und</strong> wehrte sich. W.<br />

[...], der die Sch. [...] als seine Frau bezeichnete, kam ihr zu Hilfe. Deshalb wurden beide zugeführt.<br />

Die Sch. [...] stellt den Sachverhalt so dar, als habe sie einen Angriff auf ihre Person befürchtet, da sie<br />

die Zivilisten nicht als Angehörige der bewaffneten Organe erkannt hätte. [/] Sie sei froh gewesen, als<br />

uniformierte Kräfte der VP hinzugekommen sind.<br />

Anmerkung: [/] Bereits während des Einsatzes am 7.5.1989 gebrauchten mehrere der Zugeführten die<br />

Ausrede, daß sie die Zivilisten nicht als Angehörige der Sicherheitsorgane erkannt hätten, als<br />

entlastendes Argument.<br />

12. G. [...], J. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] ohne ARV [/] erfaßt für KD Leipzig-Stadt (KK) [/] AStA 4/89 [/]<br />

Entlassung 23.00 Uhr<br />

Der Genannte machte sich über die VP lustig. Er integrierte sich in den Marschzug. Er klatschte <strong>und</strong><br />

pfiff <strong>und</strong> will sich an weiteren Aktionen beteiligen, wenn sein Antrag nicht genehmigt wird. Er<br />

bezeichnete das Vorkommnis als „öffentlichen Aufruhr“ <strong>und</strong> hat daran teilgenommen, um eher<br />

ausreisen zu können. [/] Seine Mutter trat am 13.3.1989 feindlich-negativ in Erscheinung.<br />

160 Staatlicher Ereignisbericht<br />

Information des Stellvertreters des OBM für Inneres vom 08.05.1989 über den Inhalt des Friedensgebetes am<br />

08.05.1989 in der Nikolaikirche. Unterzeichnet wurde die Information von Sabatowska 497 (ABL H 8).<br />

Das Friedensgebet wurde eröffnet durch Pf. Führer, in der Kirche befanden sich ca. 700 Personen. [/] 498<br />

Pf. Führer informierte, daß am gestrigen Sonntag in allen Kirchen für die Wahrheit gebetet wurde, ohne<br />

Schadenfreude <strong>und</strong> ohne Hohn. Die Initiativgruppe Leben, repräsentiert durch zwei junge Frauen <strong>und</strong><br />

Männer, sprach zur Thematik „Das politische Mandat der Kirche“. Nach Darstellung der Pläne <strong>und</strong><br />

Absichten der IG Leben, die sich aus Christen <strong>und</strong> Nichtchristen zusammensetzt, wurde mehrfach an<br />

Zitaten belegt, daß Kirche begründet ein politisches Mandat hat. Auf Gr<strong>und</strong>lage des Evangeliums ist es<br />

begründet, daß Jesus ein politischer Mensch war; der sich aktiv für die Entrechteten <strong>und</strong> Unterdrückten<br />

eingesetzt hat. Auch die Persönlichkeit Martin Luther King wurde zur Begründung des politischen<br />

Mandats der Kirche herangezogen.<br />

Im Zwiegespräch der Referierenden wurde ein Brief Leipziger Gruppen zitiert, der an die Kirchenleitung<br />

Sachsens gerichtet war. Hier wurden Forderungen gestellt, für Presse-, Rede- <strong>und</strong> Versammlungsfreiheit<br />

497 Diese Information wurde von den Herausgebern nur im Bestand des MfS (bzw. Bürgerkomitee) gef<strong>und</strong>en! Der<br />

RdB (Referat Kirchenfragen) verfaßte einen parallelen Bericht über das FG. Dieser Bericht war Anlage des<br />

regulären Informationsberichtes 3/89 des Stellvertreters des Vorsitzenden des RdB vom 09.05.1989 (StAL<br />

BT/RdB 38326). Im Informationsbericht heißt es u.a.: „Zentrum <strong>und</strong> Ausgangspunkt für wiederholte auftretende<br />

Belastungen des Staat-Kirche-Verhältnisses ist die Nikolaikirche zu Leipzig, wo wiederholt die sogenannten<br />

Friedensgebete für Angriffe gegen die staatliche Ordnung benutzt wurden. Da die Friedensgebete seit April 1989<br />

nicht mehr von Pfarrern geführt werden, gestaltet sich das Geschehen in der Nikolaikirche auch weiterhin<br />

problematisch.“ In der Leitungsinformation 3/89 des StfK heißt es: „Neben den negativen kirchlichen Kräften<br />

werden zunehmend außerhalb der Kirche stehende Kräfte sowie Antragsteller aktiv. Besonders aggressiv<br />

verhielten sich diese Kräfte in Leipzig, die ihre Provokation vom Wahltag am 8.5.89 im Anschluß an das<br />

sogenannte „Friedensgebet“ in der Leipziger Nikolaikirche fortsetzten.“ (S. 14f. - BArch O-4 1217)<br />

498 Im Bericht des RdB wurde hier eingefügt: „Die Darlegungen waren insgesamt konfrontativ <strong>und</strong> geeignet,<br />

feindliche <strong>und</strong> oppositionelle Haltungen zu bestärken.“ (s. vorherige Anm.)<br />

249


auch durch die Kirchenleitung einzutreten.<br />

Im anschließenden Fürbittgebet, bezugnehmend auf den Auszug der Israeliten aus Ägypten (Altes<br />

Testament), wurden Reflexionen zur Gegenwart vollzogen, auch „hier gibt es Ägypter“, gemeint ist die<br />

Staatsmacht <strong>und</strong> die Bürokraten. Es gelte zu überdenken, wie man vom Pessimismus <strong>und</strong> vom Phlegma<br />

wegkomme. Man müsse die Angst bekämpfen, offen seine Meinung zu sagen, weil das evtl. den Verlust<br />

eines Studienplatzes mit sich bringt oder die Nichtgenehmigung einer Besuchsreise zu Verwandten in das<br />

Ausland oder die Nichtgenehmigung eines Kirchentages.<br />

Der Abschluß des Friedensgebetes wurde durch Oberkirchenrat Auerbach vom Landeskirchenamt<br />

Dresden in Form einer Rückbesinnung auf den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung von einer der<br />

schlimmsten Diktaturen in der Geschichte gehalten. Er brachte zum Ausdruck, daß die heute hier<br />

gestellten Fragen zum politischen Mandat der Kirche auch so in der Kirchenleitung hätten gestellt werden<br />

können. [/] Unter Hinweis auf die wesentlichen Prämissen des konziliaren Prozesses, Gerechtigkeit,<br />

Frieden <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung, ermahnte er die Anwesenden, in Ruhe <strong>und</strong> Gelassenheit nach<br />

Hause zu gehen.<br />

Ergänzend zu den eröffnenden Ausführungen 499 Pf. Führers muß noch darauf verwiesen werden, daß er<br />

bekanntgab, von den am gestrigen Sonntag zugeführten Personen nur noch eine ihm namentlich bekannte<br />

Person festgehalten werde 500 . [/] Diese Mitteilung wurde von den Anwesenden mit Beifall bedacht. [/]<br />

Beim Friedensgebet waren folgende Geistliche anwesend: [...], Pf. Dr. Berger, [...].<br />

161 ADN-Bericht<br />

Interne Dienstmeldung der ADN mit dem Vermerk „Nur zur Information“ vom 09.05.1989, in dem ein DPA-<br />

Bericht über die Vorgänge in Leipzig am 07./08.05.1989 übernommen wurde ADN (Aktenzeichen:<br />

WL0910/01).<br />

Wieder Proteste in Leipzig - Vorwurf: Wahlfälschung - 16 Festnahmen<br />

Ost-Berlin/Leipzig, 9. Mai 89 (dpa 501 ) - Etwa 500 DDR-Bürger haben am Montagabend in der Leipziger<br />

Innenstadt gegen das nach ihrer Ansicht unkorrekte amtliche Ergebnis der DDR-Kommunalwahlen<br />

protestiert. Ein Demonstrationszug, der sich nach einem der traditionellen Friedensgebete vor der Nikolai-<br />

Kirche in Bewegung setzte, wurde durch Polizeieinsatz gestoppt. Wie es in Berichten aus der Messestadt<br />

am Dienstag weiter hieß, sind mindestens 16 Personen abgeführt worden, darunter auch einige namentlich<br />

bekannte Theologiestudenten. Die Polizei versuchte durch Kettenbildung, den Zug aufzuhalten. [/] Die<br />

neuerliche Demonstration, bei der nach Angaben von Augenzeugen einige h<strong>und</strong>ert Polizisten <strong>und</strong><br />

Sicherheitskräfte im Einsatz waren, richtete sich auch gegen die Festnahmen bei den Protest vom Sonntag<br />

sowie mehrerer Dutzend seit Donnerstag erfolgter sogenannter polizeilicher Zuführungen 502 . Hier gehe es<br />

Polizei <strong>und</strong> Staatssicherheitsdienst vor allem darum, die Initiatoren der Protestveranstaltung ausfindig zu<br />

machen. Um weitermarschierende Demonstranten zu stoppen, sei zeitweilig auch vom Schlagstock<br />

Gebrauch gemacht worden, hieß es. Unter den Demonstranten waren auch wieder viele Ausreisewillige.<br />

[/] Vertreter von Basis- <strong>und</strong> Bürgerrechtsgruppen wiederholten am Dienstag ihren Vorwurf, daß es bei der<br />

Ermittlung des offiziellen Wahlergebnisses in Ost-Berlin, Leipzig <strong>und</strong> anderswo zu „Fälschungen“<br />

gekommen sei. Bei Beobachtungen von öffentlichen Stimmenauszählungen durch Mitarbeiter<br />

verschiedener Gruppen seien in der Messestadt zwischen zehn <strong>und</strong> 20 Prozent Nein-Stimmen festgestellt<br />

499 Diese Ergänzung wurde durch Jakel in seiner Information des RdB nicht übernommen (s. Anm. 497).<br />

500 Die Mitteilung darüber gab Sabatowska am 08.05.1989, 14.00 Uhr J. Richter <strong>und</strong> Pf. Wugk<br />

(Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 265). Es handelte sich um Andreas Braun. S.a. S. 244<br />

501 Am 10.05.1989 erschienen in b<strong>und</strong>esdeutschen Zeitungen verschiedene Berichte über die Demonstrationen am<br />

07. <strong>und</strong> 08.05.1989. Z.B.: FAZ (epd), FR (epd/zba), SZ (Eigener Bericht), Berliner Morgenpost (dort auch ein<br />

ap-Foto von Festnahmen am 08.05.1989)<br />

502 Am 05.05. wurden 13 Leipziger Gruppenmitglieder kurzzeitig festgenommen, verhört <strong>und</strong> verwarnt, nicht an der<br />

Demonstration am 07.05. teilzunehmen.<br />

250


worden 503 . In den bisher in Ost-Berlin vorliegenden Regionalzeitungen aus Leipzig ist nicht über die<br />

Protestveranstaltung vom Sonntag berichtet worden.<br />

162 Notizen aus einer Parteiberatung<br />

Handschriftliche Aufzeichnungen - vermutlich von Opitz - vom 11.05.1989 zur Beratung beim 1. Sekretär der<br />

SED-Bezirksleitung, in denen es darum geht, die Montagsgebete einzustellen (StAL BT/RdB 38326).<br />

[stenographisch:] Wir504 hatten uns verständigt über das weitere Vorgehen [daran schließen sich zwei<br />

stenographische Wortgruppen, als Alternativen unterschieden an, die nicht eindeutig zu entziffern sind]<br />

1. Gespräche mit Landesbischof Hempel - Deutliches Wort notwendig - Gespräche auch mit Synodalen in<br />

allen 3 Bezirken <strong>und</strong> mit allen - Super-Intendenten<br />

[Gespräch mit Landesbischof] Leich 26.5.89<br />

Ziel:<br />

a) „Montagsgebete“ einstellen (kein „Friedensgebet“, wenn gegen DDR <strong>und</strong> die Grenze gebetet wird)<br />

b) Seminar beruhigen - am Tage der Wahl randaliert, muß Konsequenzen haben505 c) Pfarrer disziplinieren<br />

Wonneberger, Berger, Führer, [... Namen nicht zu entziffern Stiehler?], Kaden<br />

[Folgendes wurde vom Verfasser für Punkt a, b, c hinter Klammer gesetzt:] Nachdenken über [... Wort<br />

nicht zu entziffern - Vermutlich stenographisch: Absetzung] Kirchentag - zumindest ohne Rennbahn506 d) 4.6. angemeldeten Pilgermarsch in L[eipzig] = nicht stattgeben<br />

Borna 507 - im Rahmen 1988 nur statthaft<br />

e) Was sind „gutunterrichtete kirchliche Kreise?“ 508<br />

Entweder hinter diese Falschmeldungen <strong>und</strong> Lügen stellen oder dagegen protestieren - sonst kein<br />

Gesprächspartner mehr für uns.<br />

• Basisgruppen „[IG] Leben“ u.a. - unter Dach der Kirche<br />

• Wonneberger, Dr. Berger u.a. disziplinieren<br />

(Bewegung von unten: NF [Nationale Front], befre<strong>und</strong>ete Parteien (CDU) u. Org.<br />

- einheitlich organisieren durch die RdK’s)<br />

503 Die Ad-hoc-Gruppe, die die Wahlauszählung in Leipzig kontrollierte, gab ca. 9,8% Nein-Stimmen (ohne<br />

Sonderwahllokale) an (Mitarbeiter der AKG, AGM des Jugendkonventes Leipzig <strong>und</strong> der IGL, Mitteilung über<br />

Differenzen zwischen der Bekanntgabe des endgültigen Gesamtergebnisses durch den Vorsitzenden der<br />

Wahlkommission <strong>und</strong> der Bekanntgabe der Ergebnisse durch die Wahlvorstände in den einzelnen Wahllokalen<br />

bei der Wahl der Stadtverordnetenversammlung von Leipzig (03.06.1989) - ABL H 1, vgl. Wahlfall 89).<br />

504 Parallele Notizen befinden sich auf der Rückseite der Information vom 04.05.1989 (s. Dok. 152). Im<br />

Fernschreiben an E. Honecker teilte H. Schumann am 25.05.1989 mit, daß die Arbeitsgruppe am 11.05.1989<br />

getagt habe (StAL BT/RdB 38326). Dort heißt es: „Sollten die von der Kirchenleitung zu den sogenannten<br />

'Montagsgebeten' in der Leipziger Nikolaikirche gegebenen Zusage nicht bald realisiert werden <strong>und</strong> diese<br />

'Montagsgebete' weiter in der Hand der negativen Kräfte bleiben, muß ernsthaft die Frage aufgeworfen werden,<br />

ob die Sächsische Kirchenleitung überhaupt noch in der Lage <strong>und</strong> bereit ist, in den Leipziger Kirchen für Ruhe<br />

<strong>und</strong> Ordnung für die Durchführung eines entsprechend religiösen Lebens zu sorgen. Ist das der Fall, sind<br />

Konsequenzen durch die staatlichen Organe erforderlich.“<br />

505 Gemeint ist vermutlich das Theologische Seminar. Auf der Rückseite der Information vom 04.05.1989 (s. Dok.<br />

Fehler! Verweisquelle konnte nicht gef<strong>und</strong>en werden.) heißt es: „[...] Randaliert am Tage der Wahl / [/] [...<br />

Wort nicht zu entziffern] über staatl. Maßnahme nachdenken“. Mitarbeitern <strong>und</strong> Studenten des Theologischen<br />

Seminars, die von den Herausgebern befragt wurden, konnten keinen Anhaltspunkt für diese Notiz geben.<br />

506 Die Abschlußveranstaltung des Kirchentages fand auf dem Gelände der Rennbahn im Scheibenholz statt.<br />

507 In der Nähe der Dreckschleudern von Espenhain am Rande der Braunkohletagebaue fanden jedes Jahr größere<br />

kirchliche Veranstaltungen gegen die Umweltpolitik der SED statt (s. Chronik).<br />

508 Gemeint sind vermutlich Meldungen in Presse <strong>und</strong> Funk der B<strong>und</strong>esrepublik über Wahlfälschungen bei den<br />

Kommunalwahlen am 07.05.1989.<br />

251


163 Kirchenvorstandsprotokoll<br />

Handschriftliches Protokoll der Sondersitzung des KV St. Nikolai am Donnerstag, dem 18. Mai 1989, an der<br />

Landesbischof Hempel teilnahm (ABL H 54).<br />

Anwesenheit: Als Gast Landesbischof Dr. Hempel, OKR Auerbach, [...]<br />

Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung, nachdem er die Andacht gehalten hat.<br />

Er übergibt das Wort an den Herrn Landesbischof. Dr. Hempel sieht sich in der Situation der DDR ebenso<br />

wie alle anderen Menschen. Er wünscht, Überlegungen anzustellen, die das Montagsgebet verbessern. Die<br />

Mitarbeit der Gruppe im Sinne des 8. Mai ist schlechterdings unmöglich. (Fußnote: siehe Anlage) 509 . Alle<br />

Mitarbeit im Sinne des Gebets ist nur im Zusammenhang mit den amtierenden Geistlichen möglich. [/]<br />

Die Kirchenvertreter nahmen die Gelegenheit zum ausführlichen Gespräch mit dem Herrn Landesbischof.<br />

Der bislang ausgehandelte Kompromiß mit den Gruppen muß erhalten bleiben, eine Selbstdarstellung<br />

innerhalb des Friedensgebetes zerstört die Verkündigung.<br />

Dr. Hempel: Die Gruppenarbeit in der Form des 8. Mai ist nicht annehmbar. (Fußnote: siehe Anlage) 510 .<br />

Die Gruppen vermengen gekonnt Gr<strong>und</strong>satz- <strong>und</strong> Verfahrensfragen. Die Wiederherstellung des<br />

Kompromisses ist das Äußerste, was darüber hinausgeht, ist nicht akzeptabel. [/] Detailfragen das<br />

Montagsgebet betreffend werden angeführt. Die Vorbereitung ist sehr aufwendig, aber sie liegt in der<br />

Verantwortung der Pfarrer. Gruppen, die nicht sich an den vereinbarten Kompromiß halten, können nicht<br />

mehr in der Verantwortung das Montagsgebet mitgestalten. Dies soll mit den Betreffenden klar - Auge in<br />

Auge - besprochen werden.<br />

Der Kirchenvorstand stimmt Landesbischof Dr. Hempel zu <strong>und</strong> erklärt das Folgende: Die<br />

Wiederherstellung des mit den beim Bezirkskirchenausschuß511 verankerten Gruppen Kompromisses<br />

[sic!] <strong>und</strong> deren strikte Einhaltung nach allen Richtungen ist unabdingbar.<br />

Der bereits vorzulegende Plan ist für die Durchführung der Montagsgebete absolut verbindlich. Gruppen,<br />

die diese Ordnung durchbrechen, ist mit dazu erfolgendem Gespräch die weitere Mitarbeit zu versagen. [/]<br />

Der amtierende Pfarrer des Montagsgebetes muß die Billigung des Superintendenten <strong>und</strong> des<br />

Kirchenvorstandes haben, er trägt die Verantwortung im Konfliktfall 512.<br />

Ende der Sitzung 20.05 Uhr<br />

Protokoll: W. Hofmann<br />

vorgelesen, genehmigt u. unterschrieben [/ gez.] C. Führer [/ gez.] R. Hermann<br />

[Anhang von Pfarrer Haubold im Auftrag von Landesbischof Hempel aus dem Jahre 1992:]<br />

Fußnote 1 [/] Die Vereinbarung zwischen den Gruppen <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand Leipzig-Nikolai lautete:<br />

Die Gruppen können ihre Gebetsversammlungen in der Nikolaikirche halten: die Verantwortung liegt<br />

jeweils beim Pfarrer. Mit diesem ist das Programm vorher zu besprechen. [/] Am 8. Mai waren die<br />

Absprachen mit der Arbeitsgruppe „Solidarische Kirche“ erfolgt. Während des Gottesdienstes wurde<br />

mitgeteilt, daß nicht die Arbeitsgruppe „Solidarische Kirche“, sondern die Arbeitsgruppe „Initiativgruppe<br />

Leben“ das Friedensgebet durchführen wird. Eine Absprache mit dem verantwortlichen Pfarrer war nicht<br />

erfolgt 513.<br />

164 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Aktennotiz vom Rat der Stadt Leipzig, Bereich Kirchenfragen, vom 19.05.1989 über ein Gespräch zwischen<br />

509 Eintrag <strong>und</strong> Fußnote durch Pfarrer Haubold im Auftrag von Landesbischof Hempel im Jahre 1993 angefügt.<br />

510 vgl. vorhergehende Fußnote<br />

511 Zur Struktur der Landeskirche s. Plan * ** c*<br />

512 Das MfS vermerkte zu dieser Kirchenvorstandssitzung in der Quartalseinschätzung zum OV „Igel“, daß Pfarrer<br />

Führer „die Fortführung der 'FG' in der Nikolaikirche“ durchsetzte (Auszug in: STASI intern, 253).<br />

513 E. Dusdal, der für den AKSK die Verantwortung übernommen hatte, stellt den Sachverhalt so dar, daß der<br />

verantwortliche Pfarrer - Superintendentenstellvertreter Pf. Wugk - vor dem FG keine Einwände gegen den<br />

Tausch hatte.<br />

252


Sabatowska <strong>und</strong> Sup. Magirius am 19.05.1989. Sie wurde von Hillebrand unterzeichnet <strong>und</strong> am 23.05. vom<br />

OBM an den Vorsitzenden des RdB weitergeleitet (StAL BT/RdB 38326).<br />

Genosse Sabatowska brachte die staatliche Erwartungshaltung zum Ausdruck, das Friedensgebet in der<br />

Nikolaikirche unter diesen Bedingungen, wie sie nunmehr entstanden sind, nicht mehr weiterzuführen.<br />

Außerdem informierte er über die bevorstehende Versagung 514 des Pilgermarsches am 4.6.89 <strong>und</strong> über die<br />

Absicht von Personen aus dem Bereich kirchlicher „Basisgruppen“, am 10.6.89 in der Leipziger<br />

Innenstadt ein „Straßenmusikfestival“ zu veranstalten. Sup. Magirius positionierte sich in folgender<br />

Weise:<br />

Zur Bewertung der allgemeinen politischen Situationen gehöre es für ihn, Herrn Sabatowska wiederum zu<br />

bitten, als Staatsfunktionär <strong>und</strong> als Mitglied der SED, nicht auf Erscheinungen einzugehen, sondern die<br />

Ursachen zu untersuchen (Antragsteller). Er wolle die DDR <strong>und</strong> den Sozialismus als Alternative erhalten,<br />

dieser müsse dann aber auch perspektivisch <strong>und</strong> hoffnungsvoll sein. (In allen sozialistischen Ländern<br />

passiere derzeit soviel, auch wir müßten uns nun endlich öffnen.) Wenn junge Leute ihrem Willen freien<br />

Lauf lassen wollen, so könne er dies z.T. verstehen. Wer aber rede mit ihnen? Nach seiner Meinung<br />

sollten das z.B. die Funktionäre des Pfingsttreffens tun. Die Kirche könne diese Leute jedenfalls nicht<br />

mehr bändigen. Er beobachte, daß viele Antragsteller in letzter Zeit ausgereist seien. Gleichzeitig sehe er,<br />

wie diese Leute wieder nachwachsen.<br />

Gestern habe Bischof Dr. Hempel mit dem Kirchenvorstand der Nikolaikirche beraten. Hempel habe die<br />

Position vertreten, daß im Friedensgebet der Nikolaikirche nichts anderes geschehe, als was sonst in der<br />

Kirche ablaufe. Sup. Magirius äußerte, daß man manchmal nicht mehr sicher sei, ob wir noch beim 6.3.78<br />

stehen. Wenn ja, dann sollte man eine konsequente Trennung Staat-Kirche gewährleisten. Es tue ihm leid,<br />

daß das Friedensgebet gerade am 8.5.89 so unerfreulich verlaufen sei. Er fühle sich persönlich<br />

hintergangen. Hempel habe gesagt, ein Absetzen des Friedensgebets komme nicht in Betracht. Man könne<br />

als Kirche nicht darauf verzichten. Die Gruppen würden jedoch nur in die Vorbereitung der<br />

Friedensgebete einbezogen. Das Friedensgebet am kommenden Montag liege in der Verantwortung der<br />

CFK (Dr. Zimmermann).<br />

Er kritisierte die Installierung einer Kamera am Gebäude von Interpelz 515 . Dies führe zu Verkrampfungen.<br />

Er sei für die strenge Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche. Dies bedeute, daß nicht die Kirche, sondern die<br />

Gesellschaft mit den Problemen auf der Straße fertig werden müsse. Persönlich sei er enttäuscht gewesen,<br />

daß Pfr. Bartels versucht habe, am Pfingstmontag Leute an der Nikolaikirche zu formieren. Zum geplanten<br />

Pleißemarsch bemerkte er, daß es unter diesen Leuten welche gebe, die Angst vor den Chaoten hätten.<br />

Jedoch seien wir in unserer Gesellschaft schon weiter gewesen (Palme-Marsch 516 ). Er frage, ob ein<br />

Verbot nicht eine viel größere Wirkung haben könnte als der Marsch von 200 Demonstranten in der<br />

Öffentlichkeit. Unbedingt solle der Staat mit diesen Leuten reden. Er informierte, daß der Kirchenvorstand<br />

der Paul-Gerhardt-Kirche beschlossen habe, die Kirche nur zur Verfügung 517 zu stellen, wenn eine<br />

Genehmigung für die Veranstaltung vorliegt. Mit Pfr. Sievers <strong>und</strong> dem Referenten Dr. Noack [richtig:<br />

Nowak] sei dies noch zu klären.<br />

Hinsichtlich des 10.6.89 meinte er, auch hier sei er für die Trennung Staat-Kirche. Er glaube - <strong>und</strong> er höre<br />

hier erstmals davon -, daß dies etwas ganz Schlimmes werde. Vorbereitet sei dies nach dem bekannten Stil<br />

dieser Leute. Für ihn sei Lässig einer derjenigen, die andere Verhältnisse wollen. Man werde wohl nicht<br />

umhin kommen, Leipzig an diesem Tag wieder zu einer bewachten Stadt zu machen. Auch er teile die<br />

Sorge, daß es zu Belastungen vor dem Kirchentag kommen könne. Hier helfe nur Offenheit des Staates.<br />

Nach seiner Meinung hätten z.B. 80% Wahlbeteiligung der Stimmung im Lande mehr entsprochen. Er<br />

teilte Gen. Sabatowska mit, daß es unüblich sei, wenn ein SBBM einen Kirchenvorstand einlade. Dies<br />

514 K. Kaden hatte den Antrag auf Genehmigung des Pleiße-Pilgerweges gestellt. Ihm wurde erst am 26.05. die<br />

Ablehnung des Antrages mitgeteilt.<br />

515 Auf dem Dach eines Neubaus schräg gegenüber der Nikolaikirche.<br />

516 s. Anhang, S. 375<br />

517 Die Andachten zum Pleißemarsch sollten in der Paul-Gerhard-Gemeinde <strong>und</strong> in der Reformierten Kirche<br />

stattfinden. Sie fanden statt, obwohl der Pilgerweg nicht genehmigt wurde.<br />

253


gehe so nicht. Pfr. Führer habe ein solches für den kommenden Montag geplantes Gespräch beim SBBM<br />

Setzepfand daher abgesagt. Die an den Kirchenvorstand ergangene Einladung übergab Sup. Magirius an<br />

Gen. Sabatowska.<br />

165 Stasi-Information<br />

Bericht des Leiters der Untersuchungsabteilung der BV des MfS, Oberst Etzold (IX/be), vom 24.05.1989 an<br />

den Leiter der BV „über die Untersuchung des Vorkommnisses im Anschluß an das Friedensgebet am<br />

22.05.1989“ (ABL H 8).<br />

Am 22.5.1989 fand in der Leipziger Nikolaikirche von 17.00 Uhr bis gegen 17.50 Uhr das montägliche<br />

Friedensgebet statt, an dem ca. 450 Personen teilnahmen. Im Anschluß daran verblieb eine größere Anzahl<br />

von Personen wie an jedem Montag in losen Gruppen auf dem Nikolai-Kirchhof stehen. Gegen 18.20 Uhr<br />

setzten sich etwa 150 Personen in Bewegung, um über die Grimmaische Straße in die Innenstadt zu<br />

gelangen. Aufgr<strong>und</strong> volkspolizeilicher Sperrmaßnahmen 518 an der Grimmaischen Straße umr<strong>und</strong>ete die<br />

Formation die Kirche <strong>und</strong> versuchte durch die Ritterstraße in Richtung Brühl zu gelangen. Daraufhin<br />

erfolgte die Sperrung der Ritterstraße <strong>und</strong> die Auflösung der Ansammlung durch VP-Kräfte in Uniform.<br />

52 Personen wurden zur Klärung des Sachverhaltes zur Kriminalpolizei des VPKA [Volkspolizeikreisamt]<br />

Leipzig zugeführt. Unter den zugeführten Personen befanden sich 14 aus dem Bezirk Halle, 24 Personen<br />

aus der Stadt Leipzig <strong>und</strong> 14 Personen aus Kreisen des Bezirkes Leipzig.<br />

Die Personen wurden gemäß § 12 VP-Gesetz 519 befragt <strong>und</strong> im Anschluß nach erfolgter Belehrung bzw.<br />

der Mitteilung, daß gegen sie die Einleitung eines Ordnungsstrafverfahrens geprüft wird, entlassen. Die<br />

Entlassungen waren am 23.5.1989 mit Ausnahme von 3 Personen, die der Abteilung IX zur Prüfung des<br />

Strafverdachtes bzw. zur Zeugenvernehmung (1 Person) zugeführt worden waren, gegen 1.15 Uhr<br />

abgeschlossen.<br />

Im Ergebnis der Befragung ist folgendes festgestellt:<br />

Von den 52 zugeführten Personen handelt es sich in 6 Fällen um Personen, die aus Neugierde oder<br />

zufällig in die Ansammlung in der Ritterstraße geraten waren. Alle anderen Personen hatten vorher am<br />

Friedensgebet teilgenommen. In den Befragungen erklärten 22 Personen unverhohlen, daß sie mit ihrer<br />

Teilnahme an der Formation das Ziel verfolgten, gegen die bisherige Nichtgenehmigung ihrer Anträge auf<br />

ständige Ausreise zu protestieren, ihrem Antrag Nachdruck zu verleihen 520 bzw. auf sich aufmerksam zu<br />

machen, z.B.<br />

S. [... /] „Ich gehe seit Oktober 1988 so oft es mir möglich ist zum Friedensgebet in die Nikolaikirche mit<br />

anschließendem Marsch in Richtung Innenstadt. Ich habe bisher an 5 Märschen teilgenommen. Am letzten<br />

Montag wurden meine Personalien am Capitol festgestellt. Ich habe auch in Zukunft vor, an Märschen<br />

nach dem Friedensgebet teilzunehmen, um darauf aufmerksam zu machen, daß ich die DDR<br />

schnellstmöglich verlassen will.“<br />

G. [... /] „Ich nahm daran teil, um damit meinem gestellten Ausreiseantrag Nachdruck zu verleihen. Ich<br />

will mich damit [sic!] bei den Behörden aufmerksam machen. Mir ist bekannt, daß man bei den Märschen<br />

registriert <strong>und</strong> fotografiert wird. Man sieht die Kameras hinter den Vorhängen. Ich will damit zum<br />

518 In der Anlage zur ZAIG-Wocheninformation („Hinweis zu provokatorisch-demonstrativen Aktivitäten nach<br />

Abschluß des sogenannten Friedensgebetes in der Nikolaikirche Leipzig am 22. Mai 1989“ heißt es:<br />

„Entsprechend den unter Führung der Partei vorbereiteten, abgestimmten Maßnahmen der Schutz- <strong>und</strong><br />

Sicherheitsorgane zur Unterbindung [...] erfolgte durch die Deutsche Volkspolizei die Abriegelung der Abgänge<br />

[...].“ (BStU ZAIG 4594, 139)<br />

519 s. Anm. 24<br />

520 Hummitzsch notierte zu einem Telefonat mit dem stellv. Stasi-Minister Neiber am 22.05., 21.20 Uhr: „Harte<br />

Linie [/] Prüfen, warum Antragsteller! [/] 2-3 Tage umgehend rausschmeißen [/] differenzieren. [/] so schnell wie<br />

möglich. [/] nächsten Montag verschw<strong>und</strong>en sein.“ (BStU Leipzig AB 3843, 167) D.h., demonstrierende<br />

Ausreiseantragsteller sollten noch vor dem 29.05. ausreisen. Diese Weisung ging auch an die anderen Bezirke (so<br />

Notizen Hummitzsch zu Telefonaten mit Mielke <strong>und</strong> Neiber am gleichen Abend - ebenda, 167f.).<br />

254


Ausdruck bringen, daß ich es mit meinem gestellten Ausreiseantrag auch ernst meine.“<br />

T. [... /] „Ich habe an dem Schweigemarsch teilgenommen, um zu dokumentieren, daß ich die DDR<br />

verlassen will. Ich betrachte dies als mein Recht der Versammlungs- <strong>und</strong> Glaubensfreiheit, <strong>und</strong> ich<br />

möchte den Staat auf legale Weise verlassen. Somit habe ich mich eben den anderen Antragstellern<br />

angeschlossen, um meinen Willen zu dokumentieren, auszureisen.<br />

L. [... /] „Ich bin unzufrieden, wie mein Übersiedlungsantrag z.Z. bearbeitet wird, denn man hört nichts<br />

<strong>und</strong> wartet nur auf einen positiven Bescheid. Und ich möchte mit meiner Beteiligung an solchen<br />

Friedensmärschen <strong>und</strong> Zusammenkünften meine Meinung, meine Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen.<br />

Ich werde mich in Zukunft an derartigen Zusammenkünften beteiligen, bis ich einen positiven Entscheid<br />

habe.“<br />

Aus der Tendenz der Aussagen ist erkennbar, daß die Antragsteller, die an den Friedensgebeten<br />

teilnehmen, durch ihre Beteiligung an derartigen Zusammenrottungen die Konfrontation mit den<br />

Staatsorganen zunehmend suchen. Zumindest ist ihre Bereitschaft zur Mitwirkung daran vorhanden, so<br />

daß, wenn eine Person ein entsprechendes Signal setzt (wie am 22.5 89 durch G. [...] geschehen), auch in<br />

Zukunft mit derartigen Vorkommnissen zu rechnen ist, zumal infolge der getroffenen zentralen<br />

Entscheidung das Beispiel nachahmenswert erscheint <strong>und</strong> erfolgversprechend ist 521 . Aus den Aussagen ist<br />

nicht erkennbar, daß ein solcher Marsch von vornherein geplant war. Es hat sich aber durch<br />

Flüsterpropaganda <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> gezielter Informationen der Westmedien unter den Antragstellern<br />

herumgesprochen, daß nach dem Friedensgebet derartige Märsche stattfinden sollen. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e<br />

reisten auch die Personen aus dem Bezirk Halle an. 5 Personen, darunter 2 aus dem Bezirk Halle, waren<br />

bereits am 7.5.1989 bzw. 15.5.1989 aufgefallen.<br />

Insgesamt zeigt sich, daß die montäglichen Friedensgebete in der Nikolaikirche, unabhängig davon, ob im<br />

nachhinein eine Provokation stattfindet oder nicht, als ein Forum des Informationsaustausches der<br />

Antragsteller <strong>und</strong> als die Gelegenheit, auf sich aufmerksam zu machen, betrachtet wird.<br />

Die insgesamt zugeführten 52 Personen gliedern sich wie folgt auf.<br />

1. Bezirk Leipzig insgesamt 38 Personen<br />

davon aus der Stadt Leipzig24 Personen<br />

aus den Kreisen Leipzig-Land 4 Personen<br />

Borna 4 Personen<br />

Geithain 1 Person<br />

Grimma 1 Person<br />

Delitzsch 1 Person<br />

Altenburg 1 Person<br />

Wurzen 2 Personen<br />

Von diesen 38 Personen sind 28 als Antragsteller auf Übersiedlung registriert, <strong>und</strong> eine Person hat die<br />

Absicht dazu in der Befragung bek<strong>und</strong>et.<br />

2. Bezirk Halle insgesamt 14 Personen<br />

davon aus der Stadt Halle 5 Personen<br />

aus den Kreisen Merseburg 4 Personen<br />

Dessau 3 Personen<br />

Weisenfels 2Personen<br />

Von diesen 14 Personen sind 13 als Antragsteller auf Übersiedlung registriert.<br />

Eine Zuordnung der zugeführten Personen zur sozialen Struktur ergibt folgendes Bild<br />

Bezirk Leipzig Bezirk Halle<br />

Facharbeiter Industrie <strong>und</strong> Landwirtschaft 18 11<br />

Mitglied PGH 2 -<br />

521 Hier ist vermutlich gemeint, daß Ausreiseantragsteller, die demonstrierten, kurzfristig die DDR verlassen<br />

durften/mußten. Nach den Verhaftungen infolge des FG am 12.06.1989 meldete Mielke an Honecker, Krenz u.a.:<br />

„Des weiteren ist vorgesehen, differenzierte Entscheidungen zur ständigen Ausreise unter Beachtung des<br />

Disziplinierungsfaktors vorzubereiten.“ (Information Nr. 297/89 vom Leiter des MfS, Mielke - BStU ZAIG<br />

3748)<br />

255


selbst. Gewerbetreibende 1 -<br />

Kulturschaffende 2 -<br />

Mitarbeiter Innere Mission <strong>und</strong> Kirche 2 -<br />

Lehrlinge 1 -<br />

keine Angaben vorhanden 7 2<br />

ohne Arbeitsrechtsverhältnis 5 1<br />

Festgestellt werden muß weiterhin, daß sich der Täterkreis auf Personen mit relativ hoher<br />

Lebenserfahrung konzentriert. So sind von den zugeführten 52 Personen<br />

25 Jahre alt = 10 Personen [/] bis 40 Jahre alt = 36 Personen [/] über 40 Jahre alt = 6 Personen<br />

Eine Konzentration von Personen aus bestimmten Betrieben oder Einrichtungen wurde nicht festgestellt.<br />

In keinem Fall waren mehr als 2 Personen aus dem gleichen Betrieb, wobei die überwiegende Mehrzahl<br />

der zugeführten <strong>und</strong> in einem Arbeitrechtsverhältnis stehenden Personen in Volkseigenen<br />

Betrieben/Einrichtungen tätig sind.<br />

Volkseigene Betriebe/Einrichtungen<br />

einschließlich Deutsche Reichsbahn = 33 Personen<br />

PGH <strong>und</strong> BHG = 4 Personen<br />

Innere Mission <strong>und</strong> Kirche = 2 Personen<br />

priv. Firmen, Gaststätten, Selbständige u.a. = 8 Personen<br />

[...]<br />

Anhang<br />

In Auswertung der bisher gesammelten Erfahrungen ist auf folgende Probleme hinzuweisen:<br />

1. Im Falle von Zuführungen sind die zu Befragungen eingesetzten Kräfte konkret <strong>und</strong> rasch mit dem<br />

Sachverhalt vertraut zu machen. Bisher waren die Informationen, die im Führungspunkt der K<br />

[Kriminalpolizei] eingingen, zu unkonkret <strong>und</strong> trafen erst ein, wenn die Befragungen bereits begonnen<br />

hatten. [/] Effektiv wäre es, den Vernehmern eine Videoaufzeichnung vorzuführen.<br />

2. Der Rahmen der möglichen staatlichen Reaktionen/Sanktionen sollte bereits vorher abgestimmt sein, da<br />

dadurch ein zielstrebiges Vorgehen bei den Befragungen gesichert ist. Die Untersuchungsorgane<br />

müssen die Möglichkeit zur Eigenentscheidung aus dem aufgeklärten Sachverhalt erhalten. Nur bei<br />

Strafverdacht sollte eine zentrale Abstimmung erfolgen522 . Dadurch würde erreicht, daß die<br />

Entlassungen früher erfolgen können, Beschwerden vorgebeugt wird <strong>und</strong> der Kräfteeinsatz rationeller<br />

organisierbar wäre.<br />

3. Zu entscheiden ist, ob gegen Personen, die kurzfristig übersiedelt werden, OSV eingeleitet werden <strong>und</strong><br />

die Zahlung Ordnungsstrafen unter Einbeziehung der zuständigen Abteilung Innere Angelegenheiten<br />

durchgesetzt werden soll 523.<br />

4. Es sollte gesichert sein, daß die Auswertung der op. DE [operative Diensteinheit] bis auf Abruf besetzt<br />

bleiben, um rasch Informationen zu erfaßten Personen erarbeiten zu können.<br />

In Abstimmung mit der BKG [Bezirkskoordinierungsgruppe - eine Abteilung der Bezirksverwaltung<br />

des MfS] sollte dazu das methodische Vorgehen festgelegt werden.<br />

166 Staatliche Einschätzung<br />

Gesprächskonzeption vom Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig vom 25.05.1989 für<br />

das Gespräch mit Bischof Hempel am 25.05.1989 <strong>und</strong> Bischof Leich am 26.05.1989. Die 3 Seiten<br />

Computerausdruck wurden nicht unterzeichnet (StAL BT/RdB 20715 <strong>und</strong> in: StAL BT/RdB 38326) 524 .<br />

522 Die Maßnahmen für den Umgang mit den Inhaftierten wurden durch die Hauptabteilung IX des MfS (Berlin)<br />

beschlossen (s. Lieberwirth 223).<br />

523 Mittig teilte am 23.05.1989, 7.24 Uhr, Hummitzsch mit, daß die Ordnungsstrafverfahren weiter durchgeführt<br />

werden sollten (BStU Leipzig AB 3843, 168).<br />

524 Die ersten Notizen der Konzeption stammten vom 11.05.1989 (StAL BT/RdB 38326). Neben diesen<br />

256


Innerhalb der ev. Kirchen in der DDR vollziehen sich gegenwärtig kontroverse Diskussionen um die<br />

Existenz von Gruppen zu thematisieren <strong>und</strong> unter den verschiedenen Gesichtspunkten aufzubereiten.<br />

Diese Anstrengungen werden von Auseinandersetzungen zwischen der „offiziellen“ Kirche <strong>und</strong> den<br />

Gruppen sowie in den Gruppen selbst begleitet. Dabei stehen vor allem die sozialethischen Gruppen im<br />

Vordergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> damit zusammenhängend die Frage nach dem Verhältnis von Kirche <strong>und</strong> Politik, von<br />

Kirche <strong>und</strong> Religion sowie nach den Perspektiven der Entwicklung kirchlicher Strukturen. Die<br />

diskutierten Fragen <strong>und</strong> die in Erwägung gezogenen Schlußfolgerungen für das Handeln der Kirche stehen<br />

ausdrücklich in sehr engem Zusammenhang mit der Gestaltung des Staat-Kirche Verhältnisses <strong>und</strong><br />

berühren nicht selten Probleme der gesamtgesellschaftlichen <strong>und</strong> insbesondere der politischen<br />

Entwicklung unseres Landes. Diese Gr<strong>und</strong>situation spiegelte sich letztendlich auf den Plenartagungen der<br />

„Ökumenischen Versammlung“ für Gerechtigkeit, Frieden <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung in Magdeburg<br />

<strong>und</strong> Dresden, in den Diskussionen um das „politische Mandat der Kirche“ <strong>und</strong> um den Begriff „Kirche im<br />

Sozialismus“ wider. Während die Papiere der Ökumenischen Versammlung „bestürzende<br />

Wahrnehmungsdefizite im Blick auf soziale Errungenschaften unseres Staates“ aufweisen, ein Bild des<br />

„traurigen, bedrückten, entmündigten Einwohners der Republik zeichnen, dessen Leben sich zwischen der<br />

‘unwirtlichen Öffentlichkeit’ <strong>und</strong> der problembeladenen Familie abspielt“ 525 , stellt Landesbischof Dr.<br />

Leich in einem Gemeindevortrag in Jena am 5. März 1989 die Formel „Kirche im Sozialismus“ in Frage<br />

<strong>und</strong> schlägt vor, besser von der „Evangelischen Kirche in der DDR“ zu sprechen. Dabei kritisiert er, daß<br />

die enthaltenen Begriffe „Kirche“ <strong>und</strong> „Sozialismus“ definitorisch nicht geklärt sind, vor allem habe das<br />

Wort Kirche gegenüber früher an Eindeutigkeit weitgehend verloren. Schon 1988 wurde von westlichen<br />

Medien die Fragestellung „Was kann Kirche im Sozialismus sinnvoll heißen?“ 526 mit der Feststellung<br />

begleitet, daß die Bezeichnung „Kirche in der DDR“ weniger irreführend wäre, aber politisch bedeute, daß<br />

damit die Vereinbarungen zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche am 06.03.1978 als gescheitert erklärt werden<br />

müssen <strong>und</strong> dies „unter den gegenwärtigen Bedingungen den Weg zurück in die Zeit der Konfrontation<br />

wiese“. (Kirche im Sozialismus, S. 180 527 ) Kulminationspunkt der beschriebenen kirchlichen Situation<br />

bilden die Diskussionen um die Frage des politischen Mandats einer Kirche, wobei differenzierte<br />

Unterschiede zwischen den ev. Landeskirchen <strong>und</strong> auch innerhalb der Landeskirchen feststellbar sind.<br />

Konsequenter Vertreter der Befürwortung eines politischen Mandats der Kirche ist gegenwärtig Bischof<br />

Dr. Forck, Berlin-Brandenburg. Bischof Dr. Hempel spricht vom begrenzten politischen Mandat. Die<br />

politisch progressiven Amtsträger <strong>und</strong> Theologen, darunter auch eine Reihe theologisch konservativer<br />

Vertreter, lehnen ihrerseits das politische Mandat einer Kirche eindeutig ab <strong>und</strong> verweisen darauf, daß die<br />

gegenwärtigen Erscheinungsformen, für ein politisches Mandat einzutreten, doch zugelassen habe, daß<br />

− eine hemmungslose, selbstzerfleischende Propaganda betrieben würde, das Wesen der „Perestroika“<br />

oder des „Neuen Denkens“ gegen die DDR umzukehren;<br />

− nicht gefragt wurde, ob mit dieser Propaganda jeweils eine Entwicklung gewollt oder eine<br />

Diskreditierung bezweckt wurde;<br />

− bewußt wurde, wenn abstrakte Umgestaltungsdemagogie, Unsicherheit, Ängstlichkeit <strong>und</strong><br />

Minderwertigkeitskomplexe in einigen Bevölkerungskreisen Einzug finden;<br />

− die Meinung befürwortet wird, der Staat solle die Schleusen öffnen <strong>und</strong> eine sozialistische<br />

Marktwirtschaft einführen <strong>und</strong> Pluralismus gewähren.<br />

kirchenpolitischen Überlegungen fand sich unter den Unterlagen des Referat Kirchenfragen auch drei Seiten<br />

Computerausdruck mit Sachinformationen zu den FG, zum Pleißemarsch, zum Straßenmusikfestival <strong>und</strong> zur<br />

Veranstaltungsverordnung (StAL BT/RdB 21956). Zu einem Telefonat mit Mittig notierte Hummitzsch am<br />

23.05., 14.49 Uhr: „Führer bewegen! [/] [FG] einstellen, [/] wie? [//] Bischof reden, Informieren [/] mit allem<br />

Nachdruck“ (BStU Leipzig AB 3843, 169).<br />

525 Die Anführungszeichen sind im Original nur teilweise gesetzt. Hier handelt es sich offensichtlich um ein Zitat<br />

aus einer internen Information (vermutlich des StfK) über die Ergebnisse der Ökumenischen Versammlung.<br />

526 Gemeint ist der Aufsatz von Richard Schröder, Was kann „Kirche im Sozialismus“ sinnvoll heißen?, in: KiS<br />

4/88, 135-137 <strong>und</strong> in der Samisdat-Zeitschrift „Kontext“ vom 22.11.1988, 45-49 (ABL Box 7).<br />

527 In der Zeitschrift „Kirche im Sozialismus“ 5/88 ist auf Seite 180 ein Artikel unter dem Titel „Kirche im<br />

Sozialismus - Eine überholte Formel?“ abgedruckt. Das Zitat stammt vermutlich ebenfalls aus einer Richtlinie<br />

des StfK.<br />

257


Dies ist nach Meinung o.g. Vertreter Verleugnung des eigenen <strong>und</strong> Griff nach einem fremden Mandat, wo<br />

dem Staat kirchlicherseits als Ankläger, Wächter <strong>und</strong> vor allem als Richter begegnet wird. Politisch<br />

progressive Geistliche, Amtsträger <strong>und</strong> Theologen vertreten die Auffassung, daß die Kirche eine<br />

politische Mitverantwortung besitzt, aber keinen politischen Auftrag. Hiermit erfolgt eine weitgehende<br />

Annäherung an die staatlichen Positionen. Somit kann der Auffassung der sogenannten linken Theologen<br />

auch unsererseits zugestimmt werden, die feststellen, daß „Christen als Bürger ihre politische<br />

Mitverantwortung wahrnehmen, so daß ihr Handeln zum weltlichen Zeugnis ihres Glaubens werden kann,<br />

weil es nicht nach dem Wohl der Kirche, sondern nach dem Gemeinwohl, nicht nach den Rechten der<br />

Kirche, sondern zuerst nach ihren Pflichten fragt, weil sie auch im politischen Leben der „Stadt Bestes“<br />

suchen müssen.“ Zur weiteren Unterscheidung von Kirche <strong>und</strong> Staat wird zur Begründung auch angeführt,<br />

daß eine Kirche immer eine Versammlung von Glaubenden ist um das Evangelium, keine Versammlung<br />

politischer Gesinnungsgenossen um ein Parteiprogramm. Kirche beruht auf dem Bekenntnis zu Jesus<br />

Christus <strong>und</strong> nicht auf dem Konsens hinsichtlich der Erkenntnis von Natur <strong>und</strong> Geschichte. Kirche lebt<br />

nicht vom politischen Konsens ihrer Glieder, sondern muß deren politischen Dissens ertragen. Als sehr<br />

kritisch wird gesehen, daß gegenwärtig in der ev. Kirche eher eine Übereinstimmung hinsichtlich<br />

politischer Gr<strong>und</strong>haltungen als des Evangeliums zu spüren ist. Aus der Sicht der Staatspolitik in<br />

Kirchenfragen muß hier betont werden, daß nicht die Wertung theologischer Positionen über die<br />

Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit politischer Äußerungen oder politischer Aktivitäten das Kriterium<br />

ist, sondern die Haltung zu Frieden <strong>und</strong> Abrüstung, zu sozialem Fortschritt, Gerechtigkeit, Humanismus<br />

<strong>und</strong> Demokratie. Das spezifisch religiöse Motiv kann nicht Kriterium für die Wertung der politischen<br />

Haltung sein. Ausgehend von den Gesetzmäßigkeiten unserer Epoche werden die genannten negativen<br />

Erscheinungen innerhalb der Kirche unsererseits verurteilt wegen einer hemmenden gesellschaftlichen<br />

Wirkung <strong>und</strong> unserer Politik entgegengesetzten Zielrichtung.<br />

Politische Äußerungen der Kirche werden problematisch, wenn sie antisozialistische sind oder wenn sie<br />

ein Unverständnis der notwendigen Entwicklung ausdrücken. Wir wollen weltweit <strong>und</strong> auch in der DDR<br />

öffentliches Parteiergreifen der Kirchen für Frieden <strong>und</strong> Abrüstung, für sozialen Fortschritt <strong>und</strong><br />

Demokratie, also ein gesellschaftliches Engagement im Sinne unserer Gesellschaftsstrategie. Dabei muß<br />

betont werden, daß die Zielstellung der Staatspolitik in Kirchenfragen eine Kirche im Sozialismus, aber<br />

keine sozialistische Kirche ist, ein kooperatives Zusammengehen von Staat <strong>und</strong> Kirche, aber kein rotes<br />

Thron-Altar-Bündnis gewünscht wird. Hauptanliegen bleibt ein konstruktives Miteinander bei<br />

festgestellter Eigenständigkeit der Verantwortlichen, der Betonung des Staat-Kirche-Verhältnisses in ihrer<br />

[sic!] Wechselbeziehung <strong>und</strong> nicht als Einbahnstraße. Das heißt, das Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Kirche ist<br />

nicht nur so gut, wie es der einzelne Christ in seiner gesellschaftlichen Situation vor Ort erfährt, sondern<br />

es kann auch nur so gut sein, wie es im Handeln der Christen vor Ort zum Ausdruck kommt.<br />

167 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />

Xerokopie des Briefes des Vorsitzenden des Kuratoriums des Theologischen Seminars vom 25.05.1989 an<br />

den Stellvertreter des Vorsitzenden des RdB Leipzig, Reitmann, mit einer Anlage (StAL BT/RdB 38326 <strong>und</strong><br />

in: StAL BT/RdB 21956, ABL H 53).<br />

Sehr geehrter Herr Dr. Reitmann!<br />

In der Sitzung des Kuratoriums des Theologischen Seminars, zu dem als Mitglieder <strong>und</strong> Berater Vertreter<br />

fast aller Gliedkirchen des B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen in der DDR gehören, hat der Rektor des<br />

Theologischen Seminars, Prof. Dr. Ulrich Kühn, über die am 7. <strong>und</strong> 8. Mai 1989 in Leipzig erfolgten<br />

Zuführungen von Studierenden des Theologischen Seminars <strong>und</strong> über das am 17. Mai mit Ihnen darüber<br />

geführte Gespräch berichtet. Die Mitglieder des Kuratoriums waren sowohl über die gegen die<br />

Studierenden ergriffenen Maßnahmen, die sie nach Art <strong>und</strong> Umfang für nicht gerechtfertigt halten, wie<br />

auch darüber, daß dem Theologischen Seminar eine maßgebliche Beteiligung an den Unruhen dieser<br />

beiden Tage in Leipzig angelastet wird, außerordentlich betroffen. Wie aus dem beiliegenden Bericht<br />

hervorgeht, kann von einer solchen maßgebenden Beteiligung von Studierenden des Theologischen<br />

Seminars an den genannten Vorgängen keine Rede sein, weshalb auch die ergriffenen Maßnahmen als<br />

258


nicht sachgerecht erscheinen müssen. Ich möchte Sie, sehr geehrter Herr Dr. Reitmann, darauf hinweisen,<br />

daß die von uns allen <strong>und</strong> gleichermaßen von den Verantwortlichen des Theologischen Seminars<br />

angestrebte Besonnenheit <strong>und</strong> Sachlichkeit in der gegenwärtigen komplizierten Situation durch solche<br />

Vorgänge eine Erschwerung erfährt, an der weder Ihnen noch uns gelegen sein kann. Ich hoffe deshalb,<br />

daß in Zukunft von Ähnlichem abgesehen wird.<br />

Mit vorzüglicher Hochachtung<br />

[gez.] Johannes Hempel<br />

Anlage<br />

Feststellungen zu den Vorgängen <strong>und</strong> Vorfällen am 7.<strong>und</strong> 8. Mai 1989 in Leipzig<br />

− Am 7. Mai 1989 (Wahlsonntag) erhielt der Rektor des Theologischen Seminars in seiner Wohnung<br />

zwei Anrufe von Herrn Jakel, Sektor Kirchenfragen des Rates des Bezirkes Leipzig: er sei beauftragt,<br />

ihm mitzuteilen, daß die Studenten des Theologischen Seminars Bernd Oehler (so vormittags) <strong>und</strong><br />

Thomas Gerlach (so gegen Abend) aufgefordert worden seien, sich zur Klärung eines Sachverhaltes<br />

bei der VP zu melden. Wie dem (schriftlichen) Bericht von Herrn Oehler <strong>und</strong> dem (mündlichen)<br />

Bericht von Herrn Gerlach zu entnehmen ist, ereignete sich folgendes: Herr Oehler war am 5.5. von<br />

zwei Beamten besucht worden. Als er 9.45 Uhr mit dem Rad zu einer Vorbereitungstagung für eine<br />

Kinderwoche für Verhaltensauffällige aufbrach, wurde er auf der Straße gestoppt <strong>und</strong> trotz seines<br />

Protestes, er sei auf dem Weg zu einer kirchlichen Veranstaltung, gezwungen, in ein Polizeiauto<br />

einzusteigen, das ihn in die Ritterstraße <strong>und</strong> dann in die Dimitroffstraße brachte, wo er bis 21.55 Uhr<br />

festgehalten wurde. Es fand eine Befragung über seine Aufenthalte der letzten Tage <strong>und</strong> sein etwaiges<br />

Wissen über „Verteilung von Schriften“ statt. Herr Gerlach wurde ebenfalls von 2 Beamten besucht<br />

(am 7.5.), die sich bald wieder verabschiedeten. Als er mittags mit der Straßenbahn in die Stadt fuhr<br />

<strong>und</strong> am Hauptbahnhof umsteigen wollte, wurde er von zwei Beamten (die von auswärts waren, sich<br />

jedenfalls in Leipzig nicht auskannten) aufgefordert mitzukommen <strong>und</strong> im Gefolge dann über die<br />

Trapo Hbf <strong>und</strong> Revier Ritterstraße in die Dimitroffstraße gebracht, wo er insgesamt 21 St<strong>und</strong>en<br />

festgehalten wurde, davon etwa 2 St<strong>und</strong>en Befragungen. Weder diese beiden Studenten noch irgendein<br />

anderer Student des Theologischen Seminars hatte irgendetwas mit der Vorbereitung der am 7.5.<br />

abends auf dem Marktplatz vorgesehenen Versammlung zu tun 528 . Die unverhältnismäßig lange<br />

Festnahme der beiden Studenten auf bloßen Verdacht hin <strong>und</strong> die gleichzeitige Behinderung des einen<br />

bei der Mitwirkung an einer kirchlichen sozialdiakonischen Veranstaltung muß als ungerechtfertigt<br />

<strong>und</strong> zugleich als erhebliche Belastung <strong>und</strong> Erschwerung eines sachlichen Verhältnisses von Studenten<br />

des Theologischen Seminars zu den staatlichen Organen angesehen werden. Bernd Oehler gehört zwar<br />

zu den politisch selbständig <strong>und</strong> kritisch denkenden Studenten, ist aber wegen seiner Sachlichkeit <strong>und</strong><br />

Besonnenheit bekannt. Herr Gerlach ist noch niemals im Zusammenhang politischer<br />

Auseinandersetzungen in den Vordergr<strong>und</strong> getreten.<br />

− Am Montag, dem 8. Mai, wurden nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche 3 Studenten des Theol.<br />

Seminars (Beate Schade, Mathias Wolf, Christian Dietrich) sowie die z.Zt. exmatrikulierte Studentin<br />

Kathrin Hattenhauer <strong>und</strong> der zukünftige Repetent des Theol. Seminars Vikar Edgar Dusdal zugeführt.<br />

Herr Dusdal hatte im Friedensgebet in der Nikolaikirche die Predigt gehalten. Die Zuführung erfolgte<br />

in der Innenstadt Nähe Nikolaikirche, wo nach dem Friedensgebet sich Friedensgebetsteilnehmer noch<br />

aufhielten. Nach den Berichten bzw. Beschwerden, die dem Rektor des Theol. Seminars bzw. dem<br />

VPKA Leipzig zugingen, war der Nikolaikirchhof <strong>und</strong> die angrenzenden Straßen von Ketten von<br />

uniformierten <strong>und</strong> nichtuniformierten Beamten abgesperrt. Mathias Wolf <strong>und</strong> Beate Schade hatten vor,<br />

in der Spätverkaufsstelle Brühl noch Einkäufe zu machen, um dann nach Hause zu gehen. Dazu kam es<br />

nicht, weil sie zuerst angerempelt <strong>und</strong> dann mit physischer Gewalt festgehalten <strong>und</strong> zugeführt wurden.<br />

Die polizeiliche Aufforderung (durch Lautsprecher), den Platz bzw. die Straße zu verlassen, erfolgte,<br />

nachdem die Zuführung geschehen war. Die Stoßw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Armverrenkungen waren noch am<br />

nächsten Tag zu sehen bzw. zu spüren. Herr Dietrich ist festgenommen worden, nachdem er sich nach<br />

528 Diese Behauptung entsprach dem damaligen Erkenntnisstand des Rektors. Zu der Nicht-“Wahl“-Demonstration<br />

am Wahltag, 18.00 Uhr, wurde von der „Initiative zur demokratischen Erneuerung“ (DI) per Flugblatt <strong>und</strong><br />

M<strong>und</strong>propaganda aufgerufen. Zur DI gehörte auch ein Student des Theologischen Seminars.<br />

259


dem von ihm von der Grimmaischen Straße aus beobachteten Geschehen erk<strong>und</strong>igt <strong>und</strong> einen<br />

willkürlich festgehaltenen jungen Mann nach seinem Namen gefragt hatte. Über die Festnahme wurde<br />

der Rektor des Theolog. Seminars nicht offiziell informiert. Nach Erk<strong>und</strong>igungen u.a. bei<br />

Superintendent Richter (Leipzig West) rief er nachts 23 Uhr bei der VP Dimitroffstraße an; er wurde<br />

vom diensthabenden Offizier belehrt, daß es sich nicht um Festnahmen, sondern um Zuführungen zur<br />

Klärung eines Sachverhaltes gehandelt habe <strong>und</strong> alle Zugeführten wieder auf freiem Fuße seien. Nach<br />

den vorliegenden Berichten wurde während der Zuführung eine „Klärung eines Sachverhaltes“ nicht<br />

bei allen vorgenommen; wo dies geschah, erfolgte sie in sachlichem, fast höflichem Ton. Es wurden<br />

aber auch Bemerkungen beschimpfender Art gehört, wie „Man müßte denen allen in die Fresse<br />

schlagen!“ Es ist nachweislich, daß von den Angehörigen des Theol. Seminars niemand die Absicht<br />

gehabt hat, nach dem Friedensgebet am 8. Mai Ruhe <strong>und</strong> Ordnung zu stören oder an so etwas wie einer<br />

Demonstration teilzunehmen. Im Gegenteil muß von den Studierenden des Theologischen Seminars<br />

gesagt werden, daß sie die Aktionen vor allem Ausreisewilliger nach den Friedensgebeten<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich ablehnen, geschweige sich daran beteiligen. Daß indessen Studenten des Theol. Seminars<br />

am Friedensgebet selbst teilnehmen, ist selbstverständlich, <strong>und</strong> ebenso, daß sie danach sich vor der<br />

Kirche noch zum Gespräch aufhalten. Insofern erscheint die mit physischer Gewaltanwendung <strong>und</strong><br />

Körperverletzung durchgeführte Maßnahme gegen die Genannten als ungerechtfertigt <strong>und</strong> als<br />

erhebliche Belastung eines vom Theol. Seminar <strong>und</strong> seinen Verantwortlichen angestrebten sachlichen<br />

Stils politisch-gesellschaftlicher Meinungsbildung. Sie dient in keiner Weise der Bemühung um<br />

Besonnenheit in den schwierigen gegenwärtigen Fragen, sondern hat auf die Studierenden eine<br />

psychologisch negative Wirkung. Deshalb kann ein solches Vorgehen nur bedauert werden.<br />

− Im Gespräch mit dem Rektor des Theol. Seminars am 17. Mai hat Herr Dr. Reitmann die Auffassung<br />

geäußert, daß bei den Vorgängen am 7. <strong>und</strong> 8. Mai in Leipzig in starkem Maße Studenten des Theol.<br />

Seminars beteiligt gewesen seien <strong>und</strong> daß dies die weitere Arbeit des Theol. Seminars belaste. Aus den<br />

vorliegenden Berichten geht hervor, daß weder am 7. noch am 8. Mai Studenten des Seminars<br />

vorbereitend oder handelnd an Aktionen auf der Straße beteiligt gewesen sind. Daß einige als<br />

Teilnehmer des Friedensgebetes am 8. Mai sich in der von Polizei gesperrten Region aufhielten, kann<br />

ihnen offensichtlich nicht angelastet werden. Am 7. Mai ist abends auf dem Markt kein Student des<br />

Seminars auch nur angetroffen worden. Es muß deshalb das Befremden sowohl angesichts der gegen<br />

Studenten ergriffenen Maßnahmen wie auch angesichts der Unterstellung, Studenten des Seminars<br />

wären maßgeblich <strong>und</strong> aktiv beteiligt gewesen, geltend gemacht werden. Daß einige Studenten sich an<br />

der Arbeit von Basisgruppen beteiligen, kann die erhobenen Verdächtigungen <strong>und</strong> erst recht die<br />

Maßnahmen in keiner Weise rechtfertigen. Es würde der Versachlichung der Beziehungen dienen,<br />

wenn in Zukunft sorgfältiger vorgegangen würde.<br />

168 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Auszug aus dem IN-Telegramm von H. Reitmann an den Staatssekretär für Kirchenfragen vom 26.05.1989<br />

über das Gespräch zwischen Opitz <strong>und</strong> Bischof Hempel am 25.05.1989. Auf dem Computerausdruck ist<br />

handschriftlich „Gen. Löffler“ vermerkt worden. Der Ausdruck wurde mit „Rei“ unterzeichnet 529 (StAL<br />

BT/RdB 21956).<br />

Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Leipzig, Gen. Rolf Opitz, führte am 25.05.1989 ein Gespräch mit<br />

dem Bischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Dr. Johannes Hempel 530.<br />

Am<br />

529 Verfaßt wurde dieser Bericht - wie das Handexemplar Opitz (StAL BT/RdB 38326) zeigt - von W. Jakel. Beim<br />

StfK ging das „Blitz“-Telegramm am 26.05., 15.30 Uhr ein (BArch O-4 1405). Die SED-BL informierte am<br />

25.05.1989 auch E. Honecker über dieses Gespräch (StAL BT/RdB 38326). Am 31.05. informierte Sup. Magirius<br />

anläßlich der BSA-Sitzung die Basisgruppen über dieses Gespräch (Protokoll Berger vom 29.06.! - ABL H 2).<br />

Der Leiter der BV des MfS wurde nach dem Gespräch sofort mündlich über den Ausgang informiert (BStU<br />

Leipzig AB 3843, 170).<br />

530 Nach dem Fernschreiben des 1. Sekretärs der SED-BL an E. Honecker vom 25.05.1989, hat dieser Opitz<br />

260


Gespräch nahmen teil: Gen. Dr. Reitmann, Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres, <strong>und</strong><br />

Oberkirchenrat Auerbach.<br />

Landesbischof Hempel wurde durch Gen. Dr. Reitmann zu diesem Gespräch eingeladen <strong>und</strong> hatte<br />

bereitwillig seine Zusage gegeben. Der Vorsitzende des Rates hatte zum Gesprächsbeginn die guten<br />

Beziehungen des Rates des Bezirkes Leipzig zur evangelischen Landeskirche Sachsens hervorgehoben<br />

<strong>und</strong> betont, daß er unter diesem Aspekt eine Reihe von komplizierten Fragen, wo er in Sorge ist, mit dem<br />

Landesbischof besprechen wolle.<br />

Gen. Opitz trug folgende Punkte als Problemstellungen vor:<br />

1. Ausgangspunkt belastender Erscheinungen für die Staat-Kirche-Beziehung bildet die Nikolaikirche in<br />

Leipzig, wo Personen zusammenkommen, die das kirchliche Haus nutzen, um ihre Ziele zu verfolgen<br />

<strong>und</strong> keine religiösen Gründe haben, an einem Friedensgebet teilzunehmen. Die Geschehnisse, die sich<br />

nach dem Friedensgebet vor der Nikolaikirche abgespielt haben, werden nicht enden, wenn das<br />

Friedensgebet weiterhin dort durchgeführt wird. Gen. Opitz brachte gegenüber dem Landesbischof die<br />

Erwartung zum Ausdruck, solche Veranstaltungen aus der Nikolaikirche zu entfernen <strong>und</strong><br />

zumindestens als Zwischenlösung diese Zusammenkünfte in einer anderen Kirche durchzuführen. Gen.<br />

Opitz forderte Bischof Hempel auf, seinen Beitrag zur Wiederherstellung der Ordnung zu leisten.<br />

2. Zum beabsichtigten 2. Pleißemarsch, der vom Jugendpfarramt der evangelischen Kirche Leipzig <strong>und</strong><br />

der sogenannten IG Leben organisiert wird <strong>und</strong> dessen Aktivitäten schon ausgelöst wurden, bevor eine<br />

Anmeldung bei der VP erfolgte, teilte Gen. Opitz mit, daß keine staatliche Genehmigung erteilt wird,<br />

weil die Teilnehmerzahl nicht begrenzt werden <strong>und</strong> die Ausnutzung zu negativen <strong>und</strong> provokativen<br />

politischen Handlungen nicht ausgeschlossen werden kann. Zugleich ist es unzumutbar, daß mit dieser<br />

Veranstaltung eine „Probe des Kirchentages“ stattfinden soll.<br />

3. Zu einem für den 10. Juni 1989 durch umfangreiche schriftliche Ankündigung <strong>und</strong> „M<strong>und</strong>propaganda“<br />

anberaumten „Musikfestival“ von Straßenmusikanten aus der gesamten DDR [...]<br />

4. Gen. Opitz forderte vom Landesbischof den Umweltgottesdienst am 11.06.1989 in Deutzen, [...]<br />

5. [...] forderte Gen. Opitz den Landesbischof auf, dafür Sorge zu tragen, daß ein von Wurzen nach Börln<br />

vorgesehener Umweltmarsch nicht durchgeführt wird [...].<br />

Der Ratsvorsitzende wies darauf hin, daß sich bei Nichtbeachtung dieser staatlichen Forderungen die<br />

Vorbereitung des Kirchentages verzögert <strong>und</strong> eine weitere Überprüfung der Entscheidung dazu nach<br />

sich ziehen könnte.<br />

Landesbischof Dr. Hempel positionierte sich folgendermaßen<br />

„Ich habe in ihrer Rede den roten Faden erkannt. Möchte mich nicht wiederholen, habe auch nicht zu<br />

allen Details Kenntnis, möchte aber gleich sagen, eine Lösung, die uns beide befriedigt, habe ich<br />

nicht.“ Er sei sehr beunruhigt, es ist eine andere Zeit als vor zehn Jahren. Demokratie wird heute<br />

verstanden als etwas, was die Leute selbst in die Hand nehmen wollen, eine Demokratie von sich<br />

aus 531 . Bischof Hempel bezeichnete die gegenwärtig aktuellen Themen primär politisch. Die Leute für<br />

theologische Dinge zu interessieren ist schwer. Manche Dinge dabei sind staatlich zu verantworten <strong>und</strong><br />

auch ein rein staatliches Problem. Es gibt aber auch Erscheinungen genauso in der Kirche. Er bat um<br />

Überlegung, wenn der richtige Punkt da ist, was nicht heiße, alle Blumen blühen zu lassen. Er verstehe,<br />

daß der Staat härter sein muß, er soll aber bitte prüfen, wo die Toleranzgrenze ist. „Meine Frage an sie<br />

ist, sie greifen zu früh <strong>und</strong> zu hart durch. Das ist mein Eindruck.“ Bezugnehmend auf die Ereignisse<br />

nach dem Friedensgottesdienst am 08.05.1989 führte Landesbischof Hempel an, daß die staatliche<br />

Präsens dabei nicht zu übersehen war. Die Videokamera hing an einem säkularen Gebäude. „Ich halte<br />

es für eine harte Maßnahme, wenn ich als Kirchgänger weiß, ich werde gefilmt. Die indirekten Signale<br />

sind stark. Man spricht von 16 Wagen Polizei. Das ist eine ganze Menge.“ An den Stellvertreter des<br />

Vorsitzenden des Rates für Inneres gewandt, teilte er mit, daß das Kuratorium des Theologischen<br />

„beauftragt“, dieses Gespräch zu führen. Opitz sollte Bischof Hempel „mit den im Zusammenhang der jüngsten<br />

Provokationen in Leipzig gewonnen Erkenntnissen über die Mitwirkung kirchlicher Amtsträger <strong>und</strong> von<br />

Studenten des Theologischen Seminars [...] konfrontieren <strong>und</strong> von ihm eine Klärung dieser Fragen [...] fordern“<br />

(StAL BT/RdB 38326) s.a. Anm. 524<br />

531 Opitz veränderte in seinem Exemplar zu: „eine Demokratie von unten her“ (StAL BT/RdB 38326).<br />

261


Seminars einen Brief geschrieben hat, den er unterzeichnet hat. Das Kuratorium beschwert sich, daß<br />

dem Theologischen Seminar angelastet wird, eine Keimzelle besagter Vorgänge zu sein, <strong>und</strong> darüber,<br />

daß seitens der VP körperliche Härte eingesetzt worden ist. Die Studenten Dusdal <strong>und</strong> Schade haben<br />

ihren Schock weg. Das sind harmlose Studenten. Danach übergab Dr. Hempel diesen Brief an Gen. Dr.<br />

Reitmann.<br />

Hierzu wurde vom Vorsitzenden <strong>und</strong> vom Gen. Dr. Reitmann der Landesbischof über die konkreten<br />

Vorgänge informiert, wobei Gen. Dr. Reitmann darauf hinwies, daß er den Rektor des Theologischen<br />

Seminars, Prof. Kühn, aufgefordert hat, daß die Studenten des Theologischen Seminars nach der<br />

Teilnahme am Friedensgebet doch nach Hause gehen sollen, wenn sie sich mit den Demonstranten<br />

nicht identisch fühlen.<br />

In der weiteren Diskussion, die vom Vorsitzenden immer wieder auf die angesprochenen Punkte<br />

zurück geführt wurde, gab der Landesbischof an, daß er nichts anderes zu sagen habe, als daß sein<br />

Wort moralischer Art ist, ein Kirchenvorstand ist straffrei. Kirche hat nur moralische Autorität auf dem<br />

Gebiet des Gottesdienstes. „Verlegen wir das Friedensgebet, geht es mit einer bischöflichen Weisung.<br />

Das bringt uns Schaden, daß geht durch die Westpresse. Ob in der Friedenskirche oder anderswo, es<br />

geht dann nur anders herum. Ich überlege mir genau, was ich mache. Der eigentliche Punkt, weshalb<br />

wir zusehen, ist der, daß wir in der Sache übereinstimmen. Ich bitte sie [sic!] höflich, nehmen sie es so,<br />

wie ich es sage.<br />

− Wo wird mit den Leuten gesprochen, was ist mit Dresden-Gittersee 532 <strong>und</strong> der Information?<br />

− Junge Leute sagen, ihr Alten hattet 20 Jahre Zeit, <strong>und</strong> was übergebt ihr uns? Mit uns wird ja nicht<br />

gesprochen.<br />

− Wir haben ein[e] faire Kritik an der Volksbildung, beim Umweltschutz hat sich eine Menge<br />

gebessert, aber eben nicht genug.<br />

− Sie haben m.E. zu wenig Kapazität, mit den Massen zu reden.<br />

− Es gibt neue Erfahrungen mit der Wahl, 10 % der Nein-Stimmen sind unterschlagen worden, das ist<br />

unser Eindruck.<br />

− Wir vergöttern Gorbatschow nicht, aber hier fehlt es an einem Instrumentarium. Ich glaube, sie<br />

[sic!] richten die Strafe gegen sich selbst, ich höre es erneut.<br />

In der weiteren Diskussion gingen der Vorsitzende <strong>und</strong> Gen. Dr. Reitmann auf die von Hempel<br />

bezeichneten Probleme ein. Den vorgebrachten Vorwurf einer Wahlmanipulation wies Gen. Opitz in<br />

seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Bezirkswahlkommission bestimmend <strong>und</strong> eindeutig zurück, ohne<br />

dabei den stets sachlich geführten Gesprächsverlauf zu verändern. Er appellierte eindringlich an die<br />

Persönlichkeit des Landesbischofs, Wort <strong>und</strong> Tat zu nehmen in der Verantwortung <strong>und</strong> ersuchte Dr.<br />

Hempel um Verständigung auf eine gemeinsame Linie.<br />

Landesbischof Hempel führte hierzu aus:<br />

„Ich sage nichts zu, habe aber hellwach gehört. So genau wie wir es können, werden wir die innere<br />

Substanz prüfen. Das, was sie [sic!] wollen, können wir so nicht machen, wenn dort Ausreiser sind. Die<br />

kann ich so nicht ausschalten. Ich kann nur Gottesdienst absetzen, wenn er verfault ist, nicht wenn der<br />

Staat es will. Was sie wollen, ist eine Verlagerung des Problems. Wir werden im Amt Bericht erstatten<br />

<strong>und</strong> in der Kirchenleitung beraten, dann sehen wir weiter. Ich werde sie informieren, aber dann muß man<br />

sich auch mal in Ruhe lassen“.<br />

Der Ratsvorsitzende betonte, daß der Staat für einen Gottesdienst in friedlicher Umgebung sorgen werde.<br />

Auch im Interesse der Kirche wird der Staat mit allen Mitteln für Einhaltung der Ordnung sorgen.<br />

Das Gespräch war jederzeit sachlich <strong>und</strong> wurde sehr offen geführt. Bischof Hempel war sehr diszipliniert,<br />

konnte aber psychische Auswirkungen des Gespräches nicht verbergen. Für das Gespräch bedankten sich<br />

beide kirchlichen Vertreter.<br />

532 In Dresden-Gittersee sollte ein Reinstsilizium-Werk gebaut werden, welches ein unverantwortliches ökologisches<br />

Risiko für die Stadt Dresden bedeutet hätte <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> dessen es zu vielfältigen Protesten kam. Am 16.04. fand<br />

aus diesem Gr<strong>und</strong> z.B. in der Dresdener Kreuzkirche ein Gottesdienst statt, an dem sich ca. 4000 Dresdener<br />

beteiligten. Ab Juni 1989 fand dann an jedem 1. Sonntag im Monat ein spezieller Gottesdienst in Dresden-<br />

Gittersee statt (s. auch Rein (1990), 191f.).<br />

262


169 Notizen aus einer Parteiberatung<br />

Auszug aus der Niederschrift zur „Beratung beim 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung“ zum Stand der<br />

Vorbereitung des Kirchentages in Leipzig am 29.05.1989. Die acht Seiten Computerausdruck fertigte die<br />

Abteilung Staat <strong>und</strong> Recht bei der SED-Bezirksleitung (Urbaneck). Das Exemplar trägt keine Unterschrift<br />

(StAL BT/RdB 20715).<br />

[...] Teilnehmer der Beratung siehe Anlage 533.<br />

Folgende Probleme standen im Mittelpunkt:<br />

1. Information des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes über den Verlauf der Gespräche mit<br />

Landesbischof Dr. Hempel (25.05.89) <strong>und</strong> Landesbischof Dr. Leich (26.05.89)<br />

2. Information des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates für Inneres zum Stand der Vorbereitung des<br />

KTK/KT<br />

3. Informationsaustausch über geplante kirchliche Aktivitäten mit Öffentlichkeitswirksamkeit (2.<br />

Pleißemarsch am 04.06.89, Straßenmusikfestival am 10.06.89 <strong>und</strong> Umwelttag in Börln, Kreis Oschatz,<br />

am 11.06.89) <strong>und</strong> Festlegung von Maßnahmen zur Unterbindung dieser Aktivitäten<br />

zu Punkt 1<br />

Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes informierte über den Verlauf des Gesprächs mit Bischof Dr.<br />

Hempel <strong>und</strong> über dessen gr<strong>und</strong>sätzliche Haltung zu den staatlicherseits angesprochenen Problemkreisen.<br />

Durch Gen. Opitz wurden dabei folgende Probleme gegenüber Bischof Hempel <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene<br />

staatliche Erwartungshaltung angesprochen:<br />

− Die das Staat-Kirche-Verhältnis belastenden montäglichen Friedensgebete in der Nikolaikirche -<br />

gegenüber Hempel wurde das staatliche Ansinnen deutlich gemacht, die Friedensgebete auf<br />

unbestimmte Zeit auszusetzen bzw. in eine andere Kirche zu verlagern.<br />

− Den durch alternative Gruppen geplanten 2. Pleißemarsch am 04.06.1989, der von der Paul-Gerhardt-<br />

Kirche zur Ev.-reform. Kirche führen soll - Bischof Hempel wurde mitgeteilt, daß es dazu keine<br />

staatliche Zustimmung gibt. Er wurde aufgefordert, seinen Einfluß dahingehend geltend zu machen 534.<br />

− Das durch negative Kräfte initiierte Musikfestival im Stadtzentrum Leipzig am 10.06.1989 - hier<br />

wurde die Erwartung ausgesprochen, daß der Bischof mit darauf Einfluß nimmt, daß dies nicht<br />

stattfindet. Ihm wurde mitgeteilt, daß es auch dazu keine staatliche Zustimmung geben wird.<br />

− Es wurde die Erwartung verdeutlicht, daß der Umweltgottesdienst in Deutzen am 11.06.1989 in einem<br />

christlich motivierten Rahmen durchgeführt wird.<br />

− Der Umweltmarsch von Wurzen nach Börln im Rahmen der kirchlichen Veranstaltung „Mobil dem<br />

Auto“ durch die zuständigen kirchlichen Stellen abgesagt wird.<br />

Gen. Opitz informierte dann über die Reaktion von Hempel zu den aufgeworfenen Problemkreisen. Dabei<br />

wurde sichtbar, daß Hempel nicht gewillt war, sich gegenüber dem Staat festzulegen.<br />

Es entstand der Eindruck, daß Bischof Hempel die Gesamtprozesse seiner Landeskirche nicht mehr fest in<br />

der Hand hat.<br />

Im Anschluß daran informierte der Ratsvorsitzende über den Gesprächsverlauf mit Landesbischof Dr.<br />

Leich. [/] (Zu beiden Gesprächen liegen ausführliche Informationen vor).<br />

533 In der Anlage werden genannt: Leiter der AG Kirchenfragen beim ZK der SED, Staatssekretär für Kirchenfragen,<br />

Vertreter des MfS, Abteilungsleiter Staat/Recht der SED-BL, Abteilungsleiter Kultur der SED-BL,<br />

Abteilungsleiter Sicherheitsfragen der SED-BL, Vorsitzender des RdB Leipzig, Stellvertreter des Vorsitzenden<br />

des RdB für Inneres, 1. Sekretär der SED-SL, 2. Sekretär der SED-SL, Chef der BDVP Leipzig, Leiter der BV<br />

des MfS, Abteilungsleiter Innere Angelegenheiten des Rates der Stadt <strong>und</strong> ein leitender Mitarbeiter der Referates<br />

Kirchenfragen beim RdB. Vor der Sitzung fand in der BV des MfS eine vorbereitende Beratung statt, an der<br />

neben dem Chef der BV die Leiter der Abteilungen AuE, XX, IX, AKG, BKG <strong>und</strong> OSL Hillner für die KD Stadt<br />

teilnahmen. Dabei wurde als Maßnahmen u.a. beschlossen, die Kamera gegenüber der Nikolaikirche wieder<br />

abzubauen, den Nikolaikirchhof montags immer mit PKWs vollzustellen <strong>und</strong> ausreisewillige Teilnehmer sofort<br />

ausreisen zu lassen (BStU Leipzig AB 3843, 179f.)<br />

534 Am 29.05.1989, 9.50 Uhr rief Mielke bei Hummitzsch wegen dem Pleißemarsch an. Hummitzsch vermerkte<br />

dazu: „alles im Griff? [/] darf dort zu nichts kommen“ (BStU Leipzig AB 3843, 182).<br />

263


zu Punkt 2<br />

Der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres gab eingangs eine Kurzeinschätzung zur<br />

kirchenpolitischen Lage im Territorium. Dabei wurde hervorgehoben, daß die Vielzahl der geführten<br />

politischen Gespräche mit kirchenleitenden Persönlichkeiten <strong>und</strong> Amtsträgern der Gemeinden mit zum<br />

Ziel hatten, die Verantwortung der Kirche für den Weg des 06.03.78, speziell zur Einflußnahme auf die<br />

derzeitige Situation in <strong>und</strong> um die Nikolaikirche, stärker wahrzunehmen. [/] Auch im Umfeld zur<br />

Staatspolitik in Kirchenfragen werden eine Reihe gezielter staatlicher Aktivitäten in Abstimmung mit den<br />

dafür zuständigen Partnern realisiert (Problematik Ersuchsteller). [/] Im weiteren informierte Gen. Dr.<br />

Reitmann über die Gespräche mit dem Vorsitzenden des Landesausschusses Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag. So<br />

wurden gegenüber dem Landesausschuß die Festlegungen der Parteikommission vom 18.04.1989<br />

durchgesetzt (keine öffentliche Plakatierung, Begrenzung des Zeltplatzes auf 1200 Personen, Eröffnung<br />

des Kirchentagskongresses in der Messehalle 7). [/] Ebenfalls liegen die Regiepläne für die stattfindenden<br />

Veranstaltungen während des KTK/KT beim Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres vor. Es<br />

fehlt die inhaltliche Konzeption zum „Treffpunkt Glauben heute“. Der Vorsitzende des Landesausschuß<br />

hat sich selbst vorbehalten, darüber mit dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres zu<br />

reden. [/] Gen. Dr. Reitmann verwies dann auf folgende Schwerpunkte der politischen Weiterarbeit in<br />

Vorbereitung des KTK/KT:<br />

Anhand der vorliegenden Regiepläne sind die inhaltlichen Konzeptionen von Veranstaltungen,<br />

insbesondere der „Treffpunkt Glauben heute“, die Eröffnungsveranstaltung zum KTK <strong>und</strong> die<br />

Jugendveranstaltung „Mensch ärgere Dich nicht“ gegenüber dem Landesausschuß zu hinterfragen <strong>und</strong> auf<br />

Veränderungen hinzuwirken.<br />

Die geplanten Podiumsgespräche, Foren <strong>und</strong> Vorträge kritisch zu analysieren <strong>und</strong> darauf gegenüber dem<br />

Landesausschuß/Landeskirchenleitung einzuwirken, daß diese nicht für Provokationen genutzt werden.<br />

Diese sind vor allem „Kirche <strong>und</strong> Kirchentag aktuell“ mit Bischof Dr. Forck, OKSTR<br />

[Oberkonsistorialrat] Stolpe, Bischof Dr. Hempel <strong>und</strong> Vorsitzendem Cieslak, „Konziliarer Prozeß -<br />

Bericht <strong>und</strong> Gespräch zu Basel“ mit Sup. Ziemer aus Dresden, Probst Dr. Falcke, Erfurt (beide<br />

Hauptinitiatoren der ökum. Versammlung von Magdeburg <strong>und</strong> Dresden <strong>und</strong> deren Scharfmacher) <strong>und</strong> das<br />

Podiumsgespräch zum „Marxistischen <strong>und</strong> christlichen Menschenbild“ zwischen dem Marxisten Prof.<br />

Heyde (Dresden) <strong>und</strong> Generalsuperintendenten Dr. Krusche (Berlin).<br />

Des weiteren informierte Gen. Dr. Reitmann über den derzeitigen Stand der staatlichen Maßnahmen zur<br />

technisch-organisatorischen Unterstützung des Kirchentages. Er verwies darauf, daß seitens der<br />

verantwortlichen Fachorgane des Rates des Bezirkes die Konzeptionen erarbeitet wurden, das<br />

Zusammenwirken mit den dafür verantwortlichen Partnern gewährleistet ist, Ortsbegehungen<br />

durchgeführt wurden <strong>und</strong> der Stand es zuläßt, die notwendigen Vertragsabschlüsse zu tätigen.<br />

Ebenso sei das Zusammenwirken mit den Sicherheitsorganen gewährleistet. Die Anmeldung der<br />

Veranstaltungen durch die Kirche ist gemäß VAVO535 gegenüber der Abt. Erlaubniswesen beim VPKA<br />

Leipzig erfolgt. Der Einfluß der VP zu den Fragen der Gewährleistung von Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit ist<br />

gegenüber dem Veranstalter gesichert.<br />

Diskussion:<br />

Gen. P. Kraußer:<br />

Gen. Kraußer unterstrich, daß die staatlichen Maßnahmen in Vorbereitung des KTK/KT der Landeskirche<br />

Sachsens in Leipzig durch die verantwortlichen Genossen der SED-Bezirksleitung <strong>und</strong> des Rates des<br />

Bezirkes gut <strong>und</strong> solide sind 536.<br />

Es wurde für die Weiterarbeit auf folgende Probleme orientiert:<br />

1. Mit den Verantwortlichen für die inhaltliche Gestaltung der Kirchentagsveranstaltungen gilt es jetzt<br />

verstärkt auf der Gr<strong>und</strong>lage der vorliegenden Regiepläne politisch zu arbeiten. Dies ist vorrangig durch<br />

die Mitarbeiter für Kirchenfragen der Räte der Bezirke Leipzig, Dresden <strong>und</strong> Karl-Marx-Stadt zu<br />

535 Veranstaltungsverordnung<br />

536 Hummitzsch notierte sich zur Rede Kraußer: „Lage/Situation keine Schuld Leipziger Genossen; [/] Landeskirche<br />

hat Lage nicht in der Hand. [/] Verantwortliche f. die einzelnen Kirchentagsveranstaltungen an den Tisch holen.<br />

[/] Differenzieren.“ (BStU Leipzig AB 3843, 183)<br />

264


ealisieren. Es gilt konsequent darauf einzuwirken, daß der Inhalt der Veranstaltungen dem<br />

Kirchentagsthema entspricht <strong>und</strong> dem religiösen Anliegen gerecht wird.<br />

2. Es ist darauf einzuwirken, daß bei politisch problematischen Foren, Podiumsgesprächen <strong>und</strong> Vorträgen<br />

der Veranstalter durch gezielte Einladungen bzw. Ausgabe von Eintrittskarten eine Kontrolle über den<br />

Besucherkreis erhält bzw. diesen damit selbst bestimmt.<br />

3. Es muß sich noch konsequenter mit den bekannten <strong>und</strong> berufsmäßigen Störenfrieden, (Wonneberger,<br />

Turek, Führer, Dr. Berger) mit Unterstützung der Sicherheitsorgane, auseinandergesetzt werden.<br />

4. Es wäre gut, wenn es gelänge, daß die Friedensgebete in der Nikolaikirche auf unbestimmte Zeit<br />

ausgesetzt würden.<br />

5. Die staatlichen Maßnahmen gegenüber den Ersuchstellern sind parallel dazu weiter so konsequent<br />

fortzuführen 537.<br />

6. Mit den problematischen Personen, die auf dem KT auftreten (Bischof Dr. Forck, Sup. Ziemer, Probst<br />

Dr. Falcke) sind über die Bezirke mit den Personen Gespräche zu führen mit dem Ziel, durch ihr<br />

Auftreten den KT nicht negativ zu beeinflussen. Cieslak sollte aufgefordert werden, den Rahmen für<br />

das Auftreten der o.g. Personen konkret ab- bzw. einzugrenzen.<br />

7. In die Schwerpunktveranstaltungen ist die Teilnahme vieler CDU-Mitglieder, Mitglieder von<br />

progressiven kirchlichen Gruppen (CFK, kirchliche Bruderschaft Sachsens) <strong>und</strong> Vertreter der Sektion<br />

Theologie der Karl-Marx-Universität Leipzig <strong>und</strong> deren kompetentes Auftreten zu sichern.<br />

8. Das System der Schulung der Ordnungskräfte der Kirche durch die VP ist mit zu nutzen, das<br />

Kooperationsnetz sehr eng zu gestalten. Die Kontakte sind zur Einflußnahme auf das richtige <strong>und</strong><br />

sachgerechte Handeln der Kräfte <strong>und</strong> Verantwortlichen zu nutzen.<br />

Gen. K. Löffler:<br />

Er verwies auf die Übereinstimmung mit den Ausführungen des Gen. P. Kraußer. Gen. Löffler gab danach<br />

eine kurze Einschätzung zur kirchenpolitischen Lage aus zentraler Sicht.<br />

Ausgehend davon wurden folgende Probleme hervorgehoben:<br />

1. Die örtlichen Staatsorgane haben sich auf bestimmte Schwerpunktveranstaltungen des KT zu<br />

konzentrieren. Es ist dabei erforderlich, die kirchlichen Leute zu finden, die bereit sind, den 06.03.78<br />

realistisch <strong>und</strong> mit Vernunft weiterzuführen 538.<br />

2. In der gegenwärtigen politischen Situation <strong>und</strong> zum jetzigen Zeitpunkt steht ein Verbot des<br />

Kirchentages durch den Staat außerhalb jeder Diskussion.<br />

3. Neben der CDU sind auch die anderen Blockparteien, in denen ebenfalls christliche Bürger tätig sind, in<br />

die Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung des KTK/KT zielgerichtet mit einzubeziehen.<br />

4. Die staatlichen Entscheidungen zu kirchlichen Anträgen sind nicht nur ausschließlich politisch zu<br />

begründen, sondern auch gemäß den geltenden rechtlichen Bestimmungen.<br />

5. In Vorbereitung des KT ist über den amt. Präsidenten des LKA Sachsens zu sichern, daß während des<br />

KTK/KT keine ungenehmigten Druckerzeugnisse vertrieben werden.<br />

6. Es ist jetzt an der Zeit, daß die Veranstaltungen mit dem Landesausschuß zu Fragen der Versorgung,<br />

medizinischen Betreuung usw. mit den notwendigen Vertragsabschlüssen sanktioniert werden sollten,<br />

um dem Landesausschuß <strong>und</strong> der Landeskirche Sicherheit zu geben. Es kann auch damit die Sache<br />

entspannt werden.<br />

zu Punkt 3:<br />

Durch die Vertreter der Sicherheitsorgane wurde das gute Zusammenwirken aller Organe des Bezirkes bei<br />

der Zurückdrängung von Angriffen <strong>und</strong> Provokationen kirchlicher negativer Kräfte <strong>und</strong> Gruppen gegen<br />

die Staats- <strong>und</strong> Rechtsordnung hervorgehoben. [/] Es wurde eine konkrete Situationsanalyse zu den<br />

Vorkommnissen um <strong>und</strong> in der Nikolaikirche gegeben (Friedensgebet) <strong>und</strong> die Ergebnisse der staatlichen<br />

<strong>und</strong> polizeilichen Maßnahmen gewertet. [/] Ausführlich wurden die geplanten kirchlichen Veranstaltungen<br />

(2. Pleißemarsch, Straßenmusikfestival im Stadtzentrum Leipzigs, Umweltgottesdienst in Deutzen,<br />

Umweltmarsch von Wurzen nach Börln) <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen politischen Zielstellungen<br />

537 Hummitzsch vermerkte: „Niko - aussetzen [/] Potential / ASTA weiter abbauen“ (BStU Leipzig AB 3843, 184)<br />

538 Hummitzsch notierte dazu: „Mit dem Kirchentag entscheidet sich die weitere Zusammenarbeit.“ (BStU Leipzig<br />

AB 3843, 185)<br />

265


esprochen <strong>und</strong> Entscheidungsvorschläge, für staatliches Handeln bzw. administratives Vorgehen, gemäß<br />

den gegebenen rechtlichen Möglichkeiten, unterbreitet.<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage der gegebenen Informationsberichte <strong>und</strong> im Ergebnis der Diskussion wurden durch<br />

den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung nachfolgende Festlegungen getroffen:<br />

1. Es bleibt bei der getroffenen Entscheidung <strong>und</strong> der damit gegebenen Zustimmung, daß die<br />

Landeskirche Sachsens ihren KTK/KT in Leipzig durchführen kann.<br />

2. Die politische Arbeit ist in Vorbereitung des KTK/KT mit den Amtsträgern zu verstärken, insbesondere<br />

mit den kirchenleitenden Kräften. Es ist darauf weiter einzuwirken, daß dieser Personenkreis seine<br />

Verantwortung so wahrnimmt, daß der KTK/KT ohne Provokationen verläuft.<br />

3. Mit Bischof Hempel <strong>und</strong> dem Landesausschuß ist weiter im Gespräch zu bleiben. Es ist darauf<br />

hinzuwirken, daß alle inhaltlichen Konzeptionen dem Rat des Bezirkes Leipzig übergeben werden <strong>und</strong><br />

durch die Kirche bei den Foren, Podiumsgesprächen ein entsprechendes Einlaßregime wirksam wird.<br />

4. Zu bestimmten Foren (Marxistisch-christliches Menschenbild“, „Konziliarer Prozeß“, „Thomas-<br />

Müntzer-Vortrag“, „Versöhnung mit den Völkern der Sowjetunion“ usw.) sind Wissenschaftler von<br />

den Hoch- <strong>und</strong> Fachschulen mit einzubeziehen. [/] Gen. Urbaneck <strong>und</strong> Gen. Dr. Reitmann werden<br />

beauftragt, dies zu organisieren.<br />

5. Durch die Räte der Stadtbezirke sind entsprechende Sicherheitskonzeptionen zur Gewährleistung von<br />

Ordnung/Sicherheit in Vorbereitung des KTK/KT zu erarbeiten.<br />

6. Durch Gen. Urbaneck, Gen. Dr. Reitmann <strong>und</strong> Gen. Schnabel ist ein Informationssystem zu erarbeiten<br />

<strong>und</strong> bis Mitte Juni 1989 dem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung zur Bestätigung vorzulegen.<br />

7. Die Vorsitzenden der befre<strong>und</strong>eten Parteien sind auf die derzeitige Situation hinzuweisen mit dem Ziel,<br />

ihre politische Arbeit mit Kirchentagskongreßteilnehmern bzw. Kirchentagsteilnehmern zu verstärken.<br />

Es ist nachzufragen, wieviel Gespräche durch die befre<strong>und</strong>eten Parteien bereits geführt wurden.<br />

Analog ist das auf Kreisebene durchzuführen.<br />

8. Mit den kirchenleitenden Persönlichkeiten ist in Vorbereitung des KTK/KT nochmals eingehend die<br />

Gewährleistung der inneren Ordnung durch Kirche selbst zu beraten.<br />

9. Zur Verhinderung von politischen Provokationen zu den geplanten kirchlichen Veranstaltungen am<br />

04.06.1989 sind die Gespräche mit den zuständigen leitenden kirchlichen Amtsträgern durch die<br />

staatlichen Organe zu führen mit dem Ziel, daß die Kirche ihre Verantwortung zur Verhinderung von<br />

Zwischenfällen konsequent wahrnimmt. [/] Durch das VPKA Leipzig ist mit Pf. Kaden nochmals zu<br />

sprechen. [/] Ihm ist noch einmal die Entscheidung der Untersagung des 2. Pleißemarsches mitzuteilen<br />

<strong>und</strong> Auflagen zur Wahrnehmung seiner Verantwortung zu erteilen. Gleichzeitig sind durch die<br />

entsprechenden Organe, gemäß den rechtlichen Bestimmungen, alle Maßnahmen einzuleiten, die zur<br />

Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung notwendig sind. Verstöße dagegen sind konsequent zu<br />

ahnden.<br />

In den Kreisen Borna <strong>und</strong> Wurzen sind entsprechende Maßnahmen zur Verhinderung von<br />

Provokationen durch die örtlichen Organe selbst einzuleiten.<br />

Es wurde durch den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung festgelegt, daß die nächste Beratung unter<br />

seiner Leitung am 27. Juni 1989, 9.00 Uhr, stattfindet.<br />

170 Notizen aus einer Parteiberatung<br />

Handschriftliche Aufzeichnung vom R. Opitz (?) zur Beratung beim 1. Sekretär der SED-BL am 29.05.1989<br />

(3 Seiten) (StAL BT/RdB 38326).<br />

Beratung Kirchentag<br />

29.5.1989<br />

P. Kraußer<br />

− Landeskirchenleitung hat Dinge nicht in der Hand bzw. will auch nicht.<br />

− Verantwortliche für die einzelnen Veranstaltungen des KT/KTK an einen Tisch holen:<br />

• Klärungen herbeiführen über Inhalt - Teilnehmer - öffentlich oder nur mit Einladungen<br />

266


− Auseinandersetzungen mit den berufsmäßigen Störenfrieden: Führer, Wonneberger, Berger u.a. =<br />

fester in den Griff kriegen<br />

− Montagsgebet - beste Lösung wäre, einige Wochen auszusetzen<br />

− Basel539 : Ziemer (Dresden) ist dort provokativ aufgetreten -<br />

Basisgruppen in den soz. Ländern sollen sich jetzt „vernetzen“.<br />

• dto. Falcke, Erfurt, hat sich in Basel relativ anständig verhalten.<br />

• Mit Genossen in Dresden <strong>und</strong> Erfurt nochmal verständigen.<br />

− Auf Veranstaltung KT/KTK so viel wie möglich Leute hinbringen von CDU/Sächs.<br />

Bruderschaft/Theolog. Fakultät/andere Parteien (LDPD u.a.).<br />

− Gemeinsam mit BDVP [Bezirksverwaltung der Deutschen Volkspolizei] Einweisung der<br />

Ordnungsgruppen <strong>und</strong> Schulungsgruppen nochmal beraten<br />

K. Löffler<br />

− Mit KT entscheidet sich wesentlich das Klima unserer künftigen Arbeit Staat-Kirche<br />

− Basel hat für negative Kräfte (Ziemer) bestimmte Ernüchterung erbracht - Vertreter der Kirchen aus<br />

soz. Ländern haben sich Ziemer nicht angeschlossen bzw. haben den Raum verlassen.<br />

[Blatt 2:]<br />

− Kirchentag West-Berlin - 300 zusätzl. Teilnehmer aus DDR<br />

• gemeinsame Arbeit E.H. [Honecker] - Schönherr in Vorbereitung des Dokumentes 6.3.1978<br />

− 11.6.89 - Einweihung Dom Greifswald<br />

− keinen Kirchenkampf herbeiführen = außerhalb jeglicher Diskussion<br />

− Auf ihre Verantwortung verweisen für KT/KTK - sie entscheiden damit das künftige Verhältnis.<br />

− Bei manchen Dingen nicht die pol[itischen] Aspekte in den Vordergr<strong>und</strong> stellen - Z.B. Zeltplatz;<br />

Begrenzung aus Gründen Hygiene/Ges<strong>und</strong>erhaltung usw.<br />

− Zugang zu Veranstaltungen durch Ordnungsgruppen der Kirche selbst gewährleisten<br />

− Fragen Vobi [Volksbildung] - nach IX. Päd. Kongreß 541 mit den Betreffenden nochmal neu beraten.<br />

M. Hummitzsch<br />

− Nikolaikirche - Entwicklung konnte bisher nicht aufgehalten werden - im Gegenteil - weiter eskaliert.<br />

− Keine schweigenden Märsche von Antragstellern dulden - [/] auf Präsenz uniformierter Polizei kann<br />

nicht verzichtet werden.<br />

Gen. Kienberg<br />

− von unten her arbeiten - mit Kirchenvorständen -<br />

Breite der Arbeit muß organisiert werden.<br />

[Blatt 3:]<br />

− Pleißemarsch: versuchen, die beiden Gottesdienste zeitgleich durchführen<br />

G. Straßenburg<br />

− [Wort nicht zu entziffern - „Kamera“ ?] verändert<br />

− was in L[eipzig] möglich = republikbekannt<br />

H. Schumann<br />

− [Wort nicht zu entziffern ...]<br />

1. Aktivitäten KT verstärken: Mit Leitern von Veranstaltungen über ihre V. reden 543<br />

539 Die Europäische Ökumenische Versammlung „Frieden in Gerechtigkeit“, von der Konferenz der Europäischen<br />

Kirchen <strong>und</strong> der Europäischen Bischofskonferenz einberufen, fand vom 15.-21. Mai 1989 in Basel statt. Ihr<br />

waren die drei Ökumenischen Versammlungen für Gerechtigkeit, Frieden <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung in<br />

Dresden (12.-15.2.1988, 26.-30.4.1989) <strong>und</strong> Magdeburg (8.-11.10.1988) vorausgegangen.<br />

540 A. Schönherr hatte in einem Brief an Honecker um die Teilnahme von 300 Gemeindegliedern am Westberliner<br />

Kirchentag 1989 gebeten. Dieser Bitte war Honecker gefolgt <strong>und</strong> hatte die entsprechenden Stellen ausdrücklich<br />

angewiesen, daß diese Ausreisen möglich gemacht werden sollen (SAPMO-BArch IV B 2/14/57, 74).<br />

541 Der IX. Pädagogische Kongreß unter Regie M. Honeckers fand Mitte Juni 1989 statt.<br />

542 Das gleiche Ziel hatte Mielke <strong>und</strong> teilte dies am gleichen Tag, 16.15 Uhr, Hummitzsch mit (BStU Leipzig AB<br />

3843, 188).<br />

542<br />

540<br />

267


2. Befre<strong>und</strong>ete Parteien nochmal aufmerksam machen<br />

3. RdK’e/[Abkürzung nicht zu entziffern...]-Kabinette einbeziehen<br />

4. Exakte Programme von Cieslak über alle Programme<br />

5. Podiumsgespräche - Fragen von uns vorbereiten<br />

6. Pleißemarsch 4.6.89:<br />

Beide Kirchenleitungen wegen Gleichzeitigkeit der [Abkürzung nicht zu entziffern - vermutlich:<br />

Gottesdienste] nochmal konsultieren - wenn nicht, dann<br />

Gespräch mit Kaden<br />

Mit VP [oder VK] konzentrierte Personenbewegung verhindern<br />

[Folgender Text am Rand in kleinerer Schrift:]<br />

− kein Bischofsgespräch mehr<br />

544<br />

− Kirchentag [in steno:] kann stattfinden<br />

keinen Raum mehr<br />

− 3 Varianten Montagsgebete [?]<br />

1. keins mehr<br />

2. Pause<br />

3. verlegen<br />

− 11.6. Musikanten-Festival<br />

• Pressefestival<br />

• agra - [stenogr. Worte nicht zu entziffern]<br />

171 Ereignisbericht<br />

Protokoll von R. Ziegner, C. Bornschlegel <strong>und</strong> S. Vierling über „die Vorgänge vor der Nikolaikirche nach<br />

dem Friedensgebet am 29.05.1989“ (ABL H 1).<br />

Nach dem Friedensgebet am 29.05.1989 kam es zu einer Ansammlung von am Friedensgebet beteiligten<br />

Personen. [/] Die Polizei, die wie immer zahlreich erschienen war, forderte die Leute auf, den<br />

Nikolaikirchhof zu verlassen, weil eine Gefährdung von Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit bestünde. [/] Das war<br />

aber mit Sicherheit nicht der Fall! [/] Es wurden weder Passanten noch der Verkehr behindert.<br />

Deshalb hielten wir es nicht für nötig, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Ein weiterer Gr<strong>und</strong> dafür war<br />

der anmaßende Ton der „Staatsbeamten“, die sich drängelnd <strong>und</strong> schubsend einen Weg durch die Menge<br />

bahnten. [/] Kurz nach der ersten Aufforderung kam es zur ersten Verhaftung (Udo Hartmann, Technologe<br />

aus Espenhain). [/] Die Verhaftung erfolgte, ohne daß eine absichtliche Provokation vorausgegangen<br />

wäre. [/] Deshalb blieben wir nun weiter vor der Nikolaikirche stehen bzw. setzten uns auf den Boden.<br />

Daraufhin kamen ca. 25 Polizisten zielstrebig auf uns zu <strong>und</strong> forderten uns auf, uns zu erheben. Dieser<br />

Aufforderung kamen wir nach. [/] Silke Vierling wurde dabei der Arm nach hinten gebogen, <strong>und</strong> auch<br />

sonst gingen die Beamten nicht gerade zimperlich mit den Leuten um. [/] Nun wurden uns gemeinsam mit<br />

9 anderen Leuten die Personalausweise abgenommen. Danach mußten wir auf einen LKW steigen <strong>und</strong><br />

wurden in das VPKA in der Dimitroffstraße gefahren. [/] Dort wurden wir in ein Zimmer geführt, in dem<br />

dann ungefähr 14 Personen auf ihre Befragung warteten. [/] Wir wurden einzeln herausgerufen <strong>und</strong> von<br />

Beamten der Kriminalpolizei befragt. [/] Während des Wartens war es uns nicht erlaubt, uns zu<br />

unterhalten oder zu rauchen.<br />

Als Rainer Müller der Befragung zugeführt werden sollte, kam es zu einem Zwischenfall. Als Rainer<br />

Müller am Fenster vorbei geführt wurde, rief er laut: „Hier bin ich!“ Der am Fenster stehende Polizist <strong>und</strong><br />

zwei andere Beamte stürzten auf ihn zu, zogen ihn an den Haaren <strong>und</strong> über einen Tisch <strong>und</strong> schleiften ihn<br />

aus dem Zimmer 545.<br />

Auf die Frage, was er denn getan hätte, bekamen wir zur Antwort, er hätte einen<br />

543 Hummitzsch vermerkte dazu: „Keine Überbewertung von kirchl. Zusagen“ (BStU Leipzig AB 3843, 186)<br />

544 D.h., bis zum Kirchentag fand kein Bischofsgespräch mehr statt.<br />

545 R. Müller wurde danach von vier Kriminalpolizisten im Keller zusammengeschlagen. Nach seiner Entlassung<br />

268


Genossen der VP tätlich angegriffen!<br />

Die Behandlung während der Befragung war korrekt. Danach wurden wir wieder unabhängig voneinander<br />

in das Zimmer geführt, wo wir wieder warten mußten. Von dort aus wurden wir dann in ein Zimmer<br />

geführt, wo uns ein Beamter dann die Ordnungsstrafverfügung aushändigte: [/] Ramona Ziegner 300.00<br />

M [/] Silke Vierling 500.00 M <strong>und</strong> [/] Carola Bornschlegel 500.00 M 546.<br />

Zwischen 21.00 Uhr <strong>und</strong> 21.30 Uhr wurden wir drei dann unabhängig entlassen.<br />

172 Protokollnotiz aus dem ZK<br />

Auszug aus dem Vermerk zur Sitzung bei Jarowinsky mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen <strong>und</strong><br />

Mitgliedern der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK der SED (Baron, Kraußer) am 30.05.1989, zum<br />

Kirchentag in Leipzig. Vermerk wurde von Kraußer unterzeichnet (SAPMO-BArch IV B 2/14/9).<br />

1. Kirchentag Leipzig<br />

Darauf achten, daß die Abschlußveranstaltung so konzentriert wie möglich abgewickelt wird; [/] Die<br />

Sonderzüge zusammengedrückt (zeitlich) werden. [/] Wichtig sind jetzt entsprechende Maßnahmepläne<br />

für die Eröffnungsveranstaltung, das Rahmenprogramm sowie die Abschlußveranstaltung. [/] Der 27. 6.<br />

als nächster Beratungstermin für die Führungsgruppe ist nicht akzeptabel. Es sollte alles beim 20. 6.<br />

bleiben 547. [/] Die progressiven Kräfte in der Kirche, die befre<strong>und</strong>eten Parteien548<br />

sind noch einmal zu<br />

aktivieren, auch die Theologische Fakultät. [/] Mit den Genossen der Sicherheit ist noch einmal das<br />

Hinterland des Montagsgebetes auszuleuchten, sind daraus Argumente für das Gespräch mit den<br />

Verantwortlichen abzuleiten. [/] Gespräche sind jetzt auch mit den Verantwortlichen für die einzelnen<br />

Veranstaltungen unumgänglich.<br />

Verantwortlich: Genosse Löffler [/] Genosse Kraußer<br />

173 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />

Xerokopie des Briefs von Landesbischof Hempel vom 31.05.1989 an den Vorsitzenden des RdB Leipzig, in<br />

dem er die Entscheidung des Kollegium des LKA bezüglich der Friedensgebete mitteilte. Das Exemplar trägt<br />

einen Eingangsstempel des RdB vom 07.06.1989 (StAL BT/RdB 38326 <strong>und</strong> in: StAL BT/RdB 21459, BArch<br />

O-4 973).<br />

Sehr geehrter Herr Opitz!<br />

Gegen Ende unseres Gesprächs am vergangenen Donnerstag, dem 25. Mai, habe ich Ihnen einen Bescheid<br />

zugesagt. [/] Wir haben im Kollegium des Landeskirchenamtes noch einmal die Vorgänge um Nikolai 549<br />

beraten <strong>und</strong> mit den von den Ereignissen betroffenen Superintendenten Rücksprache gehalten. Wir<br />

nehmen Ihre Sorgen sehr ernst <strong>und</strong> stimmen Ihnen zu, daß es dringend notwendig bleibt, die<br />

verständlichen <strong>und</strong> unverständlichen Reaktionen von Gruppen auf die Lebensfragen unserer Zeit zu<br />

deuten <strong>und</strong> zu beeinflussen. So habe ich mit den verantwortlichen Pfarrern <strong>und</strong> Superintendenten<br />

festgelegt, daß das Friedensgebet in der Nikolaikirche von der Auslegung biblischer Texte <strong>und</strong> dem<br />

Gespräch über den konziliaren Prozeß bestimmt bleibt. Das seit dem 1. Mai massierte Auftreten von<br />

ließ er sich die Verletzungen von einem Arzt bescheinigen, die Erstattung einer Anzeige wurde ihm jedoch<br />

verwehrt (Bericht F.W.S[onntag], in: Ost-West-Diskussionsforum Nr. 8/9, 15).<br />

546 Die HA IX hatte am 26.05.1989 entschieden, daß EV nicht möglich seien. Am Morgen des 29.05. fand eine<br />

Beratung leitender Stasi-Offiziere bei Hummitzsch statt. Dabei wurde aufgr<strong>und</strong> des Gesprächs mit Bischof<br />

Hempel am 25.05. entschieden: „Keine Poliz. Aktion vorher (VP-Präsenz) [/] Kamera weg [/ Abt.] Inneres<br />

selektieren [/] Parkplatz vollstellen [/] Aufrufer erkennen [/] Marsch unterbinden“ (BStU Leipzig AB 3843, 179).<br />

547 Die Führungsgruppe tagte am 19.06. in Leipzig (SAL RdS, ZR Nr. 8951; BStU Leipzig AB 1071).<br />

548 D.h. alle Parteien, die in der DDR zugelassen waren -besonders jedoch die CDU.<br />

549 In der Kopie, die sich unter den Unterlagen der AG Kirchenfragen beim ZK befindet, ist „Vorgänge um Nikolai“<br />

unterstrichen (SAPMO-BArch IV B 2/14/104).<br />

269


Polizeieinheiten macht es uns aber nach Bedenken aller Umstände <strong>und</strong> Folgewirkungen unmöglich, das<br />

Friedensgebet jetzt zu verlegen oder abzusetzen 550 . Wir behalten die weitere Entwicklung im Blick. Die<br />

Verweigerung einer Genehmigung des Pilgerweges am 4. Juni haben wir zur Kenntnis genommen. Die<br />

Zusammenkünfte in der Paul-Gerhardt-Kirche <strong>und</strong> später in der Reformierten Kirche sollen unter der<br />

Verantwortung des Stadtjugendpfarramtes Leipzig <strong>und</strong> der beiden Superintendenten stattfinden. In der<br />

Paul-Gerhardt-Kirche wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß ein gemeinsamer Pilger-Weg nicht<br />

stattfinden kann. Mit dem Leiter der Leipziger Spielgemeinde wurde gesprochen. Die Einladung von<br />

Musikgruppen 551 hat mit dem Auftrag der Spielgemeinde nichts zu tun. In einem Gespräch beim Rat des<br />

Kreises Borna vor unserer gemeinsamen Beratung wurde Herrn Superintendent Vollbach erklärt, daß ein<br />

gemeinsamer Weg von den Kirchen in Borna nach Deutzen nicht genehmigt wurde, obwohl von<br />

kirchlichen Dienststellen zugesichert war, daß dieser Weg unsererseits begleitet <strong>und</strong> nach bisherigen<br />

Erfahrungen ausreichend abgesichert werden könnte. Ebenso wurde in zwei Gesprächen mit Herrn<br />

Superintendent Schulze die geplante Veranstaltung am 11. Juni angesprochen. Nach unseren<br />

Beobachtungen sind bisher Pilgerwege in großer Disziplin verlaufen. Es ist aber immer unsere Übung<br />

gewesen, die staatliche Entscheidung zu respektieren. Die von uns geplanten Veranstaltungen stellen nicht<br />

Ruhe <strong>und</strong> Ordnung in der Stadt in Frage. Aber die objektiven Veränderungen im Leben der Menschen<br />

verlangen seelsorgerliche Begleitung. Auch gemeinsam gelaufene Wege dienen dem entlastenden<br />

Gespräch. Wir bedauern, sehr geehrter Herr Vorsitzender, daß die Situation zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche in<br />

Leipzig gegenwärtig kompliziert geworden ist. Im Rahmen des von unserer Überzeugung <strong>und</strong> unserer<br />

Kirchenverfassung her Möglichen werden wir tun, was wir können, eine Eskalation zu vermeiden. Ich<br />

erbitte von Ihnen das Analoge.<br />

Mit vorzüglicher Hochachtung [/ gez.] Johannes Hempel<br />

174 Kirchenbucheintragung<br />

Eintrag aus dem Gästebuch VI der Nikolaikirche vom 12.06.1989 (Nikolaikirchgemeinde).<br />

Diese Kirche strahlt Ruhe <strong>und</strong> Frieden aus, für den Menschen ein Ort der Besinnung. Mögen die<br />

Menschen sich aus diesem Haus Kraft holen für den Alltag <strong>und</strong> möge es ihnen die Augen öffnen, um zu<br />

erkennen, was gut <strong>und</strong> böse ist, <strong>und</strong> damit sie nicht an der zweifelhaften Wahrheitsliebe unserer Obrigkeit<br />

zerbrechen <strong>und</strong> den Mut verlieren, hier im Land zu leben. Mögen sie soviel Selbstvertrauen aus dieser<br />

Kirche mitnehmen, daß sie sich mutig der Lüge in den Weg stellen, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten.<br />

Wenn alle Menschen sich auf ihre Rechte als Mensch besinnen <strong>und</strong> dafür eintreten, bedarf es nur für eine<br />

kleine Gruppe Ausreiseanträge. Dieser Bach der Hoffnung, der hier im Haus lebendig ist, muß zum Strom<br />

anschwellen. Dann werden die Mauern fallen, <strong>und</strong> die Welt wird sich öffnen. Wir werden gleichberechtigt<br />

in unserem europäischen Haus wohnen mit offenen Türen <strong>und</strong> sehen am Horizont eine saubere Umwelt.<br />

[/] 12.6.89 [... Unterschrift nicht zu entziffern]<br />

175 SED-Information<br />

Information von der SED-Stadtleitung Leipzig (H. Schnabel) vom 13.06. über „das ordnungswidrige<br />

Verhalten von Teilnehmern nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche am 12.06.1989“ 552 . Die<br />

Information wurde von H. Schnabel unterzeichnet (StAL SED A 4972).<br />

550 Diese Argumentation des Bischofs spielt in der Führungsgruppe beim 1. Sekretär der SED-BL am 19.06.1989<br />

eine wichtige Rolle. So verwies H. Schnabel darauf, daß „Art+Weise [der] Präsens“ zu „überdenken“ sei<br />

(Mitschrift Sabatowska - SAL RdS, ZR, Nr. 8951, 30a ähnlich schon 27).<br />

551 für das Straßenmusikfestival am 10.06.1989<br />

552 Ein ähnliches Schreiben (Chiffriertes Fernschreiben Nr. 280) sandte der 2. Sekretär der SED-BL Leipzig, H.<br />

Hackenberg, an das ZK der SED, Abteilung Parteiorgane, Sektor Parteiinformation, mit Bitte zur Information an<br />

den Sicherheitschef Herger (StAL SED A 4972).<br />

270


Durch Information wurde bekannt: [/] Am 12.6.89 fand in der Zeit von 17.00 bis 17.55 Uhr in der<br />

Nikolaikirche mit ca. 600 Teilnehmern 553 das Friedensgebet statt. Nach der Veranstaltung verließen die<br />

Teilnehmer bis gegen 18.12 Uhr das Objekt. Auf dem Vorplatz verblieben ca. 250 Personen, die in<br />

kleinen Gruppen diskutierten <strong>und</strong> der Anschein gegeben war, daß sich diese auflösten. In Höhe des<br />

Schumachergäßchens formierten sich ca. 50 Personen mit dem Ziel, zum Markt zu demonstrieren.<br />

Zur Verhinderung einer Demonstration wurden durch die DVP Sperrhandlungen in Höhe der<br />

Reichsstraße/Schumachergäßchen durchgeführt. Aufforderungen über Lautsprecher wurde nur zum Teil<br />

nachgekommen, <strong>und</strong> nach der 3. Aufforderung mußten Zuführungen einer Personengruppe vorgenommen<br />

werden wegen aktivem Widerstand durch Unterhaken 554 . Auflösetrupps der DVP brachten die restliche<br />

Ansammlung zur Auflösung. 19.20 Uhr wurde der Einsatz abgeschlossen. An Zuführungen gab es 27,<br />

wobei 11 Personen aus anderen Kreisen <strong>und</strong> Bezirken waren. An gesellschaftlichen Kräften waren 34<br />

Genossen zum Einsatz gekommen.<br />

176 Parteiversammlungsrede<br />

Auszug aus dem Protokoll einer geschlossenen Veranstaltung der SED-Stadtleitung Leipzig am 15.06.1989 in<br />

der SED-Bezirksleitung Leipzig 555 . Die Eröffnung <strong>und</strong> die Schlußbemerkung sprach der 2. Sekretär der<br />

SED-Stadtleitung. Referent der Parteiaktivtagung war der für Propaganda zuständige Sekretär der SED-<br />

Bezirksleitung J. Pommert. Das Referat trug den Titel „Ausführung zu aktuellen Fragen der politischen<br />

Massenarbeit der Partei“ (StAL SED N 932).<br />

[H. Schnabel, 2. Sekretär der SED-Stadtleitung:] Liebe Genossinnen <strong>und</strong> Genossen!<br />

Das Sekretariat der Stadtleitung unserer Partei entschloß sich zu dieser heutigen Beratung, um eine<br />

einheitliche Orientierung für alle Leitungen der Partei, der staatlichen Organe <strong>und</strong> der<br />

Massenorganisationen für die Verwirklichung der Aufgaben zu geben, die sich aus dem Beschluß des<br />

Sekretariats des Zentralkomitees vom 31. Mai 1989 zur Auswertung der 8. Tagung des Zentralkomitees<br />

der SED ergeben. Ich begrüße Euch im Auftrag des Sekretariats dazu alle recht herzlich. Unser besonderer<br />

Gruß gilt Genossen Jochen Pommert, Sekretär der SED-Bezirksleitung, der im Rahmen unserer<br />

Zusammenkunft zu einigen aktuellen Fragen der politisch-ideologischen Arbeit, der Massenarbeit der<br />

Partei sprechen wird. An unserer Beratung nehmen die Mitglieder des Sekretariats der Stadtleitung, der<br />

Sekretariate der Stadtbezirksleitungen, Genossen der Parteileitungen der bewaffneten Organe, der<br />

staatlichen Organe <strong>und</strong> aus Parteiapparaten teil. Gleichzeitig begrüßen wir in unserer Mitte die<br />

Vorsitzenden der Massenorganisationen unserer Stadt <strong>und</strong> Funktionäre der Nationalen Front der DDR. [...<br />

553 Das MfS meldete „ca. 650 Besucher“ an Honecker, Krenz, Jarowinsky, Dickel, Kraußer u.a. (Information Nr.<br />

297/89 vom Leiter des MfS, Mielke - BStU ZAIG 3748). Mit der VVS o008-46/89 teilte Mielke nach dieser<br />

Demonstration den Leitern der BV des MfS mit, daß es zu einer „erheblichen Zunahme von Versuchen der<br />

Organisation <strong>und</strong> Durchführung öffentlichkeitswirksamer provokatorisch-demonstrativer Handlungen“<br />

gekommen sei (Pleißemarsch, Wahlbeobachtung <strong>und</strong> Gegendemonstration, Straßenmusikfestival...). Es werden<br />

Umgruppierungen der MfS-Kräfte befohlen, um Demonstrationen erfolgreich zu verhindern (s. Schreiben des<br />

Leiters der Magdeburger BV in: Pechmann/Vogel 147-153).<br />

554 Das MfS teilte mit: „Bei den Personen, die den wiederholten Aufforderungen nicht nachkamen, handelt es sich<br />

offenk<strong>und</strong>ig um solche, die durch ihre demonstrierten Handlungs- <strong>und</strong> Verhaltensweisen (u.a. Buhrufe, lautes<br />

Gelächter, provokatorische Annäherung an die gebildete Absperrkette) eine Konfrontation herbeiführen wollten.<br />

Ein Teil dieser Personen widersetzte sich bewußt den Aufforderungen in der Erwartung, dadurch schneller die<br />

Genehmigung zur ständigen Ausreise zu erhalten.“ (Information Nr. 297/89 vom Leiter des MfS, Mielke - BStU<br />

ZAIG 3748)<br />

555 Am gleichen Tag forderte der Stasi-BV-Chef die Leiter der KDs auf, die 1. Sekretäre der SED-Kreisleitungen<br />

über die oppositionellen Gruppierungen zu informieren. „Anliegen der Informierung der 1. Sekretäre der Bezirks-<br />

<strong>und</strong> Kreisleitungen der SED ist es, unter Führung der Partei die Wirksamkeit des Vorgehens mit den Partnern des<br />

Zusammenwirkens <strong>und</strong> den gesellschaftlichen Kräften gegen feindliche, oppositionelle <strong>und</strong> andere negative<br />

Kräfte sowohl auf Bezirks- als auch auf Kreisebene weiter zu erhöhen <strong>und</strong> zu diesem Zweck die erforderlichen<br />

verbindlichen Festlegungen zu treffen.“ (VVS-o006 58/89 - ABL H 8).<br />

271


es folgen noch 3 Seiten Begründungen für die Veranstaltung]<br />

[J. Pommert, Sekretär der SED-Bezirksleitung:] Liebe Genossinnen <strong>und</strong> Genossen!<br />

Von politischen, sozialen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Realitäten <strong>und</strong> ihrem schändlichen Mißbrauch durch<br />

einige wenige soll hier die Rede sein. [... 9 Seiten über den „entwicklungsgeschichtlichen“ Unterschied<br />

zwischen der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>und</strong> der DDR] Seit nunmehr 40 Jahren, das muß hinzugefügt werden, ist<br />

unsere Politik den aggressiven imperialistischen, vom Antikommunismus verblendeten Machthabern<br />

kapitalistischer Länder, vor allem aber in der BRD, ein ernsthaftes Hindernis, ihren Herrschaftsgelüste in<br />

Europa nachzukommen, <strong>und</strong> weil sie das nicht konnte, haben sie [in] einem schroffen Gegensatz zum<br />

Potsdamer Abkommen den Separat-Staat BRD als Speerspitze gegen den Sozialismus aus der Taufe<br />

gehoben. Die DDR als humanistische Alternative zum kapitalistischen System entstanden, paßte ihnen<br />

damals vor 40 Jahren <strong>und</strong> paßt ihnen heute nicht in ihr politisches <strong>und</strong> vor allen Dingen in ihr<br />

Machtkonzept. [/] Solange 556 unsere Arbeiter-<strong>und</strong>-Bauern-Macht existiert, ist den politischen Gegnern im<br />

Gr<strong>und</strong>e genommen jedes Mittel recht, um der DDR <strong>und</strong> dem Sozialismus zu schaden, Knüppel zwischen<br />

die Beine zu werfen, die Entwicklung aufzuhalten oder gar zurückzudrehen. Damit müssen wir seit<br />

Jahrzehnten leben. Schon immer haben diese restaurativen Kräfte Leute mobilisiert <strong>und</strong> großgezogen,<br />

unterhalten <strong>und</strong> ausgehalten, die in ihrem Interesse sich zu schäbiger Arbeit gegen den Sozialismus<br />

mißbrauchen ließen <strong>und</strong> mißbrauchen lassen. Und von denen gibt es auch einzelne in der Stadt, andere,<br />

die sich hier versammeln, obwohl sie in vielen Bezirken unseres Landes wohnen. Personen, die<br />

egoistische antisozialistische Interessen verfolgen, ein subjektivistisches Zerrbild vom Sozialismus<br />

erfinden <strong>und</strong> permanent gegen Recht <strong>und</strong> Gesetz unseres Landes vorgehen. Im schroffen Widersatz zur<br />

Wirklichkeit <strong>und</strong> zur Realität <strong>und</strong> zu den Möglichkeiten, die auch sie haben, schrecken sie nicht davor<br />

zurück, die Errungenschaften des Sozialismus, die von uns allen unter großen Mühen, auch Opfern<br />

erreicht wurden, zu negieren, in den Dreck zu ziehen <strong>und</strong> zu verunglimpfen. Vorsätzlich stören sie zu<br />

diesem Zwecke die öffentliche Ordnung uns Sicherheit. Sie wollen soziale Unruhe verbreiten <strong>und</strong> Zweifel<br />

an den Werten des Sozialismus schüren. Gewollt oder ungewollt, das ist uninteressant. Objektiv stehen sie<br />

auf sozialismus-feindlichen Positionen in trauter Gemeinsamkeit mit der anderen Seite der Barrikade.<br />

Wir wissen sehr wohl, das Kohlzitat sollte nur als jüngster Beweis stehen, daß unser politischer Gegner<br />

verstärkt im Rahmen seines subversiven Vorgehens gegen uns seine Versuche verstärkt, eine sogenannte<br />

innere Opposition zu schaffen <strong>und</strong> auch zu versuchen, sie zu legalisieren, solche Kräfte für gegen die<br />

Republik gerichtete Aktionen einzuspannen <strong>und</strong> auch, um eine politische Untergr<strong>und</strong>tätigkeit zu<br />

inspirieren <strong>und</strong> zu organisieren mit dem Ziel, ein Druckpotential zur Aufweichung, Zersetzung <strong>und</strong><br />

politischen Destabilisierung der sozialistischen Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung zu schaffen. Dazu<br />

werden auch der KSZE-Prozeß <strong>und</strong> seine Dokumente schamlos mißbraucht. Ich will dazu nur einen Satz<br />

sagen. Von keiner Schlußakte, von keiner Menschenrechtskonvention wird nationale Gesetzgebung außer<br />

Kraft gesetzt. Dieses souveräne Recht jedes Staates nimmt unsere Republik für sich in Anspruch als<br />

Ausdruck, daß es ein Völkerrechtssubjekt gleicher Qualität ist wie jeder andere Staat dieser Welt, der sich<br />

als solcher versteht. Zu diesem Mißbrauch, zu dieser Ermunterung, gegen den Sozialismus aufzutreten,<br />

ihn zu destabilisieren, ihn in Mißkredit zu bringen, zählen natürlich auch das, was der USA-Präsident<br />

Bush von sich gab, als er jüngst in der B<strong>und</strong>esrepublik Glasnost für Ost-Berlin verlangte. Oder was<br />

Kanzler Kohl in seiner jüngsten Regierungserklärung von sich gab oder wie schon erwähnt in seiner<br />

jüngsten Montagsrede. Diese Zielsetzung machen sich die gegen uns auftretenden Personen <strong>und</strong> Gruppen<br />

liebend gern zu eigen oder stellen sich in den Dienst solcher antisozialistischen Politik.<br />

In der Stadt Leipzig vor allem, aber auch im Bezirk sind entsprechend den Orientierungen der<br />

imperialistisch aggressiven Zentren zum Teil seit längerem existierende Personengruppen <strong>und</strong> Personen<br />

mit feindlichen <strong>und</strong> oppositionellen Handlungen verstärkt dazu übergegangen, öffentlichkeitswirksame<br />

Handlungen zu organisieren, ihren Einfluß auszuweiten, die staatliche Ordnung zu unterlaufen, um so<br />

öffentliche Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung aufzuweichen, zu stören. Wie eh <strong>und</strong> je leisten ihnen dabei aktive<br />

Schützenhilfe die reaktionären Kräfte <strong>und</strong> die in ihrem Sold stehenden Medien, namentlich vom Boden<br />

556 Dieser Absatz <strong>und</strong> weitere Abschnitte der Pommert-Rede fanden nahezu wörtlich ihre Wiederholung in dem<br />

Einleitungsreferat von H. Fröhlich (1. Sekretär der SBL Leipzig-Mitte) vor der SED-Stadtbezirksleitungssitzung<br />

Leipzig-Mitte am 14.07. (Protokoll der Sitzung S. 3-8, StAL SED N 2571)<br />

272


der BRD <strong>und</strong> von Westberlin aus. Im verhängnisvollen Wechselspiel der antisozialistischen Kräfte<br />

übernehmen die bürgerlichen Medien der BRD einen besonders unheilvollen Part des politischen<br />

Brunnenvergifters in unserer Republik <strong>und</strong> versuchen permanent, unsere internationale Autorität zu<br />

schädigen wie auch antisozialistische Auftritte regelrecht zu organisieren. [/] Es bleibt bei der alten<br />

Klassenweisheit <strong>und</strong> bei unserem parteilichen Standpunkt, Massenmedien sind Klassenmedien, <strong>und</strong> sie<br />

vertreten immer die Interessen der herrschenden Klasse. Wessen Interessen können wohl die Medien der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland vertreten? Die der herrschenden Klasse, der Bourgeoisie, des Revanchismus,<br />

des Antikommunismus. Antikommunistisch ausgerichtet, setzen sie sich willkürlich über völkerrechtliche<br />

Festlegungen hinweg <strong>und</strong> übertreten die Gesetze der DDR, indem sie die großzügigen<br />

Akkreditierungsbestimmungen mißachten. Sie verbreiten in großer Zahl Lügen <strong>und</strong> übelste Hetze,<br />

belasten damit die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten <strong>und</strong> ihre weitere Normalisierung. Ihr<br />

Strickmuster ist zu bekannt, als daß es uns beirren könnte. Denn wie immer, wo antisozialistische<br />

Gruppierungen auftreten, sind auch Mikrofone <strong>und</strong> Kameras der BRD-Medien ganz zufällig an Ort <strong>und</strong><br />

Stelle. Gegenüber <strong>und</strong> überall dort, wo Gesetze der DDR verletzt werden, wenn die öffentliche Ordnung<br />

gestört werden soll, wenn für sie Möglichkeiten gegeben sind, gegen die DDR öffentlich zu Felde zu<br />

ziehen. Und sollte das nicht möglich sein, dann ist die Sache so arrangiert, das im rechten Augenblick rein<br />

zufällig der Amateurfilmer mit schußbereiter Kamera auftaucht. Und auf dem Weg in die Redaktionen<br />

<strong>und</strong> Funkhäuser nach West-Berlin, Mainz <strong>und</strong> Hamburg vollzieht sich dann eine ganz erstaunliche<br />

Metamorphose. Aus Westreportern entpuppen sich organisatorische Helfer der hier im Lande aufgebauten<br />

Regimekritiker. Aus Informationsberichten werden Bürgerrechtspamphlete antisozialistischer Haltungen,<br />

<strong>und</strong> aus notorischen Störenfrieden hier zu Lande wollen sie Leute aufbauen <strong>und</strong> hochstilisieren, die sie mit<br />

dem Begriff der Freiheitsapostel schmücken. Und so prangt es dann auf der Seite 1 bei „Bild“, tönt es von<br />

Rias <strong>und</strong> im Deutschlandfunk, <strong>und</strong> ARD <strong>und</strong> ZDF giften fleißig mit.<br />

In unserer Stadt gibt es nicht wenige Genossinnen <strong>und</strong> Genossen, auch Bürger, die uns danach Fragen<br />

stellen. Zum Beispiel auch, was es zu bedeuten hat, wenn sich im Zentrum unserer Stadt Menschen<br />

demonstrativ versammeln, um Ruhe <strong>und</strong> Ordnung zu stören <strong>und</strong> letztlich, denn darauf läuft es immer<br />

wieder hinaus, die Präsedenz [sic!] der Staatsmacht zu provozieren, herauszufordern. Wer sind diese<br />

Leute? Es sind Menschen erst einmal, denen unser sozialistisches Programm unseres sozialistischen<br />

Entwicklungsweges zu unsozial ist, denen unsere Bildungspolitik zu inhaltsreich <strong>und</strong> zu politisch ist,<br />

denen Sicherheit <strong>und</strong> soziale Geborgenheit in unserem Staate nichts bedeuten, denen selbst unsere<br />

Friedenspolitik nichts sagend ist. Die sie schmähen <strong>und</strong> verunglimpfen. Alles mit dem Ziele, sich eigene<br />

Organisationsstrukturen schaffen zu können. Es sind also Menschen, denen der ganze Sozialismus in den<br />

Farben der DDR nicht paßt, die an allem etwas auszusetzen haben, die vor allen Dingen durch Nörgeln<br />

<strong>und</strong> Mißmachen [sic!] sich auszeichnen. Ihnen allen ist aber eigen, daß sie immer mit großer<br />

Selbstverständlichkeit die Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaft, soweit sie materieller Natur<br />

sind, in Anspruch nahmen <strong>und</strong> in Anspruch nehmen. Einige dieser Leute haben den Antrag auf ständige<br />

Ausreise aus der DDR gestellt, also Bürger, die ihrem Staat heute die kalte Schulter zeigen <strong>und</strong> morgen<br />

den Rücken kehren wollen. Für sie ist Krawall dabei treibendes Motiv. Unter jenen, die dort auftreten,<br />

sind auch Bürger, die keiner geregelten Arbeit nachgehen, also auf Kosten <strong>und</strong> auf Ergebnissen jener<br />

Gesellschaft leben, denen sie verteufeln [sic!]. Einige von ihnen sind zuvor bereits straffällig gewesen.<br />

Wie schon gesagt, ein großer Teil der provokativsten Elemente hat seinen Wohnsitz nicht in unserer Stadt,<br />

sondern kommt aus den verschiedensten Gegenden unseres Landes nach Leipzig. Wie man sieht, wird<br />

sehr gezielt vorgegangen. [/] Leipzig soll gegenwärtig zum Tummelplatz dieser Elemente werden, gezielt<br />

wird auf die DDR, den Sozialismus <strong>und</strong> Partei <strong>und</strong> ihre Politik [sic!].<br />

Der 557 weitaus größere Teil der zum aktiven Kern gehörenden Personen verfügt über eine abgeschlossene<br />

theologische Ausbildung bzw. befindet sich in der theologischen Fachausbildung, unter ihnen auch solche,<br />

die aus disziplinarischen oder leistungsmäßigen Gründen von theologischen Bildungseinrichtungen der<br />

Kirche, manche zum Teil zeitweilig, exmatrikuliert wurden. Manche machen auch so etwas wie ein<br />

Fernstudium, damit sie mehr Zeit haben für konspirative antisozialistische Tätigkeiten. Teile dieses<br />

557 Dieser Absatz wurde nahezu wörtlich aus einer Stasi-Information vom 13.06.1989 entnommen (Zum Wirken<br />

feindlicher, oppositioneller <strong>und</strong> anderer negativer Kräfte im Bezirk - ABL H 8)<br />

273


aktiven Kerns sind als Angehörige kirchlicher Einrichtungen tätig oder Studenten des theologischen<br />

Seminars der Sektion Theologie der KMU oder einiger naturwissenschaftlicher Bereiche. Einzelne sind<br />

als Hilfspersonal in kirchlichen Ges<strong>und</strong>heitseinrichtungen tätig. Was wollen diese Leute erreichen? Sie<br />

wollen erst einmal mäßig die öffentliche Ordnung stören, sie wollen Recht <strong>und</strong> Gesetzlichkeit unseres<br />

Staates im Sozialismus in Frage stellen. Sie wollen durch Stimmungsmache, durch Provokation Unruhe<br />

verbreiten, Bürger verunsichern <strong>und</strong> schließlich die politische Lage hier zu Lande destabilisieren. Und<br />

dazu soll vor allen Dingen die politisch-moralische Einheit der Parteien unseres Volkes untergraben<br />

werden. Sie wollen das, um ihre individualistischen durch <strong>und</strong> durch egoistischen Interessen gegen die<br />

gesellschaftlichen Interessen, gegen die Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens durchzudrücken.<br />

Dazu ist ihnen jedes Mittel recht, <strong>und</strong> kein Ton ist ihnen dafür zu laut <strong>und</strong> schrill. Realitäten zählen für sie<br />

ebensowenig wie Anstand. In einem illegal verbreiteten Schreiben zur Organisierung des<br />

Straßenmusikfestivals am 10.6. dieses Jahres wurde von den Organisatoren die provokatorische Absicht,<br />

der Charakter der Konfrontation unverhüllt zugegeben, indem den angeschriebenen Personen <strong>und</strong><br />

Gruppen gleich mitgeteilt wurde, daß man sich um Genehmigung gar nicht bemühe, man sie auch nicht<br />

wolle <strong>und</strong> brauche. Daß es den Organisatoren nur darum geht, herzukommen, sich zu versammeln <strong>und</strong> die<br />

Absichten der Organisatoren hier k<strong>und</strong> zu tun. Gegen unsere Politik, gegen unsere Gesellschaft, gegen<br />

Recht <strong>und</strong> Gesetz aufzutreten, die DDR zu verleugnen. Das ist überhaupt charakteristisch für den Kern<br />

dieser Leute, um die es hier geht, die sich alle auszeichnen durch eine ganz gezielte Mißachtung der<br />

staatlichen Ordnung, die sie auch nach Gesprächen mit unseren Genossen in den staatlichen Organen<br />

aufrechterhalten <strong>und</strong> der sie auch nicht nachkommen, wenn durch die verantwortlichen <strong>und</strong> zuständigen<br />

Organe den Veranstaltungen eine Absage erteilt wurde. Anmaßend, arrogant <strong>und</strong> provokatorisch sollen<br />

die Absichten <strong>und</strong> Ziele dieser Gruppierungen gegen unsere Gesellschaft, gegen unsere Ordnung, gegen<br />

die Gesetze durchgesetzt werden. Der Vollständigkeit halber, aber nicht nur aus diesem Gr<strong>und</strong>e, um die zu<br />

charakterisieren, sei gesagt, daß von all diesen Leuten hier in den letzten Wochen <strong>und</strong> Monaten kein Wort<br />

des Protestes gehört oder der Verurteilungen, wenn ein Schönhuber in aller Öffentlichkeit <strong>und</strong> unter dem<br />

Schutz der Polizei faschistische Parolen verbreitet, den [sic!] Neonazis in Landes- <strong>und</strong> Stadtparlamente<br />

der BRD <strong>und</strong> West-Berlin einziehen. Kein Wort des Schams [sic!], kein Wort der Verurteilung, kein Wort<br />

persönlicher Betroffenheit, wenn der Thälmann-Mörder Otto unbehelligt <strong>und</strong> von den Gerichten der BRD<br />

freigesprochen in der BRD leben kann. Und diese Leute maßen sich an, uns über Menschenrechte <strong>und</strong><br />

Menschenwürde belehren zu wollen. Ausgerechnet diese Leute wollen dem Sozialismus beibringen, wie<br />

Demokratie <strong>und</strong> Freiheit auszugestalten sind. Das ist infamste Heuchelei, gepaart mit Mißachtung<br />

zivilisierter Umgangsformen sowie elementarster demokratischer Gesinnung <strong>und</strong> Gesittung.<br />

Unsere sozialistische Gesellschaftsordnung soll durch solche Aktivitäten, die permanent auf Konfrontation<br />

zielen, wie eben am 15.1.89 beim sogenannten Schweigemarsch anläßlich des Todestages von Karl <strong>und</strong><br />

Rosa oder bei der Durchführung des sogenannten Pleißemarsches anläßlich des Weltumwelttages oder<br />

nach den sogenannten Friedensgebeten montags in der Nikolaikirche zum politischen Verruf unserer<br />

Ordnung <strong>und</strong> politischen Destabilisierung genutzt werden. Unsere Bereitschaft zum Dialog <strong>und</strong> zur<br />

Verständigung mit allen gesellschaftlichen Kräften unseres Landes, unabhängig von ihrer Weltanschauung<br />

<strong>und</strong> politischen Orientierung, wird bewußt unterlaufen, verunglimpft <strong>und</strong> in Mißkredit gebracht, um ihre<br />

Wirkung zu vermindern. Diese Rechnung wird ohne den Wirt gemacht. Wir werden den bewährten<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen unserer Politik, auch der Kirchenpolitik, auch des Dialogs der Kräfte unterschiedlichster<br />

Weltanschauung, von diesem Kurs werden wir keinen Millimeter abweichen, wir werden ihn konsequent<br />

beibehalten. Ebenso wenig werden wir den Gr<strong>und</strong>satz aufgeben, daß wir Ignoranz <strong>und</strong> Unbelehrbarkeit<br />

gerade dort, wo sie sich in Provokationen <strong>und</strong> politischem Abenteuertum manifestieren, die Macht der<br />

sozialistischen Gesellschaft entgegenstellen. Es soll niemand unsere Bereitschaft zum Dialog<br />

mißverstehen, der seine Hand gegen die sozialistische Arbeiter-<strong>und</strong>-Bauern-Macht erhebt. Daher verdient<br />

der aktive Einsatz der Genossen unserer Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorganen nicht nur Anerkennung <strong>und</strong><br />

Dank, für das, was sie in den letzten Wochen geleistet haben <strong>und</strong> leisten, sondern er muß durch aktives<br />

politisches, staatsbewußtes Handeln in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, in jeder Situation<br />

durch aktive Teilnahme <strong>und</strong> Unterstützung durch unsere Genossen sowie alle Bürger der Stadt eine<br />

sinnvolle Ergänzung <strong>und</strong> Unterstützung erfahren.<br />

Welcher Mittel bedienen sich diese Leute vor allem. Sie mißbrauchen permanent z.B. uns teure <strong>und</strong><br />

274


inhaltsschwere politische Begriffe, wie Freiheit <strong>und</strong> Demokratie, Menschenrecht <strong>und</strong> Menschenwürde,<br />

Antifaschismus <strong>und</strong> Humanität. Sie treten das Andenken eines revolutionären Führers der deutschen<br />

Arbeiterklasse ebenso in den Dreck, wie sie antifaschistische Traditionen verunglimpfen oder indem sie<br />

gegen Recht <strong>und</strong> Ordnung in unserem Lande provozieren. Bürger in Uniform <strong>und</strong> Zivil, die die<br />

Gesetzlichkeit <strong>und</strong> staatliche Ordnung gewährleisten, beleidigen <strong>und</strong> dann als Krönung ihrer Heucheleien,<br />

ihres Pharisäertums die Internationale anstimmen, gegen deren Ideale sie gerade Amok [sic!] laufen. Ihre<br />

wahren Absichten kann der Mißbrauch sozialistischer Werte nicht verschleiern. Zu offensichtlich sind ihre<br />

antisozialistischen Ziele, mit denen sie sich über gesetzliche Regelungen, über die Normen des<br />

gesellschaftlichen <strong>und</strong> des Zusammenlebens der Bürger hinwegsetzen, indem sie staatliche<br />

Entscheidungen <strong>und</strong> Weisungen grob <strong>und</strong> vorsätzlich mißachten. So auch am 15. Januar 1989 im<br />

Leipziger Stadtzentrum, als mehrere h<strong>und</strong>ert Leute das Andenken an Karl <strong>und</strong> Rosa schändeten, indem sie<br />

konterrevolutionäre Parolen verbreiteten, die sie eigentlich geistig, politisch <strong>und</strong> weltanschaulich in die<br />

Reihen der Mörder von Karl <strong>und</strong> Rosa stellen, <strong>und</strong> die sich dann zu einer nicht genehmigten<br />

Demonstration gegen jene Ordnung zusammenrotteten, für die Karl <strong>und</strong> Rosa gemeuchelt wurden. So<br />

auch zum diesjährigen Todestag der Geschwister Scholl am 23. Februar, als sie eine als Gedenkfeier<br />

ausgegebene Veranstaltung benutzen wollten zu neuerlichen Provokationen 558 . Allerdings wurde deutlich,<br />

daß an diesem 23. Februar, von denen, die dort provozierten, die wenigsten etwas über das Leben bzw.<br />

den antifaschistischen Kampf der beiden vom Humanismus erfüllten Studenten Scholl wußten. In<br />

nachfolgenden Gesprächen mußten nicht wenige zugeben, daß sie gar nicht wußten, daß es in unserer<br />

Stadt, wie überall im Lande, seit langem Kollektive gibt, die den Namen Geschwister Scholl tragen, <strong>und</strong><br />

manchem stand die Verw<strong>und</strong>erung dann auch auf dem Gesicht, daß die Geschwister-Scholl-Ehrung seit<br />

langem ein unverzichtbarer Teil unseres im Lande hochgeachteten <strong>und</strong> verwirklichten antifaschistischen<br />

Vermächtnisses sind. Gerade hier wurde deutlich, daß manche, zumeist Jugendliche, nicht genau wissen,<br />

warum <strong>und</strong> wofür sie mißbraucht werden 559 . Ein Gr<strong>und</strong> mehr für uns alle, im politischen Dialog noch<br />

überzeugender aufzutreten, noch differenzierter zu wirken, <strong>und</strong> ganz konsequent den Gr<strong>und</strong>satz zu<br />

558 s. Anm. 457<br />

559 Dieser Absatz wurde ebenfalls fast wörtlich von H. Fröhlich zitiert. Fröhlich setzte seine Rede am 14.07. an<br />

dieser Stelle mit folgenden Worten fort: „Viele Kirchen, aber in erster Linie die Nikolaikirche, werden dazu als<br />

Ausgangs- <strong>und</strong> Sammelpunkt genutzt, um Verunsicherung der Bürger, um Mißachtung der staatlichen Ordnung,<br />

um permanente Unruhe zu erzeugen, die möglichst in politische Instabilität einmünden soll. Wir haben mehrfach<br />

unsere Dialogbereitschaft unterstrichen, wurden zurückgewiesen <strong>und</strong> auch entgegen jeder Christenpflicht<br />

getäuscht oder unehrlich behandelt. Dabei wird zweifellos verkannt, daß unsere Dialogbereitschaft keine<br />

Schwäche ist <strong>und</strong> auch eine Grenze hat. In dieser Hinsicht stehen in nächster Zeit vordringlich folgende<br />

Aufgaben: - Die entschiedene Zurückweisung gegnerischer Angriffe in Wort <strong>und</strong> Tat, die DDR hat<br />

problematische Situationen gemeistert, sie ist aber niemals ernsthaft erschüttert worden, weil wir so handeln. - Es<br />

geht um eine größere Mobilität <strong>und</strong> Einsatzbereitschaft der Partei <strong>und</strong> aller gesellschaftlichen Kräfte. [...]“<br />

(ebenda) H. Schnabel sagte in seinem Bericht der SED-SL vor der Stadtleitungssitzung am 11.07.1989 in<br />

Leipzig: „Es geht uns um die Erhöhung der persönlichen Ausstrahlungskraft aller Kommunisten, um zu jederzeit<br />

feindlichen Argumenten die Stirn bieten zu können. Daß letzteres so manchen Genossen nicht immer leicht fällt,<br />

bezeugen auch solche Positionen von Genossinnen <strong>und</strong> Genossen, die vertreten, daß unsere Partei ihren<br />

Standpunkt zur VR China überprüfen sollte, Massenverhaftung <strong>und</strong> Hinrichtungen nicht mit dem Sozialismus<br />

vereinbar wären. Wer bleibt denn [sic!], Genossinnen <strong>und</strong> Genossen, eine antisozialistische Bewegung, die<br />

solche Begriffe wie Menschenrechte, Offenheit <strong>und</strong> Freiheit mißbraucht, deshalb weniger konterrevolutionär als<br />

zum Beispiel 1953 in unserer Republik oder 1957 in Ungarn. Glaubt denn einer ernsthaft daran, daß diejenigen,<br />

die damals ungarische Kommunisten an Straßenlaternen aufknüpften <strong>und</strong> heute in Peking Soldaten verbrannten<br />

<strong>und</strong> erschlugen, das gesellschaftliche Leben von Millionen Menschen lahmlegten, wirklich an einen Dialog<br />

interessiert sein [sic!]. Glaubt einer wirklich, daß die Politik des neuen Denkens den Klassenkampf in unserer<br />

Zeit außer Kraft setzt, die sozialistische Revolution nicht mehr zu schützen braucht. Die Entwicklung in der VR<br />

Ungarn, nationale Ausschreitungen in einigen Sowjetrepubliken, aber auch solche Erscheinungen wie vor der<br />

Nikolaikirche in unserer Stadt belehren uns eines anderen. Bewußt oder unbewußt machen sich solche Gruppen<br />

zu Handlangern der reaktionärsten imperialistischen Kreise, die den Sozialismus so tiefgründig reformieren<br />

wollen, daß von ihm nichts mehr übrig bleibt.“ (Protokoll der Stadtleitungssitzung S. 73 - StAL SED A 5115/N<br />

928).<br />

275


eleben <strong>und</strong> zu vertreten <strong>und</strong> tagaus, tagein zu realisieren, alle zu erreichen, jeden mitzunehmen, sich für<br />

seinen Staat, für seine Gesellschaft, für unseren guten Weg der Menschlichkeit, des Friedens, der<br />

Völkerfre<strong>und</strong>schaft, den Weg des Sozialismus zu entscheiden.<br />

In der ganzen Zeit, da in diesem Jahr die Kommunalwahlen vorbereitet wurden, war zu verzeichnen, daß<br />

die Gegner des Sozialismus, unserer sozialistischen Demokratie, der Freiheit unseres Volkes sich<br />

anmaßten, Richter <strong>und</strong> Anwälte in Sachen Demokratie sein zu können. Jene Demokratie, die sie nicht<br />

wollen, die sie nicht mögen, gegen die sie permanent auftreten. So traten Vertreter sogenannter<br />

Basisgruppen der Kirche unter dem Anspruch einer angeblichen Demokratisierung des sozialistischen<br />

Staates auf. Mit diesem Anspruch wurde unser Wahlgesetz, das die demokratischen Entscheidungsrechte<br />

der Bürger gerade bei diesen Wahlen wesentlich erweiterte, angegriffen, verfälscht <strong>und</strong> verteufelt, wurden<br />

Verfassungsgr<strong>und</strong>sätze in Frage gestellt. So auch am Wahltag selbst, als Bürger bei der Stimmabgabe<br />

Wahlhelfer bei ihrer ehrenamtlichen Arbeit behinderten <strong>und</strong> sogar versucht wurde, massiv <strong>und</strong> offen in<br />

Wahlhandlungen einzugreifen. Freie, gleiche <strong>und</strong> geheime Wahlen, wie es in unserer Verfassung steht.<br />

Das charakterisiert die Leute als Personen ohne Moral. Aber auch als versucht wurde, durch direkte<br />

provokatorische Handlungen die sozialistische Staatsmacht anzugreifen, wurde deutlich, worum es diesen<br />

Leuten geht. Immer <strong>und</strong> überall trat die antisozialistische Haltung <strong>und</strong> die provokatorische Absicht zu<br />

Tage, gepaart mit diktatorischem Verlangen <strong>und</strong> Gebaren. Gerade ein solches Verhalten charakterisiert<br />

jene Kräfte im Hintergr<strong>und</strong>, besonders jene, die das „Straßenmusikfestival“ am 10. 6. im Leipziger<br />

Stadtzentrum in Szene setzten. Denn sie lassen andere sehr gerne ihre Geschäfte erledigen. Sie haben in<br />

ganz eindeutiger provokatorischer Absicht Gruppen aus der ganzen Republik nach Leipzig in Marsch<br />

gesetzt, um entgegen der staatlichen Weisung Maßnahmen antisozialistischer Parolen, verb<strong>und</strong>en mit<br />

diktatorischen Wörtern, zu verbreiten. Auch an diesem Tage suchten sie die Konfrontation mit unserer<br />

Staatsmacht, um den feindlichen Medien den gewünschten <strong>und</strong> benötigten Informationen politischen<br />

Sprengstoff gegen die sozialistische DDR zu liefern. Es ist auch nicht zu übersehen, daß nun schon seit<br />

Monaten kirchliche Einrichtungen zum bevorzugten Treffpunkt jener Leute auserkoren wurden. Eines<br />

dieser Zentren ist die Nikolaikirche im Leipziger Stadtzentrum, wo sich Montag für Montag diese Kräfte<br />

formieren, um unter dem Dach der Kirche ihren Forderungen <strong>und</strong> Vorstellungen zu frönen. In der<br />

Mehrzahl der Fälle hat das mit einem religiösen Bekenntnis recht wenig zu tun. Denn die Auftritte<br />

außerhalb der Kirche machen offensichtlich den Sinn dieser Veranstaltungen aus. Sie zielen auf<br />

antisozialistische Demonstrationen, Provokationen <strong>und</strong> Konfrontation ab.<br />

Gerade in jüngster Zeit äußern nicht wenige Bürger in Briefen ihre Sorge <strong>und</strong> ihren Unwillen darüber. Sie<br />

fühlen sich seit längerer Zeit durch diese Gruppierungen gestört, die im Prinzip nicht religiös geb<strong>und</strong>en<br />

sind <strong>und</strong> die die Kirche nur als Sammelpunkt für die antisozialistischen unhumanen Machenschaften<br />

benutzen. Nicht wenig christlich geb<strong>und</strong>ene Bürger wandten sich auch an ihre kirchlichen Amtsträger mit<br />

der Bitte, Schluß zu machen, daß das friedliche Leben der Bürger durch Kräfte gestört wird, die die<br />

kirchlichen Einrichtungen, den Namen der Kirche mißbrauchen. Aber wir übersehen dabei nicht, daß<br />

zahlreiche sogenannte Basisgruppen aus dem Bereich der Evangelisch-lutherischen Landeskirche sich<br />

rücksichtslos für ihre antisozialistische Tätigkeit Raum <strong>und</strong> Betätigungsfelder schaffen wollen. Die<br />

meisten von ihnen setzen sich auch konfrontativ mit der Politik unseres Staates wie mit den<br />

Kirchenleitungen auseinander. Sie versuchen, daß Verhältnis Staat <strong>und</strong> Kirche zu belasten, eine ges<strong>und</strong>e<br />

Entwicklung dieses Verhältnisses, wie es sich nach den Märzgesprächen entwickelte560 , wie sie Genosse<br />

Honecker <strong>und</strong> Bischof Gienke in Greifswald begründeten <strong>und</strong> bekräftigten 561,<br />

zu zerstören. Zu dem<br />

560 Hier sind vermutlich die Gespräche am 6.3.1978 <strong>und</strong> 3.3.1988 zwischen Vertretern des BEK <strong>und</strong> Honecker<br />

gemeint.<br />

561 Anläßlich der Einweihung des rekonstruierten Greifswalder Domes (11.06.1989) war u.a. E. Honecker von<br />

Bischof Gienke eingeladen worden. Im Anschluß an die Einweihung fand im Greifswalder Rathaus ein Treffen<br />

mit Honecker statt. An diesem Treffen durfte jedoch der offizielle Vertreter des BEK bei der Domeinweihung,<br />

Bischof Forck, nicht teilnehmen, weshalb auch z.B. Landesbischof Leich der Einladung nicht folgte. Bischof<br />

Gienke nahm jedoch an diesem Treffen teil. In der KKL wurde dieser Alleingang Gienkes heftig kritisiert. Im<br />

Unterschied zu den beiden „Märzgesprächen“ war Bischof Gienke nicht von den Kirchen zu solch einem<br />

Gespräch legitimiert. Als er sich dann in einem Brief an Honecker gegen kritische Artikel in den<br />

Kirchenzeitungen wandte (im „Neuen Deutschland“ am 19.07.1989 veröffentlicht), verlor er auch in seiner<br />

276


soliden, vertrauensvollen <strong>und</strong> aufrichtigen Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Kirche gehören die Anerkennung der<br />

Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche, die Respektierung der Verfassung sowie der sinnvolle Dialog<br />

gleichberechtigter Partner. Die Aktivitäten einiger Gruppen haben mittlerweile dazu geführt, daß den<br />

Vertretern der offiziellen Kirche der Umgang mit diesen Kräften zunehmend aus der Hand gleitet. Unsere<br />

Position ist klar, <strong>und</strong> hier befinden wir uns in Übereinstimmung mit den Kirchenleitungen. Gr<strong>und</strong>lage des<br />

vertrauensvollen Verhältnisses von Staat <strong>und</strong> Kirche sind nach wie vor die am 6.3.1978 getroffenen<br />

Vereinbarungen zwischen dem Staatsratsvorsitzenden der DDR, Genossen Erich Honecker, <strong>und</strong> den im<br />

B<strong>und</strong> Evangelischer Kirchen vereinten Landeskirchen. Neuerliche Bekräftigung erfuhr diese Position vor<br />

aller Welt bei der Wiedereröffnung des Greifswalder Domes in Anwesenheit <strong>und</strong> durch das Wort des<br />

Vorsitzenden des Staatsrates, Genossen Honecker.<br />

Genossen! Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche, das bedeutet für uns: Die Kirchen besitzen Eigenständigkeit.<br />

Sie regeln ihre inneren Angelegenheiten. Innere Angelegenheiten sind Glaubensfragen, Verkündigung,<br />

Personalangelegenheiten <strong>und</strong> Finanzen. Damit uns keiner mit Inneren [sic!] Angelegenheiten kommt <strong>und</strong><br />

da glaubt auch, Innere Angelegenheiten sei [sic!] die Konterrevolution organisieren zu können. Dazu<br />

gehört, die Tätigkeit der Kirchen in Übereinstimmung mit der Verfassung <strong>und</strong> der sozialistischen<br />

Gesetzlichkeit selbst zu regeln. Der Staat mischt sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Kirche ein,<br />

die Kirche nicht in die des Staates. [/] Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche bedeutet, die Kirchen sind als<br />

Institution zur Bewahrung <strong>und</strong> Pflege des Glaubens nicht in das System der politischen Organisationen<br />

des Sozialismus integriert <strong>und</strong> haben keinen Anteil an der Machtausübung. [... 3 Seiten zum Staat-Kirche-<br />

Verhältnis] Staatliche Ordnung, Ruhe, Sicherheit <strong>und</strong> Geborgenheit werden allzeit durch den<br />

sozialistischen Staat <strong>und</strong> durch die aktive Unterstützung der Werktätigen garantiert. Und wenn manch<br />

einer glaubt, es sei nicht richtig, wenn unsere Sicherheitsorgane entschlossen <strong>und</strong> entschieden gegen<br />

solche Elemente vorgehen, der sei daran erinnert, daß z.B. in den USA solche Leute, die die dort<br />

bestehenden Machtverhältnisse in Frage stellten, unter der Anklage, für eine ausländische Macht tätig zu<br />

sein, vor Gericht gestellt werden <strong>und</strong> für mindestens 10 Jahre in Haft genommen werden. Nur, Genossen,<br />

unser Prinzip ist nicht zuerst der Ruf nach der Macht oder nach dem Staatsanwalt, sondern die politische<br />

Klärung, ideologische Einheit <strong>und</strong> Geschlossenheit, die politische Regelung, der Dialog. Aber wer dann<br />

nicht hören will, der sollte sich auch des Nachsatzes von Friedrich II. erinnern, der muß fühlen. [...1 Seite<br />

zum Kirchentag] (Beifall)<br />

177 Protokollnotiz aus dem ZK<br />

Auszug aus dem Vermerk zur Sitzung bei Jarowinsky mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen Löffler <strong>und</strong><br />

Mitgliedern der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK der SED (Baron <strong>und</strong> Kraußer) am 16.06.1989. Das<br />

Protokoll wurde vom Kraußer unterzeichnet (SAPMO-BArch IV B 2/14/9).<br />

1. Auf das von Bischof Hempel angekündigte Schreiben zum Kirchentag in Leipzig sollte umgehend<br />

durch Genossen Löffler reagiert werden. Vor allem ist zu verhindern, daß es in die Öffentlichkeit gelangt.<br />

Hempel <strong>und</strong> anderen Vertretern der sächsischen Kirchenleitung ist deutlichzumachen, was uns mit Sorge<br />

erfüllt:<br />

− daß bei Provokationen der letzten Zeit, auch im Anschluß an das Friedensgebet in der Nikolaikirche,<br />

immer wieder kirchliche Mitarbeiter maßgeblich beteiligt sind (z.B. beim letzten Montagsgebet 5 -<br />

Sprachenkonvikt Berlin, 3 - Theologisches Seminar Leipzig, 3 - Katechetenschule Wernigerode)<br />

− daß wir uns, ausgehend von Greifswald, auf die langfristige Entwicklung <strong>und</strong> nicht auf<br />

Verdächtigungen, Unterstellungen <strong>und</strong> Mißtrauen, wie das in der KKL-Sitzung geschehen ist,<br />

orientieren<br />

− in dieser Zeit, in diesem Klima vor den gesellschaftlichen Höhepunkten 562 hat Leipziger Kirchentag<br />

besondere Bedeutung<br />

Heimatkirche das Vertrauen (28.07.). Nach einem Mißtrauensvotum der Greifswalder Synode trat er Anfang<br />

November 1989 zurück.<br />

562 Gemeint war vor allem der sogenannte „40. Jahrestag der Republik“ am 7. Oktober 1989.<br />

277


Verantwortlich: Genosse Löffler<br />

178 Stasi-Information<br />

Chiffriertes Telegramm Nr. 540 des Leiters der BV Leipzig des MfS „zum Verlauf des Montagsgebetes in der<br />

Nikolaikirche am 19.06.1989“ vom gleichen Tag (Dringlichkeit: AN). Auf dem Telegrammvordruck sind als<br />

Empfänger angegeben: Stellvertreter des Ministers, Generaloberst Neiber, die Leiter der Hauptabteilungen IX<br />

<strong>und</strong> XX, ZAIG, ZKG <strong>und</strong> ZOS (ABL H 8).<br />

Das Gebet fand unter Beteiligung von 650 Personen in der Zeit von 17.00 bis 17.50 Uhr statt. Nach der<br />

Eröffnung durch Pfarrer Führer, welcher darauf verwies, daß dieses bis zur Sommerpause nochmals am<br />

26.6. <strong>und</strong> 3.7. <strong>und</strong> danach wieder ab 18.8.1989 stattfindet, wurde das Montagsgebet durch das „Christliche<br />

Umweltseminar“ Rötha unter Leitung von Pfarrer Steinbach in Zusammenarbeit mit der<br />

Nikolaikirchgemeinde gestaltet. Es befaßte sich im wesentlichen mit Umweltfragen <strong>und</strong> verlief ohne<br />

operativ-bedeutsame Probleme. Unter den Teilnehmern befand sich - operativen Hinweisen zufolge -<br />

Landesbischof Hempel, der offiziell nicht vorgestellt wurde <strong>und</strong> von den Teilnehmern weitgehend<br />

unerkannt blieb. Während des Gebetes wurden durch Personen von Basisgruppen kleine Papierstreifen<br />

verteilt mit dem Text „Wir rufen alle Betroffenen auf, in ihrem eigenen Interesse ruhig <strong>und</strong> nicht in<br />

Gruppen nach Hause zu gehen <strong>und</strong> so der gewollten Provokation entgegenzutreten“. Bis gegen 18.25 Uhr<br />

verlief sich die Mehrzahl der Teilnehmer. Unmittelbar vor der Kirche verblieben noch ca. 60 Personen<br />

sowie am Rand des Nikolaikirchhofes 30 bis 50 Personen 563.<br />

Die vor der Kirche Stehenden formierten <strong>und</strong> bewegten sich in Richtung Schuhmachergäßchen/Markt564 .<br />

Daraufhin wurden die vorbereiteten Maßnahmen565 entfaltet <strong>und</strong> die Bewegung nach ca. 80 m im<br />

Schuhmachergäßchen durch die DVP zum Halten gebracht. Mehrfacher Aufforderung zur Auflösung<br />

leistete ein Teil nicht Folge; vereinzelte Personen setzten sich auf die Straße566 bzw. zündeten Kerzen an.<br />

Gegen 19.20 Uhr wurde die Ansammlung durch Zuführungen aufgelöst. Nach ersten Einschätzungen<br />

verlief die Provokation in der gleichen Art <strong>und</strong> Weise wie zum Montagsgebet am 12.6.1989. Von den<br />

insgesamt 33 zugeführten Personen sind 22 in der Stadt bzw. dem Bezirk Leipzig sowie 7 im Bezirk<br />

Halle, 3 im Bezirk Dresden <strong>und</strong> 1 Person in der Hauptstadt Berlin wohnhaft; unter ihnen befinden sich 25<br />

Antragsteller auf ständige Ausreise. Im Ergebnis der Untersuchung erfolgt zur Vorbereitung<br />

differenzierter Entscheidungen eine Abstimmung mit der HA IX 567.<br />

Im Rahmen des volkspolizeilichen Streifendienstes wurde gegen 16.40 Uhr an der Ecke<br />

Windmühlen/Grünewaldstraße das Fahrzeug des „Stern“-Korrespondenten [...] festgestellt. Nach<br />

Auskunft der HA II liegt keine Abmeldung nach Leipzig vor. Bei der Rückkehr des [...] zu seinem<br />

563 Diese Mitteilung unterschlug die ZAIG des MfS in ihrer Wochenübersicht (Anlage) (BStU ZAIG 4595, 83f.)<br />

564 Im Bericht des Leiters der Untersuchungsabteilung IX der BV des MfS Leipzig (Oberst Etzold) über die<br />

Verhaftungen am 19. Juni 1989 heißt es: „Gegen 18.15 Uhr bewegte sich eine Gruppe von etwa 50 Personen vom<br />

Kirchenvorplatz aus [...]“ (ABL H 8)<br />

565 Die Maßnahmen wurden zwischen den für „Sicherheit“ Zuständigen im Bezirk <strong>und</strong> der Stadt Leipzig am 16.06.<br />

abgestimmt. Dabei wurde auch der Einwand bedacht, daß „poliz.[eiliche] Präsenz [...] Vorschub für<br />

Demonstration“ liefert (so Bericht von H. Schnabel auf KEL-Sitzung am 19.06. nach Aufzeichnung von<br />

Sabatowska - SAL RdS, ZR, Nr. 8951, 26a+27a). Die Polizeiketten wurden deshalb erst etwas später<br />

„aufgezogen“.<br />

566 Oberst Etzold berichtete: „Dort wurde die Gruppe durch eine im Rahmen von polizeilichen<br />

Sicherungsmaßnahmen handelnde Absperrkette von Volkspolizisten aufgehalten <strong>und</strong> erstmals um 18.26 Uhr über<br />

Lautsprecher zur Auflösung der Ansammlung <strong>und</strong> zum Verlassen des Ortes aufgefordert. Die Personengruppe<br />

leistete dieser Aufforderung nicht Folge <strong>und</strong> setzte der vorrückenden Sperrkette durch Stehenbleiben <strong>und</strong><br />

Hinsetzen Widerstand entgegen, woraus die Absicht erkennbar war, eine Konfrontation mit den<br />

Sicherungskräften zu provozieren.“ (s. Anm. 564)<br />

567 s. Anhang, S. 370; J. Tobisch, O. Böhme <strong>und</strong> A. Müller trugen am 21.06.1989 in das Gästebuch der<br />

Nikolaikirche: „Wir sind wieder frei. Leider hat dieser Staat, den ich jetzt erst richtig kennengelernt habe, eine<br />

sehr zweifelhafte Demokratie.“<br />

278


Fahrzeug gegen 19.25 Uhr erfolgte eine Kontrolle durch die DVP. Er gab an, sich privat in Leipzig nach<br />

Abmeldung beim MfAA aufzuhalten.<br />

179 SED-Information<br />

Information von Böhm, Abteilung Agitation/Propaganda des Sekretariats der SED-Bezirksleitung, an J.<br />

Pommert, Sekretär der SED-Bezirksleitung, über ein Pressegespräch am 23.06. in Vorbereitung des Leipziger<br />

Kirchentages vom 26.06.1989 (StAL SED A 6399) 568 .<br />

− Teilnehmer am Gespräch: [/] Günter Mieth, Superintendent Zwickau; Johannes Cieslak, Vorsitzender<br />

des Landesausschusses; Johannes Richter, Superintendent Kirchenbezirk Leipzig-West;<br />

− Herr Cieslak äußerte sich zunächst ausführlich zu Anliegen <strong>und</strong> Inhalten des Kirchentages 1989 [...]<br />

Im Anschluß daran stellten die Journalisten Fragen:<br />

LVZ: Wie wird Unterstützung durch staatliche Organe der Stadt / des Bezirkes eingeschätzt? Unter Bezug<br />

auf Leserzuschriften: Wie wird die Einhaltung von Gesetzlichkeit, Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit garantiert -<br />

auch im Umfeld der Nikolaikirche?<br />

Herr Cieslak: Kirche kennt viele Gruppen, z.B. Friedensgruppen, Umweltgruppen, sie stellen sich in Halle<br />

5 des Messegeländes vor („Treffpunkt Glaube heute“), inhaltliche Vorgaben dabei: Ausgangspunkt ist<br />

die Bibel. Aber es gebe auch andere Gruppen, die sich im Auftreten nicht wie Christen verhalten<br />

würden.<br />

Herr Hempel 569 : Inhaltlich decken wir uns weitgehend mit den Aussagen jener Gruppen (Themen<br />

Friedensdienst, Bausoldaten, Gerechtigkeit). Aber wie diese Gruppen das tun, findet nicht unsere<br />

Zustimmung. Christen sprechen Probleme so an, daß sie sich vorher Gedanken machen, ob sie mit<br />

dem, was sie sagen, auch ankommen (Bezug auf Gorbatschow - Kennt Herr Gorbatschow die<br />

Bergpredigt?)<br />

Im Umfeld der Nikolaikirche halten sich Leute auf, die sich sagen, da mußt du hin, um registriert zu<br />

werden. Das sind einzelne, die als Trittbrettfahrer kirchliche Veranstaltungen nutzen, um sich selbst<br />

darzustellen, um sich registrieren zu lassen, um so eher wegzukommen.<br />

Zwischenfrage LVZ zur staatlichen Unterstützung. [... im Folgenden geht es ausschließlich um den<br />

Kirchentag]<br />

180 Stasi-Information<br />

„Information zum Verlauf des Montagsgebetes“ am 26.06.1989 aus der BV Leipzig des MfS. Das Typoskript<br />

trägt keine Unterschrift, jedoch Bearbeitungsspuren. Am rechten oberen Rand wurde mit der Hand „IX“<br />

vermerkt (ABL H 8).<br />

Das durch den ‘Friedensarbeitskreis’ Gohlis unter Leitung von Pfarrer Weidel gestaltete <strong>und</strong> bei<br />

Teilnahme von ca. 650 Personen von 17.00 - 17.35 Uhr durchgeführte Montagsgebet befaßte sich im<br />

568 Diese Fragest<strong>und</strong>e der „Medienvertreter“ wurde am 22.06. von H. Reitmann (Rat des Bezirkes) <strong>und</strong> H. Urbaneck<br />

(SED-BL) vorbereitet (Information an J. Pommert vom 22.06. - StAL SED A 6399). Dort hieß es u.a.: „c)<br />

Leser/Hörer äußern sich außerordentlich besorgt über Aktionen im Umfeld der Nikolaikirche (siehe Brief J.<br />

Urban an LVZ [am folgenden Tag dort veröffentlicht, s. Anm. 577]) Mit welchen Maßnahmen sichern<br />

Veranstalter, daß in Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung des Kirchentages das elementare Recht der Bürger der Stadt<br />

auf Ruhe, Ordnung <strong>und</strong> Einhaltung der Gesetzlichkeit garantiert ist? Mit welchem Teilnehmerkreis (ausländische<br />

Teilnehmer/Gäste) ist zum Kirchentag zu rechnen? Wie wird durchgängig abgesichert, daß der regionale Bezug<br />

in inhaltlicher Aussage, Charakter der Veranstaltung (siehe Landeskirche Sachsens) im gesamten Verlauf des<br />

Kirchentages erkennbar deutlich wird? d) Empfohlen wird, den an der Pressekonferenz teilnehmenden Vertretern<br />

von LVZ, ND, ADN Sender [Leipzig] nach der Konferenz eine zusätzliche Möglichkeit zur Konsultation mit<br />

Gen. Pommert einzuräumen.“<br />

569 In der Auflistung der Teilnehmer wurde Bischof Hempel nicht aufgeführt.<br />

279


wesentlichen mit dem Anliegen des Verbandes der Freidenker570 der DDR, insbesondere im Verhältnis<br />

zur Kirche, <strong>und</strong> verlief ohne operativ bedeutsame Probleme.<br />

Bei den von Pfarrer Führer gegebenen Informationen ist operativ zu beachten, daß<br />

− es einen Protestbrief an die Botschaft der Volksrepublik China gegen die Vollstreckung der<br />

Todesurteile gebe,<br />

− mögliche Aufforderungen an Bürger zur Nichtteilnahme an den Montagsgebeten durch Mitarbeiter<br />

staatlicher Organe zwecks Weiterleitung an die Landeskirche Sachsen gemeldet werden sollen;<br />

− er seinen Protest gegen einen Artikel in der LVZ vom 24./25.06.89571 zum Ausdruck bringt - dieser<br />

diene nicht dem Frieden in der Stadt (Artikel gibt politische Antwort auf provozierendes Verhalten in<br />

Leipzigs Innenstadt).<br />

Die Mehrzahl der Teilnehmer verließ bis gegen 18.30 Uhr den kirchennahen Raum.<br />

Ca. 30-40 Personen verblieben572 , formierten <strong>und</strong> bewegten sich wie nach den Montagsgebeten am 12.<br />

<strong>und</strong> 19.06.89 in Richtung Schumachergäßchen/Markt.<br />

Entsprechend der vorbereiteten Maßnahmen wurden sie nach ca. 50 m zum Halten gebracht <strong>und</strong> mehrfach<br />

zur Auflösung aufgefordert. Dieser Aufforderung wurde zögernd Folge geleistet.<br />

Durch Nichtbefolgung bzw. 573 provozierendes Verhalten erfolgte die Zuführung von [handschriftlich<br />

eingefügt: „insgesamt“] 5 Personen aus dem Stadt-/Landkreis Leipzig, darunter ein Antragsteller auf<br />

ständige Ausreise [handschriftlich eingefügt: „<strong>und</strong> 1 Antragsteller auf ...“ letztes Wort auf Kopie<br />

unleserlich]. Im Ergebnis der Untersuchung werden differenzierte Entscheidungen in Abstimmung mit der<br />

HA IX getroffen 574.<br />

181 Protokollnotiz aus dem ZK<br />

Auszug aus dem Vermerk zur Sitzung bei Jarowinsky mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen, Löffler, <strong>und</strong><br />

Mitgliedern der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK der SED, Baron <strong>und</strong> Kraußer, am 27.06.1989, in der<br />

über eine Veröffentlichung in der Leipziger Volkszeitung gesprochen wurde. Der Vermerk wurde von<br />

570 Der „Verband der Freidenker“ wurde aufgr<strong>und</strong> eines Politbürobeschlusses (06.12.1988) eingesetzt. Die Wahl der<br />

Vorsitzenden geschah in den jeweiligen SED-Leitungen. Er wurde von einigen Kirchenvertretern als eine<br />

Bedrohung empf<strong>und</strong>en, da hier an antikirchliche Traditionen angeknüpft werden sollte (s.a.<br />

E.Neubert/J.Garstecki, Staat <strong>und</strong> Freidenker getrennt? (KiS 2/89, S. 49-51), Götz Planer-Friedrich, Worum geht<br />

es den Freidenkern?, (KiS 2/89, S. 45-48)).<br />

571 Gemeint ist der Artikel „Was trieb Frau A. K. ins Stadtzentrum“ in der „Leipziger Volkszeitung“ am<br />

24./25.06.1989 (abgedruckt u.a. in: Rummel, S. 1990, 153-155; Sievers 28f.). In der Posteingangsanalyse der<br />

„Leipziger Volkszeitung“ zum Juni 1989 (StAL SED A 6662) heißt es zu Reaktion auf diesen Artikel: „R<strong>und</strong> 80<br />

Leserbriefe gingen in der Redaktion zum Beitrag über Frau A.K. (Vorgänge an der Nikolaikirche) ein. 10 Leser<br />

äußerten sich positiv dazu <strong>und</strong> die restlichen negativ. Letzere ähneln sich von der Argumentation bis zur<br />

Wortwahl ziemlich <strong>und</strong> lassen darauf schließen, daß es sich um eine gesteuerte Aktion handelt.“ vgl. a. Anm. 577<br />

572 Der Leiter der Untersuchungsabteilung der BV des MfS, Oberst Etzold, behauptete: „Gegen 19.30 Uhr bewegten<br />

sich 20-30 Personen vom Kirchenvorplatz aus in das Schumachergäßchen in Richtung Markt.“ (Bericht des<br />

Leiters der Abteilung IX/AI/ba-rie der BV des MfS Leipzig - ABL H 8). Der 2. Sekretär der SED-BL meldete an<br />

das ZK: „Ca. 40 Personen formierten <strong>und</strong> bewegten sich in Richtung Schumachergäßchen/Markt.“ (Chiffriertes<br />

Fernschreiben Nr. 307 - StAL SED A 4972) So auch die ZAIG des MfS (BStU ZAIG 4595, 105).<br />

573 ursprünglich: „<strong>und</strong>“<br />

574 Nach dieser „Zusammenrottung“ wurde Sven Kulow für mehrere Monate verhaftet. Die AGM teilte kurze Zeit<br />

später mit: „Während drei Festgenommene am darauffolgenden Tag mit Ordnungsstrafen zwischen 300,- <strong>und</strong><br />

500,- Mark entlassen wurden, befindet sich Sven Kulow in Untersuchungshaft. Gegen ihn läuft ein<br />

Ermittlungsverfahren nach den §§ 217 Abs. 2 (Zusammenrottung), 212 Abs. 1 (Widerstand gegen staatliche<br />

Organe), 137 (Beleidigung), 139 Abs. 3 (Beleidigung <strong>und</strong> Verleumdung staatlicher Organe in der Öffentlichkeit).<br />

Alle von uns befragten Zeugen sagen hingegen aus, daß Sven Kulow nur von Bereitschaftspolizei mit dem Kopf<br />

nach unten unter Tritten <strong>und</strong> Schlägen geschleift <strong>und</strong> anschließend auf einen Polizei-LKW geworfen wurde.“<br />

(Erklärung abgedruckt u.a. bei Heiduczek (1990), 85) S. a. „Offener Brief an die Bevölkerung der DDR aus<br />

Anlaß des Kirchentages“ (AGM <strong>und</strong> AKG vom 06.07.1989 - Rein (1990), 182-185)<br />

280


Kraußer unterzeichnet (SAPMO-BArch IV B 2/14/9).<br />

2. Die Veröffentlichung in der „Leipziger Volkszeitung“ 575 ist taktisch unklug <strong>und</strong> eine ausgesprochene<br />

Dummheit.<br />

Mit BL [Bezirksleitung] der SED sollte geklärt werden, daß eine entsprechende Darstellung erfolgt.<br />

Verantwortlich: Genosse Kraußer<br />

3. Zum Kirchentag sollte Genosse Hackenberg eine weitere Information an Genossen Honecker senden.<br />

Weiterführende Maßnahmen der Einflußnahme <strong>und</strong> Absicherung<br />

Inhalt: Absicht, Zielstellung, Inhalt Hauptveranstaltungen, Empfang Oberbürgermeister, Arbeit des<br />

Stabes<br />

Verantwortlich: Genosse Kraußer<br />

4. Mit Genossen Rettner ist zu besprechen, ob es Möglichkeiten gibt, eine Teilnahme Epplers am<br />

Kirchentag zu verhindern.<br />

Verantwortlich: Genosse Kraußer<br />

182 Stasi-Information<br />

Auszug aus der Quartalseinschätzung II/89 des Leiters der Abteilung XX/4 (gr-la) der BV für Staatssicherheit<br />

Leipzig vom 30.06.1989 zu Aktivitäten von R. Müller (OV „Märtyrer“). Der Text wurde vermutlich per<br />

Computer erstellt. Unterzeichnet ist die Einschätzung von Große <strong>und</strong> Tinneberg. Am oberen rechten Rand des<br />

ersten Blattes wurde „EDV“ vermerkt. Diese Quartalseinschätzung ist Teil der „Ausgewählten<br />

Quartalseinschätzungen über den OV Märtyrer der BV Leipzig“, die von IFM e.V./Forschungszentrum zu den<br />

Verbrechen des Stalinismus herausgegeben wurden.<br />

2. Im Berichtszeitraum setzte der Verdächtige seine Aktivitäten im Sinne einer politischen<br />

Untergr<strong>und</strong>tätigkeit fort <strong>und</strong> gehörte zu den Inspiratoren <strong>und</strong> Hauptorganisatoren operativ-relevanter,<br />

feindlich-negativer Aktivitäten im Raum Leipzig. [/] Unter dem Einfluß des Rudolph, Thomas (OV<br />

„Juris“ BV Leipzig, Abt. XX/9) stehend, realisierte er Vorbereitungshandlungen <strong>und</strong> war unmittelbar bei<br />

der Organisierung von Aktionen der Leipziger PUT 576 -Exponenten beteiligt. Die Zielstellungen seiner<br />

demonstrativen Handlungen bestehen in der<br />

− Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte <strong>und</strong> Erhöhung der Massen- <strong>und</strong><br />

Öffentlichkeitswirksamkeit bei durchgeführten Aktionen;<br />

− Schaffung einer breiten Basis für die „innere Opposition“ in der DDR zur Störung deren Innen- <strong>und</strong><br />

Außenpolitik.<br />

Schwerpunkte bildeten dabei beim Vorgehen <strong>und</strong> Wirksamwerden des Verdächtigen im Berichtszeitraum<br />

die Themen<br />

− angebliche Menschenrechtsverletzungen in der DDR sowie anderen sozialistischen Staaten;<br />

− die sozialistische Demokratie, insbesondere die Volkswahlen am 07.05.89;<br />

− der Umweltschutz (Pleißemarsch, Anti-KKW-Aktion Börln).<br />

Folgende wesentliche Handlungen des Verdächtigen im Berichtszeitraum belegen diese Einschätzung:<br />

− M. ist nach wie vor fest im AK „Gerechtigkeit“ integriert. Am 10.4.89 gestaltete der AK das<br />

montägliche „Friedensgebet“ in der Nikolaikirche, wo der Verdächtige im Anschluß an diese<br />

Veranstaltung eine Unterschriftensammlung gegen Menschenrechtsverletzungen im Iran durchführte<br />

<strong>und</strong> zum Wirtschaftsboykott <strong>und</strong> Abbruch der diplomatischen Beziehungen aufforderte. Am 11.4.89<br />

wurde in einer internen Beratung des AK beschlossen, daß M. <strong>und</strong> Rudolph eine monatliche finanzielle<br />

Unterstützung von 125,- Mark aus der AK-Kasse erhalten.<br />

− Am 29.5.89 nahm M. am „Friedensgebet“ in der Nikolaikirche teil <strong>und</strong> wurde im Anschluß daran<br />

durch Kräfte der VP zugeführt. Gegen M. wurde in diesem Zusammenhang ein OSV<br />

[Ordnungsstrafverfahren] eingeleitet <strong>und</strong> 300,- M Ordnungsgeld verfügt. [...]<br />

575 s. Anm. 571<br />

576 s. Abkürzungsverzeichnis im Anhang<br />

281


183 SED-Information<br />

Aktennotiz vom Chefredakteur der „Leipziger Volkszeitung“, R. Röhrer, vom 30.06.1989 über ein Gespräch<br />

mit Superintendenten Magirius am 30.06.1989 (StAL SED A 6399).<br />

Das Gespräch fand am 30.6. in der LVZ-Chefredaktion statt <strong>und</strong> dauerte 1 1/2 St<strong>und</strong>en. Es war auf Bitte<br />

von Herrn Magirius zustandegekommen, der diesen Wunsch nach Veröffentlichung des Artikels „Was<br />

trieb Frau A. K. ins Stadtzentrum“ 577 (LVZ vom 24.6) dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des<br />

Bezirkes für Inneres, Dr. Hartmut Reitmann, mit der Bitte um Vermittlung eines solchen Gespräches<br />

vorgetragen hatte. Genosse Dr. Reitmann nahm an dem Gespräch aktiv teil. [/] Das Gespräch verlief<br />

insgesamt in einer offenen, aufgeschlossenen Atmosphäre. Obgleich meinerseits keinerlei<br />

Einschränkungen oder Korrekturen am genannten Artikel <strong>und</strong> seinen Aussagen gemacht wurden, war der<br />

Superintendent offensichtlich am sachlichen, wenngleich konträren Gespräch interessiert, nicht aber an<br />

einer Verhärtung der Positionen.<br />

Er hatte einleitend sein „Unverständnis“ für den in der LVZ veröffentlichten Artikel mit 3 Überlegungen<br />

begründet:<br />

1. Die Zahl der Antragsteller, die aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen werden wollen, habe<br />

dramatisch zugenommen. („Wenngleich Sie ja solche Zahlen nicht bekanntgeben.“) Niemand aber<br />

spricht mit ihnen über dieses Problem <strong>und</strong> die Gründe, die sie zum Ausreiseantrag veranlaßten. So<br />

haben sie „bei der Kirche Hoffnung gesucht“.<br />

Der Artikel in der LVZ berührt diesen Sachverhalt mit keinem Wort, sondern stellt die Teilnehmer am<br />

„Friedensgebet“, die sich anschließend noch „in Gruppen außerhalb der Kirche unterhalten wollen“, als<br />

Menschen hin, die die Konfrontation mit der Gesellschaft suchen.<br />

2. Er, Magirius, „bedaure auch jeden einzelnen Fall, der einen Menschen dazu veranlaßt, seinen Platz<br />

außerhalb unseres Landes zu suchen“. Aber zu viele Gründe gäbe es („von der Umweltbelastung bis<br />

zur Versorgung“) hierzulande, die die individuelle Entscheidung reifen lassen, die DDR verlassen zu<br />

wollen. Um das zu verändern, „muß man folglich die Ursachen beseitigen, die solche Entscheidungen<br />

herbeiführen“. Darauf sei der Artikel in der LVZ leider überhaupt nicht eingegangen.<br />

577 In dem Artikel hieß es u.a.: „Es wären eine ganze Menge ehrenwerter Gründe denkbar, warum Frau A. K. aus<br />

Wurzen am vergangenen Montagabend in der Leipziger Innenstadt anzutreffen war. Sie ist jung <strong>und</strong> hat<br />

dementsprechende Einkaufswünsche oder will sich einen neuen Film ansehen oder in der Eisbar den Feierabend<br />

genießen. Zeit hat sie, denn sie nutzt nach der Geburt ihres zweiten Kindes das hierzulande mögliche 'Babyjahr'.<br />

Aber nicht solche ehrenwerten Gründe bestimmten den Weg der Frau, sondern ein höchst verurteilenswerter. Sie<br />

fuhr in eindeutig provokatorischer Absicht nach Leipzig, um gemeinsam mit Vertretern bestimmter<br />

Gruppierungen - darunter solche aus Halle, Dessau <strong>und</strong> Dresden - im Zentrum der Bezirksstadt die öffentliche<br />

Ordnung zu stören, die Ruhe <strong>und</strong> Sicherheit der Bürger anmaßend zu beeinträchtigen <strong>und</strong> auf Konfrontation mit<br />

unserem Staat DDR <strong>und</strong> mit unserer Gesellschaft zu gehen. Das hatten Gruppen solcher Personen in den<br />

vergangenen Monaten schon einige Male versucht <strong>und</strong> hatten dazu im Januar schamlos auch das Gedenken an<br />

Karl Liebknecht/Rosa Luxemburg oder im März die Frühjahrsmesse mißbrauchen wollen. Jetzt also war zu<br />

diesem Zweck auch Frau A. K. angereist. Alle Vorzüge genießen, aber unsere Gesellschaft negieren. [...] Diese<br />

Leute werden zu willkommenen Handlangern jener Kräfte in der BRD, die unsere sozialistische DDR von innen<br />

heraus so langanhaltend <strong>und</strong> tiefgreifend „reformieren“ wollen, bis die Agonie eintritt <strong>und</strong> vom Sozialismus<br />

nichts mehr übriggeblieben ist. Genau das ist ihr Ziel, seitdem es die DDR gibt <strong>und</strong> seitdem dieses Land ein<br />

neues Kapitel deutscher Geschichte schreibt. [...] Leipziger Bürger fordern Ordnung, Ruhe <strong>und</strong> Sicherheit [/]<br />

Aber der A. K. <strong>und</strong> ihresgleichen geht es ja nicht um solcherart staatsbewußtes Verhalten. Sie suchen nicht die<br />

Kooperation mit den gesellschaftlichen Kräften, sondern die Konfrontation mit einer Gesellschaft, in der sie ohne<br />

Zukunftsangst aufwachsen konnten <strong>und</strong> in der sie in Friedensgewißheit <strong>und</strong> in sozialer Sicherheit leben können.<br />

Darauf legen sie es an. Begriffe, die sie auf der Zunge tragen - mehr Meinungspluralismus, mehr Offenheit, mehr<br />

Erneuerung, mehr Reisen - können darüber nicht hinwegtäuschen <strong>und</strong> machen aus Provokateuren keine<br />

Unschuldsengel. Von Unverständnis bis zur hellen Empörung über die Unruhestifter sind folgerichtig Briefe<br />

bestimmt, die Leipziger Bürger an staatliche Organe geschrieben haben <strong>und</strong> mit denen sie fordern, solche<br />

Umtriebe nicht zuzulassen. Einige Auszüge aus diesen Briefen: Frau Ferber schreibt: „Wir älteren Bürger sind<br />

beunruhigt über die Ansammlungen vor der Nikolaikirche. Man fühlt sich belästigt <strong>und</strong> muß die Abendst<strong>und</strong>en<br />

meiden, durch die Innenstadt zu bummeln“. (vgl. a. Anm. 571)<br />

282


3. Er müsse den Artikel als Absicht werten, der Kirche eine Schuld für Vorfälle zuzuweisen, die<br />

„außerhalb der Kirche sich abspielen <strong>und</strong> zudem durch die eingesetzten Sicherheitskräfte<br />

öffentlichkeitswirksam werden“. Zu diesem Eindruck komme er insbesondere durch jene Passagen des<br />

Artikels, in denen Bürger mit ihren Forderungen nach Ruhe <strong>und</strong> Ordnung zitiert werden, die diese<br />

Forderung ausdrücklich an ihn als Superintendent der Nikolaikirche richten.<br />

Zu allen drei Gründen, die Herr Magirius für sein Nichteinverstandensein mit dem Artikel anführte, bezog<br />

ich offensiv, mit Argumenten <strong>und</strong> Fakten, Position. Genosse Dr. Reitmann griff in gleicher Weise in das<br />

Gespräch ein.<br />

Die Behauptung des Superintendenten, die LVZ habe die öffentliche Meinung gegen die Kirche<br />

beeinflussen wollen, wies ich mit der Feststellung entschieden zurück, daß wir uns als Parteizeitung der<br />

SED strikt den Gr<strong>und</strong>sätzen verpflichtet fühlen, die am 6. März 1978 im Gespräch Erich Honeckers mit<br />

Repräsentanten der Kirchenleitungen in der DDR zum Verhältnis Staat/Kirche bekräftigt wurden. Die<br />

jüngsten Gespräche des Generalsekretärs anläßlich der Domweihe zu Greifswald haben die<br />

Gegenwärtigkeit dieser Gr<strong>und</strong>sätze unterstrichen 578 . [/] Der Artikel in der LVZ, so habe ich<br />

hervorgehoben, war „nicht an die Kirche adressiert, sondern war eine Antwort auf Fragen vieler Genossen<br />

meiner Partei, was es mit den Vorfällen der letzten Zeit im Leipziger Stadtzentrum auf sich habe“. [/] Herr<br />

Magirius äußerte nach unseren Antworten <strong>und</strong> Gegenargumenten keinerlei Absichten oder Erwartungen,<br />

die auf irgendeine Form der öffentlichen Zurücknahme des Artikels hinauslaufen würden. Er bek<strong>und</strong>ete<br />

stattdessen Zufriedenheit mit der Atmosphäre des Gesprächs, zu dessen Abschluß er mich noch um ein<br />

paar Informationen über die „Leipziger Volkszeitung“ bat (Geschichte, Auflage, Verbreitungsgebiet). Ich<br />

gab ihm diese Informationen <strong>und</strong> überreichte bei der Verabschiedung ein Souvenir vom LVZ-Pressefest<br />

1989, das mit Freude <strong>und</strong> Dank angenommen wurde.<br />

184 Kirchenbucheintragung<br />

Drei Eintragungen aus dem Gästebuch VI der Nikolaikirche vom 03.07.1989 (Nikolaikirchgemeinde).<br />

Über den Mut u. die Offenheit der DDR-Kirche können wir Besucher aus der Schweiz nur noch staunen!<br />

Macht weiter so!<br />

3.07. 89 [/] Ich hoffe, das [sic!] Abtl. Inneres meine Ausreise endlich genähmigt [sic!]. Ich bin bereits von<br />

Mutter + Bruder seit 7 Wochen getrennt, trotzdem wir gemeinsam den Antrag stellten. Heute wurde mir<br />

von Inneres gesagt, sollte ich in die Nikolai-Kirche gehen, würde mein Antrag weiter hinausgezögert<br />

werden. Helft mir! [/] R. [... Nachname nicht zu entziffern]<br />

3.07.89 [/] Ich hoffe auf die Einsicht der DDR-Behörden! [/] [... Unterschrift nicht zu entziffern]<br />

185 Kirchenvorstandsprotokoll<br />

Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 52. Sitzung des KV St. Nikolai vom 03.07.1989, in der es um<br />

die weitere Gestaltung der Friedensgebete ging (ABL H 54).<br />

Tagesordnung: 1. Situation im Kindergarten [/] 2. Weiterführung des Montagsgebetes [/] 3. Kirchentag<br />

Leipzig [/] 4. Wohnungsangelegenheiten [/] 5. Information Romanisches Kruzifix [/] 6. Aufnahmeantrag<br />

B[... /] 7. Antwort R[... /] 8. Persönliche Mitteilung Frau Heumann [/] 9. Verabschiedung Frau Lehnert [/]<br />

10. Etwaige weitere Gegenstände<br />

[...] Zu 2. Betr. des Zeitungsartikels in der LVZ wurden im Zusammenhang mit den Reaktionen darauf<br />

Informationen durch Sup. Magirius gegeben. Ein Gespräch mit dem Chefredakteur der LVZ ist unter<br />

Vermittlung des Rates des Bezirkes zustande gekommen 579 . Auf Gr<strong>und</strong> der Vorgänge beschließt der KV<br />

aktiv zu werden <strong>und</strong> den Staatssekretär für Kirchenfragen, Kurt Löffler, zu einem Gespräch zu bitten. Ein<br />

578 s. Anm. 561<br />

579 s. Dok. 183<br />

283


Autorenkollektiv entwirft das Schreiben . 580<br />

Auf Vorschlag des Bezirkssynodalausschusses bestätigt der KV die folgenden Termine für das<br />

Montagsgebet<br />

4. September - Nikolai Sup. Magirius<br />

11. „ - Gruppe Gerechtigkeit<br />

18. „ - Katholiken<br />

25. „ - Menschenrechte (Pf. Wonneberger)<br />

2. Oktober - Umwelt (Pf. Kaden)<br />

9. „ - Frieden Gohlis (Pf. Weidel)<br />

16. „ - ESG (Pf. Bartels)<br />

23 „ - Nikolai Pf. Führer<br />

6. November - Abgrenzung<br />

Verantwortliche Pfarrer wurden nachgemeldet. Außerdem wird festgelegt, 14 Tage vor dem 28. August<br />

den neuen Beginn der Montagsgebete (4.9.) als Aushang in der Kirche bekannt zu machen 581.<br />

[...]<br />

186 Stasi-Information<br />

Durchschrift des Fernschreiben des Leiters der BV des MfS Leipzig an den stellvertretenden Minister für<br />

Staatssicherheit Generaloberst Mittig, an Generalleutnant Neiber <strong>und</strong> weitere leitende Mitarbeiter im MfS<br />

(HA IX, XX, ZAIG, ZKG, ZOS) über den „Verlauf des Montagsgebetes“ am 03.07.1989. Als Dringlichkeit<br />

wurde auf dem vorgedruckten Formular „AN“ angegeben. Am rechten oberen Rand wurde per Hand „IX“<br />

vermerkt (ABL H 8).<br />

Das am 03.07.89 von 17.00 bis 17.40 Uhr vor ca. 800 Personen durchgeführte Montagsgebet wurde vom<br />

Superintendenten Magirius eröffnet. Dabei nahm er Bezug auf den Artikel in der LVZ vom<br />

24./25.06.89 582 <strong>und</strong> auf das von ihm mit dem Chefredakteur der LVZ diesbezüglich geführte Gespräch583<br />

,<br />

welches er als sachlich bezeichnet, ohne daß übereinstimmende Standpunkte erzielt worden wären. Den<br />

weiteren Verlauf gestaltete Pfarrer Führer, der darauf verwies, daß die Kirche nicht nur innerhalb ihrer<br />

Mauern, sondern in allen Bereichen wirken müsse. [/] Andere operativ bedeutsame Informationen zum<br />

Vorlauf des Gebetes liegen nicht vor. [/] Nach Beendigung des Gebetes erfolgte innerhalb der Kirche die<br />

Verteilung des Programmes für den in der Zeit vom 07.-09.07.89 stattfindenden „Kirchentag von<br />

unten“ 584 in der Leipziger Lukaskirche. [/] Bis gegen 18.10 Uhr verließ die Mehrzahl der Teilnehmer den<br />

kirchennahen Raum. [/] Die sich weiterhin auf dem Vorplatz aufhaltenden ca. 200 bis 250 Personen<br />

versuchten sich zu formieren <strong>und</strong> in Richtung Schumachergäßchen/Markt zu bewegen 585.<br />

580 vgl. Dok. 187<br />

581 In den Protokollen des KV findet sich kein Beschluß, bis wann die Sommerpause der FG gehen sollte. Dieser<br />

Beschluß legt jedoch nahe, daß ursprünglich geplant war, am 28.08. mit den FG zu beginnen. s.a. S. 291<br />

582 s. Anm. 571<br />

583 s. Dok. 183<br />

584 Die Veranstaltungsreihe in der Lukaskirche wurde „Statt Kirchentag“ genannt.<br />

585 In der Anlage des Wochenberichts der ZAIG 27/89 („Hinweis auf das montägliche Friedensgebet ...“) ist von ca.<br />

200 Teilnehmern die Rede (BStU ZAIG 4596, 27). Der Chef der Untersuchungsabteilung der BV des MfS<br />

berichtete: „Im Anschluß daran [an das FG] kam es auf dem Kirchenvorplatz bis Ecke Schuhmachergäßchen zu<br />

einer Ansammlung von mehreren H<strong>und</strong>ert Personen, darunter einem Großteil von Antragstellern auf ständige<br />

Ausreise aus der DDR bzw. Personen, die sich mit derartigen Absichten tragen. Während der Ansammlung<br />

wurden Tendenzen eines Marschzuges erkennbar. Die gegen 18.15 Uhr ergangene erste Aufforderung der DVP<br />

zur Auflösung der Personenansammlung <strong>und</strong> das etappenweise Vorrücken der Sperrkette der DVP wurden aus<br />

der Personenansammlung heraus mit Pfiffen, 'Buh'-Rufen <strong>und</strong> Sprechchören, wie 'Nazis raus' kommentiert. Eine<br />

Identifizierung Beteiligter an den Sprechchören gelang nicht. Nachdem weitere Aufforderungen durch die DVP,<br />

darunter das persönliche Ansprechen Beteiligter, keine Wirkung zeigten, wurden ab 18.00 Uhr 14 Personen aus<br />

der Ansammlung heraus dem VPKA Leipzig zugeführt <strong>und</strong> gem. § 95 StPO Befragungen unterzogen, in deren<br />

Ergebnis drei Ermittlungsverfahren eingeleitet, 8 Ordnungsstrafverfügungen erlassen <strong>und</strong> 3 Belehrungen<br />

284


Durch vorbereitete <strong>und</strong> kurzfristig entfaltete Maßnahmen der DVP wurde die Ansammlung sofort im<br />

Schumachergäßchen zum Halten gebracht. Trotz mehrfacher Aufforderung zur Auflösung <strong>und</strong> dem<br />

Einsatz von Auflösegruppen der DVP löste sich die Ansammlung nur sehr zögernd auf. [/] Durch<br />

offensive Maßnahmen der Zurückdrängung durch die DVP <strong>und</strong> erneute Aufforderung wurde die<br />

Ansammlung bis 19.30 Uhr endgültig aufgelöst. Es erfolgte kein Einsatz polizeilicher Hilfsmittel, eine<br />

H<strong>und</strong>estaffel kam zur Absicherung der polizeilichen Maßnahmen kurzfristig im Rücken der handelnden<br />

Kräfte zum Einsatz. [/] Im Zeitraum des gesamten polizeilichen Einsatzes erfolgten 14 Einzelzuführungen<br />

wegen Behinderung polizeilicher Maßnahmen bzw. dem Anbrennen von Kerzen. [/] Von den Zugeführten<br />

sind 11 Personen aus der Stadt Leipzig, darunter drei Antragsteller auf ständige Ausreise sowie zwei aus<br />

dem Bezirk Dresden <strong>und</strong> eine Person aus dem Bezirk Magdeburg. [/] Im Ergebnis der Untersuchung<br />

werden differenzierte Entscheidungen in Abstimmung mit der HA IX 586 getroffen.<br />

187 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />

Brief des Kirchenvorstand St. Nikolai-St. Johannis vom 11.07.1989 an die Regierung der DDR, Staatssekretär<br />

für Kirchenfragen, Staatssekretär Löffler, in dem dieser zu einem Gespräch eingeladen wird. Der Brief ging<br />

laut Eingangsstempel am 17.07. im Staatssekretariat für Kirchenfragen ein (BArch O-4 973).<br />

Sehr geehrter Herr Staatssekretär!<br />

Das Friedensgebet in unserer Stadtkirche St. Nikolai hat seinen Ursprung in der Friedensdekade. Seit 1982<br />

findet es wöchentlich montags statt. Wir haben eine Form der Andacht gef<strong>und</strong>en, die Menschen<br />

unterschiedlicher Auffassung <strong>und</strong> Verfassung anspricht <strong>und</strong> zu dem missionarischen Aspekt der<br />

Konzeption „Offene Stadtkirche“ gehört. Von Jesus Christus her sind wir allen Menschen das Evangelium<br />

schuldig <strong>und</strong> sehen den Menschen ganzheitlich. Dazu gehören auch seine gesellschaftlichen Belange.<br />

Menschen begegnen uns auch, die sich in gesellschaftspolitischem Bereich w<strong>und</strong>gerieben haben. Sie<br />

kommen - auch als Nichtchristen - zu uns in die Kirche <strong>und</strong> suchen Verstehen <strong>und</strong> Gespräch. Diesem<br />

Anliegen stellen wir uns mit unseren Möglichkeiten, da es der Kirche von Anfang an geboten ist, sich<br />

Menschen in innerer oder äußerer Not im Namen Jesu zuzuwenden. Wir sehen es auch als unsere Aufgabe<br />

an, zu Verhältnissen in unserer Gesellschaft beizutragen, unter denen Menschen keine Anträge mehr auf<br />

Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR stellen. Wir sind realistisch genug zu wissen, daß diese<br />

unsere Haltung nicht von allen verstanden, geschweige denn gewürdigt wird. In letzter Zeit wird von<br />

verschiedener Seite sehr unterschiedlich über unsere Stadtkirche St. Nikolai berichtet. Der<br />

Kirchenvorstand ist immer dann besonders betroffen, wenn die Berichterstattung - wie im Artikel der LVZ<br />

vom 24./25. Juni 1989 587 - vordergründig der Verunklarung statt dem Verstehen <strong>und</strong> dem Frieden dient.<br />

Daß es auch anders geht, bewies der Artikel in der LVZ vom 4. Juli 1989 („Wer auf Vernunft <strong>und</strong> guten<br />

Willen setzt, sucht das Gespräch“) 588 . Da auch wir zum Dialog keine vernünftige Alternative sehen <strong>und</strong><br />

die gemeinsame Überwindung der Probleme für notwendig halten, hat sich der Kirchenvorstand zu diesem<br />

außergewöhnlichen Schritt entschlossen, Sie, Herr Staatssekretär, um ein Gespräch zu bitten.<br />

Mit vorzüglicher Hochachtung<br />

Pfarrer [gez.] C. Führer<br />

ausgesprochen wurden.“ (Bericht des Leiters der Abteilung IX/AuI/ba-rie der BV des MfS Leipzig, Oberst<br />

Etzold. ABL H 8)<br />

586 Zentrale Untersuchungsabteilung des MfS. Sie entschied im allgemeinen über das Strafmaß bei erfolgten<br />

Verhaftungen nach den Friedensgebeten (s. oben, Anm. g4***). Jede „Zuführung“ mußte der HA IX gemeldet<br />

werden (Besier/Wolf 569).<br />

587 vgl. Anm. 571<br />

588 Der Artikel von Roland Krayer stellt die verschiedenen Gespräche Honeckers mit den Vertretern der<br />

evangelischen Kirchenleitungen 1978 <strong>und</strong> 1988 <strong>und</strong> das Gespräch mit Bischof Gienke in eine Reihe. Darin heißt<br />

es u.a.: „Manche Turbulenzen dürfen den Blick nicht dafür trüben, daß sich insgesamt ein konstruktives<br />

Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Kirche in unserem Staat entwickelt hat. Die Erfahrungen beider Seiten besagen: Wer<br />

auf Vernunft <strong>und</strong> guten Willen setzt, sucht stets das Gespräch.“<br />

285


188 Kirchenbucheintragung<br />

Kirchenvorstands/Vorsitzender<br />

Die Eintragungen aus dem Gästebuch VII der Nikolaikirche vom 15.08.1989 (Nikolaikirchgemeinde).<br />

15.8.89 Ihr seid auf dem richtigen Weg. [... Es folgen 11 Unterschriften, teilweise mit Ortsangaben<br />

(Reichenbach). Danach eine ungarische Eintragung, ein Name <strong>und</strong> eine estnische Eintragung]<br />

Haltet durch! Es ist doch zum erstenmal wirklich alles in Bewegung. Erhaltet uns diesen Teil von<br />

Deutschland - uns allen. [/] Christa u. Adolf Braun, Hattenhofen in Baden-Württemberg<br />

[... Es folgen 12 Eintragungen, d.h. Namen von Bürgern aus Flensburg, USA, Wien, Armenien, Italien <strong>und</strong><br />

UdSSR]<br />

Macht weiter so, haltet Euch!!! 15.8.1989 [/] Kerstin Granzow [/] Niebüll/BRD<br />

Feodor Schmidt Unna/Westfalen dto. 15.8.89<br />

15. August 89 Fürth Bayern - Leipzig [/] Es stimmt, alles ist in Bewegung! Die Verbindungen werden nie<br />

zerreißen, solange mein Herz für Leipzig schlägt. Der Tag wird kommen, wo alle Glocken im Land<br />

erklingen werden <strong>und</strong> unser Land vereint sein wird. Unser großer Gott wird uns dabei helfen. Ich stehe<br />

hier, ich kann nicht anders. [/] In tiefer Verb<strong>und</strong>enheit Lothar Weigel<br />

[... es folgen noch 16 Eintragungen, meist nur Namen u.a. aus Ungarn, Spanien <strong>und</strong> Argentinien]<br />

189 Basisgruppenerklärung<br />

Erklärung zu einem Fasten in der Leipziger Thomaskirche, welches K. Hattenhauer, J. Koch <strong>und</strong> M. Dietel<br />

am 27.08.1989 begannen. Unter der Erklärung wurden Ort, Datum <strong>und</strong> die Namen <strong>und</strong> Adressen von K.<br />

Hattenhauer <strong>und</strong> J. Koch mit Hand angefügt (ABL H 1).<br />

Beim aufmerksamen Hören - Sehen - Empfinden in diesem Land, beim Erleben seiner Menschen <strong>und</strong> des<br />

Sich-Selbst-Erlebens mit all seinen Abhängigkeiten, Konfrontationen, Zwängen, Ängsten,<br />

Beschneidungen <strong>und</strong> dem damit fehlenden Spielraum an Möglichkeiten in der eigenen Persönlichkeit<br />

drängt sich der Vergleich einer Leibeigenschaft auf. Wir sind verplant in Strukturen, die uns bedrängen,<br />

vereinzeln <strong>und</strong> ohnmächtig machen. Sie äußern sich im Aufdiktieren von Meinungen <strong>und</strong><br />

Handlungsweisen, im Ausgeliefertsein an eine bis ins Detail vom Staat kontrollierte gesellschaftliche<br />

Öffentlichkeit. Dies sind wohl auch hauptsächliche Ursachen fehlender Partizipation in Politik <strong>und</strong><br />

Wirtschaft. Sprechend hierfür sind Erscheinungen wie Teilnahmslosigkeit am gesellschaftlichen<br />

Zusammenleben, Erstarrung des geistig-kulturellen Lebens, fehlende Arbeitsmotivation, Resignation,<br />

Hoffnungslosigkeit bis hin zu erschreckend massiven Ausreisewellen. Auswegslosigkeit, Sinnentleerung,<br />

fehlende Mitsprache- <strong>und</strong> Gestaltungsmöglichkeiten sind Zeichen eines Systems der Bevorm<strong>und</strong>ung.<br />

Es macht Schaudern zu bedenken, daß die Einheit des Wollens von Volk <strong>und</strong> Partei als Gr<strong>und</strong>stein der<br />

Gesellschaft gelegt ist, tatsächlich aber daß die Parteiführung als das für uns einzig gesetzgebende Organ<br />

gilt. Schaudern darum, weil diese exklusive Minderheit ein Deutungs- <strong>und</strong> Interpretationsmonopol für sich<br />

in Anspruch nimmt. Wir suchen nach Wegen <strong>und</strong> Zeichen, die aus dieser Apathie führen. Wir selbst<br />

fühlen uns besetzt <strong>und</strong> überfremdet. Wir wollen nicht länger verharren in einem Zustand der<br />

Teilnahmslosigkeit <strong>und</strong> Gleichgültigkeit. Wir sind auf der Suche nach neuen Ansätzen. Deshalb wählen<br />

wir als Zeichen eines möglichen Neuanfangs das Fasten. Denn Fasten heißt für uns Umkehr: Wir stellen<br />

uns damit in eine Tradition christlichen Handelns, die auf Erneuerung zielt <strong>und</strong> die die Umkehr<br />

Wirklichkeit werden lassen will. Fasten ist ein den ganzen Menschen, in der Einheit von Körper <strong>und</strong> Geist<br />

reinigendes Handeln, das uns befreit von den uns umgebenden Zwängen <strong>und</strong> uns öffnet für eine neue<br />

Selbstwahrnehmung. Mit der Verweigerung der Nahrungsaufnahme wollen wir unseren Körper als Gefäß<br />

bereitmachen für neue Inspirationen.<br />

„Die Ideale einer besseren Welt <strong>und</strong> die Träume davon sind nämlich eine nicht wegzudenkende<br />

Dimension jedes wirklichen Menschseins, ohne sie <strong>und</strong> ohne die Transzendenz des ‘Gegebenen’, die sie<br />

286


vorstellen, verliert das menschliche Leben Sinn, Würde <strong>und</strong> seine Menschlichkeit selbst.“ (V. Havel ) 589<br />

Wir können das Bedroht- <strong>und</strong> Betroffensein nicht mehr anders ertragen, als fastend <strong>und</strong> betend.<br />

Wir beten um Einkehr, Abkehr <strong>und</strong> Umkehr.<br />

Wir beten um Abkehr von der uns erfaßten Gleichgültigkeit <strong>und</strong> Resignation in unserer Gesellschaft. Wir<br />

beten um Weisheit <strong>und</strong> Mut, damit wieder Heimat werde, was vielen nur noch Enge <strong>und</strong> Gefängnis ist.<br />

Wir beten um Gottes Beistand <strong>und</strong> um die erneuernde <strong>und</strong> gestaltende Kraft der Vergebung für unsere<br />

Gesellschaft. Mögen alle, die wie wir nicht mehr ertragen können, was uns bedroht <strong>und</strong> bedrängt, sich auf<br />

den Weg des Neuanfangs wagen.<br />

Laßt uns der Stadt Bestes suchen 590.<br />

190 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />

Kopie des Briefes des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig, Seidel, vom 25.08.1989 an Bischof Hempel mit<br />

der Bitte, die Friedensgebete nicht am 04.09.1989 beginnen zu lassen 591 (StAL SED 5126).<br />

Sehr geehrter Herr Landesbischof!<br />

Es sind erst wenige Wochen vergangen, seitdem wir anläßlich des Kongresses <strong>und</strong> Kirchentages der<br />

sächsischen Landeskirche mehrfach Gelegenheit hatten, uns zu begegnen. Der positive Verlauf dieser<br />

kirchlichen Großveranstaltung zeigt einmal mehr, daß ein vertrauensvolles <strong>und</strong> konstruktives Miteinander<br />

zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche selbst in einer bewegten Zeit vieles ermöglicht. Erneut hat es sich als eine<br />

tragfähige Gr<strong>und</strong>lage für die weitere Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat <strong>und</strong> Kirche in unserem<br />

Lande erwiesen. [/] Ich weiß, daß Ihnen als Landesbischof wie auch als ehemaligen Bürger unserer Stadt<br />

das Montagsgebet in der Nikolaikirche sehr am Herzen liegt. Mit besonderem Respekt habe ich<br />

vernommen, mit welchem Einsatz Sie persönlich beruhigend auf die dort entstandene Situation<br />

einwirkten. [/] Da Provokationen durch bestimmte Personen auch am kommenden Messemontag<br />

befürchtet werden müssen, habe ich mich in einem Brief an den Kirchenvorstand von St. Nikolai - St.<br />

Johannis mit der Bitte gewandt, den Wiederbeginn des Montagsgebetes am 4.9.1989 auszusetzen. [/] Es<br />

589 Dieses Havel-Zitat hatte die „Demokratische Initiative - Initiative zur demokratischen Erneuerung der<br />

Gesellschaft (DI)“ im Februar 1989 über ihre Gr<strong>und</strong>satzerklärung gesetzt (s. Mitter/Wolle, 164f.).<br />

590 Ursprünglich sollte die Fastenaktion am 13. August, zum Jahrestag des Mauerbaus beginnen. Als Ort wurde die<br />

Thomaskirche gewählt, da es dort keine FG gab. Damit eine öffentliche Wirkung erreicht würde, begannen die<br />

drei Jugendlichen (Theologiestudenten bzw. ehemalige Theologiestudenten) eine Woche vor dem Beginn der<br />

Leipziger Messe. Das ZDF filmte den Einzug von K. Hattenhauer <strong>und</strong> J. Koch am Morgen des 27.08.1989 in die<br />

Thomaskirche. Zu einer Sendung am Abend - wie geplant - kam es jedoch nicht. Da der dritte Student (M. Dietel)<br />

fehlte. Dieser kam jedoch im Laufe des Tages. Der Küster führte die drei Studenten in die Sakristei, die neben<br />

dem Altar in der ersten Etage im Turm ist. Dort übergaben sie die hier dokumentierte Erklärung. Dieser<br />

informierte dann den Hauptpfarrer Ebeling, der sofort eine „Dienstbesprechung“ durchführte, bei der beschlossen<br />

wurde, daß die Sakristei verschlossen wird. Pf. Ebeling verlangte ein sofortiges Verlassen der Kirche. Der<br />

Superintendent Richter wollte ebenfalls, daß die Aktion schnell beendet wird. Er versuchte, die Studenten zu<br />

überreden. Als argumentative Gr<strong>und</strong>lage verwendete er unter anderem die Erklärung der Studenten <strong>und</strong> meinte,<br />

es sei unchristlich, seinen Körper so „wegzuwerfen“. Abgebrochen wurde die Fastenaktion am 28.08. gegen<br />

14.30 Uhr vor allem deshalb, weil M. Dietel sie nicht mehr mittrug <strong>und</strong> sich bei den Verhandlungen auf die Seite<br />

von Pf. Ebeling <strong>und</strong> Sup. Richter stellte. Zu diesem Zeitpunkt kam die Nachricht über die Fastenaktion im RIAS.<br />

Daraufhin wurden die staatlichen Stellen aktiv <strong>und</strong> nahmen Kontakt mit Pf. Ebeling <strong>und</strong> Sup. Richter auf <strong>und</strong><br />

erfuhren so am Abend des 28.08.1989, daß die Fastenaktion beendet sei (Aktennotiz von E. Weiser zum<br />

Gespräch mit dem Superintendenten des Kirchenbezirkes Leipzig-West, Sup. Richter, <strong>und</strong> dem Pfarramtsleiter<br />

der Thomaskirche, Pfr. Ebeling, in der Superintendur, Leipzig-West am 29.08.1989 - StAL SED 5126; vgl.<br />

Dietrich (1991)). Dies wurde am 29.08. an das StfK, die AG Kirchenfragen beim ZK der SED <strong>und</strong> an das MfS<br />

gemeldet (Jakel an Opitz am 29.08.1989 - StAL BT/RdB 22377, s.a. Dok. 197). Am 31.08.1989 behauptete der<br />

Stasi-Minister Mielke, daß die Studenten „fast einen Krieg führen wollten“ (Mitter/Wolle, 138). Zur Tradition<br />

des Fastens in Leipzig s. Anm. 88.<br />

591 Die beiden Briefe wurden nachträglich durch das Sekretariat der SED-SL bestätigt (am 31.08.89 - Beschluß-<br />

Protokoll Nr. 18/89, S. 14 - StAL SED N 901)<br />

287


ist mir ein aufrichtiges Bedürfnis, Sie in der Anlage vom Inhalt dieses Briefes zu informieren in der<br />

Hoffnung darauf, daß Sie, Herr Landesbischof, mein darin geäußertes Anliegen hilfreich begleiten.<br />

Mit vorzüglicher Hochachtung [/ gez.] Dr. Seidel [/] Oberbürgermeister<br />

191 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />

Kopie des Briefes des OBM der Stadt Leipzig, Seidel, vom 25.08.1989 an den KV St. Nikolai, mit der Bitte,<br />

die Friedensgebete nicht am 04.09.1989 beginnen zu lassen (StAL SED A 5126).<br />

Sehr geehrter Herr Vorsitzender <strong>und</strong> werte Mitglieder des Kirchenvorstandes von St. Nikolai - St.<br />

Johannis!<br />

Mit Besorgnis verfolge ich die wiederhaltigen Versuche von Personen, die Montagsgebete in der<br />

Nikolaikirche zu mißbrauchen <strong>und</strong> unter Mißachtung der Rechtsordnung der DDR <strong>und</strong> Ausnutzung der<br />

Öffentlichkeit Druck auf staatliche Organe auszuüben. In dieser Zeit, die gekennzeichnet ist vom Versuch<br />

bestimmter Kreise der BRD, mittels einer großangelegten Kampagne in den Medien die Politik der DDR<br />

zu diffamieren, sind Provokationen vor der internationalen Öffentlichkeit unter Mißbrauch des<br />

Montagsgebetes am Messemontag nicht auszuschließen. Angesichts der Gefahr einer solchen<br />

Entwicklung, die dem Ansehen unserer Stadt als internationaler Messemetropole <strong>und</strong> der Nikolaikirche<br />

Schaden zufügen könnte, bitte ich Sie im Vertrauen auf Ihr Verantwortungsbewußtsein als<br />

Kirchenvorsteher <strong>und</strong> als Bürger der DDR, Ihre Entscheidung, mit dem Montagsgebet am 4.9.1989 wieder<br />

zu beginnen, nochmals zu überdenken. Ich erkläre meine Bereitschaft, mit Ihnen dazu in ein direktes<br />

Gespräch zu treten. Ihrem Vorschlag für ein solches Gespräch sehe ich entgegen. Eine Kopie dieses<br />

Briefes übersende ich Herrn Landesbischof Dr. Hempel.<br />

Hochachtungsvoll [/ gez.] Dr. Seidel [/] Oberbürgermeister<br />

192 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Auszug aus einer Information des Rates des Bezirkes Leipzig, Bereich Kirchenfragen, vom 28.08.1989 über<br />

ein Gespräch zwischen Reitmann, OLKR Schlichter <strong>und</strong> OKR Auerbach am 22.08.1989, in dem der<br />

Kirchentag 1989 ausgewertet wurde. Unterzeichnet wurde die Information von Jakel <strong>und</strong> („zur Kenntnis<br />

genommen“) Reitmann (StAL BT/RdB 21395 <strong>und</strong> in: StAL BT/RdB 21727, BArch O-4 1117).<br />

Zu Beginn des Gesprächs würdigte Gen. Dr. Reitmann die Durchführung des Kirchentages <strong>und</strong><br />

Kirchentagskongresses in Leipzig, die vereinbarungsgemäß verlief, Störungen, konfrontative Pläne <strong>und</strong><br />

Absichten weitgehend verhindert werden konnten.<br />

OLKR Schlichter brachte seinerseits den kirchlichen Dank an Gen. Dr. Reitmann zum Ausdruck. Er sei<br />

froh, daß der Kirchentag so gelaufen sei.<br />

[...] Zur Wiederaufnahme der montäglichen Friedensgebete in der Nikolaikirche Leipzig, beginnend mit<br />

dem 4.9.89, erläuterte Gen. Dr. Reitmann die politische Brisanz dieses Tages im Kontext der Leipziger<br />

Messe <strong>und</strong> forderte die kirchlichen Vertreter auf, über die Verantwortung dazu gründlich nachzudenken,<br />

eine Verlegung des Beginns der Friedensgebete zu erwägen.<br />

OLKR Schlichter <strong>und</strong> OKR Auerbach brachten zum Ausdruck, daß die Tatsache der<br />

Verantwortungsübernahme für den 4.9. durch Sup. Magirius für sie keine inhaltlichen Bedenken bringt.<br />

Der Sup. Magirius, so Auerbach, hat das LKA informiert, daß der 4.9.89 vom KV so beschlossen ist. Man<br />

könne jetzt den KV nicht mehr anders beeinflussen. Was sich um die Nikolaikirche sammelt, würde vom<br />

Friedensgebet nicht beeinflußt werden. 14 Tage vorher könne man nichts mehr machen. Dann ist es doch<br />

so, daß der Casus 50 Jahre Beginn 2. Weltkrieg doch niemanden kalt lasse. Wir haben keinen Gr<strong>und</strong>,<br />

etwas zu verändern. Seines Erachtens müsse man die Spannung aushalten. Es wäre von staatlicher wie von<br />

kirchlicher Seite nicht gut, überreaktiv zu sein. „Die Ausreisethematik ist so hart, daß sie auch ohne das<br />

andere thematisiert wird.“<br />

Im Zusammenhang mit der Bitte, Sup. Ziemer, der während des sogenannten Messemännerabends in<br />

288


Leipzig auftritt, mit dem Gesamtbild vertraut zu machen <strong>und</strong> ihm auch die staatliche Erwartungshaltung<br />

zu verdeutlichen, forderte Gen. Dr. Reitmann die beiden kirchlichen Vertreter ernsthaft auf, alles zu tun,<br />

daß keine Begünstigung für Demonstrativhandlungen vor der Nikolaikirche erfolgen. Zum Abschluß des<br />

Gesprächs bat OKR Auerbach für die Sozialhelferin Frau Unger um Unterstützung bei der Abwendung<br />

einer Ordnungsstrafverfügung über 800,- Mark, die ihr gegenüber nach einer Zuführung am 7.5.89 durch<br />

die VP ausgesprochen wurde. Dies wurde von Gen. Dr. Reitmann abgelehnt <strong>und</strong> zurückgewiesen, mit<br />

klaren rechtlichen Positionen begründet.<br />

Gen. Dr. Reitmann verwies die kirchlichen Vertreter auf einen zunehmenden Mißbrauch kircheneigener<br />

Vervielfältigungsgeräte zur Herstellung ungenehmigter <strong>und</strong> unbesehbarer Druckerzeugnisse <strong>und</strong> forderte<br />

sie auf, gründlicher zu besehen, welche Inhalte verbreitet werden sollen <strong>und</strong> vor allem durch wen. OLKR<br />

Schlichter wurde angesprochen, für die Durchsetzung seiner Weisung zum Gebrauch von<br />

Vervielfältigungsgeräten <strong>und</strong> der Nomenklatur von innerkirchlichen Dienstsachen Sorge zu tragen 592.<br />

Das Gespräch verlief in offener Atmosphäre. Beide Herren wirkten locker <strong>und</strong> unverkrampft sowie<br />

gesprächswillig.<br />

193 Kirchenvorstandsprotokoll<br />

Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 53. Sitzung des KV St. Nikolai vom 28.08.1989, in dem die<br />

staatliche Bitte, das Friedensgebet zu verlegen, abgelehnt wurde. Das Protokoll wurde von W. Hofmann<br />

angefertigt <strong>und</strong> u.a. von C. Führer <strong>und</strong> F. Magirius unterzeichnet (ABL H 54).<br />

Tagesordnung: 1. Personal- <strong>und</strong> Wohnraumsituation [/] 2. Liste Montagsgebete [/] 3. Zwischenbescheid<br />

Staatssekretariat f. KF [/] 4. Umpfarrung [/] 5. Lesung Günter Grass [/] 6. Verschiedenes [/] 7. Etwaige<br />

weitere Gegenstände<br />

[...] Zu 2.) Für die beschlossenen Termine des Montagsgebetes werden Kirchvorsteher gebeten, begleitend<br />

teilzunehmen. Eine Liste dazu wird erstellt. [/] Mitteilung über die Aufnahmen des österreichischen<br />

Fernsehens im Gottesdienst des vergangenen Sonntags. [/] Herr Müller, Kirchenfragen beim Rat des<br />

Bezirkes, bittet um Verlegung des Montagsgebetes von 17.00 Uhr auf 18.00 Uhr, um nach der<br />

Ladenschlußzeit [18.00 Uhr] die Teilnehmer zu entlassen. Verlesung eines Briefes des<br />

Oberbürgermeisters Dr. Seidel betr. der Entscheidung des KV, das Montagsgebet nach der Sommerpause<br />

am 4. September zu beginnen593 . [/] Der Kirchenvorstand entscheidet sich, dem Wunsch von Herrn<br />

Müller auf zeitliche Verlegung nicht zu entsprechen. [/] Hinsichtlich des Briefes vom OBM Dr. Seidel<br />

wird eine Aussprache geführt. Der einzige vorgeschlagene Gesprächstermin für Donnerstag 17.30 Uhr im<br />

Neuen Rathaus kann nicht wahrgenommen werden. [/] Das Gesprächsangebot des KV wird für Freitag<br />

17.30 Uhr vereinbart. Teilnehmer die KV-Mitglieder Magirius, Führer, Pester, Grünert, Pörner, Dr.<br />

Bormann, Eichelbaum, Ramson. [/] Für die Gruppe Gerechtigkeit, die für das Montagsgebet am 11.9.89<br />

verantwortlich ist, ist kein Pfarrer gemeldet worden. [/] Die Durchführung durch diese Gruppe ist somit<br />

nicht möglich.<br />

Zu 3.) Staatssekretär Löffler, Staatssekretariat für Kirchenfragen, bestätigt telefonisch das Schreiben des<br />

KV594 <strong>und</strong> stellt Antwort für Anfang September in Aussicht. [/] - Bericht über das Gespräch der Vertreter<br />

des KV mit Herrn Urban 595 im Zusammenhang mit dem Zeitungsartikel die Montagsgebete betreffend.<br />

194 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />

Antwortbrief Pfarrer Führers an den Oberbürgermeister vom 29.08.1989. Die Vorlage der Herausgeber war<br />

eine Xerokopie, die zusammen mit den Briefen des Oberbürgermeisters von diesem an den 1. Sekretär der<br />

592 vgl. Anm. 408<br />

593 s. Dok. 191<br />

594 s. Dok. 187<br />

595 vgl. Dok. 231<br />

289


SED-Stadtleitung gesandt wurde (StAL SED A 5126).<br />

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister!<br />

Ihren Brief vom 25.VIII.1989, den wir am 28.VIII.1989 durch persönliche Überbringung erhielten, haben<br />

wir erhalten <strong>und</strong> am gleichen Abend im Kirchenvorstand beraten. Ein Aussetzen des Montagsgebetes am<br />

04. September ist aus mehreren Gründen nicht möglich:<br />

1. Seit zwei Monaten ist dieser Termin öffentlich bekannt, u.a. in den Kirchennachrichten, Aushängen etc.<br />

2. Die Menschen kommen am Montag 17 Uhr. Ein Aussetzen unsererseits würde auf völliges<br />

Unverständnis stoßen <strong>und</strong> zu einer Verschärfung der Situation führen <strong>und</strong> unkontrollierte Deutungen<br />

begünstigen.<br />

3. Ein Mißbrauch des Montagsgebetes ist von uns noch nicht festgestellt worden. Wir haben allerdings mit<br />

steigender Beunruhigung sehen müssen, daß durch die sichtbare Polizeipräsenz vom 7. Mai 1989 an<br />

steigende Spannungen zu verzeichnen sind. An den wenigen Montagen, an denen die Polizei die<br />

Kirche nicht abriegelte, war nach 30 Minuten der Kirchplatz leer, ohne daß es zu irgendwelchen<br />

Irritationen gekommen wäre. Wir haben die maßgeblichen Stellen auch des Rates des Bezirkes schon<br />

mehrfach darauf hingewiesen.<br />

Ihr Gesprächsangebot nehmen wir an. Wir haben in Anbetracht der Kürze der Zeit nur noch Freitag, 01.<br />

September, um 17.30 Uhr ermöglichen können. Teilen Sie mir bitte noch mit, ob der Termin für Sie<br />

möglich ist <strong>und</strong> wo das Gespräch stattfinden sollte. Dieses Schreiben wird vereinbarungsgemäß von Herrn<br />

Fenzlau, Abteilung Kirchenfragen, am heutigen Tag 15.30 Uhr persönlich abgeholt <strong>und</strong> Ihnen überbracht.<br />

Hochachtungsvoll Pfarrer [gez.] Führer [/] Kirchenvorstand/Vorsitzender<br />

195 Stasi-Notizen<br />

Auszug aus Mitschrift des Oberstleutnant Seidel zur Dienstversammlung am 02.09.1989, auf der der Leiter<br />

der BV (Hummitzsch) sprach (BStU Leipzig AB 3838, MfS 54a).<br />

Montag bei Niko [/] Der Kirchenvorstand ist nicht bereit das Gebet ausfallen zu lassen. Auf Wunsch des<br />

Staates keine positive Reaktion. Total verhärtete Situation wird sich kaum ändern. Thema ist so<br />

ausgereizt, daß wir kaum Neues machen können. Alle Bedingungen für weitere Provokationen sind<br />

gesetzt. Ziel hohe Risikobereitschaft, Anlegen mit MfS, VP. Auf heißen Montagabend einstellen. Kirche<br />

wird voll sein zum Bersten umlagert von Journalisten. Magirius wird harmlose Rede halten aber es genügt<br />

einziger Funke um es „Denen mal zu zeigen“ um eine große Stori [sic!] zu machen. Alle Leiter müssen<br />

alle Möglichkeiten nutzen, bekannte Personen davon abzuhalten 596 . Es darf uns nicht außer Kontrolle<br />

geraten.<br />

196 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Aktennotiz vom Rat der Stadt Leipzig, Bereich Kirchenfragen, vom 04.09.1989 über ein Gespräch zwischen<br />

dem Oberbürgermeister der Stadt Leipzig <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand von St. Nikolai am 01.09.1989. Die<br />

Notiz wurde von Fenzlau unterzeichnet (StAL BT/RdB 21957 <strong>und</strong> in: BArch O-4 1117, ABL H 53).<br />

Betr.: Gespräch des OBM mit Vertretern des Kirchenvorstandes der Nikolaikirche am 1.9.1989 - 17.30<br />

Uhr - 19.10 Uhr<br />

Anlaß des Gesprächs war der Brief des OBM an den Kirchenvorstand der Nikolaikirche <strong>und</strong> der<br />

Antwortbrief des Kirchenvorstandes an den OBM.<br />

Seitens der Nikolaikirche waren anwesend: Sup. Magirius, Pfr. Führer, Herr Eichelbaum, Dirk, Herr<br />

Grünert, Wilfried, Herr Ramson, Lutz, Frau Dr. Bormann, Maria, Frau Pörner, Ursula<br />

596 Die in OV bzw. OPK „Märtyrer“, „Kerze“, „Trompete“, „Dieb“, „Opponent“ <strong>und</strong> „Meise“ „bearbeiteten“<br />

Personen sollten z.B. durch die Abt. VIII während des 3./4.9. beobachtet werden (BStU Leipzig AB 1137 unter<br />

Referatsleiterbesprechung der Abt. XX am 02.09.1989)<br />

290


Staatlicherseits waren zugegen: OBM - Gen. Dr. Seidel, Stellv. d. OBM f. Inneres - Gen. Sabatowska,<br />

Mitarbeiter Kirchenfragen - Gen. Fenzlau<br />

Durch den OBM wurde eingangs nochmals auf die Fragen eingegangen, die der Anlaß seines Schreibens<br />

an den Kirchenvorstand der Nikolaikirche waren. Wie bereits in dem Antwortbrief des Kirchenvorstandes<br />

an den OBM zu lesen ist, sieht sich der Kirchenvorstand nicht in der Lage, das Montagsgebet am 4.9.1989<br />

abzusetzen, aber insgesamt gab es die Versicherung, im Rahmen dieses „Friedensgebetes“ beruhigend auf<br />

die Teilnehmer einzuwirken. Es wird auch verhindert werden, daß Westmedien Zugang zum<br />

Friedensgebet haben. [/] Im einzelnen gab es folgende Aussagen:<br />

Pf. Führer: Teilt zunächst mit, daß über 50 % des Kirchenvorstandes zu diesem Gespräch anwesend sind.<br />

Der Kirchenvorstand umfaßt insgesamt 13 Personen. Das Friedensgebet ist aus der Friedensdekade<br />

erwachsen <strong>und</strong> wird seit 1982 in der Nikolaikirche durchgeführt. Seit 1987 (Luxemburg-Liebknecht-<br />

Demonstration in Berlin 597 ) gibt es die Zuspitzung der Lage. Seine Gr<strong>und</strong>position: Der Mensch ist<br />

ganzheitlich. Nicht DDR-Bürger auf der einen Seite <strong>und</strong> Christ auf der anderen Seite. Beides ist nicht<br />

voneinander zu trennen. In der Kirche selbst habe es bisher keine Provokationen <strong>und</strong> keinen Mißbrauch<br />

des Friedensgebetes gegeben. Es gab innerkirchliche Probleme im vergangenen Jahr, aber diese seien jetzt<br />

beseitigt. Das Friedensgebet sollte nach der Sommerpause eigentlich am 28.8.1989 wieder beginnen, es<br />

wurde bereits um 1 Woche hinausgerückt <strong>und</strong> wird nun erstmalig am 4.9.1989 wieder stattfinden. Sup.<br />

Magirius selbst wird es durchführen.<br />

Sup. Magirius: Es hat sich in unserer Gesellschaft eine Situation ergeben, daß eine Anzahl Menschen, aus<br />

welchen Gründen auch immer, unsere Republik verlassen wollen. Sicher spielen auch materielle Dinge<br />

eine Rolle. Aber das ist nicht alles. Es gibt bei uns Dinge, die die Menschen müde machen.<br />

Informationspolitik, Benachteiligung im beruflichen Fortkommen, Bürokratismus,<br />

Schwierigkeiten in den Betrieben u.ä.<br />

Wir haben uns nicht ausgesucht, daß sich solche Antragsteller in unserer Kirche zu den Friedensgebeten<br />

versammeln.<br />

Die Kernfrage ist, was geschieht, wenn die Leute die Kirche verlassen. Durch Konfrontation mit der<br />

Polizei werden die Leidenschaften nur noch hochgeputscht. Ganz schlecht ist aber, daß von der Polizei<br />

zugeführte Personen sofort die Ausreise erhalten. Das spricht sich rum.<br />

KV-Mitglied Eichelbaum: Das Problem besteht darin, warum wollen diese Menschen aus der DDR weg.<br />

Man kann nicht alles auf Beeinflussung von außen abschieben. Man muß auch die Ursachen, die bei uns<br />

selbst liegen, erforschen <strong>und</strong> sie verändern.<br />

Problem Umweltschutz, einseitige Hilfe für Berlin<br />

KV-Mitglied Ramson: Der Ausfall des Friedensgebetes am 4.9.1989 hätte noch schlimmere<br />

Auswirkungen, als wenn es stattfindet. Die Leute sind aggressiver geworden. Man muß auf jeden Fall<br />

versuchen, die Anwesenheit der VP zu verringern.<br />

KV-Mitglied Frau Dr. Bormann: Ich bin traurig um jeden DDR-Bürger, der unser Land verläßt. Und da<br />

kann man nicht lächelnd sagen: Das sind ja nur 2%. Uns geht es um jeden Menschen. Wir erfüllen als<br />

Nikolaikirche in bestimmter Weise eine spezielle Funktion. Ich glaube, daß wir auch Aggressionen<br />

abbauen könnten. Es ist nicht einfach für die Verantwortlichen, sich in der Nikolaikirche vor 1000<br />

Menschen hinzustellen <strong>und</strong> zu ihnen zu sprechen. Ich wünsche mir, daß das auch einmal von<br />

Staatsfunktionären erfolgte. Es ist auf jeden Fall falsch, Polizei einzusetzen. Was für Provokationen<br />

befürchten Sie eigentlich? Viele Bürger sind schockiert über diesen Polizeieinsatz.<br />

KV-Mitglied Grünert: Ich wäre sehr dafür, daß sich das alles nicht vor der Nikolaikirche abspielt. Das<br />

müßte vielmehr vor dem Rathaus stattfinden. Ging dann auf Ursache ein, die seine Mutter veranlaßten, die<br />

Republik zu verlassen. (Bürokratismus in Reiseangelegenheiten)<br />

Pf. Führer: Sie, Herr Oberbürgermeister, haben eine anspruchsvolle Weltanschauung. In dessen<br />

Mittelpunkt steht der Mensch. Was sich aber auf dem Nikolaikirchhof abspielt, ist nicht mehr das Ringen<br />

um den Menschen. Das sind Polizeistaatmethoden. Wie sprechen wir mit solchen Menschen? Unser<br />

Vorteil ist, daß wir nicht die Macht haben, deshalb öffnen sich uns gegenüber die Menschen. Sie kommen<br />

aber leider erst dann zu uns, wenn es schon zu spät ist. Das ist nicht nur bei Ehescheidungen so. Das ist<br />

597 Die Demonstration, aus deren Anlaß es zu Verhaftungen in Berlin kam, fand am 17.01.1988 [!] statt.<br />

291


auch so im Falle des Antrages auf Übersiedlung. Sie kommen erst dann, wenn sie schon 2-3 Jahre den<br />

Antrag gestellt haben. Aber wir sprechen mit ihnen, hören ihnen zu. Beim Staatsorgan fühlen sich diese<br />

Menschen meist nur „agitiert“. Wir können aber kaum jemanden veranlassen, hier zu bleiben. Man muß<br />

auf jeden Fall die Ursachen ansprechen, auch wenn es weh tut. Man kann das aber nicht so tun, wie in<br />

dem Artikel in der LVZ „Was treibt Frau K. ins Stadtzentrum?“ Das war die Frau des Parteisekretärs der<br />

Möbelwerke in Wurzen. Dieser Parteisekretär war von einer Reise in die BRD nicht zurückgekehrt. Wir<br />

haben von dieser Tatsache aber keinen Gebrauch gemacht, um die Stimmung nicht weiter anzuheizen.<br />

Unsere Erfahrungen sind auf jeden Fall: Lassen Sie die Polizei weg, dann tritt schnell Ruhe vor der<br />

Nikolaikirche ein.<br />

Der OBM griff mehrfach in die Diskussion ein <strong>und</strong> legte die Dinge aus unserer Sicht dar. Auf Gr<strong>und</strong> der<br />

fortgeschrittenen Zeit (die Mitglieder des Kirchenvorstandes wollten am Gedenkgottesdienst anläßlich des<br />

50. Jahrestages des Beginns des 2. Weltkrieges in der Nikolaikirche teilnehmen) konnten nicht alle Fragen<br />

ausdiskutiert werden.<br />

Ein Vorschlag zur Weiterführung des Gesprächs zu einem späteren Zeitpunkt wurde von Pf. Führer<br />

abgeblockt 598 mit der Bemerkung, daß es nicht üblich sei, daß Kirchenvorstände mit staatlichen Organen<br />

sprechen.<br />

Das Gespräch verlief insgesamt in einer von beiden Seiten offenen, freimütigen <strong>und</strong> sachlichen Form.<br />

197 Staatliche Einschätzung<br />

Auszug aus einem Informationsbericht des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig<br />

für Inneres, Reitmann, zur Situation auf dem Gebiet der Staatspolitik in Kirchenfragen Juli/August 1989 vom<br />

05.09.1989. Die Information trägt den Stempel „Dienstsache Expl. Nr. 6/89/01“, den Eingangsstempel des<br />

Staatssekretärs für Kirchenfragen vom 11.09.1989 <strong>und</strong> verschiedene Bearbeitungsspuren (BArch O-4 1117).<br />

Evangelische Kirchen [/] zu 1.<br />

Im Mittelpunkt der kirchlichen Arbeit des Berichtszeitraumes standen die geplanten kirchlichen<br />

Aktivitäten, die Einwirkung auf die Situation um die Nikolaikirche zu Leipzig <strong>und</strong> die Führung des<br />

politischen Gesprächs zur Erläuterung der wirtschafts- <strong>und</strong> gesamtpolitischen Strategie von Partei <strong>und</strong><br />

Staat. Die Situation in den kirchlichen Gremien ist weiterhin gespannt <strong>und</strong> von der Tendenz gezeichnet,<br />

zunehmend gesellschaftspolitische Themen aufzugreifen <strong>und</strong> sich darüber auszutauschen. Progressive<br />

Kräfte <strong>und</strong> Gruppierungen beschreiben oft eine „Wirkungslosigkeit“ ihrer Haltungen <strong>und</strong> Meinungen. Es<br />

sind auch Haltungen spürbar, einem Gespräch mit Vertretern der Staatsorgane auszuweichen. [...] Die<br />

Situation um die Nikolaikirche betreffend führten der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des<br />

Bezirkes für Inneres Gespräche mit dem amtierenden Präsidenten des LKA Sachsens <strong>und</strong> OKR Auerbach<br />

sowie der Stellvertreter des OBM der Stadt Leipzig für Inneres mit den Leipziger Superintendenten.<br />

Gleichzeitig brachten die Stellvertreter Inneres der Räte der Kreise <strong>und</strong> Stadtbezirke in ihren Gesprächen<br />

mit Superintendenten <strong>und</strong> leitenden Amtsträgern die staatliche Erwartungshaltung gegenüber den<br />

Ereignissen um die Nikolaikirche zum Ausdruck, wobei gleichzeitig eine Bewertung der gegenwärtigen<br />

Hetzkampagne gegen die DDR erfolgte.<br />

Einige beispielhafte Positionen: [/] Superintendent Magirius, Leipzig-Stadt:<br />

„Es ist schmerzlich für ihn zu sehen, wie zum 40. Jahrestag der DDR der einstmalige Schwung beschädigt<br />

ist. Ein Stück Gr<strong>und</strong>vertrauen in der Bevölkerung ist verlorengegangen. Er hat den Eindruck, die Führung<br />

wisse nicht, was im Lande geschieht. Besonders belastend ist für ihn die Medienpolitik. Diese gebe die<br />

Stimmung der Bevölkerung nicht wieder. Er habe von Marxisten gehört, wie theoretisch klar die<br />

Kategorien gesellschaftliches Bewußtsein, Alltagsbewußtsein u.a.m. gehandhabt werden sollen. Er wolle<br />

keine andere DDR, sondern diese wieder in Fahrt bringen. Es kann uns doch nicht egal sein. wenn so viele<br />

Leute weggehen wollen. Er habe die Bitte <strong>und</strong> sage es nun schon zum often Male, Erfolge <strong>und</strong> Probleme<br />

598 „abgeblockt“ wurde im Exemplar der Abt. XX/4 des MfS dick unterstrichen. Aufgr<strong>und</strong> der Vermerke auf dem<br />

Exemplar kann davon ausgegangen werden, daß die Aktennotiz am 4.9. beim MfS war.<br />

292


in richtigem Verhältnis zu nennen. Auch der Brief der KKL an die Regierung der DDR599 hätte eine<br />

Antwort finden müssen“. Bezug nehmend auf die Wiederaufnahme der Friedensgebete gab Magirius an,<br />

daß er den Beschluß des Kirchenvorstandes von St. Nikolai, die Friedensgebete am 4.9.89 wieder<br />

durchzuführen, teile <strong>und</strong> er für die Durchführung am 4.9.89 selbst die Verantwortung übernimmt. Mit<br />

dem, was auf der Straße ablaufe werde, könne man sich nicht identifizieren600 . Hier warte man auf ein<br />

Zeichen vom Staat. Innerhalb der Kirche nehme man die volle Verantwortung wahr. (Zur Position der o.g.<br />

Vertreter des LKA Sachsens siehe Gesprächsinformation in der Anlage 601)<br />

Zu 1.5)<br />

Aufgr<strong>und</strong> einer „unbefristeten Fastenaktion“ von drei Personen in der Thomaskirche zu Leipzig (zwei<br />

ehemalige Theologiestudenten <strong>und</strong> ein Studierender des Theologischen Seminars Leipzig), die am<br />

27.08.1989 begann <strong>und</strong> am 28.08.1989 durch das Eingreifen des Sup. Richter <strong>und</strong> des Pf. Ebeling<br />

„einsichtsvoll beendet wurde“, wurde mit beiden Amtsträgern durch den Rat der Stadt, Kirchenfragen,<br />

eine Aussprache geführt. Richter <strong>und</strong> Ebeling gaben hierzu an:<br />

− Die Meldung des RIAS vom 28.08.1989 habe zwar verkürzt, im wesentlichen aber richtig, die Absicht<br />

bzw. die Beweggründe für die Aktion wiedergegeben.<br />

− Als ersichtlich wurde, daß eine kirchliche Indiskretion die Meldung publik machte, habe man unter<br />

Zeitdruck stehend in besonders intensiven Verhandlungen auf die jungen Leute eingewirkt, die Aktion<br />

zu beenden.<br />

− Der Zeitdruck <strong>und</strong> die sich abzeichnende positive Wende seien ausschlaggebend dafür, daß sich<br />

Richter bzw. Ebeling nicht an den Stellvertreter OBM gewandt hätten.<br />

− Sie seien sehr erschrocken gewesen, mit welcher Entschlossenheit diese jungen Leute gewillt waren,<br />

ihre Absichten bis zum Ende durchzustehen.<br />

− Die drei Personen sind keine Chaoten oder Schreier. Ihre ruhige <strong>und</strong> leise Sprache sei Ausdruck großer<br />

Resignation. „Nur mit Gottes Hilfe <strong>und</strong> durch ein Reden mit Engelszungen konnten wir etwas<br />

erreichen.“<br />

− Sie möchten die Frage stellen, wie lange man ihnen als Geistliche noch Gehör schenken werde. In<br />

Gesprächen mit dem Staat auf verschiedenen Ebenen hätten sie wie auch andere Geistliche immer<br />

wieder die Probleme, Sorgen <strong>und</strong> Entwicklungen signalisiert. Jetzt stelle sich einmal die<br />

Gr<strong>und</strong>satzfrage, was denn das viele Reden bewirkt hat. Gar nichts.<br />

− Als Beispiel dafür, was sie meinen, müsse die Art <strong>und</strong> Weise der Berichterstattung des DDR-<br />

Fernsehens über den Leipziger Kirchentag dienen. Obwohl Cieslak einige Monate vor Beginn des<br />

Kirchentages einen entsprechenden Antrag gestellt hat, ist die Information über den Kirchentag völlig<br />

den Westmedien überlassen worden. Eine große Chance, Politik zu transportieren u.a.m. ist vergeben<br />

worden. Diese Vorgehensweise stieß auf großes Unverständnis. [...]<br />

Zu 2.<br />

Trotz staatlicher Einflußnahme auf die sächsische Landeskirchenleitung <strong>und</strong> den Kirchenvorstand der St.<br />

Nikolaikirche zu Leipzig, die Weiterführung des Friedensgebetes nicht auf den 04.09.1989 zu<br />

terminisieren, muß eingeschätzt werden, daß der Appell an eine politische Mitverantwortung der Kirche<br />

im Zusammenhang mit der Durchführung der Leipziger Herbstmesse nicht das entsprechende Ergebnis<br />

gebracht hat.<br />

Sup. Magirius, der das Friedensgebet maßgeblich selbst gestaltete, trug mit seinen Ausführungen nicht zur<br />

Beruhigung <strong>und</strong> Versachlichung bekannter negativer Tendenzen bei, vielmehr sprach er sich fürbittend für<br />

diejenigen jungen Leute aus, die aus ihrer Sicht zu einer Verbesserung der Gesellschaft beitragen wollen.<br />

Er forderte auf, daß sie gehört werden <strong>und</strong> daß ihnen keine strafrechtlichen Konsequenzen angedroht<br />

werden. Fürbitten für einen Dewati aus der CSSR 602,<br />

„der schon das dritte Mal verhaftet worden ist“, für<br />

599 Welcher Brief gemeint ist, ist aus dem Zusammenhang nicht zu ersehen. Der Brief vom 02.09.1989 kann wohl<br />

schlecht gemeint sein.<br />

600 Dieser Satz wurde am Rand zweifach angestrichen.<br />

601 s. Dok. 192<br />

602 Der tschechische Bürgerrechtler Stanislav Devaty wurde 1989 dreimal inhaftiert. Er kam im Sommer aufgr<strong>und</strong><br />

internationalen Protestes <strong>und</strong> eines Hungerstreikes frei. Kurz darauf wurde er jedoch zu 20 Monaten Haft<br />

293


das in Polen Begonnene <strong>und</strong> für seinen persönlichen Fre<strong>und</strong> Tadeusz Masowiecki müssen linienführend<br />

zu der im Anschluß an das Friedensgebet, an dem ca. 1000 Personen teilnahmen, stattgef<strong>und</strong>enen<br />

Provokation gesehen werden 603.<br />

[...]<br />

198 Stasi-Information<br />

Anlage 5 zur Wochenübersicht der ZAIG des MfS über „das sogenannte Montagsgebet“ am 04.09. vom<br />

05.09.1989 (BStU ZAIG 4598, 40f.).<br />

Am 4. September 1989 fand nach einer mehrwöchentlichen Sommerpause in der Zeit von 17.00 Uhr bis<br />

gegen 17.45 Uhr in der Nikolaikirche in Leipzig erneut ein montägliches Friedensgebet statt. Daran<br />

nahmen ca. 1000 Personen teil. Es stand unter dem Thema „Brücken abbrechen“ (Bezugnahme auf den<br />

50. Jahrestages des Ausbruchs des zweiten Weltkrieges) <strong>und</strong> unter Leitung von Superintendent Magirius.<br />

Gebet <strong>und</strong> Fürbitten hatten, bis auf das Aufwerfen der Frage, weshalb in der DDR nicht über die Ursachen<br />

der „Ausreisewelle“ gesprochen werde, keine politischen Züge.<br />

Nach Veranstaltungsende verblieb die Mehrzahl der Teilnehmer auf dem Nikolaikirchhof, formierte sich<br />

danach <strong>und</strong> bewegte sich - analog den zurückliegenden Friedensgebeten - in Richtung Markt. Kurzzeitig<br />

wurden dabei Transparente entfaltet (Texte u.a. „Für ein offenes Land mit freien Menschen“,<br />

„Reisefreiheit statt Massenflucht“), die durch Sicherheitskräfte eingezogen wurden. Durch entsprechend<br />

vorbereitete Maßnahmen wurde die Personenansammlung nach ca. 50 Metern zum Halten gebracht. Auch<br />

eine Änderung der Bewegungsrichtung wurde sofort unterb<strong>und</strong>en. Danach gruppierten sich ca. 250<br />

Personen um am Ereignisort anwesende westliche Korrespondenten. Ein harter Kern dieser<br />

Personensammlung (ca. 30 bis 40 Bürger, darunter Kinder) provozierte durch Rufe wie „Wir wollen raus“,<br />

„Freiheit“, „Nehmt uns mit in die BRD“ 604 . (Die vorgenannten Aktivitäten der DDR-Bürger wurden<br />

wesentlich durch die Anwesenheit <strong>und</strong> das Verhalten westlicher Korrespondenten - insgesamt befanden<br />

sich am Ereignisort 40 westliche Korrespondenten, darunter 32 Korrespondenten aus der BRD <strong>und</strong><br />

Westberlin <strong>und</strong> drei Mitarbeiter ungarischer Medien 605 - inspiriert <strong>und</strong> unterstützt. So erfolgte die Anfahrt<br />

der Teams von ARD <strong>und</strong> ZDF vor dem Montagsgebet direkt bis auf den Nikolaikirchhof - Weisungen von<br />

Kräften der DVP wurden bewußt mißachtet -, <strong>und</strong> Aufnahmetechnik wurde gezielt demonstrativ entladen,<br />

um auf die Anwesenheit der BRD-Medienvertreter aufmerksam zu machen. Nach Veranstaltungsende<br />

kam es zu einer aktiven Aufnahmetätigkeit - Film/Tontechnik -, die demonstrativ <strong>und</strong> gezielt auf die in<br />

Bewegung geratene Personenansammlung, sehr aktiv agierende Einzelpersonen <strong>und</strong> auf Aktivitäten der<br />

Sicherheitskräfte ausgerichtet war). Gegen 20.00 Uhr verlief sich der Rest der Personenansammlung ohne<br />

weitere Vorkommnisse. Es wurden keine Personen zugeführt. Die entsprechend der Lageeinschätzung<br />

vorbereiteten Maßnahmen <strong>und</strong> Handlungsvarianten für den Einsatz der Sicherheitskräfte erwiesen sich als<br />

zweckmäßig (vom vorgesehenen Einsatz gesellschaftlicher Kräfte wurde Abstand genommen).<br />

(Streng internen Hinweisen zufolge schätzen die „Spiegel-Korrespondenten [... geschwärzt] <strong>und</strong> [...<br />

geschwärzt] die montäglichen Friedensgebete <strong>und</strong> damit zusammenhängende Aktivitäten als völlig sinn-<br />

verurteilt. H.-F. Fischer berichtete darüber unter dem 04.09.1989 in der Zeitschrift der AGM <strong>und</strong> AKG „Forum<br />

für Kirche <strong>und</strong> Menschenrechte“ (Nr. 1, vom 16.09.1989 - ABL Box 10)<br />

603 Der letzte Satz wurde an der Seite dick angestrichen. Die Predigt von Fr. Magirius ist abgedruckt in:<br />

Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter (1990), 16-19, ein Auszug aus den Fürbitten in: Sievers (1990), 30<br />

604 vgl. Bericht P. Bornhöft in: taz vom 9.9.1989 (taz-DDR-Journal zur Novemberrevolution, 8f.); Das Organ der<br />

FDJ „Junge Welt“ behauptete am 06.09.1989, daß „Mauer weg“ <strong>und</strong> „Weg mit den Kommunisten“ gerufen<br />

wurde <strong>und</strong> kommentierte: „Das sind Worte gegen die Gesetze der DDR, gegen die Verfassung, das ist<br />

Verleumdung von Millionen Menschen, die unseren Staat mit aufbauten, die fleißig arbeiten, die im Gegensatz zu<br />

Ausreißern [sic] gern in unserer Republik leben <strong>und</strong> diese, ungestört von Egoisten <strong>und</strong> politischen Rowdys,<br />

immer attraktiver <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>licher machen wollen.“<br />

605 In der gleichen Wochenübersicht hieß es, daß aufgr<strong>und</strong> der Leipziger Herbstmesse am 04.09.1989 „insgesamt<br />

282 ausländische Korrespondenten (einschließlich Techniker)“ „im Pressezentrum der Leipziger Messe“<br />

„akkreditiert“ waren, „darunter 221 aus nichtsozialistischen Staaten“ (BStU ZAIG 4958, 42).<br />

294


<strong>und</strong> wirkungslos ein. Diese dienten ihrer Auffassung nach lediglich den Westmedien dazu, die<br />

Beziehungen DDR-BRD zu untergraben. Die in Erscheinung tretenden DDR-Bürger seien keine<br />

ernstzunehmenden Opponenten. Ferner hätten die Geschäfte im Ost-West-Handel gegenüber politischen<br />

Querelen bzw. Versuchen, der Stadt Leipzig das Messerecht zu entziehen, das Primat).<br />

199 Stasi-Notizen<br />

Auszug aus der handschriftlichen Aufzeichnung des Referatsleiters des Referats 7 zur<br />

Referatsleiterbesprechung der Abteilung XX der BV Leipzig des MfS am 11.09.1989 (BStU Leipzig AB<br />

1056).<br />

[...]<br />

− Montagsgebet<br />

Bereitschaft in der DE [Diensteinheit] alle MA<br />

− Zugang zu FG wird gewährleistet / Inneres [Pfeil] Super[intendenten]<br />

− Aufforderung an Rumstehende<br />

− Funkwagen [... mit ?] Aufforderung zum Verlassen:<br />

Eingreifgruppen der VP<br />

Sperrketten der VP-Bereitschaft eventuell mit Hilfsmittel<br />

Sperrkreis für NSW-Medien<br />

− Personeneinsatz - KMU[niversität] als Zeugen<br />

− Brief von Leich an Staatsführung zur Veränderung <strong>und</strong> Thesen Ausdruck angespannter Situation<br />

Staat/Kirche 606<br />

− Druck auf Organisierung opp. Basisgruppen Bildung von SPD u.a. [...]<br />

200 Ereignisbericht<br />

Bericht von Katharina Führer vom 11./12.09.1989 über die Ereignisse nach dem Friedensgebet am<br />

11.09.1989 607 (Schreibmaschinendurchschlag) (ABL H 1).<br />

„Es muß was geschehn...“<br />

Heute wurden wir Zeugen des bisher härtesten Polizeieinsatzes nach einem Friedensgebet in der<br />

Nikolaikirche. Bereits mittags wurde auf dem gegenüberliegendem „Brühlpelz“ die Kamera montiert,<br />

wurde der gesamte Kirchplatz gesperrt, Autos abgeschleppt. Seit dem frühen Nachmittag stehen<br />

Motorräder der Polizei auf dem Platz, während Friedensgebetsbesucher von außerhalb gewarnt werden, in<br />

die Nikolaikirche zu gehen, dies bliebe nicht ohne Konsequenzen. In der Stadt gibt es Kontrollen. Nach<br />

dieser Art umfangreichen Vorbereitungen kann um 17.00 Uhr das Friedensgebet beginnen. Das<br />

Kirchenschiff <strong>und</strong> die erste Empore haben sich gefüllt, unser Landesbischof begrüßt persönlich die<br />

Montagsgemeinde, gemahnt zu friedlichem Nachhausegehen nach Beendigung der Andachtsst<strong>und</strong>e.<br />

Superintendent Magirius verliest den Brief der evangelischen Kirchenleitungen an den Generalsekretär, in<br />

dem es unter anderem heißt, daß um „offene <strong>und</strong> wirklichkeitsnahe Diskussionen über die Ursachen von<br />

Unzufriedenheit <strong>und</strong> Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft“ gebeten wird 608 . Es wird geklatscht,<br />

danach gesungen, Pfarrer Führer predigt über einen alttestamentlichen Text, der davon erzählt, daß Gott<br />

uns immer gerade dann seine helfende Hand reicht, wenn es nach menschlichem Ermessen keinen<br />

Ausweg mehr zu geben scheint. Wir singen, halten Fürbitte <strong>und</strong> erheben uns zum Segen. Ruhig verlassen<br />

606 Der Brief der KKL vom 02.09.1989 wurde am 04.09. in einem Brief W. Leichs an die Gemeinden der<br />

Gliedkirchen des BEK bekanntgegeben (abgedruckt z.B. in: Sievers 31-33). Er wurde im FG am 11.09. verlesen<br />

<strong>und</strong> von Landesbischof Hempel, der am FG teilnahm, kommentiert.<br />

607 vgl. Berichte in: Rummel 1990, 163-165; Sievers (1990), 34f., Neues Forum Leipzig, 297<br />

608 s. Anm. 606<br />

295


die über 1000 Menschen die Kirche, von der Hoffnung ermutigt, die der Pfarrer ausspricht: Wir lassen uns<br />

von niemandem einreden, unser Friedensgebet würde mißbraucht, denn dieses Gotteshaus ist ein Haus der<br />

Hoffnung <strong>und</strong> soll es bleiben, offen für alle.<br />

Kleine Grüppchen stehen auf dem Kirchplatz. Es wird geschwatzt, geraucht, man sucht Bekannte. Die<br />

schaulustige Leipziger Bevölkerung hat sich auch heute außerhalb der dichten Reihen Bereitschaftspolizei<br />

versammelt. H<strong>und</strong>e bellen, eine Stimme aus dem Megaphon eines der grünen Wagen ist zu vernehmen:<br />

„Bürger! Verlassen Sie den Nikolaikirchhof! Bei Nichtbefolgen polizeiliche Maßnahmen!“ Sie wird<br />

übertönt durch Buh-Rufe <strong>und</strong> lautes Pfeifen von inner- <strong>und</strong> auch außerhalb der Barrieren stehenden<br />

Menschen. Stehen. Warten. Die Aufforderung der Polizei wird mehrfach wiederholt, sie richtet sich nun<br />

auch an die Menschen, die in den Seitenstraßen stehen: „Behindern Sie nicht unsere Maßnahmen! Ich<br />

lasse die Straße räumen!“ Einige wenige gehen. Nun erfolgen die „Maßnahmen“. Die kaum bereiten<br />

Bereitschaftspolizisten, die uns nicht in die Augen sehen können, werden von den in der zweiten Reihe<br />

stehenden Grauhemden, die wohlbestückte Schultern erkennen lassen, <strong>und</strong> den „Unauffälligen“ mittels<br />

gebrüllter Befehle <strong>und</strong> drängender Hände auf die Menge zugeschoben. Sie kreisen die Gruppe ein. Immer<br />

enger. Die „Hintermänner“ greifen sich indessen Einzelne [sic!] aus der Masse heraus. Teilweise erscheint<br />

dies gezielt - teilweise ohne System - vor sich zu gehen. Jeweils drei Polizisten schleifen eine/n weg. Wer<br />

sich wehrt, wird an den Haaren fortgezogen, Hände werden auf dem Rücken zusammengedreht, Finger<br />

werden umgebogen. Manche lassen sich schweigend abführen, andere werden auf die Lkws getragen,<br />

Schreie von Frauen, Männern <strong>und</strong> auch Kindern werden laut. Es gelingt den Abgedrängten nicht, schon<br />

Festgenommene wieder freizubekommen - wie am vergangenen Montag. Dabei schallen keine<br />

Sprechchöre über den Platz, keine Spruchbänder werden entrollt. Weiter in die kleine Nebenstraße. Ich<br />

bemerke einen Mann im Rollstuhl, der über den nunmehr fast leeren Nikolaikirchhof geschoben wird. Er<br />

kommt nirgendwo durch. Gegen seinen Willen wird er, barsch angefahren, in die Gegenrichtung<br />

weggeschoben von einem Uniformierten. Der ihn Begleitende wird an seinem bandagierten (Gips?) Arm -<br />

was ihm große Schmerzen zu bereiten scheint - auf einen der heranfahrenden Mannschaftswagen gezerrt.<br />

Binnen einer St<strong>und</strong>e sind alle Friedensgebetsbesucher abgedrängt oder aufgeladen. (An Montagen, an<br />

denen die Polizei nicht zugegen war, zerstreuten sich die Menschen nach spätestens einer halben St<strong>und</strong>e in<br />

verschiedene Richtungen. Wer provoziert hier eigentlich wen?) Am Abend hören wir die Berichte von der<br />

österreichisch-ungarischen Grenze. Noch mehr Menschen werden unser Land verlassen. Was aber tun<br />

dann wir, die wir noch(?) hier sind?<br />

Leipzig, 11.09.89<br />

Heute - the day after - erfahren wir von über 100 Verhaftungen, einer, der am Nachmittag wieder<br />

freikommt, erzählt: Alle werden in die Harkortstr. gebracht 609 , wo bei korrekter Behandlung Protokolle<br />

aufgenommen werden. Gegen Mitternacht fährt man sie in eine Turnhalle nach Paunsdorf, einem<br />

Außenbezirk von Leipzig. Sie lagern sich auf den Matten, bekommen Bockwurst <strong>und</strong> Brötchen, Tee.<br />

Zwischen 4.00 <strong>und</strong> 5.00 Uhr morgens entläßt man die ersten. Kalter Tee am Vormittag. Schroffe bis<br />

freche Bemerkungen der Wachhabenden, sie begleiten zur Toilette, Waschgelegenheiten gibt es keine.<br />

14.00 Uhr verabreicht man den Zugeführten eine Bratwurst mit Brötchen, sie werden zurück in die<br />

Harkortstraße gebracht. Nach einem Schnellermittlungsverfahren, zu dem ein Staatsanwalt hinzugezogen<br />

wird, werden gemäß Paragraph 217 wegen „Zusammenrottung“ Geldstrafen von 3000 bis 5000 Mark<br />

erhoben. Die gesetzliche Höchststrafe jedoch beträgt 500 Mark. Bisherige Erfahrungen ergeben: die<br />

Leute, verständlicherweise froh, wieder „draußen“ zu sein, zahlen, ohne eine schriftliche Aufforderung<br />

erhalten zu haben. Andernfalls wird eine zweijährige Haftstrafe angedroht. Es sind noch nicht alle frei.<br />

„Alle, die von Freiheit träumen [/] sollen’s Feiern nicht versäumen [/] sollen tanzen auch auf Gräbern - [/]<br />

Freiheit ist die einzige, die fehlt...“<br />

201 Ereignisbericht<br />

Gedächtnisprotokoll zu den Ereignissen am 11. <strong>und</strong> 12.09.89 in Leipzig von K. Boche: Typoskript (ABL H<br />

609 s. Anm. 493<br />

296


610<br />

1) .<br />

Wie jeden Montag wurde auch am 11.09. ab 17.00 Uhr der traditionelle Gottesdienst in der Nikolaikirche<br />

durchgeführt.<br />

Auffällig für uns alle war das riesige Aufgebot an Bereitschaftspolizei, VP <strong>und</strong> Stasi, die schon lange vor<br />

Beginn der Andacht rings um die Nikolaikirche Stellung bezogen hatten. Mehrere Mannschaften der BePo<br />

[Bereitschaftspolizei] waren mit Lkws in den Seitenstraßen postiert, unter ihnen befand sich auch ein<br />

Transportfahrzeug mit H<strong>und</strong>en!<br />

Die Montagsandacht selber nahm ihren normalen Verlauf <strong>und</strong> endete etwa gegen 18.00 Uhr. Bis aus der<br />

überfüllten Kirche die Besucher herausgeströmt waren, verging etwa eine Viertelst<strong>und</strong>e. In dieser Zeit<br />

hatten sich schon sämtliche BePo-Einheiten zu massiven Absperrketten formiert <strong>und</strong> das gesamte Gelände<br />

um die Kirche hermetisch abriegelten. Unweit der Kirchenbesucher filmte die Stasi mit Videokamera in<br />

die Menge hinein, außerdem wurden wir am laufenden Band von VP- <strong>und</strong> Stasibeamten fotografiert. Wir<br />

selber blieben ruhig <strong>und</strong> gelassen, ließen uns nicht provozieren <strong>und</strong> waren in kleinere Grüppchen<br />

aufgeteilt.<br />

Plötzlich erfolgte über Lautsprecher eine VP-Durchsage, welche befahl, daß wir unverzüglich den Platz zu<br />

räumen haben <strong>und</strong> uns auflösen sollen. Das stieß unsererseits auf Unverständnis, da unser friedliches<br />

Zusammenstehen keinerlei demonstrativen Charakter hatte!<br />

Gleichzeitig beobachteten wir, daß sich weitere mit Gummiknüppeln bewaffnete BePo-Einheiten um uns<br />

herum formierten <strong>und</strong> auch die vielen Stasi’s sich auf uns zu bewegten. Sek<strong>und</strong>en später stürzten die<br />

ersten Stasi- <strong>und</strong> VP-Angehörigen in die langsam unruhig werdende Menge <strong>und</strong> zerrten auf brutalste Art<br />

die ersten Leute hinaus auf die bereitgestellten Lkws. Daraufhin ergriffen auch die in der Menge<br />

postierten Stasi’s einzelne Bürger <strong>und</strong> zerrten sie teilweise zu viert oder zu fünft zu den Lkws. Die im<br />

nächsten Augenblick erfolgten Lautsprecherdurchsagen wurden daraufhin von uns mit Pfui-Rufen <strong>und</strong><br />

Pfiffen übertönt. Auch setzten sich die BePo’s eingehakt in Bewegung <strong>und</strong> drängten die nun in hilflose<br />

Panik versetzte Menge von drei Seiten in eine kleinere Seitenstraße. Immer wieder brachen von allen<br />

Seiten die Beamten durch die BePo-Ketten durch <strong>und</strong> zerrten wahllos alles heraus, was sie gerade so<br />

erwischten! Fast jedem der Festgenommenen wurden die Arme bis zur Schmerzgrenze verdreht, auch<br />

Mädchen <strong>und</strong> Frauen wurden geschlagen <strong>und</strong> äußerst brutal behandelt. Ein Punk wurde von VP-Leuten<br />

hinter einen Bauwagen gezerrt <strong>und</strong> dort mißhandelt. Festgenommen wurden auch - so ganz nebenbei -<br />

völlig unbeteiligte Neugierige, Leute die sich mehrere h<strong>und</strong>ert Meter weg befanden, einkaufende<br />

Hausfrauen.<br />

Einmal beobachtete ich, wie sich Polizisten an einer Rentnerin vergriffen! Dann, als die Seitenstraße so<br />

verstopft war, daß kein Entkommen mehr möglich war, zerrte man auch mich heraus. Auf Umwegen<br />

wurden wir schubweise in die Dimitroffstraße gefahren, ein Riesenbau, welcher VPKA, Stasi, U-Haft <strong>und</strong><br />

Gericht miteinander verbindet. Dort wurden unsere Personalien aufgenommen <strong>und</strong> wir warteten in einem<br />

Schulungsraum auf das weitere Geschehen. Etwa eine halbe St<strong>und</strong>e später wurden wir von Kripobeamten<br />

aufgerufen <strong>und</strong> zur Befragung geholt. Die Behandlung war im großen <strong>und</strong> ganzen sachlich.<br />

Nach den kurzen <strong>und</strong> routinemäßigen Protokollaufnahmen wurden wir in Achtergrüppchen<br />

zusammengestellt <strong>und</strong> erneut auf Lkws der BePo verladen. Auf unser Anfragen nach dem Wohin wurde<br />

uns nicht geantwortet. Nach einer längeren Fahrt ins Ungewisse kamen wir schließlich in Leipzig-<br />

Paunsdorf an. Dort wurden wir in eine VP-Turnhalle geführt, wo schon etwa 40 Inhaftierte auf<br />

Holzbänken saßen. Nach <strong>und</strong> nach kamen neue Grüppchen - gegen Mitternacht waren wir in der Turnhalle<br />

59 männliche <strong>und</strong> 20 weibliche Verhaftete! Die Frauen <strong>und</strong> Mädchen wurden etwas später von uns isoliert<br />

<strong>und</strong> in einem Nachbarraum untergebracht. Die Bedingungen in der Turnhalle grenzten an Mißachtung der<br />

menschlichen Würde. Die 24 St<strong>und</strong>en, die wir in der Halle verbrachten, brannten durchweg grellste<br />

Neonröhren; auch waren keinerlei Lüftungsfenster oder ähnliches vorhanden. Schmutzigste Toiletten, die<br />

wir nur einzeln <strong>und</strong> in Begleitung betreten durften, keine Abtrockenmöglichkeit, ausgesprochenes<br />

610 Die Koordinierungsgruppe für die Fürbittgebete hatte Fragebögen für die kurzzeitig Inhaftierten entworfen <strong>und</strong><br />

ließ einige Dutzend ausfüllen. Einige der Befragten gaben eigene Berichte bei der Koordinierungsgruppe ab<br />

(ABL H 1).<br />

297


Rauchverbot - alles Dinge, die wir als absolut schikanös empfanden.<br />

Die Bewachung selber war zahlreich, vor der Ausgangstür liefen H<strong>und</strong>e herum. Die einzige Schlaf- bzw.<br />

Ruhemöglichkeit waren total schmutzige <strong>und</strong> von Ungeziefer <strong>und</strong> H<strong>und</strong>ehaaren bedeckte Sportmatten.<br />

Etwa gegen 1 Uhr nachts (mit dem letzten Transport) wurden etwas zu Essen <strong>und</strong> ein Kübel Tee gebracht.<br />

Jeder von uns bekam eine kalte Bockwurst <strong>und</strong> ein schon etwas ältliches Brötchen dazu... Irgendwann<br />

früh wurden ein paar Namen aufgerufen, die Aufgerufenen bekamen allem Anschein nach ihre Ausweise<br />

wieder <strong>und</strong> durften gehen. Ein paar St<strong>und</strong>en später die nächsten - diese wurden aber wieder auf einen<br />

LKW der BePo verladen <strong>und</strong> weggefahren.<br />

Um die Mittagszeit des Dienstages herum gab es wiederum was zu essen: eine lauwarme Bratwurst <strong>und</strong><br />

ein hartes Brötchen...<br />

Im Abstand von mehreren St<strong>und</strong>en wurden weitere Transporte zusammengestellt, so daß wir dann gegen<br />

18.00 Uhr noch ca. 10 Mann waren. Mit einer Begleitung von etwas 20 BePo- <strong>und</strong> VP-Leuten wurden wir<br />

per LKW wieder zurück in die Dimitroffstraße gefahren <strong>und</strong> in einen Schulungsraum gesteckt. Minuten<br />

später wurde jeder einzeln von Stasi- <strong>und</strong> Kripo-Leuten aufgerufen. Es erfolgte eine Mitteilung, daß gegen<br />

uns ein Ermittlungsverfahren wegen § 217 (Zusammenrottung) eingeleitet worden ist. Wir hatten die<br />

Möglichkeit, nochmal im Strafgesetzbuch nachzulesen, was die Konsequenzen für uns sind.<br />

In der von mir abverlangten Stellungnahme erklärte ich dem MfS-Mitarbeiter, daß ich mich weigere, den<br />

Vorfall vom Vortag als Zusammenrottung anzuerkennen! Ich erklärte nochmals, daß unserem friedlichen<br />

Aufenthalt vor der Nikolaikirche keinerlei kriminelle Absicht vorlag. Das war alles, was ich dazu zu sagen<br />

hatte! Dann wurde ich wieder in den Schulungsraum geführt. Etwa 10 Minuten später wurde ich von dem<br />

Stasi <strong>und</strong> einem VP-Angehörigen in das Gebäude der U-Haft Beethovenstraße gebracht, mußte dort etwa<br />

5 Minuten warten <strong>und</strong> wurde einer Staatsanwältin zugeführt. Diese erklärte mir, daß gegen mich ein<br />

Strafbefehl erlassen worden ist <strong>und</strong> schob mir die schriftliche Ausführung davon über den Tisch.<br />

Ich nahm zur Kenntnis, daß ich wegen Verstoß des § 217/1 eine Geldstrafe in Höhe von 3000,-DM zu<br />

zahlen hätte! Dann nahm die Staatsanwältin das Formular wieder an sich <strong>und</strong> erklärte mir, daß die<br />

Zahlung der oben genannten Summe binnen einer Woche zu erfolgen hätte. Ansonsten würde die<br />

Geldstrafe in eine Freiheitsstrafe umgewandelt werden - so ihre Erklärung zu meinem mündlichen Protest.<br />

Abschließend reichte sie mir einen Zettel, auf welchem stand, daß ich die Strafe anerkennen werde <strong>und</strong><br />

auf sämtliche Rechtseinsprüche verzichte - ich unterschrieb natürlich nicht. Wie ich dann später<br />

bedauerlicherweise erfuhr, ließen sich die meisten der Betroffenen durch den auf sie ausgeübten<br />

psychischen Druck beeinflussen <strong>und</strong> unterschrieben.<br />

Zwischen 18.30 Uhr <strong>und</strong> 19.30 Uhr wurden wir dann völlig entnervt entlassen.<br />

202 SED-Information<br />

Fernschreiben vom 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Leipzig, Hackenberg, an das Mitglied des Politbüros<br />

<strong>und</strong> Sekretärs des ZK, H. Dohlus, vom 12.09.1989 über den Ablauf des Friedensgebetes am 11.09.1989<br />

(StAL SED 4972).<br />

Werter Genosse Horst Dohlus!<br />

Wie ich bereits in meinem Fernschreiben vom 11.9. informierte 611 , fand am Montag, dem 11.9.89 von<br />

17.00 bis 17.45 Uhr in der Nikolaikirche Leipzig das sogenannte Montagsgebet statt, an dem ca. 1000<br />

Personen teilnahmen. Wie gemeinsam abgestimmt, erfolgte bereits ab 16.00 Uhr eine starke Präsenz der<br />

611 Dieses Fernschreiben konnten die Herausgeber nicht finden, vermutlich ist es die Gr<strong>und</strong>lage einer ZK-<br />

Hausinformation gewesen, in der es u.a. hieß: „Information des Leiters der Abt. f. Sicherheitsfragen der BL<br />

Leipzig, Gen. Reinhard, am 11.9.89, um 19.25 Uhr [/] Am Montagsgebet, am 11.9.89, um 17.45 Uhr, haben in<br />

der Nikolaikirche in Leipzig ca. 1000 Personen teilgenommen. Während des Gebetes wurde die VP tätig, um<br />

schaulustige Gruppen aufzulösen. Nach 17.45 verblieben ca. 600 Personen auf dem Kirchhof. [...] Zum Schutz<br />

der Sicherheitskräfte wurden H<strong>und</strong>eführer eingesetzt. In einem FS [Fernschreiben] an das ZK werden weitere<br />

Informationen gegeben. Der BD der Abt. f. Sicherheitsfragen, Gen. Namokel, wurde informiert. [/] gez. Brückner<br />

[/] Verteiler: [/] Abt. f. Sicherheitsfragen [/] AG Kirchenfragen“ (SAPMO-BArch IV B 2/14/21)<br />

298


Volkspolizei im Zentrum der Innenstadt. In gleicher Weise wurden bereits während des Montagsgebets<br />

anwesende Schaulustige (ca. 100) durch Auflösegruppen der DVP vom Nikolaikirchhof verwiesen.<br />

Während des Gebetes wurden durch Superintendent Magirius der bekannte Brief der Konferenz der<br />

Kirchenleitungen an den Vorsitzenden des Staatsrates, Genossen Erich Honecker, <strong>und</strong> das<br />

Begleitschreiben in vollem Wortlaut verlesen. Danach nahm der anwesende Landesbischof Hempel das<br />

Wort zum Brief <strong>und</strong> forderte abschließend die Teilnehmer zu besonnenem Verhalten nach Abschluß des<br />

Gebetes auf.<br />

Zwischen 17.45 <strong>und</strong> 18.00 Uhr hatte ca. die Hälfte der Teilnehmer den Nikolaikirchhof (Kirchenvorplatz)<br />

verlassen. Ab 18.00 Uhr wurde durch die DVP über Lautsprecherwagen mehrfach zum Verlassen des<br />

Nikolaikirchhofes aufgefordert. Die Anzahl der Personen verringerte sich bis 18.30 Uhr weiter. Die noch<br />

auf dem Kirchenvorplatz verharrenden ca. 250 Personen wurden durch Auflösegruppen <strong>und</strong> Räumketten<br />

der VP vom Kirchenvorplatz zurückgedrängt. Sympathie wurde provozierenden Bürgern durch Klatschen<br />

gegeben, die den Maßnahmen der VP nur zögernd nachkamen <strong>und</strong> die Zuführungen provozierten. Erste<br />

Zuführungen machten sich deshalb erforderlich. 18.45 Uhr war der Nikolaikirchhof geräumt. Nach 19.00<br />

Uhr im Ergebnis der weiteren Abdrängung <strong>und</strong> Räumung hielten sich in der Kleinen Ritterstraße noch ca.<br />

60 Personen auf, die der erneuten Aufforderung zum Auseinandergehen nicht nachkamen612 . Durch<br />

weitere Zuführungen wurde die Personenansammlung schließlich 19.30 Uhr endgültig aufgelöst.<br />

Während der Handlung verfolgten mehrere h<strong>und</strong>ert Schaulustige an Zugängen des Handlungsraumes den<br />

Handlungsablauf. Entfaltete Sperrketten der VP verhinderten ihr mögliches Eindringen in den<br />

Handlungsraum. Die von den Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorganen abgestimmten umfangreichen Maßnahmen<br />

<strong>und</strong> Handlungsvarianten erwiesen sich als zweckmäßig. Das kluge <strong>und</strong> besonnene Verhalten dieser<br />

Genossen verdient Dank <strong>und</strong> Anerkennung. Es wurden keine westlichen Journalisten festgestellt. Es<br />

erfolgte kein Einsatz polizeilicher Hilfsmittel. Demonstrative Handlungen mittels Transparente traten<br />

nicht auf. Von den 89 erfolgten Zuführungen (davon 19 weibliche Personen) befanden sich 11 Personen<br />

aus anderen Bezirken. Ab 24.00 Uhr erfolgte die Entlassung von 48 Personen nach Belehrung. Von den 78<br />

zugeführten Personen aus dem Bezirk Leipzig sind 26 Antragsteller auf ständige Ausreise. Zu dem<br />

restlichen Personenkreis werden differenzierte rechtliche Entscheidungen getroffen. Bei 7 Personen<br />

erfolgt die Prüfung des Straftatbestandes 613.<br />

Es zeigt sich:<br />

1. Trotz mehrfacher Gespräche <strong>und</strong> Einflußnahme auf die kirchlichen Amtsträger konnte eine zeitliche<br />

<strong>und</strong> örtliche Verlegung der Montagsgebete wiederum nicht erreicht werden. (Letztmalige Gespräche<br />

mit den Superintendenten Magirius <strong>und</strong> Richter am 9.9.89 geführt)<br />

2. Die bisher angewandten rechtlichen Mittel <strong>und</strong> die massive Präsens der VP haben nicht zur<br />

Zurückdrängung <strong>und</strong> Unterbindung von Provokationen im Anschluß an das Montagsgebet auf<br />

öffentlichen Plätzen <strong>und</strong> Straßen geführt.<br />

3. Das gegenwärtig aggressive <strong>und</strong> provokante Verhalten der Teilnehmer im Anschluß an das<br />

Montagsgebet schließt zukünftig die Anwendung weiterer polizeilicher Hilfsmittel nicht aus.<br />

203 Notizen aus einer Parteiberatung<br />

Auszug aus dem Protokoll der regulären Sitzung der SED-Bezirksleitung am 12.09.1989, in der erstmals seit<br />

Jahren „ausführlich“ über die Opposition in der DDR gesprochen wurde (StAL SED A 5551).<br />

612 Die ZAIG des MfS (Wochenbericht) meldete, daß „im Ergebnis zentral abgestimmter vorbeugender<br />

Maßnahmen“ die Polizei zum Einsatz kam. Dort heißt es weiter: „Gegen 19.00 Uhr hielten sich lediglich in der<br />

angrenzenden Kleinen Ritterstraße noch ca. 70 Personen auf.“ (BStU ZAIG 4598, 76)<br />

613 In der „Leipziger Volkszeitung“ hieß es am 12.09.1989 auf der Lokalseite: „In den gestrigen Abendst<strong>und</strong>en<br />

versammelten sich in der Leipziger Innenstadt mehrer Personengruppen, um die öffentliche Ordnung <strong>und</strong><br />

Sicherheit zu stören. Den Aufforderungen der DVP zur Auflösung wurde zum Teil nicht Folge geleistet. Die<br />

rechtswidrige Zusammenrottung wurde aufgelöst. Es waren Zuführungen erforderlich. Die rechtlichen<br />

Konsequenzen werden geprüft.“<br />

299


Tagesordnung<br />

1. Verlesen des Berichts der Bezirksleitung Leipzigs an das Politbüro der SED über Erfahrungen <strong>und</strong><br />

Ergebnisse der Auswertung der 8. Tagung des ZK in Vorbereitung des 40. Jahrestages der DDR <strong>und</strong><br />

des 12. Parteitages der SED<br />

2. Beschlußfassung zum Bericht der Bezirksleitung an das Politbüro der SED<br />

3. Bericht des Sekretariats der Bezirksleitung - Berichterstatter Kurt Meyer<br />

4. Diskussion<br />

5. Schlussbemerkung<br />

[... Seite 52ff., Bericht von K. Meyer:]<br />

In Vorbereitung des 40. Jahrestages der Gründung der DDR gilt es vor allem die Mängel, Mißstände <strong>und</strong><br />

Erschwernisse schneller zu erkennen <strong>und</strong> zu beseitigen. Solche, die das Wohlbefinden unserer Bürger <strong>und</strong><br />

ihrer Verb<strong>und</strong>enheit mit ihrer soz. Heimat beeinträchtigen. Vor Entscheidungen, die das Leben der Bürger<br />

betreffen, sind unsere Bürger in noch stärkerem Maße einzubeziehen. In diesem Zusammenhang ist die<br />

kommunalpolitische Öffentlichkeitsarbeit weiter spürbar zu qualifizieren. Die Einschätzung der 8.Tagung<br />

des ZK, daß wir gegenwärtig sehr intensive Bestrebungen gewisser Politiker kapitalistischer Länder<br />

erleben, politischen, ideologischen <strong>und</strong> ökonomischen Druck auf die soz. Länder auszuüben <strong>und</strong> sie zur<br />

Übernahme kap. Gesellschaftsvorstellungen <strong>und</strong> Strukturen von bürgerlichem Pluralismus <strong>und</strong><br />

bürgerlichen Ideologien zu veranlassen, das widerspiegelt sich auch im Wirken feindlich negativer Kräfte<br />

im Bezirk. Der Gegner verstärkt im Rahmen seines subversiven Vorgehens die Versuche der Schaffung<br />

<strong>und</strong> Legalisierung einer sogenannten inneren Opposition <strong>und</strong> zur Inspirierung <strong>und</strong> Organisierung<br />

politischer Untergr<strong>und</strong>tätigkeit mit dem Ziel der Schaffung eines Druckpotentials zur Aufweichung,<br />

Zersetzung <strong>und</strong> politischen Destabilisierung der soz. Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung. Nach den erzielten<br />

Einbrüchen in anderen soz. Ländern Polen, Ungarn konzentriert er unter Mißbrauch des KSZE-Prozesses,<br />

insbesondere des Wiener Abschlußdokuments, seine Angriffe vor allem gegen die DDR. Die jüngste<br />

Hetzkampagne <strong>und</strong> Massenhysterie in Form einer Frontberichterstattung zur Organisierung massenhaften<br />

Verlassens der DDR dient auch dem Ziel, den Einfluß oppositioneller Kräfte zu erweitern <strong>und</strong> damit die<br />

Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen zu begründen. Es ist ein immer engeres <strong>und</strong><br />

abgestimmteres Zusammenwirken innerer feindlicher Kräfte mit Politikern von NATO-Staaten, besonders<br />

der BRD, diverser feindlichen Organisationen, Zentren der ideologischen Diversion, vor allem durch<br />

Vertreter der Massenmedien festzustellen. Verstärkt wird auf die internationale Verflechtung feindlicher<br />

Gruppen in den verschiedenen soz. Ländern hingewirkt, die immer umfassendere Vernetzung der<br />

verschiedenen Gruppen <strong>und</strong> Einzelpersonen in der DDR organisiert. Auch im Bezirk Leipzig sind<br />

entsprechend der Orientierungen feindlicher Zentren zum Teil schon seit Jahren existierende<br />

Personengruppen <strong>und</strong> Personen mit feindlichen oder oppositionellen Haltungen in jüngster Zeit verstärkter<br />

dazu übergegangen, öffentlichkeitswirksame Handlungen zu organisieren <strong>und</strong> ihren Einfluß auszuweiten.<br />

Dabei kam es wiederholt zu Störungen der öffentlichen Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit. Zu derartigen Aktivitäten<br />

gehört insbesondere der provokatorische sogenannte „Schweigemarsch“ am 15.1.1989 anläßlich des<br />

Todestages von Karl Liebknecht <strong>und</strong> Rosa Luxemburg, der versuchten Organisierung einer sogenannten<br />

Protestveranstaltung von Nichtwählern am 7.5.1989 auf dem Markt von Leipzig, der Versuch der<br />

Durchführung eines sogenannten 2. Pleißemarsches am 4.6.1989 anläßlich des Weltumwelttages, die<br />

Durchführung eines nichtgenehmigten sogenannten Straßenmusikfestivals am 10.6. diesen Jahres, die<br />

Formierung von sogenannten „Schweigemärschen“ nach Friedensgebeten in der Nikolaikirche, an denen<br />

vorwiegend Antragsteller auf ständige Ausreise teilnehmen, die seit vergangenem Jahr in der Kirche ein<br />

schützendes Dach hatten <strong>und</strong> haben <strong>und</strong> von einigen feindlichen Kräften aus kirchlichen Kreisen<br />

Unterstützung erhielten. Zur Frühjahrsmesse erfolgte dabei ein enges Zusammenwirken mit westlichen<br />

Journalisten <strong>und</strong> Kamerateams. Ein Höhepunkt der Aktivitäten des politischen Untergr<strong>und</strong>s bildete die<br />

Organisierung eines sogenannten „Gegenkirchentages“ während des ev. Kirchentagskongresses Anfang<br />

Juli in der Lukaskirche in Leipzig. Im Mittelpunkt standen dabei die fortgesetzte Ablehnung der<br />

Wahlergebnisse, die Unterstützung negativer Entwicklungen in anderen soz. Ländern, die Fortsetzung von<br />

Angriffen auf Teilbereiche unserer soz. Gesellschaftsordnung - ich nenne nur die Stichworte Umwelt,<br />

Wehrdienst, Reisefreiheit, Medizinische Versorgung - sowie aktive Unterstützung nichtgenehmigter<br />

feindlich negativer Handlungen, so unter anderem durch Geldsammlungen für die Begleichung von<br />

300


Ordnungsstrafen. Alle diese Provokationen wurden von den westlichen Massenmedien breit publiziert,<br />

wobei in der Regel durch stark überhöhte Teilnehmerzahlen der Eindruck eines massenhaften Umfanges<br />

erreicht werden sollte, um dies zum Anlaß zur Diskriminierung des Soz. <strong>und</strong> Angriffen auf die Schutz-<br />

<strong>und</strong> Sicherheitsorgane genutzt [sic!]. Das konzeptionelle Vorgehen der unterschiedlichen Gruppen<br />

konzentriert sich weitgehend in Übereinstimmung mit westlichen Hauptrichtungen der ideologischen<br />

Diversion auf folgende gesellschaftliche Bereiche <strong>und</strong> politische Fragen:<br />

− Förderung <strong>und</strong> Entwicklung von Vorstellungen zu einer Änderung der soz. Ordnung <strong>und</strong> Erneuerung<br />

des Soz. Dabei erfolgt eine immer stärkere Berufung auf Umgestaltungsprozesse in der UdSSR <strong>und</strong><br />

anderer soz. Länder bei Negierung unserer Linie. „Soz. in den Farben der DDR“.<br />

− Demagogische Verwendung der Begriffe „Glasnost“, „Demokratisierung“, „Bürgerrecht“, „Freiheit für<br />

Andersdenkende“ bis hin zu Forderungen nach Meinungsfreiheit, Wahlrecht, Reisefreiheit <strong>und</strong> unserer<br />

Sicherheits- <strong>und</strong> Verteidigungspolitik, wobei oft die Vorschläge einseitiger Vorleistungen der soz.<br />

Länder negiert oder abgewertet werden<br />

− Forderung nach Entmilitarisierung der Gesellschaft<br />

− Beseitigung der vormilitärischen Erziehung <strong>und</strong> Ausbildung<br />

− Abschaffung der Wehrpflicht<br />

− Einrichtung eines zivilen bzw. sozialen Friedensdienstes<br />

− Recht auf Wehrdiensttotalverweigerung<br />

− Im Bereich der Volksbildung/Erziehung der Jugend konzentrieren sich diese Dinge insbesondere auf<br />

die Forderung nach Aufgaben des Totalitätsanspruchs der Marx.-Len.-Weltanschauung von der<br />

gesellschaftlichen Institution zur Erziehung<br />

− Beim Umweltschutz, wobei anknüpfend an tatsächliche Umweltbelastungen die Politik der Partei in<br />

Umweltfragen angegriffen wird, Negierung des Geleisteten, Forderung nach Erhöhung entsprechender<br />

Investitionen, Darstellung als Interessenvertreter der Bevölkerung. Verstärkt wird<br />

Kernkraftproblematik in den Mittelpunkt gestellt - Raum Oschatz/Wurzen - aber auch in der Stadt<br />

Leipzig.<br />

Die mit Aktivitäten im Sinne politischer Untergr<strong>und</strong>tätigkeit aktiv auftretenden Personen, einschließlich<br />

der Organisatoren <strong>und</strong> Inspiratoren, sind in Form sogenannter Basisgruppen fast ausschließlich bei<br />

verschiedenen ev. Kirchgemeinden angesiedelt.<br />

Der Anhang ist relativ instabil <strong>und</strong> setzt sich ebenfalls aus Christen zusammen. Antragsteller auf ständige<br />

Ausreise gehören gegenwärtig nicht zum Kern solcher kirchlicher Gruppen. Sie werden aber als Potential<br />

bei Provokationen genutzt. Der weitaus größte Teil der zum aktiven Kern gehörenden Personen verfügt<br />

über eine abgeschlossene theologische Ausbildung. Überwiegend handelt es sich um junge Menschen, die<br />

als Angestellte kirchlicher Einrichtungen tätig oder Studenten, vor allem des theologischen Seminars bzw.<br />

der Sektion Theologie der KMU [Karl-Marx-Universität] sowie von verschiedenen<br />

naturwissenschaftlichen Bereichen sind. Vereinzelt sind diese als Hilfspersonal in<br />

Ges<strong>und</strong>heitseinrichtungen bzw. in Klein- <strong>und</strong> Mittelbetrieben tätig. Arbeiter oder Beschäftigte aus<br />

Großbetrieben gehören nicht zu den aktiven Mitgliedern personeller Zusammenschlüsse. Es ist deshalb<br />

notwendig, die Beschlüsse des Sekretariats der Bezirksleitung vom 1.2. <strong>und</strong> 15.3. 614 dieses Jahres zur<br />

offensiven politischen ideologischen Arbeit mit allen Bürgern unter besonderer Berücksichtigung jener,<br />

die negativen bzw. feindlichen Einflüssen unterliegen, angesichts der aktuellen Entwicklung mit noch<br />

größerer Konsequenz <strong>und</strong> Zielstrebigkeit durchsetzen.<br />

204 Innerkirchliche Information<br />

Brief Sup. Richters vom 15.09.1989 an alle Pfarrämter seines Kirchenbezirkes, in dem er empfiehlt, für die<br />

Personen, die am 11.09.1989 inhaftiert wurden, Fürbitte zu halten (ABL H 1).<br />

Betr.: Empfehlung zur Fürbitte<br />

614 s. Anhang, S. 359<br />

301


Zur Fürbitte im Zusammenhang mit dem allgemeinen Kirchengebet in den Gottesdiensten empfehle ich<br />

folgenden Text, der dem Gebet vorausgehen sollte:<br />

„Am Montag, dem 11. September wurden in Untersuchungshaft genommen:<br />

Carola Bornschlegel, Ramona Ziegner, G<strong>und</strong>ula Walter, Udo Hartmann, Kathrin Hattenhauer, Axel<br />

Gebhardt, Jutta Gätzel, Mirko Kätzel, Frank Elsner <strong>und</strong> andere, deren Namen uns nicht bekannt sind.<br />

Gegen sie wird wegen Zusammenrottung ermittelt. Sie hatten nach dem Montagsgebet in der<br />

Nikolaikirche der Aufforderung nicht Folge geleistet, den Nikolaikirchhof unverzüglich zu verlassen.<br />

Wir beten für die Inhaftierten <strong>und</strong> für die mit ihnen befaßten Untersuchungsrichter,<br />

− daß die Wahrheit gef<strong>und</strong>en werde <strong>und</strong> zum Tragen komme,<br />

− daß die Gerechtigkeit regieren möge,<br />

− daß Angst <strong>und</strong> Haß nicht das Leben unter uns vergiften möge,<br />

− daß Erneuerung des Denkens <strong>und</strong> Handelns dem alten Denken in Machtstrukturen folgen möge,<br />

− daß Vertrauen <strong>und</strong> Versöhnung in unserem Volk wohne <strong>und</strong> wachse.“<br />

Mit brüderlichen Grüßen, [/] Ihr [gez.] Joh. Richter<br />

205 Persönlicher Brief<br />

Brief von K. Eigenfeld (Neues Forum Halle) an T. Rudolph vom 15.09.1989, in dem sie schreibt, daß<br />

Veränderungen in der DDR nicht mehr aufzuhalten sind (ABL H 1).<br />

Lieber Thomas!<br />

Die Information über die Verhaftungen in Leipzig habe ich erhalten. Ich habe keine andere<br />

Kontaktadresse als Deine, <strong>und</strong> ich denke auch, daß Du meine Bestürzung <strong>und</strong> Anteilnahme für die<br />

Inhaftierten entgegennimmst <strong>und</strong> weiterleiten kannst. Ich weiß nur zu genau, was es bedeutet, in so einer<br />

„Obhut“ zu sein. Jede St<strong>und</strong>e dort ist überflüssig <strong>und</strong> längst überholt. Ich denke ganz fest, daß breite<br />

Veränderungen nicht mehr aufzuhalten sind, ob nun Ochs oder Esel615 oder MfS. Es ist auch gut zu<br />

erleben, welch breite Zustimmung das NEUES FORUM erlebt.<br />

Am 24.9. komme ich nach Leipzig 616.<br />

Bis dahin grüße ich Euch alle dort in Leipzig.<br />

[gez.] Katrin Eigenfeld<br />

206 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

IN-Telegramm von der Bezirksstaatsanwaltschaft Leipzig (Munkwitz) vom 15.09.1989 an den Stellvertreter<br />

für Inneres des RdB Leipzig, Reitmann, über ein Gespräch zwischen Reitmann, Bischof Hempel <strong>und</strong> Sup.<br />

Richter am 13.09.1989 617 . Die Vorlage trägt drei Stempel („IN-Telegramm“, „Dienstsache“ <strong>und</strong><br />

„Eingegangen 18.IX.89“). Auf der Kopie wurde von Major Conrad „19.9.“ vermerkt. Die Kopie trägt noch<br />

weitere Bearbeitungsspuren (ABL H 53).<br />

Dienstsache<br />

Entsprechend dem Auftrag vom 12.09.1989 fand am 13.09.1989 im Schulungsobjekt des Rates des<br />

Bezirkes Leipzig, Großsteinberg am See, Kreis Grimma, ein Zusammentreffen mit dem Landesbischof der<br />

Landeskirche Sachsen, Dr. Hempel, statt 618.<br />

615 Wiederaufnahme des Honecker-Zitats „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.“ (Am<br />

14.08.1989 während der Übergabe eines 1-Mega-Chips aus DDR-Produktion.)<br />

616 Gemeint ist das erste Treffen der neugegründeten politischen Vereinigungen (Neues Forum, Sozialdemokratische<br />

Partei, Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt) in den Räumen der Markus-Gemeinde auf Einladung der<br />

„Initiative zur demokratischen Erneuerung“ am 24.09.1989.<br />

617 Der Telegramm-Stil wurde durch die Herausgeber getilgt. Das Telegramm ging u.a. auch an den<br />

Generalstaatsanwalt der DDR (1. Stellvertreter Borchert).<br />

618 Das Protokoll des Gesprächs von Sup. Richter ist abgedruckt in: Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 272-279. Nach<br />

302


Das Zusammentreffen wurde durch die Vermittlung <strong>und</strong> Unterstützung des Stellvertreters des<br />

Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für Inneres, Gen. Dr. Reitmann, <strong>und</strong> die unmittelbare Bereitschaft<br />

des Bischofs zum Gespräch möglich.<br />

Letzterer unterbrach seine Teilnahme an einem Pastoralkolleg in Krummhennersdorf für diese Zeit. An<br />

dem Gespräch nahmen Staatsanwalt des Bezirkes, Gen. Munkwitz, Leiter der Abteilung IA beim<br />

Staatsanwalt des Bezirkes, Gen. Kurzke, Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Gen. Dr.<br />

Reitmann, sowie Landesbischof Dr. Hempel, Dresden, Oberlandeskirchenrat Hoffmann, Dresden,<br />

Superintendent Richter, Leipzig, teil. Das konzentrierte, jederzeit offene <strong>und</strong> sachliche Gespräch<br />

erstreckte sich von 15.00 bis 17.00 Uhr. Durch den Bischof wurde ausdrückliche Gesprächsbereitschaft<br />

erklärt <strong>und</strong> bis zum Schluß nachgewiesen. Nach Eröffnung durch Dr. Reitmann wurde vom<br />

Bezirksstaatsanwalt über die Vorkommnisse am 11.09.1989 an der Nikolaikirche Leipzig <strong>und</strong> die dort<br />

gefallenen Äußerungen bis hin zur Aufforderung, die Angehörigen der Sicherheitsorgane „totzuschlagen“<br />

<strong>und</strong> die daraufhin notwendigen Maßnahmen zur Auflösung der Zusammenrottung informiert. Der Bischof<br />

wurde von notwendigen Inhaftierungen <strong>und</strong> dem Erlaß von Strafbefehlen gegen bestimmte Personen in<br />

Kenntnis gesetzt. Unter Bezugnahme auf das KH [?] Januar dieses Jahres mit den Superintendenten<br />

Magirius <strong>und</strong> Richter geführte Gespräch <strong>und</strong> die bislang seitens der Staatsorgane <strong>und</strong> Justiz geübte<br />

Geduld wurde vom BSTA [Bezirksstaatsanwalt] erklärt, daß nun die Grenze der Toleranz <strong>und</strong> des<br />

Zumutbaren für die Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit in der Stadt <strong>und</strong> für ihre Bürger erreicht sei. Die Erwartungen<br />

aus vorangegangenen Gesprächen <strong>und</strong> der bisherigen Toleranz seien nicht erfüllt worden. Die<br />

permanenten Gesetzesverletzungen führen nunmehr zu den notwendigen, gesetzlichen strafrechtlichen<br />

Reaktionen. Die Ausführungen wurden im Verlauf des Gesprächs weiter präzisiert <strong>und</strong> f<strong>und</strong>iert. Die<br />

strafprozessualen <strong>und</strong> strafverfolgenden Maßnahmen wurden vom Bischof <strong>und</strong> seiner Begleitung zur<br />

Kenntnis genommen. Fragen nach der Notwendigkeit des Fortbestandes der Haftbefehle wurden mit der<br />

Begründung der Wiederholungsgefahr beantwortet. Die Beschuldigung einzelner VP-Angehöriger der<br />

unkorrekten Verhaltensweise bei der Auflösung der Zusammenrottung wurde sachlich, aber bestimmt<br />

zurückgewiesen. Auf den Versuch des Bischofs, andere Probleme in das Gespräch einzubeziehen, z.B.<br />

daß Gesprächszusagen seitens der Regierung nicht eingehalten würden <strong>und</strong> sich die Situation zwischen<br />

Kirche <strong>und</strong> Staat zuspitze, wurden mit dem Hinweis auf den Gesprächsgegenstand <strong>und</strong><br />

Kompetenzgrenzen beantwortet 619 . Seitens der Kirchenvertreter wurde wiederholt die weitere<br />

Gesprächsbereitschaft betont. Es kann eingeschätzt werden, daß das Ziel des Gesprächs erreicht wurde.<br />

Unsererseits wurde offensiv, mit Fakten untersetzt <strong>und</strong> sachlich diskutiert.<br />

Der Landesbischof mit seiner Begleitung trugen zu einer konstruktiven, offenen <strong>und</strong> sachlichen<br />

Atmosphäre bei. Sie akzeptierten die getroffenen Maßnahmen, äußerten jedoch zugleich Bedenken über<br />

den Weg zur Bekämpfung der Straftaten <strong>und</strong> hielten Gespräche mit den Beteiligten für richtiger. Sie<br />

waren hilf- <strong>und</strong> ratlos, was die von ihnen zu lösenden Probleme, z.B. die Verhinderung des Mißbrauchs<br />

diesem Protokoll wurde den kirchlichen Vertretern bekanntgeben, daß am 11.09.1989 89 Personen verhaftet<br />

wurden. Davon kamen 19 in Stasi-Untersuchungshaft <strong>und</strong> 22 Personen wurden per Strafbefehl zu mehreren<br />

1000,- Mark verurteilt. Der Staatsanwalt sagte laut Protokoll Richter u.a.: „Gebet in Nikolai hat seit Frühjahr<br />

1988 sein jetziges Gepräge. Von da aus hat es in dieser Zeit schon mehrfach Aktionen gegeben, wie zum Beispiel<br />

Demonstrationen. Bisher wurde Toleranz geübt. Wir haben jetzt begründete Sorge, daß alles eskaliert. Sollen <strong>und</strong><br />

dürfen wir diesem Treiben bedingungslos zusehen? Wer ist in der Lage, eine Eskalation auszuschließen? Wir<br />

wollen doch kein Peking! Heute schreien sie nur: 'Schlagt sie tot.' Morgen tun sie es! Vielleicht werfen sie<br />

Steine? Brandsätze? Was dann? Während der Sommerpause in Nikolai sind wöchentlich Gruppen angereist, die<br />

hofften, in Nikolai gehe etwas los. Jetzt haben wir keine Alternative mehr. Die Form des Auftretens vor der<br />

Nikolaikirche muß gebrochen werden. Jetzt führen die Leute Plakate mit. Was werden sie morgen bei sich<br />

haben? Wo ist der Anfang? Wo hört es auf? Und nächsten Montag wird es wieder dasselbe sein!“ (ebenda, 277)<br />

Ein Bericht über dieses Gespräch wurde in einem R<strong>und</strong>brief an die Pfarrämter gegeben (Sievers (1990), 36) <strong>und</strong><br />

Bischof Hempel berichtete am 18.09.1989 vor der Synode des BEK (Hempel (1994), 202f.).<br />

619 Bischof Hempel hatte darauf hingewiesen, daß eine Absetzung der FG nicht den erwarteten Effekt haben könne,<br />

da „1/4 aller Bürger es einfach satt haben“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 277). Er forderte das Gespräch <strong>und</strong><br />

verwies auf die Gesprächsverweigerung des Staates seit 1986 gegenüber der KKL.<br />

303


kirchlicher Einrichtungen <strong>und</strong> Veranstaltungen, betraf . [/] Der Auftrag wurde erfolgreich erfüllt.<br />

620<br />

207 Basisgruppenerklärung<br />

621<br />

Unveröffentlichter Brief des Neuen Forum Leipzig an die Bürger der DDR vom 17.09.1989 (ABL H 17).<br />

An die Bürger der DDR!<br />

Seit Wochen <strong>und</strong> Monate können wir verfolgen, wie Tausende von Menschen das Land verlassen,<br />

Menschen, die für sich <strong>und</strong> das Land keine auf Dauer akzeptable Perspektive sehen. Dagegen versucht die<br />

Staatsführung der DDR seit jeher einer anwachsenden Bürgerrechtsbewegung mit repressiven<br />

Maßnahmen zu begegnen. Neben oft praktizierten Methoden der Einschüchterung wie sogenannte<br />

Zuführungen durch das Ministerium der Staatssicherheit, vorläufige Festnahmen <strong>und</strong> Verhaftungen<br />

wurden in der letzten Zeit wieder verstärkt Ordnungsstrafen <strong>und</strong> Strafbefehle erlassen. [/] Der Katalog der<br />

Bespitzelung <strong>und</strong> Einschüchterung beginnt dabei mit Aufzeichnungen von Telefongesprächen, Installation<br />

von „Wanzen“ in Wohnungen <strong>und</strong> Pfarrämtern, Beschattung im öffentlichen Leben, Ausgangssperre <strong>und</strong><br />

Hausarrest bis hin zur Druckausübung auf Verwandte <strong>und</strong> Anwerbversuche zur Mitarbeit beim<br />

Ministerium für Staatssicherheit. Diesen erpresserischen Maßnahmen entsagen immer mehr Menschen,<br />

die es an der Zeit anhalten, den unhaltbaren Alleinvertretungsanspruch der SED offen abzulehnen <strong>und</strong><br />

dafür neue Lösungswege für die Problemfelder Politik, Wirtschaft <strong>und</strong> Kultur vorzuschlagen <strong>und</strong><br />

einfordern. Wissenschaftler, Kunst- <strong>und</strong> Kulturschaffende, Ärzte, Juristen, Ingenieure <strong>und</strong> Pfarrer<br />

bekennen sich in wachsendem Maße zu einer notwendigen Oppositionsbewegung. Dieser nicht mehr<br />

aufhaltbaren Entwicklung versuchen trotzdem Staats- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane in einer Art Blindwut<br />

beizukommen, statt eine Auseinandersetzung mit den ursächlichen Problemen <strong>und</strong> Fehlern in der<br />

Öffentlichkeit zu führen. [/] Dafür stehen die jüngsten Ereignisse in Leipzig. [/] Am 11. September<br />

wurden nach einer gottesdienstlichen Veranstaltung von den ca. 1300 Besuchern etwa 100 Personen<br />

vorläufig festgenommen. Der Einsatz der Polizei- <strong>und</strong> Sicherheitskräfte war gekennzeichnet durch<br />

Brutalität <strong>und</strong> Menschenverachtung. Ungerechtfertigt wurden einzelne Bürger geschlagen, an den Haaren<br />

gezogen, getreten <strong>und</strong> anschließend festgenommen. Die überwiegende Mehrheit wurde per Strafbefehl<br />

nach § 217,1 („Zusammenrottung“) zu Geldstrafen zwischen 1000,- <strong>und</strong> 5000,- Mark verurteilt.<br />

Zusätzlich befinden sich noch mindestens 10 Bürger in Untersuchungshaft, bei denen ebenfalls nach §<br />

217,1 ermittelt wird <strong>und</strong> denen eine Höchststrafe von 2 Jahren droht. Die Friedensgebete der<br />

Nikolaikirche, die schon seit Jahren jeden Montag stattfinden, stellen für staatliche Vertreter schon seit<br />

längerer Zeit unliebsame Veranstaltungen dar. Politische Themen <strong>und</strong> Probleme werden dort<br />

angesprochen <strong>und</strong> zur Diskussion den Besuchern mitgegeben, gerade jene Probleme, die in der<br />

außerkirchlichen Öffentlichkeit keinen Platz finden dürfen. [/] Da die Kirchenleitung der Nikolaikirche<br />

nicht gewillt ist, den innerkirchlichen Dialog um gesellschaftliche Probleme aufzugeben, richten sich die<br />

Terrormaßnahmen nun gegen die Besucher der Veranstaltungen. Wir erklären uns deshalb solidarisch mit<br />

den Besuchern <strong>und</strong> Veranstaltern der Nikolai-Friedensgebete, die sich aktiv <strong>und</strong> untrennbar am Prozeß der<br />

Demokratiebestrebungen beteiligen. [/] Von der Staatsanwaltschaft fordern wir die sofortige Freilassung<br />

aller noch inhaftierten Bürger vom 11. September 1989, die Einstellung der Ermittlungsverfahren <strong>und</strong> die<br />

620 Nach dem Protokoll von J. Richter hat J. Hempel auf die Forderung, sich von den Demonstrationen zu<br />

distanzieren, sinngemäß folgendes gesagt: „Sie erwarten von mir ein Wort. Wenn ich es schriebe, müßte ich<br />

authentisch sein. Autorität aber ist das zerbrechliste Gut, das es gibt. Man muß damit sorgsam umgehen. Man<br />

darf den Einsatz nicht scheuen, wenn es sein muß. Aber ich habe jetzt dieses Wort nicht. Und das liegt daran:<br />

Zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche - nicht auf dieser Ebene [zu H. Reitmann] - spitzt sich etwas zu, was wir nicht wollen!<br />

Das ist die überschichtige Problemlage!“ (ebenda, 278) Sup. Richter charakterisierte die Situation mit folgender<br />

Metapher: „Wir sitzen alle in einem Boot oder in einem Schiff. Aber irgend jemand hat das Ruder festgekeilt.“<br />

(ebenda, 279)<br />

621 Der Brief konnte nicht veröffentlicht werden, da verschiedene Berliner Mitglieder des Neuen Forums (B. Bohley,<br />

J. Seidel) keine regionale Erklärung des Neuen Forums wünschten bzw. einen DDR-weiten Konsens-Prozeß<br />

forderten. Der Brief wurde von M. Arnold <strong>und</strong> C. Dietrich unterzeichnet.<br />

304


Annullierung der bereits erlassenen Strafbefehle <strong>und</strong> Geldstrafen wegen einer angeblichen<br />

„Zusammenrottung“. [/] Von der Regierung fordern wir die Bestrafung der für den Polizeieinsatz<br />

Verantwortlichen, da diese polizeiliche Maßnahmen einen Verstoß gegen die Menschenwürde <strong>und</strong> gegen<br />

die freie Glaubens- <strong>und</strong> Religionsausübung darstellen.<br />

Wir bitten Sie, Bürger dieses Landes, um die Solidarität für die Inhaftierten <strong>und</strong> Verfolgten in Leipzig.<br />

208 Ereignisbericht<br />

Aktennotiz von Pf. Führer über die Vorgänge um das Friedensgebet in St. Nikolai am 18.09.1989 vom<br />

gleichen Abend. Vorlage ist eine Xerokopie des Typoskriptes (ABL H 1).<br />

1. In der Kirche waren etwa 1800 Menschen, so daß wir die 2. Empore auch noch öffnen mußten. [/] Vom<br />

LKA abgeordnet OKR Kreß.<br />

2. Ablauf622: Begrüßung: C. Führer623<br />

Andacht: Grünauer Katholiken mit Pater Bernhard624 Schlußwort: Pf. Wugk im Namen der Superintendenten.<br />

3. Die Atmosphäre im Gotteshaus war ruhig, es gab Beifall, der nicht „aufgeheizt“, sondern auch sachlich<br />

an der rechten Stelle war. Es wurde mitgesungen, das Vaterunser vereinte die meisten.<br />

4. Sowohl in der Begrüßung, noch deutlicher absprachegemäß im Schlußwort wurde gebeten, die<br />

Hoffnung von der Kirche auch auf den Platz vor der Kirche auszudehnen, den Einsatz der<br />

Sicherheitskräfte gegenstandslos zu machen, zügig in allen Richtungen nach Hause zu gehen.<br />

5. Alle verfügbaren Ausgänge wurden geöffnet (A, B, D). Schon während der Andacht wurde mir 2x<br />

berichtet, daß draußen alles abgeriegelt ist <strong>und</strong> 17.30 Uhr die erste Zuführung beobachtet wurde.<br />

6. Der „Auszug“ aus der Kirche verlief erstaunlich in unserem Sinn, alles war in Bewegung, die<br />

Andachtsbesucher konnten ungehindert durch die Polizeikette nach Hause. Als noch kleine Grüppchen<br />

auf dem Platz waren, gingen OKR Kreß, Pfr. Wugk <strong>und</strong> ich auf den Platz <strong>und</strong> baten die Menschen,<br />

nach Hause zu gehen.<br />

Ich machte einen R<strong>und</strong>gang um die Kirche <strong>und</strong> stellte fest, daß so gegen 18.30 Uhr der Platz um die<br />

Kirche leer war bis auf einzelne Personen. Ich überzeugte mich, daß die Menschen nach wie vor die<br />

Polizeiketten durchdringen konnten von „innen nach außen“. Pf. Berger brachte einige, die es nicht<br />

wagten, durch die Absperrung.<br />

7. Dann geschah das für uns völlig Unverständliche: die Polizei ließ mit einem Mal alle „von außen“, also<br />

die Zuschauer, von allen Seiten auf den Nikolaikirchhof. Der Platz füllte sich, es kam zu Geschrei -<br />

erstmals!-, Lieder wurden angestimmt.<br />

Seltsam: die zivilen Beamten griffen nicht ein! Dann zogen alle ab in die Ritterstraße. Die in<br />

Nachrichten 625 genannten Zuführungszahlen - etwa 100 Personen - werden jetzt entstanden sein.<br />

8. Inzwischen kam die Polizei in unser Haus, da sich etliche Personen im Haus aufhielten. Ich konnte eine<br />

friedliche Regelung erreichen. Pf. Wugk, ich begleitete einen „Zug“ mehrerer Personen mit OKR<br />

Kreß, der, als wir alle Polizeiketten hinter uns hatten, noch anbot, die jungen Leute mit zum Bahnhof<br />

zu nehmen. Sie wollten zuerst deshalb nicht die Kanzlei <strong>und</strong> das Haus verlassen, weil - wie sich später<br />

bei einem anderen ereignete - sie befürchteten, zugeführt zu werden, wenn wir wieder weg sind.<br />

9. Wir suchten danach das Gespräch mit dem Einsatzleiter. Ein Offizier - ob er der Leiter war, wissen wir<br />

nicht - hörte sich an, was wir (Wugk, ich) zu sagen hatten: daß der Platz leer war, die später<br />

Einströmenden nicht in der Kirche waren, weder unsere Aufrufe in noch außerhalb der Kirche gehört<br />

haben. Er versprach, es weiterzuleiten.<br />

10. Gegen 19.15 Uhr erreichte mich die Nachricht, daß M. Arnold beim Verlassen unseres Hauses<br />

622 Zu diesem FG liegt ein Tonbandmitschnitt vor (beim Herausgeber). E. Weiser (RdB Leipzig) berichtete in einem<br />

IN-Telegramm am 19.09. dem StfK über das FG (BArch O-4 973).<br />

623 abgedruckt in: Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter (1990), 21f. <strong>und</strong> Kuhn (1992), 35f.<br />

624 Predigt abgedruckt: Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter (1990), 22-25<br />

625 Quelle der Nachrichtenagenturen war vor allem die Koordinierungsgruppe [Herbst 1989] (s. Anhang)<br />

305


zugeführt wurde . Er hat nichts mit den lautstarken Leuten auf dem Platz zu tun.<br />

626<br />

11. Es drängt sich die Vermutung auf, daß, nachdem das Friedensgebet wie immer, aber auch der<br />

Nachhauseweg friedlich <strong>und</strong> zügig verliefen, der Krawall auf dem Nikolaikirchhof bewußt<br />

herbeigeführt wurde. Wir protestieren dagegen entschieden.<br />

C.F. 18.09.1989 [gez.] C. Führer<br />

209 Stasi-Information<br />

Bericht über „ein weiteres ‘Montagsgebet’„ vom 19.09.1989 in der Anlage des Wochenberichtes der ZAIG<br />

des MfS 627 . Das Exemplar trägt handschriftliche Vermerke Mielkes (BStU ZAIG 4598, 105-107).<br />

Am 18. September 1989 fand in der Zeit von 17.00 bis 17.55 Uhr das montägliche Friedensgebet unter<br />

Teilnahme von ca. 1 200 Personen statt. [/] Unter Bezugnahme auf die Vorkommnisse anläßlich des<br />

„Montagsgebetes“ in der Vorwoche (11. September 1989) erklärte Pfarrer Führer einleitend, daß die zum<br />

Einsatz gekommenen Volkspolizisten nur Befehlsausführende seien <strong>und</strong> zum Teil gegen ihren Willen<br />

handeln müßten. Er informierte über diese Ereignisse <strong>und</strong> verlas anschließend die Namen von Inhaftierten,<br />

die in Fürbitten eingeschlossen werden sollen. [/] Diese Information wurde nach Abschluß des<br />

Montagsgebetes in Form von Handzetteln verbreitet. Sie enthält eine tendenziöse Darstellung des<br />

Einsatzes der Sicherungskräfte am 11. September 1989 <strong>und</strong> eine „Würdigung“ namentlich genannter<br />

inhaftierter Personen. Außerdem beinhaltet sie Hinweise über weitere geplante Fürbittandachten für die<br />

Inhaftierten in Kirchen der Stadt Leipzig sowie Aufforderungen zum Versenden von Protestresolutionen<br />

an die Generalstaatsanwaltschaft bzw. an den Bezirksstaatsanwalt. Als Unterzeichner fungiert eine<br />

„Koordinierungsgruppe der Leipziger Fürbittandachten für die Inhaftierten“ 628 . [/] Die weitere Gestaltung<br />

des Montagsgebetes erfolgte durch Vertreter des katholischen „Friedenskreises Lindenau“ unter Leitung<br />

von Pater Bernhard. Ausgehend von einem biblischen Text zum Thema „Mauer“ wurde erklärt, daß<br />

Mauern einzureißen derzeitig nicht möglich wäre. Es bestünde aber die Möglichkeit, sie zu überwinden.<br />

Der stellvertretende Superintendent Wugk beendete das Montagsgebet mit der Aufforderung, die Kirche<br />

<strong>und</strong> den Vorplatz zu verlassen629 . [/] Gegen 18.15 Uhr kam es auf dem Nikolaikirchplatz erneut zu einer<br />

Personenansammlung. Ein namentlich bekannter Student des Theologischen Seminars Leipzig verteilte<br />

Handzettel mit der vorgenannten Information über die Ereignisse am 11. September 1989 630.<br />

[/] Da den<br />

626 Da für den folgenden Tag (19.09.) geplant war, die Zulassung des „Neuen Forums“ als Vereinigung zu<br />

beantragen <strong>und</strong> der entsprechende Brief nur durch M. Arnold unterzeichnet war, wurden durch die<br />

Koordinierungsgruppe an diesem Abend noch zwei weitere Unterzeichner (später Sprecher des „Neuen Forums“<br />

genannt) gewonnen: G. Oltmanns <strong>und</strong> E. Dusdal.<br />

627 vgl. Information der BV Leipzig vom 18.09.1989 (in: Stasi INTERN, 257)<br />

628 Informationsblatt (ABL H 1)<br />

629 Im Bericht des 2. Sekretärs der SED-BL an das ZK (Dohlus - Fernschreiben Nr. 434 vom 18.09.1989, 21.22 Uhr)<br />

hieß es u.a.: „Nach Beendigung verließen die Personen bis 18.10 Uhr die Nikolaikirchhof. 18.20 Uhr kam es<br />

erneut zu starker Personenbewegung auf dem Nikolaikirchhof. [...] Polizeiliche Hilfsmittel kamen nicht zum<br />

Einsatz. H<strong>und</strong>eführer mit Diensth<strong>und</strong>en wurden zum Schutz der eigenen Kräfte eingesetzt.“ (StAL SED A 4972)<br />

vgl. a. Abschlußbericht vom 19.09. (FS Nr. 437 - ebenda)<br />

630 „namentlich bekannter Student“ wurde von Mielke unterstrichen (s. folgende Anm.). Der Bericht des Studenten<br />

C. Dietrich findet sich in: Neues Forum Leipzig (1989), 31f.. Dort wurde er jedoch versehentlich dem 25.09.<br />

zugeordnet: „Ich kam ohne Schwierigkeiten durch die Polizeikette auf die Grimmaische Straße. Dort hatten sich<br />

schon mehrere h<strong>und</strong>ert Schau- <strong>und</strong> Demonstrations(?)lustige versammelt. Ich mußte mich durch die eng stehende<br />

Menschenmenge drängeln <strong>und</strong> habe mich kurz mit einem Fre<strong>und</strong> unterhalten, dem ich ein Informationsblatt gab,<br />

welches ich für das Kontaktbüro mitgenommen hatte. Dann ging ich weiter in Richtung Karl-Marx-Platz, doch<br />

gleich darauf griffen mich drei Männer zwischen 30 <strong>und</strong> 40 Jahren <strong>und</strong> wollten mich wegschleifen (Kommentar:<br />

'Kommen Sie mit', 'Machen Sie keine Probleme'). Ich wehrte mich <strong>und</strong> schrie: 'Rowdys.' Darauf versuchten sie,<br />

meine Beine zu greifen, um mich wegtragen zu können, doch dazu kamen sie nicht. Die Schaulustigen kamen<br />

<strong>und</strong> stellten sich um uns. Die Herren ließen mich los, <strong>und</strong> ich stieg auf das nächste Blumenbeet. [...] Die Herren<br />

verlangten jetzt von mir den Ausweis, den ich aber verweigerte, da sie sich nicht ausgewiesen hatten. Passanten<br />

306


wiederholten Aufforderungen über Lautsprecher zum Verlassen des Nikolaikirchplatzes nur zögernd<br />

Folge geleistet wurde, erfolgte gegen 18.40 Uhr entsprechend den zentral abgestimmten Maßnahmen die<br />

Räumung des Platzes durch Einsatzkräfte der DVP. [/] Es wurden insgesamt 31 Personen zugeführt,<br />

darunter 4 Antragsteller auf ständige Ausreise. [/] Im Ergebnis der bisher geführten Untersuchungen wird<br />

vorgeschlagen:<br />

− Gegen 3 Zugeführte Ermittlungsverfahren gemäß § 217 StGB in Verbindung mit § 220, Absatz 1<br />

StGB, mit Haft einzuleiten <strong>und</strong> diese Personen zu Haftstrafen zwischen 6 <strong>und</strong> 12 Monaten zu<br />

verurteilen;<br />

− Gegen 5 Zugeführte Ermittlungsverfahren gemäß § 217 StGB ohne Haft einzuleiten mit dem Ziel, sie<br />

zu Geldstrafen zwischen 1000 <strong>und</strong> 5000 Mark zu verurteilen;<br />

− Gegen einen Zugeführten ein Ermittlungsverfahren gemäß § 217 StGB ohne Haft einzuleiten mit dem<br />

Ziel der Verurteilung mit Bewährung;<br />

− Gegen 5 Zugeführte Ordnungsstrafverfahren durchzuführen <strong>und</strong> sie differenziert mit Geldstrafen<br />

zwischen 100 <strong>und</strong> 500 Mark zu belegen;<br />

− Gegen 3 Zugeführte werden weitere Prüfungshandlungen durchgeführt.<br />

14 Zugeführte Personen wurden belehrt <strong>und</strong> aus dem Polizeigewahrsam entlassen. [/] Westliche<br />

Korrespondenten wurden nicht festgestellt.<br />

210 Kirchenbucheintragung<br />

Eintragungen aus dem Gästebuch VII der Nikolaikirche vom 19.09.1989 (Nikolaikirchgemeinde).<br />

Meine Tränen als Mensch gelten diesem grausamen Vorgehen gegen die Jugend <strong>und</strong> ihrem progressiven<br />

Wollen. Mit Gewalt <strong>und</strong> diktatorischer Macht wird dieses Land Schiffbruch erleiden. Ausreisen ist kein<br />

Ausweg, wir müssen es schaffen, dieses Land für die Kinder auf neue Weise <strong>und</strong> zukunftsorientierte<br />

Weise aufzubauen. Rückblick in die Vergangenheit bringt nichts. [/] Ich unterstütze das progressive<br />

Wollen <strong>und</strong> spreche mich offen gegen diese Gewaltakte aus. [/] 19.9.89 Dagmar Stühler<br />

Dies ist wahr. Das wahre „demokratische“ Antlitz dieses Regime hatte sich am 18.09. in seiner ganzen<br />

Brutalität gezeigt. Doch mit noch so massivem Polizeieinsatz u. des Aufgebotes von Sicherheitskräften,<br />

kann man in diesem Land nicht jene Stimmen zum Verstummen bringen, die für gesell. Veränderungen<br />

eintreten wollen u. schon gar nicht mit Verhaftungen u. Ordnungsstrafgeldern. Damit kann man nicht den<br />

Ruf der hier lebenden Menschen nach mehr Freiheit <strong>und</strong> Demokratie ersticken. Wer ein Gewissen hat,<br />

kann nicht zu den jüngsten Verhaftungen schweigen, sondern muß dagegen protestieren, ebenso gegen<br />

den Polizeiterror, der Montag für Montag nach dem Friedensgebet vor der Nikolaikirche sich abspielt.<br />

Gott, der Herr, führt unsere Sache! [/] Schalom!<br />

Freiheit ist immer die Freiheit des politisch anders Denkenden! [/] R. Luxemburg<br />

Ich bin froh, daß es Euch gibt. Ich habe trotz allem Mut geschöpft. Ich werde kommen <strong>und</strong> es werden<br />

noch viele erwachen <strong>und</strong> aufbrechen. [/] 19.9.89 Ines Ruch<br />

Erst wenn dieser Staat seinen Bürgern traut, werden die Bürger auch dem Staat trauen können. [/] Hans-<br />

Otto Träger [/] 19.9.89<br />

Überlegt Euch mal, wo Ihr nicht auch Schuld habt an den Verhaftungen vor Eurem Haus. Mit blinder<br />

Raserei kam noch keiner an sein Ziel. [/] T. B. 19.09.89<br />

Warum nicht Ihren vollen Namen ? [/] 20.9.89<br />

[...] forderten mich auf zu gehen, sie seien zu meinem Schutz da. Die Herren wagten mich nicht mehr anzufassen,<br />

da sie von der Menge gewarnt wurden (die Stimmung war so, daß es zu einer Prügelei geführt hätte). Einer der<br />

Herren rief einen Polizeistreifenwagen, zu dem man mich dann brachte <strong>und</strong> meine Personalien aufnahm. [...]<br />

Dann verlangte ich von einem der Herren (in Zivil), zu versprechen, daß ich ungehindert in das Markus-<br />

Gemeindehaus gelangen kann. Dies Versprechen wurde für die Umstehenden laut vernehmlich (nach erneuter<br />

Aufforderung) gegeben. Ich wurde danach nicht weiter behelligt, [...]“<br />

631 Hierin im Anschluß Mielke mit Hand hinzu: „Student“ über den vorhergehenden Text schrieb er schräg:<br />

„Einverstanden L[inie] IX wurde angewiesen. Mi[elke] 19./9.89“<br />

631<br />

307


Als Atheist fand ich bis her noch nicht die Kraft, mich dieser Gemeinschaft anzuschließen, dennoch suche<br />

ich nach Kontakt zu Leuten, die dieses Land, unser Land, verändern wollen. Dadurch, daß es jetzt auch<br />

<strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n <strong>und</strong> Bekannte „erwischt“ hat, schließt sich der Würgegriff. Hohe Geldstrafen, widerrechtlich<br />

verhängt, machen ein optimistisches Leben ganz plötzlich unmöglich. Die Energien, die man noch hatte,<br />

werden nun dafür aufgewendet, die Strafen zu begleichen. Viele der Demonstranten sitzen im Gefängnis.<br />

An wen kann ich mich wenden? Gibt es Spendenkonten? [/] Adresse: Mathias Wündisch [es folgt eine<br />

Leipziger Adresse]<br />

211 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />

Eingabe aus Forst an den Rat des Bezirkes Leipzig, Abteilung Inneres vom 20.09.1989, in dem die<br />

Freilassung der Inhaftierten in Leipzig gefordert wurde 632 . Ormigabzug (Ev.Ki. Fo 113/89) (ABL H 1).<br />

Wir sind betroffen über das Vorgehen der Sicherheitskräfte, wie es sich in den letzten Monaten vielfach in<br />

unserem Lande zeigte. Insbesondere denken wir dabei an die Vorgänge um das montägliche Friedensgebet<br />

in der St. Nikolai-Kirche in Leipzig. Wie wir durch <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> aus Leipzig erfahren haben, wurden am 11.<br />

<strong>und</strong> 18. September 1989 jeweils über 100 Teilnehmer des Friedensgebetes polizeilich zugeführt, darunter<br />

Menschen, die einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR gestellt haben. Gegen<br />

einige wurden Haftbefehle nach § 217 (StGB) <strong>und</strong>, wie heute mitgeteilt wurde, auch Haftstrafen<br />

ausgesprochen. Viele andere erhielten Strafbefehle nach § 217 (StGB) <strong>und</strong> wurden zu Geldstrafen<br />

zwischen 1000 <strong>und</strong> 5000 DM verurteilt. Filmaufnahmen bzw. Fotos zeigten die Brutalität von Polizei <strong>und</strong><br />

zivilen Sicherheitskräften im Zusammenhang mit den Zuführungen.<br />

Wir können dazu nicht schweigen.<br />

In einer Fürbittandacht in der evangelischen Kirche zu Forst-Eulau haben wir heute für alle Betroffenen<br />

gebetet. Wir möchten unser Gebet verbinden mit der dringenden Bitte an die verantwortlichen staatlichen<br />

Organe<br />

− den friedlichen Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Meinung in unserem Land zuzulassen<br />

<strong>und</strong> zu sichern;<br />

− alle im Zusammenhang mit dem Leipziger Friedensgebet Inhaftierten unverzüglich freizulassen;<br />

− die ausgesprochenen Geldstrafen zurückzunehmen;<br />

− öffentlich <strong>und</strong> mit allen gesellschaftlichen Kräften <strong>und</strong> Gruppen nachzudenken über die Ursachen von<br />

Unzufriedenheit bei weiten Teilen der Bevölkerung, über das derzeitige forcierte Weggehen vieler<br />

Menschen aus unserem Land <strong>und</strong> darüber hinaus den tausendfach geäußerten Willen vieler gerade<br />

junger Menschen, die DDR verlassen zu wollen.<br />

Wir bitten um Gehör, weil wir den inneren Frieden in unserem Land gefährdet sehen <strong>und</strong> grüßen mit dem<br />

biblischen Friedenswunsch SCHALOM.<br />

Anlage: [Liste der Unterzeichner vorstehender Eingabe. 83 Unterschriften]<br />

212 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />

Brief der Superintendentur Leipzig-Ost (Briefkopf) <strong>und</strong> des KV St. Nikolai (Führer) vom 20.09.1989 an den<br />

Rat der Stadt Leipzig, Abt. Kirchenfragen, in dem gegen das Vorgehen der Sicherheitsorgane am 18.09.1989<br />

nach dem Friedensgebet protestiert wurde. Unterzeichnet wurde der Brief von Pf. Wugk <strong>und</strong> Pf. Führer.<br />

Vorlage ist eine Xerokopie (ABL H 1).<br />

Betr.: Friedensgebet 18.9.89<br />

Im Nachgang zu dem o.a. Friedensgebet in der Nikolaikirche liegt uns daran, Ihnen folgende<br />

Feststellungen <strong>und</strong> Erwartungen mitzuteilen:<br />

632 Dieses Schreiben ist Beispiel für eine Vielzahl solcher Solidaritäts- bzw. Protestschreiben <strong>und</strong> der Berichte über<br />

Fürbittandachten in über 20 Orten in der DDR bis Anfang Oktober 1989 aufgr<strong>und</strong> der Inhaftierungen in Leipzig.<br />

308


1. Nach Beendigung des Friedensgebetes am 18.9. war der Nikolaikirchhof von den Teilnehmern des<br />

Gottesdienstes entsprechend unserem Aufruf in der Kirche <strong>und</strong> dem persönlichen Einsatz auf dem<br />

Vorplatz in kürzester Zeit verlassen worden. Die Unterzeichneten, Dr. Berger <strong>und</strong> weitere für die<br />

Durchführung der Veranstaltung Verantwortlichen hatten bis zuletzt Teilnehmer durch die wieder<br />

aufgestellten Polizeiabsperrungen geleitet.<br />

2. Nach 18.30 Uhr kam auf dem leeren Platz eine größere Menschenmenge aus der Innenstadt<br />

(Reichstr./Nikolaistr. über die Schuhmachergasse), so daß der Nikolaikirchhof wieder voll besetzt war.<br />

Nach unseren Beobachtungen waren darunter keine Besucher des Friedensgebetes. Diese Gruppe bot<br />

die gewohnte Veranlassung für die Polizei, Maßnahmen zur Räumung des Platzes durchzuführen. In<br />

diesem Zusammenhang haben die Unterzeichneten einem der leitenden Offiziere unsere Betroffenheit<br />

zum Ausdruck gebracht.<br />

3. Mit Bestürzung <strong>und</strong> Bedauern stellen wir fest, daß unser erkennbares Bemühen um Beruhigung der<br />

öffentlichen Situation nach dem Friedensgebet durch eine taktische Entscheidung der Sicherheitskräfte<br />

beantwortet wurde, die die übliche Situation der Konfrontation vor der Nikolaikirche entstehen ließ -<br />

allerdings erkennbar mit einer Personengruppe, die nicht am Gottesdienst teilgenommen hatte.<br />

4. Wir geben erneut der Erwartung Ausdruck, daß die dafür Verantwortlichen den künftigen Einsatz von<br />

Polizei gr<strong>und</strong>sätzlich neu überprüfen. Wir bitten darum, auf eine derartige Machtdemonstration<br />

staatlicher Organe zu verzichten. Die bisherige Entwicklung zeigt, daß sie eine immer größer werdende<br />

Protestgruppe <strong>und</strong> weitere Schaulustige anlockt <strong>und</strong> bei vielen Bürgern einen weiteren<br />

Vertrauensschw<strong>und</strong> gegenüber staatlichem Handeln bewirkt.<br />

5. Wir geben der Erwartung Ausdruck, daß seitens staatlicher Stellen die Entstehung öffentlicher<br />

Protestgruppen zum Anlaß genommen wird, Angebote eines öffentlichen Dialogs zur gegenwärtigen<br />

gesellschaftlichen Situation zu entwickeln <strong>und</strong> zu ermöglichen.<br />

213 Friedensgebetstexte<br />

Tonbandprotokoll des Fürbittengebetes am 21.09.1989 in der Lukaskirche, welches von der<br />

Koordinierungsgruppe gestaltet <strong>und</strong> aufgezeichnet wurde (ABL).<br />

Begrüßung (Pf. Wonneberger): Es wird nicht allen gefallen, daß wir hier heute abend zusammen sind.<br />

Aber ich lese gerade in meiner Losung für den heutigen Tag 633 , daß das ja nichts Neues ist, sondern daß<br />

schon vor fast 2000 Jahren die Pharisäer <strong>und</strong> die Schriftgelehrten sich darüber aufgeregt haben <strong>und</strong><br />

gemurrt haben, daß Jesus sich zusammensetzt mit Zöllnern <strong>und</strong> Sündern, also mit denen, die nicht so viele<br />

soziale Achtung genießen. Und eine ähnliche Veranlassung haben wir ja heute auch. Wir sind auf<br />

gegenseitige Informationen angewiesen, weil wir offiziell nicht gut informiert werden. Und diejenigen, die<br />

seit 1 1/2 Woche in Haft sind, in Untersuchungshaft sind, sind auf unsere Fürbitte <strong>und</strong> auf unsere<br />

Solidarität angewiesen. Wir können uns jetzt nicht mit ihnen so wie Jesus damals zusammensetzen an<br />

einen Tisch <strong>und</strong> zusammen essen <strong>und</strong> trinken, um das genau so deutlich zu symbolisieren, aber wir<br />

können hier zusammenkommen wie an den vergangenen Tagen, an die denke ich auch weiter noch<br />

zusammenkommen, um deutlich zu machen, daß wir ihnen nahe sind, trotz der Entfernung <strong>und</strong> trotz der<br />

Mauern, die dazwischen sind. Diese Fürbittandacht ist vorbereitet von der Koordinierungsgruppe, sie wird<br />

diese Fürbittandacht gestalten. Und ich lade Sie herzlich ein, sich daran zu beteiligen, aktiv.<br />

J. Läßig: Zu Beginn wollen wir den bekannten, also inzwischen den oft zu solchen Veranstaltungen<br />

gesungenen Kanon singen: Herr, bringe wieder unsere Gefangenen, wie du die Bäche wieder bringst im<br />

Mittagslande, Amen. Ich singe mal vor, für diejenigen die es noch nicht kennen. [...]<br />

U. Schwabe: Wie wir ja bestimmt alle bereits wissen, sind am 11.09. nach dem Friedensgebet 142<br />

Personen vorläufig festgenommen worden, <strong>und</strong> von diesen 142 Personen befinden sich noch 11 in Haft.<br />

Es gab insgesamt 22 Strafbefehle zwischen 1000,- <strong>und</strong> 5000,- Mark. Ich sage noch mal die Namen, falls<br />

das jemand noch nicht weiß. Das sind: Carola Bornschlegel, Kathrin Hattenhauer, Udo Hartmann, Axel<br />

Gebhardt, Jutta Gätzel, Mirko Kätzel, Jörg Müller, Günter Müller, Ramona Ziegner, G<strong>und</strong>ula Walter <strong>und</strong><br />

633 Lk 15,1-2<br />

309


Frank Elsner. Gegen vier der genannten Personen, für Ramona Ziegner, Jörg Müller, Udo Hartmann <strong>und</strong><br />

Carola Bornschlegel ist Strafbefehl ausgesprochen worden mit 4 Monaten Haft. Gegen die anderen<br />

Inhaftierten soll der Strafbefehl bis Freitag noch ausgesprochen werden, da wird die Höchststrafe von 6<br />

Monaten angestrebt, wie uns Herr Schnur erklärt hat.<br />

St. Walther: Der Rechtsanwalt Schnur ist bei den vier Leuten, die die 4 Monate Strafbefehl bekommen<br />

haben, in Berufung gegangen. Bei den anderen wird er es sofort tun, wenn die Strafbefehle ausgesprochen<br />

worden sind. Und der Rechtsanwalt Schnur hat von den 11 Leuten, von 9 davon, die Anwaltschaft<br />

übernommen. Um eins möchte ich Sie bitten. Wenn jemand den Frank Elsner kennt, oder Angaben über<br />

ihn machen kann, der soll sich bitte danach hier vorn melden. Was ich noch sagen will, in welchen<br />

anderen Städten Fürbittandachten laufen, das wäre in Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt, Zwickau, Zittau,<br />

Großhennersdorf, Quedlinburg, Altenburg, Gera, Berlin, Groß-Schönau, Greifswald <strong>und</strong> Naumburg.<br />

(Trommelmusik)<br />

J. Läßig, U. Schwabe [Verlesen des Textes in verteilten Rollen] Wir lesen aus der allgemeinen Erklärung<br />

der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, verabschiedet von der Generalversammlung der vereinten<br />

Nation. (Trommelmusik)<br />

− Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit <strong>und</strong> Sicherheit der Person. (Trommelmusik) [... 5<br />

weitere Artikel]<br />

U. Schwabe: Wir möchten jetzt mal versuchen das widerzuspiegeln was vielleicht in den Köpfen der<br />

Inhaftierten vorgeht. Dieser Text ist entstanden im Januar 1989, als ich aus der Untersuchungshaft<br />

entlassen wurde. Und wir möchten den jetzt mal vorlesen.<br />

St. Walter <strong>und</strong> U. Schwabe [Verlesen des Textes in verteilten Rollen]: Es stehen zwei unbekannte Männer<br />

vor der Tür: „Klärung eines Sachverhaltes“. Eine schon bekannte Unruhe ergreift dich. Keine<br />

Begründung. „Zuführung“. 3 Personen: eine Sicherheitsvorkehrung. Du wirst in ihre Mitte genommen -<br />

dir kommen keine Gedanken von Flucht. Abgeführt wie in einem schlechten Krimi. Es herrscht eisiges<br />

Schweigen. 3 Personen für einen einzigen! Unruhestifter, Provokateur, Staatsfeind? Keine Antwort auf<br />

diese Fragen. Du wirst deinem Vernehmer übergeben. Beschuldigungen, Paragraphen, Beweise. Es bleibt<br />

eines in deinem Gedächtnis hängen: Paragraph 214, Abs. 1-3. Höchststrafe 5 Jahre Gefängnis. Du<br />

versuchst, den Gedanken von dir zu weisen, Knast: 5 Jahre! Nun beginnt das Spiel der Macht. Man weiß<br />

alles. Geständnisse klagen dich an. „Ihr Fre<strong>und</strong> hat unter Tränen ihren Namen genannt“. Tränen - fast<br />

schon ein Fremdwort für dich. Du fragst dich: warum? Angst? Wollte er die Schuld von sich weisen?<br />

Überredung? Die Situation scheint unverständlich. Belehrungen folgen. Dein Recht, einen Rechtsanwalt<br />

zu nehmen, Klage zu erheben... Du wählst Wolfgang Schnur, ein bekannter Name - abweisende <strong>und</strong><br />

aggressive Blicke treffen dich - man hört diesen Namen nicht gern. „Eh’ der Bescheid bekommt <strong>und</strong> dann<br />

in Leipzig ist, vergehen Tage! Sie wollen doch nicht so lange hier bleiben? Gestehen Sie, es ist besser für<br />

Sie, um so eher kann dieser Fall geklärt werden“.<br />

Sie wollen doch nicht so lange hier bleiben - wie absurd! - als hättest du dir es ausgesucht. Du<br />

verweigerst die Aussage, willst nur im Beisein deines Rechtsanwaltes etwas sagen - höhnisches Grinsen:<br />

„Wie lange wollen Sie dann warten?“ „Wenn Sie für Veränderungen eintreten, müssen Sie auch offen sein<br />

<strong>und</strong> Ihre Tat gestehen, sonst wird sie unglaubwürdig! - Wir wollen doch Ihr Bestes, den Fall klären,<br />

Klarheit schaffen!“ Du bestehst auf deiner Entscheidung. Der Ton ändert sich ins Aggressive. „Sie<br />

verdunkeln den Fall, es können Entscheidungen zu Ihren Ungunsten fallen. Denken Sie an die 5 Jahre<br />

Haft!“ Die Vernehmer wechseln sich ab - du bleibst. 12 St<strong>und</strong>en. Du nimmst nichts mehr auf, bist müde,<br />

abgespannt. „Gestehen Sie, <strong>und</strong> Sie können schlafen!“ Du sagst schon seit St<strong>und</strong>en nichts mehr, sie reden<br />

auf dich ein. Dir fallen die Augen zu. Du verweigerst die Aufnahme der Worte, sie rücken immer weiter<br />

von dir. Du sagst, daß du schlafen willst. „Reden Sie!“ Nach 14 St<strong>und</strong>en genehmigt man dir 3 St<strong>und</strong>en<br />

Schlaf. „Überlegen Sie es sich genau, so kommen wir nicht weiter. Uns liegen Aussagen vor; wir werden<br />

Ihre Tat beweisen - zu Ihren Ungunsten!“<br />

Du wirst abgeführt - lange dunkle Gänge - „Hände auf dem Rücken!“ - rote Lampen. Du mußt an<br />

jeder Ecke warten. „Gesicht zur Wand!“ Keinen anderen bekommst du zu Gesicht. Die Zelle: Du stehst<br />

<strong>und</strong> versuchst, mit der neuen Situation fertig zu werden. 2 Betten, 2 Hocker, 1 Tisch, Fenster mit<br />

<strong>und</strong>urchdringlichen Glasfliesen, Waschbecken <strong>und</strong> Toilette. Du siehst nicht den Himmel; nur mattes,<br />

trübes Licht dringt durch die Glasfliesen. Du legst dich hin, findest keine Ruhe, beobachtest die Tür: ein<br />

310


kleiner Spion, <strong>und</strong> eine Klappe in Höhe Bauch. Aller 10 Minuten schaut jemand durch den Spion, dazu<br />

wird die Zelle grell erleuchtet. Du fragst dich: Warum? Angst vor Selbstmord? Du mußt mit dem Gesicht<br />

zur Tür schlafen <strong>und</strong> darfst dein Gesicht nicht bedecken. Angst vor Verzweiflung? Du kannst keinen<br />

richtigen Gedanken mehr fassen, willst nur noch schlafen. Es geht nicht.<br />

Die Zellentür öffnet sich mit lauten, durchdringenden Geräuschen. Du stehst sofort vorm Bett.<br />

„Nummer 1, mitkommen!“ Du weißt nicht, weshalb. Was will man von dir? Hände auf dem Rücken,<br />

Gesicht zur Wand. Der bekannte Raum mit dem Vernehmer erscheint wieder. Du denkst, es sind keine 5<br />

Minuten vergangen. Befragungsprotokoll, Beginn 6.07 Uhr. 1 1/2 St<strong>und</strong>en sind seit deinem Herausgehen<br />

aus diesem Zimmer vergangen. Dieselben Fragen, dieselben Argumente. Du brauchst viel Zeit, um wieder<br />

in deine Rolle zu schlüpfen. Dir werden Aussagen vorgelegt, Beschuldigungen, unterschrieben mit dir<br />

bekannten Namen. Fingiert oder nicht - Wahrheit oder Manipulation? Du weißt es nicht. „Wir wissen<br />

alles, geben Sie es zu!“ Dir bekannte <strong>und</strong> erlebte Fakten werden dir vorgelegt: Treffpunkte, Namen,<br />

Hergang des Geschehens. Du stehst zu deiner Tat; willst versuchen ihnen deine Argumente zu erklären,<br />

hast Hoffnung, daß sie dich vielleicht verstehen - deine Ängste, Zweifel... Aber selbst anklagen, <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong><br />

verraten - nein! Nun beginnt die fre<strong>und</strong>liche Tour. Persönliche Probleme werden angesprochen <strong>und</strong><br />

Probleme mit Entscheidungen des Staates. Das, was du selber im Kopf hast, dringt aus ihrem M<strong>und</strong>.<br />

Verw<strong>und</strong>erung, Zweifel. Dummenfang oder Ernst? Hoffnungen werden in deinem Innersten geweckt. Du<br />

schiebst sie beiseite. „Wir können Sie heute noch entlassen; nach 24 St<strong>und</strong>en muß ein Haftbefehl<br />

ausgestellt werden. Noch ist keine Entscheidung getroffen. Sie haben die Chance mit zu entscheiden“.<br />

Dir geht der Begriff Freiheit durch den Kopf: Himmel, Sonne, Bäume, frische Luft... Du<br />

verweigerst die Gedanken: versuchst, dich auf die Situation einzustellen. Es gelingt nicht. Die Gedanken<br />

lassen sich nicht mehr ordnen. Hoffnung, Trostlosigkeit, Angst - aber den Willen, dich nicht<br />

widerstandslos zu ergeben. Du wirst dem Haftrichter vorgeführt, der Haftbefehl wird erlassen -<br />

Höchststrafe 5 Jahre. Du empfängst Haftkleidung, erhältst Belehrungen. Wortfetzen dringen an dein Ohr:<br />

Möglichkeit der Beschwerde, Freihof täglich 1 St<strong>und</strong>e, keine Gespräche mit den Wärtern, Buchausleihe,<br />

Einkauf, Haftordnung... Du verarbeitest es nicht. Eine neue Zelle - jetzt zu zweit: Grenzflüchtling, seit 15<br />

Wochen Untersuchungshaft. Zurückhaltende Gespräche, einander bekannt werden, du redest <strong>und</strong> redest,<br />

versuchst dich abzulenken, machst Scherze, verdrängst deine Ängste.<br />

Jeden Tag Verhöre. Gleiche Szenen, gleiche Fragen.<br />

Sonntag, 16.00 Uhr: du vernimmst Sirenen, Geschrei, Krach auf dem Hof. Der Tag der<br />

Demonstration 634 . Der Vernehmer blickt mit besorgtem Gesicht aus dem Fenster. „Hoffen wir für Sie, daß<br />

nichts passiert!“ Viele LO’s verlassen den Hof. Du bekommst Hoffnung, daß du nicht um sonst hier sitzt,<br />

von allen vergessen. Zum erstenmal machst du dir Gedanken über die Situation draußen. Solidarität? Du<br />

kennst die Situation draußen: Kirchenleitung - Basisgruppen - ein ständiges gegeneinander Anrennen. Du<br />

denkst an die Solidaritätswelle vom vergangenen Jahr. Kennst deine <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> - sie werden nicht ruhen in<br />

diesen Tagen. Kennst aber auch die Gruppen. Unverständnis, Neid, Persönlichkeitsdrang. Hoffentlich<br />

spielt das in dieser Situation keine Rolle. Du schiebst die Gedanken beiseite. Die Enttäuschung wäre zu<br />

groß, wenn draußen nichts passiert - vergessen, wie viele hier. Dir werden jeden Tag mehr Aussagen<br />

vorgelegt. „Bekennen Sie sich endlich zu ihrer Tat! Warum haben Sie es gemacht, wenn Sie jetzt nicht<br />

dazu stehen?“ Sie haben dich an deiner w<strong>und</strong>esten Stelle gepackt. Du hältst es nicht mehr aus,<br />

abzuleugnen, wozu du mit ganzen Herzen stehst. Nichts hat dich in den letzten Wochen so beschäftigt wie<br />

dieser Tag. Der Sonntag. Du weißt, daß du dich in einen Teufelskreis begibst, wenn du es zugibst. Du<br />

weißt, daß sie dir nur die Schuld beweisen wollen; trotz fre<strong>und</strong>licher Worte. Sie merken, daß du zweifelst,<br />

bohren immer wieder nach. Stoßen dich in den Kreis, <strong>und</strong> du kannst nicht mehr heraus. Du gibst es zu. Du<br />

fühlst dich erleichtert, erschlafft <strong>und</strong> müde. Die Spannungen der letzten Tage weichen. Man gönnt dir ein<br />

wenig Ruhe. In der Zelle. Du hast zur Außenwelt nur Kontakt durch die Klappe, siehst einzig Hände, kein<br />

Gesicht. Für dich ist kein Mensch hinter der Tür - allein Hände. Du wirst fotografiert, von drei Seiten <strong>und</strong><br />

im Stehen, es werden Fingerabdrücke genommen: Schwerverbrecher? Der Arzt macht eine<br />

Tauglichkeitsuntersuchung. Tauglich wofür? Du bist ein Werkstück für ihn, kein Mensch. Verhöre, statt<br />

Freihof. Keine frische Luft. Dir steht Freihof zu. Laut Papier. Du befindest dich im Teufelskreis: „Wo<br />

634 Gemeint ist der Sonntag, der 15.01.1989 (s. Chronik).<br />

311


waren Sie?... Wann waren Sie?... Mit wem waren Sie?“... Du lehnst es ab, andere Namen zu nennen oder<br />

zu bestätigen. Verhöre, Teufelskreis. Auch das gibst du bald auf, bestätigst Namen, widersprichst dir, man<br />

nagelt dich fest. Du schiebst die Verantwortung auf andere, unbewußt. Du sagst, du weißt von nichts.<br />

„Warum lügen Sie immer noch, wir wissen alles!“ Geständnis. Du fühlst dich frei vom Druck der letzten<br />

Tage, begründest, argumentierst, versuchst zu überzeugen - <strong>und</strong> erkennst die Sinnlosigkeit deiner<br />

Versuche. Die Vernehmung ist abgeschlossen, du hast alles gesagt, was du weißt, fühlst dich elend <strong>und</strong><br />

beschissen. Nur noch stupide Fragen, Aussagen zur eigenen Person, Abschluß der Vernehmung.<br />

„Ihre Zellentür wird sich heute noch einmal öffnen.“ Du wagst nicht, diese Worte zu analysieren.<br />

Sie öffnet sich noch einmal. Sachen abgeben, umziehen, Unterschriften, Belehrungen. Du erlebst alles im<br />

Nebel, weit weg, nimmst es kaum wahr. Du stehst auf der Straße, bleibst stehen, schaust... Die Geräusche,<br />

die du eine Woche lang gehört hast, werden zu Bildern. Freude kann nicht aufkommen, du hast die<br />

kleinen Mauern hinter dir gelassen, weißt aber von den großen hier draußen. Es erscheint dir wie ein<br />

Tausch. Augenblick des Glücks - du siehst die <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> wieder. Umarmung, Scherze - schaust in müde,<br />

übernächtigte Augen. Dir wird erst jetzt das Ausmaß der Solidarität bewußt. Es waren schlaflose,<br />

durchwachte, durcharbeitete Nächte für deine <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> hier draußen. Am Telefon, an der Schreibmaschine,<br />

bei Andachten <strong>und</strong> bei Diskussionen vergingen Tage <strong>und</strong> Nächte. Du findest keine Worte, scherzt, spielst<br />

den Heiteren, obwohl du dich elend fühlst. Solidaritätsandacht. Eine Andacht für dich <strong>und</strong> die anderen. Du<br />

kannst die Tränen nicht zurückhalten. Die Inhaftierten gestalten sie zum Teil selbst635 . Ein Strauß<br />

Weidenkätzchen für die Inhaftierten - du weinst. Der Strauß lebt noch heute - ein Zeichen der Hoffnung<br />

an eine nie zu vergessende St<strong>und</strong>e.<br />

Lied von Herbert Grönemeyer: Jetzt oder nie [Kassettenrecorder]<br />

U. Schwabe: Heute stand ein Artikel im „Neuen Deutschland“. Eigentlich sollte man solche Artikel gar<br />

nicht mehr beachten - heutzutage - über die Tagung der Synode des B<strong>und</strong>es der evangelischen Kirchen in<br />

der DDR. Also wir bewerten diesen Artikel als Frontalangriff auf die Synodalen <strong>und</strong> die Kirchenleitung.<br />

Hier zeigt sich eigentlich, daß es bereits zum Bruch zwischen Kirche <strong>und</strong> Staat gekommen ist, was<br />

eigentlich immer verhindert werden sollte. Ich werde das mal ausnahmsweise vorlesen636 : „Großdeutsche<br />

Ladenhüter auf der Kirchenversammlung. In Eisenach hat dieser Tage die Synode des B<strong>und</strong>es der<br />

evangelischen Kirche der DDR stattgef<strong>und</strong>en. Bemerkenswert an dieser Kirchenversammlung war<br />

zunächst einmal der äußere Umstand, daß offenbar ebenso viel Westjournalisten nach Eisenach<br />

gekommen waren wie Synodale. So erinnern die Frontberichte aus der Wartburgstadt auch nicht im<br />

geringsten an die Atmosphäre einer Kirchenversammlung, sondern vielmehr an die jener großdeutschen<br />

Staatssitzungen, bei denen vor Jahrzehnten die grauen Pläne zur Wiederherstellung kapitalistischer<br />

Verhältnisse in der DDR ausgearbeitet wurden. Wie aus den Berichten der BRD-Medien hervorgeht, sind<br />

in Eisenach, wohlbemerkt auf einer Synode, diese alten Hüte alle wieder aufgetischt worden. Alter Quark<br />

wurde da als Frischkäse angeboten: Was da im Westen aus dem Bericht der Synode zitiert wurde, ist in<br />

letzter Konsequenz ein Katalog von Maßnahmen, um die DDR kapitalistisch <strong>und</strong> für die<br />

Wiedervereinigung sturmfrei zu machen. Selbstverständlich wird da nichts draus. Denn unsere<br />

Parteienvielfalt ohne Neonazis ist für die Gestaltung unserer sozialistischen Gesellschaft völlig<br />

ausreichend. [...] Was hat denn das mit Kirchenangelegenheiten zu tun? Vor allem, was haben solche<br />

abenteuerlichen, völlig unrealistischen Parolen noch mit Kirchen im Sozialismus zu tun? Wäre es nicht<br />

besser, bei den vernünftigen <strong>und</strong> nützlichen Vereinbarungen zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche aus dem Jahre<br />

1978 zu bleiben? Wie jüngst, bei der Einweihung des Doms in Greifswald bekräftigt wurde.“<br />

Uns haben aber auch zwei Meldungen ereilt, die uns ziemlich hoffnungsvoll gestimmt haben. Daß<br />

selbst in den höchsten Kreisen der Parteiführung es zu einer Spaltung gekommen ist, <strong>und</strong> daß es selbst<br />

dort keine Einigung mehr gibt. Denn das LDPD-Mitglied <strong>und</strong> Stellvertretender Staatsratsvorsitzender<br />

Gerlach <strong>und</strong> der Stellvertretende Kulturminister Höpke haben sich für Reformen ausgesprochen 637.<br />

Sie<br />

635 Der AKSK ließ in dieser Andacht (20. 01. 1989) Texte, die den Freigelassenen am Herzen lagen, vortragen<br />

(Dietrich (1989))<br />

636 „Neues Deutschland“, 21.09.1989, S. 2<br />

637 In der Tageszeitung der LDPD „Der Morgen“ erschien am 21.09.1989 die kritische Rede von M. Gerlach, in der<br />

es u.a. hieß: „Information ist Bürgerrecht <strong>und</strong> Staatspflicht. Widerspruch ist nicht Opposition <strong>und</strong> der persönliche<br />

312


haben eine Auseinandersetzung mit den Motiven der DDR-Flüchtlinge gefordert <strong>und</strong> streben ein Gespräch<br />

mit allen gesellschaftlichen Bereichen an.<br />

St. Walther: Wir wollen jetzt Fürbitte sprechen für unsere Inhaftierten <strong>und</strong> als Zeichen bitte ich Sie - hier<br />

vorn liegen Blumen <strong>und</strong> hier vorn steht eine leere Vase -, daß jeder, der eine Fürbitte spricht, eine Blume<br />

nimmt <strong>und</strong> in die Vase stellt, daß wir danach vielleicht einen schönen Blumenstrauß haben, als<br />

Erinnerung, weil die Gefangenen keine Blumen sehen. Sie sehen kalte, graue Wände. Und ich bitte Sie,<br />

wer möchte, kann dann nach vorn kommen.<br />

Mann: Herr, wir bitten dich für die Freilassung der Gefangenen. Herr erbarme dich. Christi erbarme dich.<br />

[...] Gib denen Kraft, die jetzt soviel entbehren müssen.<br />

Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie, eleison.<br />

(Pause)<br />

Pf. Wonneberger: Ich mache mir schon länger Gedanken, wie gut oder wie schlecht die einzelnen, die<br />

jetzt da in der Untersuchungshaft sitzen, wohl vorbereitet sind auf diese Situation, in der sie sich befinden.<br />

Wie realistisch oder wie überrascht sie sind seit 1 1/2 Woche. Das ist ja wohl doch eine lange Zeit für<br />

jemand, für den das vielleicht doch sehr überraschend gekommen sein mag. Und ich mache mir<br />

Gedanken, wie lange jemand so Kraft hat. Auf der anderen Seite kenne ich natürlich auch Geschichten aus<br />

der Geschichte unserer Kirche schon von Anfang an, bis in die jüngste Vergangenheit, wo wirklich<br />

Unwahrscheinliches passiert ist. Wo Menschen im Gefängnis Kraft gekriegt haben, wer weiß woher. Und<br />

wenn wir vom Geist Gottes reden, der weht, wo er will, dann denke ich, macht so ein Luftzug auch in der<br />

Untersuchungshaft nicht halt. Auch dort, wo die Ritzen nicht vorgesehen sind. So möchte ich eigentlich<br />

jetzt die Hoffnung zum Ausdruck bringen, daß da so ein Luftzug dadurch weht in der Beethovenstraße.<br />

Und daß die Gefangenen, auch wenn sie vielleicht so am Ende sind, wie der Uwe das vorhin beschrieben<br />

hat, etwas davon merken.<br />

Frau: Als Mutter eines Sohnes, der vor 1 1/2 Jahren [unverständlich da die Rednerin weint] <strong>und</strong> der zum<br />

Teil ähnliches erlebt hat, wie das vorhin beschrieben wurde, wollen wir im Gebet zusammenfassen <strong>und</strong><br />

bitte dich, Herr erbarme dich <strong>und</strong> gib uns die Kraft zum Zusammenstehen <strong>und</strong> zur Erkenntnis, daß sie sich<br />

auch durch Erpressung nicht erweichen lassen.<br />

Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie eleison.<br />

Frau: Auch mein Sohn ist einmal zugeführt worden, allerdings nicht so schlimm, wie wir es hier gehört<br />

haben. Er ist nach mehreren St<strong>und</strong>en dann wieder nach Hause gekommen. Ich habe mir als Mutter<br />

vorgenommen, mich dort vor die Treppe zu setzen <strong>und</strong> zu warten, um zu erfahren, wie es meinem Sohn<br />

geht. Ich bin nicht in die Notwendigkeit gekommen, er ist dann nach Hause gekommen. Mein Sohn hat<br />

zwei Kinder <strong>und</strong> eine Frau, sie sind im April ausgereist. Mein Sohn hat aufgegeben, hier etwas zu<br />

verändern, weil er an seinem Vater gesehen hat, der sein ganzes Leben immer wieder zurückgestellt<br />

wurde, weil er sich nicht angepaßt hat, daß es eben eigentlich keinen Sinn hat bei uns. Ich will nun als<br />

Mutter, ich habe noch ein Kind, das ist acht Jahre, weiter versuchen... Ich bin aus der Partei ausgetreten,<br />

vor einer Woche, <strong>und</strong> es hat mir das Gefühl gegeben... Ich habe vorhin geweint, aber jetzt habe ich Kraft<br />

<strong>und</strong> ich werde auch versuchen die Kraft [Frau weint, Worte sind nicht mehr zu verstehen]<br />

Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie eleison.<br />

H. Wadewitz: Mein Name ist Henri Wadewitz, ich bin 24 Jahre. Ich mache mir seit einigen Jahren<br />

Gedanken, wo ich mein zukünftiges Leben so wie es bis jetzt war [... nicht zu verstehen] Ich bin natürlich<br />

in die Schule gegangen, wie jeder andere auch. In Geschichte wurde uns eben gesagt, daß die Arbeiter auf<br />

die Straße gegangen sind <strong>und</strong> für ihre Rechte gekämpft haben. Damals haben die größten Kapitalisten die<br />

Arbeiter verhaftet. Und wenn ich mir das heute hier angucke, na dann sehe ich dann irgendwie fast<br />

dasselbe.<br />

Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie eleison.<br />

Anderer Mann: Dieses Zeichen für alle politischen Gefangenen in dem Land <strong>und</strong> auf der ganzen Welt<br />

überhaupt <strong>und</strong> die meisten von uns haben den Gedanken oder Glauben oder Hoffnung an die Reformen<br />

aufgegeben. Ich werde irgendwann auch ausreisen. Die meisten meiner <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> sind ausgereist, werden<br />

Standpunkt zu politischen Entscheidungen keinesfalls Ausfluß bürgerlicher Ideologie, sondern Erziehungs- <strong>und</strong><br />

Bildungsziel des Sozialismus.“<br />

313


ausreisen. Wir haben irgend wo keine Mittel, keine Kraft mehr.<br />

Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie eleison.<br />

Pf. Führer: Wir erleben es gerade in großer Breite, daß Menschen resignieren. Die einen flüchten sich in<br />

ihre privaten Wünsche <strong>und</strong> sichern sie weiterhin so gut es geht, die anderen gehen weg. Damit kann unser<br />

Land nicht weiterkommen. Morgen werden zwei Gespräche sein, Mittag 13.00 Uhr bin ich zum [Kreis-<br />

]Staatsanwalt eingeladen, um 15.00 Uhr beim Superintendent Richter <strong>und</strong> Pfarrer Wugk. Manchmal denkt<br />

man, Gespräche haben keinen Sinn mehr, aber ich möchte doch die Bitte hier aussprechen, daß diese<br />

Gespräche morgen den Inhaftierten zugute kommen. Und ich möchte auch die Bitte aussprechen, daß<br />

durch den Glauben an Jesus Menschen wieder sich aufrichten, so wie die Blume auch, wenn sie Wasser<br />

bekommt, wieder gerade steht <strong>und</strong> nicht umknickt, <strong>und</strong> daß immer mehr Menschen <strong>und</strong> auch die, wenn sie<br />

aus der Haft entlassen werden, wieder Mut schöpfen, hier zu bleiben, hier zu leben <strong>und</strong> untereinander<br />

zusammenzuhalten, damit unsere Heimat <strong>und</strong> all die Menschen, die hier leben, nicht in die Verzweiflung<br />

geraten. Kyrie eleison.<br />

Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie eleison.<br />

Weiterer Mann: Ich will diese Blume in die Vase stecken, ich habe mir das die ganze Zeit schon<br />

gewünscht.<br />

Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie eleison.<br />

E. Demele: Ich muß sagen, wenn ich so was höre, fürchte ich mich immer davor. Und ich muß ständig<br />

überlegen, mir bewußt machen, daß es einen Sinn hat, so weiterzumachen. Und muß mir immer wieder<br />

Kraft selbst geben. Und so möchte ich hoffen, daß diese Menschen sich nicht als Aussätzige, als kriminell<br />

empfinden, sondern daß sie weiter[machen?]. Es hat mich vorhin doch bestärkt, als vorhin gesagt wurde,<br />

daß man die Sicherheit immer wieder bekommen kann, daß man die Sicherheit auch geben kann. Das will<br />

ich für die anderen auch.<br />

Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie eleison<br />

Gebet: Vater unser [...]<br />

J. Läßig: Zum Abschluß dieser Andacht möchte ich einige Bekanntmachungen geben. Eigentlich wollte<br />

ich jetzt etwas Werbung für diese Friedensgebete machen. Es ist jetzt, also ich bin jetzt selbst beeindruckt,<br />

<strong>und</strong> ich brauche da jetzt nichts mehr dazu zu sagen. Ich glaube, es ist doch notwendig, daß wir<br />

zusammenkommen. Das ist für mich auch selbst sehr angenehm, hier zu sein. Die nächsten Andachten<br />

sind am Freitag in Schleußig, in Bethanien. Das ist Straßenbahnlinie 1, hinter dem Clara-Zetkin-Park, A-<br />

Bus fährt auch. Dann am Samstag, also immer 18.00 Uhr, die Zeit bleibt, außer montags in der<br />

Nikolaikirche. Samstag in Anger-Crottendorf, Trinitatis, das ist Straßenbahn 8. Am Sonntag in der<br />

Reformierten Kirche, das ist am Engels-Platz, dürfte bekannt sein, diese große Straßenbahnhaltestelle. Am<br />

Montag wie immer 17.00 Uhr Nikolai, am Dienstag wieder in der Reformierten Kirche <strong>und</strong> am Mittwoch<br />

in Gohlis in der Versöhnungskirche. Es kann hier vorn gefragt werden, aber ich hoffe, daß wieder<br />

Aushänge gemacht werden 638 , damit in verschiedenen Kirchen das zu lesen ist. Es gibt ein paar<br />

Privatinitiativen, um auf die Situation der Gefangennahme hier in Leipzig aufmerksam zu machen. Und<br />

ich glaube, es ist auch deshalb wichtig, weil ja ein Ende nicht abzusehen ist. Es kann ja jeden Montag zu<br />

neuen Inhaftierungen kommen, <strong>und</strong> irgendwie haben verschiedene Menschen das Bedürfnis, sich dazu zu<br />

äußern. Es werden also 17.00 Uhr an der Nikolaikirche z.Zt. noch sehr wenig Blumen <strong>und</strong> Kerzen<br />

niedergelegt. Ich glaube es ist notwendig, dazu auch ein Schild zu machen, weil eigentlich Blumen <strong>und</strong><br />

Kerzen auch auf Verstorbene deuten können, das ist ja nicht der Fall 639 . Also wir wollen das nicht noch<br />

tragischer machen, als es wirklich ist. Wir haben jeden Tag auch, oder so oft es ist, Schilder hingehängt,<br />

wo dran steht für unsere Inhaftierten. Ich habe hier zwei Adressen, eine Adresse für Beschwerden an den<br />

638 Wie die Unterlagen der Koordinierungsgruppe zeigen, versuchte der Staat die Ankündigung der Fürbittgebete in<br />

den Kirchenschaukästen zu verhindern. Dies gelang ihm auch teilweise (Notizen vom 18./19.09. - ABL H 1).<br />

639 Ab dem 17.09. begann die Koordinierungsgruppe Blumen an die Fenster der Nikolaikirche zu stecken bzw.<br />

binden. Später wurden auch Schilder (besonders C. Fromme) angebracht <strong>und</strong> rechts neben dem damaligen<br />

Haupteingang Kerzen aufgestellt. Auf den Schildern stand z.B.: „In den Zeitungen dieses Landes steht: 'Hier<br />

herrscht Freiheit'. Das ist immer Irrtum oder Lüge: Freiheit herrscht nicht.“ „Sofortige Freilassung aller<br />

Inhaftierten...“ „Wer unsere <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> inhaftiert, mit dem reden wir nicht.“ „Solidarität mit den Inhaftierten“<br />

(Fotos u.a. in: Neues Forum Leipzig (1989), Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter <strong>und</strong> im ABL)<br />

314


Staatsanwalt, also der jetzt für die Inhaftierten zur Zeit verantwortlich ist. Und ich lese das nicht vor,<br />

sondern wer daran interessiert ist, hier an diesen Mann zu schreiben, der kann hier vorkommen. Und ich<br />

habe auch die Adresse für die Untersuchungshaftanstalt, also die Adressen der Gefangenen, die Namen<br />

sind ja auch da. Es ist zwar nicht gesagt, daß da was ankommt, es ist also auch zu bezweifeln. Aber ich<br />

halte es trotzdem für gut, da eine Postkarte hinzuschicken. Und wir haben es ja auch schon in anderen<br />

Erdteilen gemacht, an Angela Davis oder sonst welche Gefangenen, Briefe verschickt. Da ist es auch mal<br />

ganz gut, wenn wir das im eigenen Land machen. Das halte ich eigentlich für angebracht. Es werden<br />

Leute gesucht, die Andachten gestalten. Es gehört eigentlich nicht viel dazu, es kann sich eigentlich jeder<br />

dazu ermächtigt fühlen, also wer da ein kleines bißchen Erfahrung hat im öffentlichen Auftreten <strong>und</strong><br />

Reden, uns hier etwas zu sagen <strong>und</strong> mit uns zusammen zu sein, um über unsere Situation hier<br />

nachzudenken. Wir hoffen auch von anderen Leuten, mit denen ihr so herkommt, mit euch auch<br />

Anregungen zu bekommen. Es sind sehr wenige, die sich zur Zeit um Solidarität kümmern, <strong>und</strong> es ist gut,<br />

wenn irgend jemand kommt <strong>und</strong> sagt, wir könnten das <strong>und</strong> das machen.<br />

St. Walther: Was gleich ganz Erfreuliches dazu, was der Jochen gerade gesagt hat. Eine zweite Andacht<br />

lief heute parallel in Leipzig-Grünau, <strong>und</strong> der Pfarrer Klaus Michael ist krank geworden heute, <strong>und</strong> es war<br />

eigentlich fast so, daß es ausfallen müßte. Und es ist sofort der Pater Bernhard [Ventzke] von der<br />

Katholischen Kirche dafür eingesprungen, <strong>und</strong> dafür möchte ich mich noch einmal ganz toll danken.<br />

Pf. Wonneberger: Ja, also erfreulich, Ökumene von unten. Ja, ich wollte noch hinzufügen, daß natürlich<br />

die mündliche Information, die in den Fürbittandachten gegeben wird, eine Sache ist <strong>und</strong> daß wir ja<br />

zunehmend auch angewiesen sind auf gegenseitige Informationen, die man sich dann nicht nur merkt,<br />

sondern die man dann auch nachlesen <strong>und</strong> weitergeben kann. Dem dienen auch Veröffentlichungen, seit<br />

jetzt diesem Monat gibt es eine Veröffentlichung von der Menschenrechtsgruppe unserer Gemeinde in<br />

Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Gerechtigkeit. Wer sich dafür interessiert, der kann das hier hinten<br />

dann mitnehmen, da liegen noch, so viel ich weiß, Exemplare. Also es nennt sich Forum für „Kirche <strong>und</strong><br />

Menschenrechte“ 640 <strong>und</strong> soll in Zukunft auch regelmäßig erscheinen, außerdem noch Hefte von<br />

„Kontext“ 641 , der Bekenntnisgemeinde in Berlin-Treptow, <strong>und</strong> da gibt es natürlich auch noch andere, aber<br />

das sind die beiden, die jetzt hier vorrätig sind, also auch zum Weitergeben. Bloß so noch einfach mal, ich<br />

denke wir sind zunehmend darauf angewiesen, also unsere Informationen nicht von sonst woher zu<br />

empfangen, sondern einfach von hier. Und dann wollte ich noch fragen, ob vielleicht drei kräftige<br />

Menschen vielleicht noch eine Viertelst<strong>und</strong>e noch da bleiben könnten, wir müssen einfach ein paar<br />

Balken, die wir aus dem Abriß haben <strong>und</strong> hier unten hingelegt haben, die müssen wir hier auf die Empore<br />

bringen. Wenn jemand sich vielleicht bereit erklärt. Ich hoffe, ja ich möchte eigentlich, daß wir in der<br />

Hoffnung auf Gelingen auseinandergehen <strong>und</strong> der Segen unserer Kirche, der drückt so was aus wie die<br />

Hoffnung auf Gelingen, <strong>und</strong> deshalb wünsche ich uns, daß Gott uns segne. Er segne uns <strong>und</strong> er behüte<br />

uns. Er lasse leuchten sein Angesicht über uns <strong>und</strong> sei uns gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf uns <strong>und</strong><br />

gebe uns allen seinen Frieden. Amen.<br />

J. Läßig: Ich bin von meinen <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n gebeten worden, zum Abschied noch ein Lied zu singen. Es drückt<br />

sehr gut unsere Gefühle aus. Es ist zwar in der B<strong>und</strong>esrepublik entstanden, aber es ist sehr gut<br />

nachvollziehbar. Eigentlich haben wir Angst, aber wir singen uns trotzdem zu: Ich habe keine Angst, wir<br />

haben keine Angst. Wer es kann, kann auch bißchen mitsingen. [...]<br />

214 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />

Brief an den Bezirksstaatsanwalt, an den RdB, Abteilung Inneres, an den Oberbürgermeister <strong>und</strong> an die<br />

Volkskammer aufgr<strong>und</strong> der Verhaftungen am 11.09.1989. Der Brief wurde von M.-D. Ohse verfaßt <strong>und</strong><br />

während einer Fürbittandacht in der Bethaniengemeinde (Leipzig-Schleußig) am 22.09. von über 100<br />

640 Heft 1 der von AGM <strong>und</strong> AKG herausgegebenen Zeitschrift (vom 16.09.1989), in der neben Berichten über<br />

aktuelle Menschenrechtsverletzungen in der DDR ein ausführlicher Text zur europäischen Wirtschaftsordnung<br />

von A. Müller (AK Gerechtigkeit <strong>und</strong> Ökumene, Demokratischer Aufbruch) <strong>und</strong> das Bandprotokoll einer<br />

Podiumsdiskussion vom „Statt-Kirchentag“.<br />

641 s. Alles ist im Untergr<strong>und</strong> oben auf (1993)<br />

315


Teilnehmern unterzeichnet (ABL H 1 <strong>und</strong> in: SAL RdS 7058, 10).<br />

Am Montag, dem 11. <strong>und</strong> am Montag, dem 18. September 1989 mußten die Besucher des montäglichen<br />

Friedensgebetes in der Leipziger Nikolaikirche erleben, daß der Platz um die Kirche während dieser<br />

gottesdienstlichen Veranstaltung von Sicherheitskräften abgeriegelt worden war. Mehreren Personen<br />

wurde bereits kurz nach Beginn des Friedensgebets der Zutritt zur Nikolaikirche verwehrt.<br />

Während die Besucher des Friedensgebetes die Nikolaikirche verließen, aber auch noch geraume Zeit<br />

nach dem Ende dieser gottesdienstlichen Veranstaltung, kam es von Seiten der zivilen <strong>und</strong> uniformierten<br />

Sicherheitskräfte zu gezielten, teilweise brutalen, Übergriffen gegen die Teilnehmer des Friedensgebetes<br />

sowie zu mehr als 100 Zuführungen.<br />

Wir sehen in diesen Übergriffen, in der Umstellung der Kirche <strong>und</strong> in den Zuführungen einen großen<br />

Verstoß gegen die verfassungsmäßig garantierten Rechte auf Glaubensfreiheit, auf freie Ausübung<br />

religiöser Handlungen sowie auf Meinungs- <strong>und</strong> Gewissensfreiheit (Verfassung der DDR Art. 39, 27 <strong>und</strong><br />

28). Dies um so mehr, als von den Besuchern des Friedensgebetes keinerlei Provokation ausgegangen war.<br />

Wir bitten Sie aus diesem Gr<strong>und</strong>e darum, daß mit denjenigen, die für die Einsätze der Sicherheitskräfte<br />

verantwortlich sind, Aussprachen geführt werden, mit dem Ziel, derartige Verstöße gegen<br />

verfassungsmäßig garantierte Rechte zu unterbinden.<br />

Wir fordern Sie weiterhin auf, die Ermittlungsverfahren gegen alle Inhaftierten vom 11. <strong>und</strong> 18.<br />

September 1989 einzustellen <strong>und</strong> die Inhaftierten zu entlassen. In diesem Zusammenhang fordern wir die<br />

Annullierung aller am 11. <strong>und</strong> am 18. September 1989 ausgesprochenen sowie der in gleicher Beziehung<br />

verfügten Ordnungsstrafen <strong>und</strong> Strafbefehle.<br />

Wir bitten Sie des weiteren darum, die Lokalpresse der Messestadt davon zu informieren, daß es sich bei<br />

den Besuchern des Friedensgebetes in der Nikolaikirche nicht um „Personengruppen“ handelt, die sich<br />

versammeln, „um die öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit zu stören“ (1) <strong>und</strong> auch nicht um eine<br />

„rechtswidrige Zusammenrottung von Personengruppen“ (2), sondern daß sie Teilnehmer an einer<br />

gottesdienstlichen Veranstaltung sind. Eine solche Darstellung ist ebenso inkorrekt wie die Beschreibung<br />

des - teilweise brutalen - Einsatzes der Sicherheitskräfte als „besonnenes <strong>und</strong> konsequentes Handeln der<br />

Einsatzkräfte der Deutschen Volkspolizei“ (2).<br />

Quellen: 1) Leipziger Volkszeitung vom 12. Sept. 1989, s. S. 8; 2) Leipziger Volkszeitung vom<br />

19. Sept. 1989, s. S. 8.<br />

Wir bitten ebenfalls darum, daß die Verantwortlichen sich zum Dialog mit den Veranstaltern der Leipziger<br />

Friedensgebete bereit erklären, um derartige Übergriffe <strong>und</strong> Fehldeutungen für die Zukunft zu vermeiden.<br />

In Solidarität mit den Inhaftierten, den Strafverfolgten <strong>und</strong> den Veranstaltern der Leipziger Friedensgebete<br />

grüßen Sie<br />

die Teilnehmer der Andacht zur Fürbitte <strong>und</strong> Information für die Inhaftierten vom 11. Sept. 1989<br />

in der Bethanienkirche Leipzig-Schleußig am 22. September 1989.<br />

Unterschriften <strong>und</strong> Teilnehmer an o.a. Andacht, die sich dieser Erklärung anschließen:<br />

[Es folgen 113 Unterschriften.]<br />

215 Innerkirchliche Information<br />

Hektographiertes Blatt, welches an Friedensgebets- bzw. Fürbittengebetsbesucher <strong>und</strong> Besucher des Büros<br />

der Kontaktgruppe in der Markus-Gemeinde verteilt wurde 642 (ABL H 1).<br />

Bericht von den Leipziger Ereignissen im September<br />

Jeden Montag findet in der Nikolaikirche (Stadtzentrum), 17.00 Uhr ein Gottesdienst für Frieden,<br />

Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung statt. Seit Mai 1989 stehen ab Gottesdienstbeginn mehrere<br />

Mannschaften der Bereitschaftspolizei einsatzbereit im Stadtzentrum (um die Nikolaikirche). Wenn die<br />

Gottesdienstbesucher die Kirche nach Gottesdienstschluß verlassen, bleiben sie gewöhnlich auf dem<br />

642 Von diesen Informationsblättern wurde wöchentlich eine Neuausgabe hergestellt. Das erste mit hoher Auflage<br />

entstand zum FG am 18.09.1989 (ABL H 1).<br />

316


(Park-)Platz vor der Kirche („Nikolaikirchhof“) zum Gespräch <strong>und</strong> Informationsaustausch stehen. Seit<br />

Mai sperren daraufhin an einigen Montagen die Sicherheitskräfte alle Ausgänge durch Polizeiketten ab,<br />

fordern auf, den Platz zu verlassen <strong>und</strong> greifen sich verschiedene Personen (die „zugeführt“ werden <strong>und</strong><br />

im allgemeinen bis zum nächsten Abend aus dem Polizeigewahrsam entlassen wurden).<br />

Am 4.9. (während der Leipziger Messe) fand (wie zu vorhergehenden Messe-Montagen) eine<br />

Demonstration aus der Menschenmenge, die auf dem Platz stand, statt. Mit Transparenten, die zivile<br />

Einsatztrupps nach kurzer Zeit heruntergerissen, wurde u.a. für Versammlungs- <strong>und</strong> Vereinsfreiheit<br />

demonstriert. Die Polizeiketten verhinderten einen Demonstrationszug. Am 11.9. standen nach dem<br />

Gottesdienst ca. 1200 Menschen auf dem Nikolaikirchhof, als die Polizeiketten geschlossen wurden <strong>und</strong><br />

per Lautsprecher die Leute aufgefordert wurden, den Platz zu räumen. Ungefähr die Hälfte kam der<br />

Aufforderung nach <strong>und</strong> ging zwischen den teilweise 3fachen Polizeireihen hindurch oder flohen in das<br />

Kirchenbüro, welches sich der Kirche gegenüber auf der anderen Seite des Platzes befindet. Dann rückten<br />

die Polizeiketten auf die Menschen zu <strong>und</strong> griffen sich verschiedene heraus, andere wurden noch durch<br />

die Stadt verfolgt. Ungefähr 130 Personen wurden zugeführt, 22 von ihnen erhielten am 12.9. in einem<br />

Schnellverfahren einen Strafbefehl über eine Geldstrafe bis zu 5000 Mark (auf Gr<strong>und</strong> § 217, Abs. 1).<br />

Mindestens 13 Personen haben bis heute noch nicht die Untersuchungshaftanstalt verlassen können.<br />

Namentlich bekannt sind uns:<br />

Carola Bornschlegel, Udo Hartmann (Mitglieder der Initiativgruppe LEBEN), Katrin Hattenhauer<br />

(ehemals Arbeitskreis Gerechtigkeit), Mirco Kätzel, Axel Gebhart, Jörg Müller, Jutta Gätzel, Ramona<br />

Ziegner, Holger König, Günter Müller, G<strong>und</strong>ula Walter, Jens Michalke, Peer Matzeit. Mindestens vier<br />

erhielten schon Strafbefehle über 4 Monate Haft.<br />

Bei allen anderen läuft das Ermittlungsverfahren unter dem gleichen Paragraphen (217, Abs. 1). Wir<br />

gehen von Höchststrafen von 6 Monaten aus (möglich sind bis zu 2 Jahre).<br />

Am 18.9. hatten sich während des Gottesdienstes (den ca. 1800 besuchten) weit über 1000 Schaulustige<br />

außerhalb der Polizeiketten eingef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> mit vereinzelten Sprechchören ihren Unmut ausgedrückt.<br />

Gegen 17.15 Uhr wurden die ersten zugeführt.<br />

Nach dem Gottesdienst verließen die Gottesdienstbesucher recht zügig das Gelände. Dafür wurden die<br />

Polizeiketten geöffnet.<br />

Jedoch strömten die Schaulustigen auf den Platz, so daß es auf dem Nikolaikirchhof wieder zu brutalen<br />

Festnahmen kam.<br />

Später auch noch an anderen Stellen der Innenstadt. Augenzeugen gehen von mindestens 45 Zuführungen<br />

aus. Es wurde ein Knochenbruch gemeldet.<br />

Aus Anlaß der Inhaftierungen am 11.9. finden seit 14.9. in verschiedenen Gemeinden der DDR<br />

Fürbittandachten statt, u.a. jeden Tag in Leipzig, Merseburg <strong>und</strong> Berlin, in Altenburg, Halle, Dresden,<br />

Karl-Marx-Stadt, Greifswald ... Die Synode des B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirche in der DDR, die vom<br />

15.-19.9. in Eisenach tagte, behandelte die Leipziger Polizeieinsätze mehrmals <strong>und</strong> forderte u.a.<br />

Demonstrationsfreiheit.<br />

Die Initiative für Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte, das Neue Forum (Bezirk Leipzig) <strong>und</strong> die Charta 77<br />

zusammen mit VONS (Menschenrechtsorganisation der CSSR) gaben Protesterklärungen heraus 643.<br />

Koordinierungsgruppe für Fürbittandachten, Leipzig, den 23.9.1989<br />

216 Staatliche Einschätzung<br />

Handschriftliche Aufzeichnungen vom Rat des Bezirkes Leipzig, Bereich Kirchenfragen, mit dem Datum<br />

„25.9.89“. Der Text ist überschrieben mit „Gen. Dr. Reitmann [/] Überlegungen zur Problematik<br />

643 Das Material der Kontaktgruppe (u.a. Telephonlisten, Briefe, Solidaritätserklärungen) liegt nahezu vollständig im<br />

ABL. In der Prager Erklärung hieß es u.a.: „Wir gehen aus von der Ansicht, daß die Bürger der DDR das Recht<br />

haben, in die BRD auszuwandern. Um somehr ist es unsere moralische Pflicht, uns dafür einzusetzen, daß sie frei<br />

<strong>und</strong> ohne Behinderung in der DDR leben können, die dort leben wollen <strong>und</strong> die durch ihre kritische Stellung<br />

beitragen zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ Diese Erklärung wurde telefonisch übermittelt,<br />

danach übersetzt <strong>und</strong> u.a. in der Nikolaikirche öffentlich ausgehängt.<br />

317


644<br />

Nikolaikirche (montägliche Friedensgebete)“ <strong>und</strong> wurde von A. Müller geschrieben (StAL BT/RdB<br />

22259).<br />

Ausgangspunkt: Kirche gemäß Verfassung das Recht, religiöse Handlungen (Gottesdienst) durchzuführen.<br />

Verlauf der bisherigen Friedensgebete gibt bis jetzt keinen Anlaß, daß staatlicherseits, gemäß VAVO<br />

[Veranstaltungsverordnung], diese zu verbieten. Auf der anderen Seite haben die bisher geführten<br />

Gespräche mit den Superintendenten bzw. Bischof oder LKA [Landeskirchenamt] gezeigt, daß die Kirche<br />

nicht gewillt ist, die Friedensgebete auf unbestimmte Zeit auszusetzen.<br />

Überlegungen zur Weiterarbeit<br />

1. Gegenüber den Superintendenten ist darauf einzuwirken, daß zu jedem Friedensgebet an die Teilnehmer<br />

die Aufforderung erfolgt nach dem Gottesdienst den Nikolaikirchhof zügig zu verlassen (Bezugspunkt<br />

gemeinsames Wort der Sup. verlesen am 18.9.89 nach Meinung von Sup. Richter mit<br />

durchschlagendem Erfolg). Diese Aufforderung erfolgte in der Vergangenheit sehr selten.<br />

2. Gegenüber den beiden Superintendenten ist weiter darauf einzuwirken, daß nur solche Pfarrer für den<br />

Gottesdienst bzw. Montagsandacht verpflichtet werden, die ihre Verantwortung hinsichtlich der<br />

Beruhigung der Lage auch gewillt sind wahrzunehmen. D.h. den biblischen Ausspruch auch christlichtheologisch<br />

motiviert umsetzen <strong>und</strong> gesellschaftspolitische Bezugspunkte weitestgehend ausklammern.<br />

3. Bedingte Einbeziehung von kirchlichen Verantwortlichen (Richter, Magirius, Führer) zur<br />

Gewährleistung der allgemeinen Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit auf dem Nikolaikirchhof nach dem<br />

Friedensgebet unter Beachtung bzw. auf der Gr<strong>und</strong>lage der gegebenen Situation. Hier sind<br />

Erfahrungen im Zusammenwirken von VP <strong>und</strong> leitenden kirchlichen Mitarbeitern bei der<br />

Gewährleistung von Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit bei kirchlichen Veranstaltungen (KT, Posaunenfest,<br />

Fronleichnam u.a.m) zur Gr<strong>und</strong>lage zu nehmen.<br />

(Basis - Angebot Führer an Stadtstaatsanwalt zum Gespräch am 22.9.89)<br />

4. Vermittlung von Eindrücken zum Verlauf Friedensgebet bzw. Montagsandacht aus staatlicher Sicht<br />

gegenüber Richter, Magirius, Führer in Form der Gesprächsführung am nächstfolgenden Tag.<br />

Diese Möglichkeit hat exakte Informationen zur Gr<strong>und</strong>lage. Kirche könnte diese Möglichkeit als Form<br />

der staatl. Einmischung in kirchl. Belange zurückweisen.<br />

5 645 . Fortführung der differenzierten Gesprächsführung mit Pfarrern der Stadt Leipzig <strong>und</strong> des<br />

Landkreises in der gesamten Breite. Ziel muß sein, den Polarisierungsprozeß innerhalb der<br />

Pfarrerschaft weiter voranzubringen, so daß sie sich stärker innerkirchlich gegen die Form <strong>und</strong> Inhalt<br />

der Montagsandachten in der Nikolaikirche wenden. Dies ist eine langfristige Maßnahme. Ergebnisse,<br />

spürbare, sind kurzfristig hier nicht zu erreichen.<br />

Überlegungen, die über den Rahmen der Staatspolitik in Kirchenfragen hinausgehen:<br />

1. Gesprächsführung mit Vertretern von kirchlichen bzw. alternativen Gruppen, die sich im kirchl. Raum<br />

aufhalten, durch geeignete Genossen aus dem Wissenschaftsbereich. Zielstellung:<br />

Differenzierungsprozeß innerhalb <strong>und</strong> zwischen Gruppen zu befördern.<br />

2. In der Presse sich stärker polemisch mit Vertretern des „Neuen Forum“ auseinandersetzen. Vor allem<br />

deutlich machen, wer diese Leute sind <strong>und</strong> was sie für Ziele wirklich verfolgen. (z.B. Bohley, Lässig)<br />

Ihr Zielanspruch in Verbindung mit Karl-Liebknecht-Demonstration in Berlin bzw. Leipzig. Lässig<br />

[richtig: Läßig] geht keiner geregelten Arbeit nach usw.<br />

217 Friedensgebetstexte<br />

Rekonstruktion des Friedensgebetes vom 25.09.1989, welches von der Arbeitsgruppe Menschenrechte unter<br />

Verantwortung von Pfarrer Wonneberger gehalten wurde. Die Rekonstruktion des Friedensgebetes geschah<br />

644 Aufgr<strong>und</strong> von Vergleichen mit anderen handschriftlichen Texten von A. Müller erschlossen. Unterstreichungen<br />

werden kursiv wiedergegeben.<br />

645 Die Zahlen „4.“ <strong>und</strong> „5.“ wurden umkreist.<br />

318


646<br />

unter Verwendung der Manuskripte <strong>und</strong> eines Tonbandmitschnittes (ABL H 1).<br />

Pfarrer Führer [Begrüßung]: [...Verweis darauf, daß die Kirche wegen Überfüllung geschlossen werden<br />

mußte <strong>und</strong> vor der Kirche weitere Menschen stehen.] Da die Vorgänge außen um die Nikolaikirche selbst<br />

für Leipziger Einwohner durchsichtig <strong>und</strong> uns kirchlichen Amtsträgern <strong>und</strong> Mitarbeitern Klarstellungen<br />

über die Zeitungen <strong>und</strong> Stadtfunk nicht möglich sind, gebe ich den Wortlaut eines Briefes zu den<br />

Ereignissen des letzten Montages bekannt, der von Pfarrer Wugk, dem stellvertretenden im Urlaub<br />

befindlichen Superintendenten <strong>und</strong> von mir, dem Vorsitzenden des Kirchenvorstandes der Kirchgemeinde<br />

St. Nikolai - St. Johannes, unterzeichnet ist. [... Verlesen des Briefes von Sup.-Vertreter Wugk <strong>und</strong> Pf.<br />

Führer an die für die Polizeieinsätze verantwortlichen Stellen vom 20. September 647.]<br />

Soweit der Briefwortlaut, <strong>und</strong> ich möchte allen Teilnehmern des letzten Montages [sic!] herzlich danken,<br />

daß sie unserem Aufruf so sichtbar Folge geleistet haben. (Beifall)<br />

Weiterhin möchte ich herzlich danken für die Kollekte des letzten Montages. Sie war wie die heutige<br />

Kollekte für die äußere Instandsetzung <strong>und</strong> innere Arbeit der Nikolaikirche erbeten worden. Die<br />

Fürbittenandachten für die Inhaftierten vom 11. September finden folgendermaßen statt: Jeweils 18.00<br />

Uhr [...] So dann möchte ich wieder alle Pastorinnen <strong>und</strong> Pfarrer, kirchliche Mitarbeiter <strong>und</strong><br />

Kirchenvorstandsmitglieder von Gemeinden aus Leipzig herzlich begrüßen. Es ist uns sehr wichtig, daß<br />

sie durch ihre Teilnahme uns k<strong>und</strong>tun, daß sie auch dieses Friedensgebet in der Nikolaikirche mittragen.<br />

Ein weitergehender Vorschlag ist vom Pfarrkonvent Südost beschlossen worden. Angesichts der immer<br />

größer werdenden Fülle in unserer Kirche - wir sind jetzt schon doch auch in unserer großen Kirche an<br />

den Rand unserer Möglichkeit gekommen - wird ein Angebot gemacht, in folgenden Kirchen Leipzigs<br />

jeweils sonnabends 18.00 Uhr ein Friedensgebet - wenn sie so wollen zur Entlastung der Nikolaikirche,<br />

zur Verbreiterung der Basis, wie sie es sehen wollen - zu halten (Beifall): Am kommenden Sonnabend<br />

Marienkirche (Stötteritz), am 7. Oktober Trinitatiskirche (Angercrottendorf) <strong>und</strong> dann die nächsten<br />

Sonnabende immer Trinitatiskirche (Angercrottendorf). Soweit also diese Mitteilung. Dann bin ich<br />

gebeten worden von Stadtjugendpfarrer Kaden: Die Vorbereitung für die „Lange Nacht“ während der<br />

Friedensdekade erfolgt an diesem Freitag, 29. September, 19.30 Uhr, im Jugendpfarramt. Die Gruppen<br />

möchten bitte einen Vertreter dahin entsenden. Die heutige Andacht wird gestaltet von der Gruppe<br />

„Menschenrechte“ mit Pfarrer Wonneberger.<br />

Der Wochenspruch dieser Woche 1. Johannes 4 [Vers 21]: Dieses Gebot haben wir von ihm, daß wer Gott<br />

liebt, daß der auch seinen Bruder <strong>und</strong> seine Schwester liebe. Amen.<br />

Chr. Miehm [Kanon]: „Einsam bist du klein, aber gemeinsam ...“<br />

Chr. Wonneberger [Predigt]:<br />

„Mit Gewalt“- sagte der Friseurgehilfe, - das Rasiermesser an meiner Kehle - „ist der Mensch nicht zu<br />

ändern!“<br />

Mein Kopfnicken beweist ihm das Gegenteil. (Lachen, Beifall) Mit Gewalt ist der Mensch durchaus zu<br />

ändern. Mit Gewalt läßt sich aus einem ganzen Menschen ein kaputter machen (Beifall), aus einem freien<br />

ein gefangener, aus einem lebendigen ein toter. Beweise dafür gibt es viele (durch die ganze Geschichte).<br />

Aber einen Versuch würde ich Ihnen nicht raten. Sie hätten mit einem Strafverfahren nach § 129 des<br />

Strafgesetzbuches wegen Nötigung zu rechnen, (Beifall) denn mit einer Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren<br />

wird bestraft, „wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem schweren<br />

646 Der Mitschnitt <strong>und</strong> ein 3-seitiges Bandprotokoll wurde von C. Dietrich (Kontaktgruppe) angefertigt <strong>und</strong> Ende<br />

September 1989 verbreitet. Abweichungen des Redetextes vom Manuskript Chr. Wonnebergers bzw. der AGM<br />

sind in r<strong>und</strong>e Klammern gesetzt worden. Hervorhebungen der Autoren sind kursiv wiedergegeben worden. Das<br />

Manuskript der Rede von Pf. Wonneberger ist u.a. veröffentlicht in: G. Rein (1990), 224f. Die Wiedergabe der<br />

Manuskripte in: Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter (1990), 27-32 ist irreführend, da die Reihenfolge verwechselt<br />

wurde. Das MfS nahm das FG per Tonband auf, um es durch die Untersuchungsabteilung auf Straftatbestände zu<br />

untersuchen. Die Einschätzung des FG durch Major Otto, der den OV gegen Chr. Wonneberger führte, ist<br />

abgedruckt in: Besier/Wolf, 680.<br />

647 vgl. Dok. 212<br />

319


Nachteil zu einem bestimmten Verhalten zwingt.“ (Lachen, Klatschen)<br />

Auch der Versuch ist strafbar - jedenfalls dann, wenn ein einzelner Bürger ihn unternimmt. (Lachen,<br />

Beifall)<br />

Anders, wenn der Staat selbst den Tatbestand der Nötigung erfüllt. Wenn der Staat selbst Gewalt androht<br />

oder anwendet - oder Versuche in dieser Richtung anstellt - oder andere dazu auffordert. Wenn der Staat<br />

selbst Gewalt androht oder anwendet, hat er nicht mit einem Strafverfahren zu rechnen (Lachen, Beifall)<br />

aber, aber mit den Folgen: (Lachen, Beifall) Wer Gewalt übt, mit Gewalt droht <strong>und</strong> sie anwendet, wird<br />

selbst Opfer der Gewalt.<br />

Wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen. Wer die Kalaschnikow nimmt, hat mit einem<br />

Kopfschuß zu rechnen. (langer Beifall) (Das ist nicht begrüßenswert, ich finde, das ist einfach so.) Wer<br />

eine Handgranate wirft, kann gleich eine Armamputation einkalkulieren. Wer einen Bomber fliegt,<br />

erscheint selbst im Fadenkreuz. Wer einen Gummiknüppel schwingt, sollte besser einen Schutzhelm<br />

tragen. (langer Beifall) Wer andere blendet, wird selbst blind. Wer andere willkürlich der Freiheit beraubt,<br />

hat bald selbst keine Fluchtwege mehr. (Lachen, Beifall) Wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert<br />

umkommen.<br />

Das ist für mich keine gr<strong>und</strong>sätzliche Infragestellung staatlicher Gewalt. Ich bejahe das staatliche<br />

Gewaltmonopol. Ich sehe keine sinnvolle Alternative dazu.<br />

Aber<br />

1. Staatliche Gewalt muß effektiv kontrolliert werden; gerichtlich, parlamentarisch <strong>und</strong> durch<br />

uneingeschränkte Mittel der öffentlichen Meinungsbildung. (langer Beifall)<br />

2. Staatliche Gewalt muß sinnvoll begrenzt sein: Unser Land (zum Beispiel) ist nicht so reich, daß es sich<br />

einen so gigantischen Sicherheitsapparat leisten kann. (20 Sek<strong>und</strong>en Beifall)<br />

„Die Verfassung eines Landes sollte so sein, daß sie die Verfassung des Bürgers nicht ruiniert“, (Lachen,<br />

Beifall) so schrieb Stanislaw Jercy Lec vor 20 Jahren. Da (muß) die Verfassung eben (geändert werden)<br />

[im Manuskript: müssen wir ... ändern]. (Beifall)<br />

Angst? (Angst haben wir, denke ich, alle. Und nicht nur dann, wenn wir einsam sind. Wie wir das im<br />

ersten Kanon gehört haben.<br />

Aber:) „Fürchtet euch nicht! Mir ist gegeben alle Gewalt, im Himmel <strong>und</strong> auf Erden.“ - so sagte einst<br />

Jesus.<br />

Das war keine Drohung. Das (war keine Nötigung <strong>und</strong>) ist keine Nötigung. Dahinter steht kein<br />

Machtapparat.<br />

„Mir ist gegeben alle Gewalt...“, d.h. innere (Gewißheit <strong>und</strong> innere Kraft) <strong>und</strong> äußere Glaubwürdigkeit<br />

<strong>und</strong> das heißt für mich: echte Kompetenz: Vollmacht (haben die Älteren dazu gesagt). Und daran<br />

bekomme ich Anteil, wenn ich verantwortlich denke glaubwürdig rede durchschaubar handle. (Und) dazu<br />

lade ich Sie ein, heute. Gegenüber solcher Vollmacht sind Stasi-Apparat, H<strong>und</strong>ertschaften, H<strong>und</strong>estaffeln<br />

nur Papiertiger. (Beifall)<br />

Also: Fürchtet euch nicht! Wir können auf Gewalt verzichten.<br />

Fr. Richter [Berichte über erlebte Gewalt]: Wenn wir heute über Gewalt sprechen, tun wir das (natürlich)<br />

vor dem Hintergr<strong>und</strong>, der sich jeden Montag nach dem Friedensgebet wiederholende[n], der wir<br />

ohnmächtig <strong>und</strong> hilflos gegenüberstehen. Die Frage ist, wie kann ich, wie können Sie auf die erfahrene<br />

Gewalt reagieren? Um es gleich zu sagen, es geht mir im folgenden nur um die Gewalt, die von diesem<br />

Staat ausgeht.<br />

Strukturelle staatliche Gewalt tritt selten offen <strong>und</strong> für jeden sofort sichtbar auf. (Vielleicht) haben wir uns<br />

schon zu sehr an Pressezensur <strong>und</strong> Druckgenehmigungspraxis gewöhnt. Sie stellte aber genauso ausgeübte<br />

Gewalt dar wie die Reiseverbote <strong>und</strong> das Verbot sich zu versammeln. (Beifall)<br />

Wer kann sich den Druck wirklich vorstellen, der auf jungen Männern lastet, die ihrem Gewissen<br />

entsprechend Wehrdienst verweigern? Aber auch die, die den Dienst in der NVA leisten, werden täglich<br />

unterdrückt. Jene Bausoldaten etwa, die in einem offenen Brief die Mißstände in ihrem Bataillon zur<br />

Sprache brachten <strong>und</strong> den unpersönlichen Umgang der Vorgesetzten mit ihnen kritisierten [im Manuskript<br />

folgte: werden jetzt im Dienst schikaniert]. Es fand bei ihnen eine sogenannte Tiefenprüfung ihrer Zimmer<br />

<strong>und</strong> Schränke statt. Briefe, Aufzeichnungen <strong>und</strong> Tagebücher wurden beschlagnahmt.<br />

320


Berufsverbote für kritische <strong>und</strong> engagierte Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger, sowie für Menschen die einen<br />

Ausreiseantrag stellten, sind nur eine andere Form staatlich ausgeübter Gewalt. (Beifall)<br />

Noch zwei Beispiele zuletzt:<br />

Über das erste wurde lange <strong>und</strong> intensiv berichtet: Der am 7. Mai offensichtliche Wahlbetrug. (Beifall)<br />

Das andere ist die Berichterstattung über die Flucht <strong>und</strong> Ausreisewelle in den Medien der DDR. (Beifall)<br />

Es werden nicht nur b<strong>und</strong>esdeutsche <strong>und</strong> ausländische Journalisten <strong>und</strong> Politiker verleumdet, die Medien<br />

dieses Landes gebrauchen sogar den Sprachschatz des Nationalsozialismus. (langer Beifall)<br />

Man sollte diesen Journalisten erst mal Viktor Klemperers LTI 648 zu lesen geben, bevor sie ihren nächsten<br />

Artikel schreiben. (Beifall)<br />

Ernste Ausmaße nimmt (auch) die wachsende physische Gewalt des Staates gegen friedliche Bürgerinnen<br />

<strong>und</strong> Bürger an. Zuführungen, Verhaftungen, Verurteilungen <strong>und</strong> auch Verletzte sind an der Tagesordnung.<br />

Wie die Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte mitteilte, sind Jens Uwe Drescher <strong>und</strong> Kai<br />

Kuhlmann zu 10 bzw. 18 Monaten Haft verurteilt, weil sie mit Flugblättern zum Wahlboykott <strong>und</strong> zu<br />

einer Demonstration am 7. Mai aufriefen.<br />

In Dresden Gittersee prügelte am 13. August Polizei auf die Teilnehmer einer Andacht ein, als diese zum<br />

Baugelände des Reinstsiliziumwerkes gehen wollten. Es wurde dabei weder auf Behinderte noch auf<br />

Mütter mit Kleinkindern Rücksicht genommen.<br />

Ein brutaler Polizeieinsatz fand ebenfalls in Berlin statt, wo sich Menschen aus Protest gegen die<br />

Kommunalwahlen, am 7. August versammelten [im Manuskript: versammeln wollten]. Das Fazit hier: ein<br />

gebrochener Arm <strong>und</strong> bei vielen, auch bei Frauen, Prellungen.<br />

Über das unmenschliche Vorgehen der sogenannten Sicherheitskräfte in Leipzig brauche ich nicht viel zu<br />

sagen. Die meisten (von Ihnen) erleben (das) [im Manuskript: es jeden Montag] persönlich.<br />

Neben den Inhaftierungen <strong>und</strong> Verurteilungen von Udo Hartmann [im Manuskript: (Geburtstag)], Carola<br />

Bornschlegel, Ramona Ziegner <strong>und</strong> Jörg Müller (- sie alle wurden zu 4 Monaten Haft verurteilt per<br />

Strafbefehl - die immer noch Inhaftierten): Katrin Hattenhauer, Axel Gebhart, [im Manuskript: Jutta<br />

Gätzel,] G<strong>und</strong>ula Walter, Mirko Kätzel, Günther Müller, Frank Elsner, Jens Michalke, Peer Matzeit,<br />

Holger König, Udo Suppa, Silvia Ulbricht <strong>und</strong> Andreas Gay <strong>und</strong> den hohen Ordnungsstrafen für H<strong>und</strong>erte<br />

wurde uns jetzt ein Fall bekannt, wo selbst ein Minderjähriger über Nacht in Polizeigewahrsam sich<br />

befand, obwohl er darauf hinwies, das er von seinen Eltern erwartet wurde. Dem Vater, der sich auf die<br />

Suche machte, wurde nicht bei der Polizei vorgelassen <strong>und</strong> es wurde ihm keine Auskunft über seinen Sohn<br />

gegeben.<br />

Was mir auch besonders auffällt, ist die Art <strong>und</strong> Weise der Zuführungen durch zivile oder uniformierte<br />

Sicherheitskräfte.<br />

Für viele Menschen kam dieser Gewalt[-] <strong>und</strong> Machtmißbrauch überraschend. In unserem Land haben sie<br />

so etwas nicht für möglich gehalten <strong>und</strong> die meisten von uns trifft diese Situation unvorbereitet. Und hier<br />

sehe ich die große Gefahr! Beim Erleben dieser staatlichen Gewalt stauen sich bei uns Wut <strong>und</strong><br />

Aggressionen auf. Aber können wir mit diesen richtig umgehen? Vor einer Woche erfuhr einer der<br />

Anwesenden erst durch das Verlesen der Namen, daß ein Fre<strong>und</strong> oder Bekannter, den er lange nicht sah,<br />

unter den Inhaftierten ist. An seinen Reaktionen auch während des Friedensgebetes konnte man deutlich<br />

sehen wie schwer es ihm fällt, seine Wut, (seine Enttäuschung <strong>und</strong> seine Ohnmacht) zu verarbeiten.<br />

Eines ist aber klar: der erste verletzte Polizist führt unweigerlich zu einer Eskalation der Gewalt, wie wir<br />

es uns jetzt wirklich nicht vorstellen können.<br />

Deshalb müssen wir, die wir hier versammelt sind, strikt das Prinzip der Gewaltlosigkeit vertreten. Das<br />

gilt auch... (langer Beifall) gegenüber Provokateuren, die in unseren Reihen sind. (Beifall)<br />

Einige Anregungen zu gewaltlosen Handeln wollen wir nachher noch geben. (Beifall)<br />

Joh. Fischer, Fr. Richter, Chr. Motzer [im Wechsel; Fürbitten]:<br />

Herr, wir bitten für [... Namen der am 25.09.1989 Verurteilten bzw. Inhaftierten]. (Sie wurden alle nach<br />

den Friedensgebeten der letzten Woche[n] zugeführt, inhaftiert <strong>und</strong> zum Teil auch schon verurteilt.<br />

Besonders denke ich an Udo Hartmann, der heute seinen 27. Geburtstag hat.)<br />

648 s. Anm. 333<br />

321


Gemeinde <strong>und</strong> Orgel: Kyrie Eleison...<br />

(Herr, wir bitten) für Stanislaw Devaty, Petr Cibulka, Ina Vojtkova <strong>und</strong> Frantizek Starek, die in der CSSR<br />

wegen ihres Eintretens für Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte zu Haftstrafen verurteilt worden sind.<br />

Gemeinde <strong>und</strong> Orgel: Kyrie Eleison...<br />

(Herr, wir bitten) für Sven Kulow, der seit Ende Juni (immer) noch in U-Haft sitzt.<br />

Gemeinde <strong>und</strong> Orgel: Kyrie Eleison...<br />

(Herr, wir bitten) für Jens-Uwe Drescher <strong>und</strong> Kai Kuhlmann sowie für alle, die zu Unrecht inhaftiert sind<br />

(<strong>und</strong> uns nicht bekannt sind).<br />

Gemeinde <strong>und</strong> Orgel: Kyrie Eleison...<br />

(Herr, wir bitten) für alle, die Opfer der Gewalt wurden, (dabei denken wir) z.B. an die um ihre Rechte<br />

kämpfenden Menschen im südl. Afrika <strong>und</strong> die Opfer der IRA-Terroranschläge der letzten Wochen.<br />

Gemeinde <strong>und</strong> Orgel: Kyrie Eleison...<br />

(Herr, wir bitten dich) für alle Wehrpflichtigen in der Bereitschaftspolizei, die gegen ihren Willen hier<br />

jeden Montag im Einsatz sind.<br />

Gemeinde <strong>und</strong> Orgel: Kyrie Eleison...<br />

J. Fischer, Fr. Richter, Chr. Wonneberger, Chr. Motzer [im Wechsel; Seligpreisungen]:<br />

Selig sind die Sanftmütigen, sie werden das Erdreich besitzen.<br />

Unselig sind, die auf Gewalt setzen, sie werden einen Trümmerhaufen vererben.<br />

Unselig sind, die Gewalt anwenden, sie werden sich <strong>und</strong> das Land ruinieren.<br />

Unselig sind, die ihren Führungsanspruch mit Gewalt durchsetzen wollen, das Land wird sie enterben.<br />

Selig sind die Sanftmütigen, sie werden das Erdreich besitzen.<br />

Selig sind, die den Mut haben, der Gewalt sanft entgegenzutreten, sie werden ein bewohnbares Stück Erde<br />

vererben.<br />

Selig sind, die auf Gewalt verzichten, das Land wartet auf sie.<br />

Selig sind die bewußt Gewaltlosen, ihnen kann man das Land anvertrauen.<br />

Selig sind die sanft Mutigen. Sie werden das Land besitzen.<br />

Vier ehemalige Thomaner [singen Seligpreisungen aus der orthodoxen Liturgie jedoch auf deutsch...]<br />

J. Fischer [Anregungen zur Gewaltfreiheit]:<br />

(Nun möchte ich die schon vorhin angekündigten Anregungen zum gewaltfreien Handeln zur<br />

Gewaltlosigkeit geben.<br />

Ich bitte:)<br />

− sich selbst unter Kontrolle (zu) halten <strong>und</strong> dem Nachbarn dabei helfen.<br />

− den Dialog suchen, mit dem Nachbarn <strong>und</strong> dem einzelnen Gegenüber<br />

− höflich <strong>und</strong> korrekt bleiben, keine Schimpfwörter gebrauchen; auch ein Pfeifkonzert ist kein Angebot<br />

zum Dialog<br />

− gemeinsam Lieder singen hilft, eigene Ängste abzubauen <strong>und</strong> dem Gegenüber Gewaltfreiheit zu<br />

demonstrieren.<br />

Deshalb müßt ihr/müssen Sie heute das Liedblatt auch nicht am Eingang wieder abgeben. (Beifall)<br />

− Beim Versuch, einzelne festzunehmen: hinsetzen <strong>und</strong> den Nachbarn unterhaken (starker Beifall)<br />

− Bei Festnahme den Zurückbleibenden (seinen) Namen zurufen<br />

− vom Einsatzfahrzeug den Zurückbleibenden die Zahl der Festgenommenen zurufen<br />

− (während <strong>und</strong> nach den Befragungen) Verweigerung jeglicher Unterschriften<br />

− während der Befragung keine Aussagen über das im Personalausweis Stehende hinaus machen. (Pause,<br />

Beifall)<br />

Chr. Wonneberger: (Anbetracht der vergangenen Zeit haben wir das, was wir vorhatten etwas gekürzt.<br />

Wir wollen das Gebet mit einem gemeinsamen Lied beschließen.)<br />

Chr. Miehm: [„We shall overcome“ mit deutschem Text<br />

Dazu erhoben sich die Besucher in den Bänken <strong>und</strong> faßten sich an die Hände.]<br />

Chr. Wonneberger: [Vater unser... <strong>und</strong> Segen]<br />

322


[Danach sangen viele der ca. 2500 Besucher des Friedensgebetes „We shall overcome“. Noch beim<br />

Verlassen der Kirche wurde „We shall overcome“ gesungen.]<br />

218 SED-Information<br />

Information über eine telefonische Mitteilung des Abteilungsleiters für Sicherheitsfragen der SED-<br />

Bezirksleitung der SED, die im ZK der SED gefertigt wurde. Die Information erhielten neben der AG<br />

Kirchenfragen auch die Abteilungen Sicherheitsfragen <strong>und</strong> Parteiorgane des ZK der SED (SAPMO-BArch IV<br />

B 2/14/21).<br />

Information [/] des DH [Diensthabenden] der BL Leipzig, Gen. Reinhard, vom 25.9.89, 19.10 Uhr.<br />

Am 25.9.89 fand in der Zeit von 17.00 bis 17.55 Uhr in Leipzig das sogenannte Montagsgebet in der<br />

Nikolaikirche Leipzig, mit etwa 2000 Teilnehmern in der Kirche <strong>und</strong> 1000 Personen auf dem<br />

Kirchenvorplatz, statt. In der Kirche sollen u.a. Maßregeln erteilt worden sein, wie sich die Teilnehmer im<br />

Falle einer Zuführung durch die Sicherheitskräfte zu verhalten haben.<br />

Nach Beendigung des Gebetes haben sich die insgesamt etwa 3000 Personen versammelt <strong>und</strong> in<br />

Sprechchören nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit <strong>und</strong> andere Losungen gerufen. Anschließend setzte<br />

sich das Teilnehmerfeld in Richtung Karl-Marx-Platz <strong>und</strong> Hauptbahnhof in Bewegung. Etwa 300 - 500<br />

Personen werden als aktiv handelnder Teil eingeschätzt. Die hohe Anzahl der Beteiligten soll die<br />

Einhaltung der Sicherungsmaßnahmen erschwert haben. Zu diesem Vorkommnis erhalten wir von der BL<br />

Leipzig der SED noch schriftlich Informationen. Gen. Wolfgang Herger wurde in Kenntnis gesetzt.<br />

Ergänzung:<br />

DH des Ministerrates, Gen. Göbel, informierte um 23.20 Uhr in gleicher Angelegenheit mit der<br />

Ergänzung, daß etwa 1000 Personen in der Westhalle [des] Hauptbahnhofes eingedrungen sind,<br />

Verkehrsstörungen entstanden <strong>und</strong> durch die Volkspolizei 6 Zuführungen vorgenommen wurden.<br />

gez. Tunger<br />

219 SED-Information<br />

Chiffriertes Fernschreiben Nr. 469 des 2. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Leipzig, Hackenberg, an das ZK<br />

der SED, Abteilung Parteiorgane, Sektor Parteiinformation, über das Friedensgebet am 25.09.1989, vom<br />

gleichen Tag kurz vor Mitternacht (StAL SED A 4972).<br />

Am Montag, dem 25.09.1989 in der Zeit von 17.00 bis 17.55 Uhr fand in der Nikolaikirche Leipzig das<br />

sogenannte Montagsgebet statt, an dem ca. 2000 Personen teilnahmen 649 . Von 17.00 bis 17.50 Uhr<br />

versammelten sich auf dem Nikolaikirchhof ca. 1000 Personen. In der Kirche waren durch die hohe<br />

Anzahl der Teilnehmer die Sicherheitsbestimmungen nicht gewährleistet, die Teilnehmer wurden<br />

aufgeputscht, <strong>und</strong> es wurden Regeln im Verhalten gegen die Deutsche Volkspolizei erteilt. Gegen 18.30<br />

Uhr begann vom Nikolaikirchhof der konzentrierte Abgang in Richtung Ritterstraße, Grimmaische Straße,<br />

Karl-Marx-Platz durch ca. 4000 Personen 650 <strong>und</strong> weiter des Georgi-Ringes in Richtung Hauptbahnhof bis<br />

Höhe Friedrich-Engels-Platz <strong>und</strong> zurück zum Hauptbahnhof. Auf dem Marsch wurde gerufen „Neues<br />

Forum“ zulassen! Es entstanden erhebliche Verkehrsstörungen. Während des Aufenthaltes auf dem<br />

Nikolaikirchhof nach Beendigung des „Gebets“ wurde „Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit“ gerufen <strong>und</strong><br />

649 Der RdB Leipzig (Reitmann) teilte dem Staatssekretär für Kirchenfragen (Löffler) den Verlauf des FG am 26.09.,<br />

gegen 11.00 Uhr in einem ausführlichen Telegramm mit (StAL BT/RdB 22377). Dort ist von 2.500 Teilnehmern<br />

die Rede. s.a. Zwahr (1993), 24ff.<br />

650 Das MfS sprach von 3.500 Personen <strong>und</strong> versuchte, auch diese Zahl noch zu relativieren (MfS, ZAIG, Nr.<br />

428/89, abgedruckt, in: Mitter/Wolle, 174-176). Von der Koordinierungsgruppe hatte niemand an der<br />

Demonstration teilgenommen, weshalb sie nur spärlich darüber an Journalisten berichtete (s. FAZ 27.09.1989).<br />

Fotos von der Demonstration in: Neues Forum Leipzig, 34-38<br />

323


die Internationale gesungen. Ca. 1000 Personen 651 hielten sich von ca. 19.45.-19.49. Uhr unter Absingen<br />

bereits genannter Texte in der Westhalle des Leipziger Hauptbahnhofes auf. Danach löste sich diese<br />

Konzentration auf. Gegen 20.20 Uhr waren die Maßnahmen beendet. Die Bewegung wäre nur durch den<br />

Einsatz von polizeilichen Hilfsmitteln zu verhindern gewesen. Polizeiliche Hilfsmittel kamen nicht zum<br />

Einsatz. Es gab 6 Zuführungen.<br />

220 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />

Eingabe von Pf. Schleinitz vom 25.09.1989 an den Rat des Bezirkes Leipzig wegen der Vorkommnisse im<br />

Zusammenhang mit den Friedensgebeten in Leipzig. Das Exemplar trägt den Eingangsstempel 27.IX.89 <strong>und</strong><br />

den handschriftlichen Vermerk: „Eingabe 53/89“. Ein gleichlautendes Schreiben sandte Pf. Schleinitz auch an<br />

die BDVP (StAL BT/RdB 20749).<br />

Vorkommnisse im Zusammenhang mit dem „Friedensgebet“ in der Leipziger Nikolaikirche, jeweils<br />

montags, veranlassen mich zu dieser Eingabe. Insbesondere die Berichte von Gemeindegliedern über<br />

Ereignisse am 18.09.89 können von mir nicht einfach nur angehört <strong>und</strong> damit hingenommen werden. Ich<br />

gehöre seit Jahren zu den entschiedenen Kritikern der Veranstaltungen in der Nikolaikirche, <strong>und</strong> ich habe<br />

den Mißbrauch von Kirche immer wieder <strong>und</strong> auch öffentlich beim Namen genannt. Die<br />

Augenzeugenberichte der letzten Montage allerdings signalisieren eine drastische Veränderung der<br />

Situation <strong>und</strong> fordern eine neue Einschätzung der Dinge: [/] Wenn Polizeiterror in der Leipziger<br />

Innenstadt montags zur Gewohnheit wird, wenn ruhige Bürger mit Polizeigriffen brutal auf Lkws gekarrt<br />

werden können, wenn nichtuniformierte Kräfte wehrlose Bürger mit Halbstarkenparolen bedrohen dürfen,<br />

wenn statt Argumente Waffen, Knüppel <strong>und</strong> H<strong>und</strong>e vorgeführt <strong>und</strong> eingesetzt werden, dann sind ältere<br />

Bürger unserer Stadt irritiert, weil sie meinten, Gewalt dieser Form sei endgültig überw<strong>und</strong>en; dann wird<br />

für jüngere Bürger jede Perspektive im Keim erstickt; dann wird für verantwortlich denkende Bürger<br />

Argumentieren zum politischen Suizid; vor allem: [/] dann dürfen Menschen, die Solidarität nach außen<br />

zu üben gelernt haben (Chile, Nikaragua, Lesotho usw.), nicht vergessen, daß es auch eine Solidarität nach<br />

innen gibt.<br />

Aus dieser Solidarität mit allen von hiesiger Polizeigewalt Betroffenen (<strong>und</strong> gerade auch, wenn ich deren<br />

Argumente nicht teile!) protestiere ich für eine humane Konzeption hinsichtlich notwendiger<br />

Konfliktlösungen - jeweils montags um die Nikolaikirche <strong>und</strong> in der Leipziger Innenstadt.<br />

Ich tue dies nicht zuletzt deshalb, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß politisch Verantwortliche<br />

ernsthaft an Lösungen durch inhumane Gewalt interessiert sind.<br />

[gez.] Gottfried Schleinitz<br />

In meiner Pfarramtspraxis bin ich ebenso selbstverständlich wie notgedrungen mit <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n <strong>und</strong><br />

Gemeindemitgliedern im Gespräch über diese Problematik. Sie möchten mit ihren Namenszügen ihre<br />

Zustimmung zu diesem Protest unterstreichen: [... Es folgen sieben Unterschriften.]<br />

221 Notizen aus einer Parteiberatung<br />

Zur Lage:<br />

Handschriftliche Notizen aus den Akten des Rat des Bezirkes Leipzig zur politischen Situation in Leipzig.<br />

Die Aufzeichnungen entstanden offensichtlich anäßlich der Sekretaritatssitzung der SED-Bezirksleitung am<br />

27.09.1989652 <strong>und</strong> wurden vermutlich von H. Reitmann 653 gefertigt (StAL BT/RdB 22377).<br />

Sekr. BL 27.9.89<br />

651 In der ZAIG, Nr. 428/89 des MfS ist von 800 Personen die Rede.<br />

652 Ob Blatt 1 zu Blatt 2 <strong>und</strong> 3 gehört, ist nicht sicher. Damit ist auch die zeitliche <strong>und</strong> situative Zuordnung der<br />

Blätter 2 <strong>und</strong> 3 hypothetisch. Sie sind jedoch durchnummeriert <strong>und</strong> liegen in der Akte zusammen, jedoch in einer<br />

anderen Reihefolge: Blatt 2, 3 <strong>und</strong> Blatt ohne Nummer. Die Blätter waren ursprünglich zusammengeheftet.<br />

653 gleiche Handschrift wie Dok. 170<br />

324


Offensive pol.[itische] Arbeiten in der Partei - bleiben Kampfpartei<br />

− XII. PT vorbereiten<br />

− breite zielgerichtete Arbeit mit der Jugend - Pos. von allen PO [Parteiorganisationen] <strong>und</strong><br />

Staatsorganen<br />

− anderes innenpolitisches Leben - offene Atmosphäre - Auseinandersetzungen mit denen, die<br />

zurückweichen, die Funktionäre beschimpfen, Forderung stellen (vor XII. PT Parteikonferenz)<br />

− Verhältnis zu den Blockparteien (einige Kreise)<br />

Noch konkreter gegen feindliche Kräfte vorgehen:<br />

• 2 Seiten sehen: 1. Isolierung der feindl. Kräfte654 2. [durchgestrichenes Wort] Mitläufer wieder auf unsere Seite ziehen<br />

• Es geht um Machtfragen<br />

„Neues Forum“ = „Solidarnosc“ [/]<br />

Ev.-luth. Kirche = feindl. Positionen = Angriff gegen Staatsordnung<br />

1.- was geschieht mit den Kirchenvertretern<br />

2.- Mo[ntag] - mit pol. Mitteln<br />

o Wasserwerfer<br />

o Knüppel<br />

3.- Einsatz gesellschaftlicher Kräfte<br />

o K[ampf]Gruppen<br />

o Vorplatz besetzen<br />

4.- Wie in der Presse reagieren - offensiv?<br />

[Blatt 2:]<br />

H. Reitmann<br />

− Arbeit mit Amtsträgern der Kirchen hat nicht zur Breitenwirkung geführt<br />

− Bischof Leich stabsmäßig verteilt 655 - unterschiedlich verlesen <strong>und</strong> unterschiedliche Wirkung<br />

− Gespräche werden fordernder <strong>und</strong> aggresiver - kaum noch Basis 6.3.78 möglich.<br />

− Bischof Hempel<br />

− nach wie vor Mann des 6.3.78<br />

− bereit zu reden - als Bischof immer schwächer -<br />

− sieht noch nicht durch - läßt Führer <strong>und</strong> Wonneberger gegen den Staat auftreten.<br />

− Magirius - voll auf Ausreisepsychose<br />

− 30.9. 18.00 Uhr Marienkirche zusätzl. Friedensgebet<br />

7.10. Trinitatiskirche<br />

Vorgehen:<br />

1. Gesprächsführung auf allen Ebenen konsequent fortführen<br />

Hempel - Löffler - RdB [Rat des Bezirkes]<br />

2. Theologisierung der Kirchen fordern u. durchsetzen<br />

3. Pfarrer wie Wonneberger versetzen<br />

4. Verbindung Antragsteller - Oppositionelle - Kirchenvertreter zerschlagen<br />

5. Gegen Organisatoren strafrechtl. vorgehen.<br />

6. Veranstaltungs- u. Druckgenehmigungsordnung konsequenter durchsetzen<br />

[Blatt 3:]<br />

Gen. P. Kraußer<br />

− Einschätzung der Synode<br />

− Gespräch Hempel - Löffler - Reitmann am Do 656<br />

− CDU muß in die Kirche gehen<br />

654 Dies war die Anweisung Honeckers vom 22.09.1989 (wiedergegeben in: Spiegel 17/1990, 79).<br />

655 Der Brief von W. Leich an Honecker wurde als Brief an die Gemeinden in allen Gemeinden der Gliedkirchen des<br />

BEK bekannt gemacht <strong>und</strong> kursierte als Ormig-Abzug (ABL H 1). s.a. Anm. 606<br />

656 s. Dok. 227<br />

325


• „Union“ sollte Kirchenvorstandsmitglieder zu Wort kommen lassen<br />

− Fortführung der öffentl. Diskussion - breite Pressekampagne<br />

− Pol. Arbeit in den Arbeitskollektiven<br />

[Name <strong>und</strong> erster Gesprächsbeitrag nicht zu entziffern vielleicht:<br />

„G. Berger [/] - Sitzungen der VV’en“]<br />

• Machtorgane einbeziehen<br />

M. Hummitzsch<br />

− Auflauf Mo hätte zerschlagen werden können - keine Neigung [nicht zu entziffern]<br />

− Einkloppen: Keine massenweise Inhaftierung<br />

H.H.[ackenberg]<br />

− AGr. einsetzen A. Rauth - K.H. Reinhardt - H. Reitmann<br />

222 SED-Beschluß<br />

Auszug aus dem Beschluß des Sekretariats der SED-BL Leipzig Nr. 471/89 vom 27.9.89. Maßnahmen zur<br />

Mobilisierung der Mitglieder der Bezirksparteiorganisation 657 (StAL SED A 5544).<br />

Maßnahmen [/] zur Mobilisierung der Mitglieder <strong>und</strong> Kandidaten der Bezirksparteiorganisation, aller in<br />

der Nationalen Front vereinten gesellschaftlichen Kräfte sowie der Staat- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane zur<br />

offensiven Bekämpfung <strong>und</strong> Zurückdrängung antisozialistischer Aktivitäten in der Stadt Leipzig 658<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage des Fernschreibens des Generalsekretärs des ZK 659 <strong>und</strong> der im Sekretariat der<br />

Bezirksleitung am 27. 9. 1989 erneut vorgenommenen Einschätzung der Lage 660 werden folgende weitere<br />

Maßnahmen festgelegt:<br />

1. Die Sekretariate der Stadtleitung, Stadtbezirks- <strong>und</strong> Kreisleitungen beschließen unverzüglich<br />

Maßnahmen, die dazu führen, in kürzester Frist in allen Gr<strong>und</strong>organisationen eine hohe Aktivität aller<br />

Mitglieder <strong>und</strong> Kandidaten der Parteien mit dem Ziel, bei ihnen tiefes Vertrauen, Treue,<br />

Standhaftigkeit <strong>und</strong> hohe Einsatzbereitschaft auszuprägen. Das erfordert die Organisierung einer<br />

breiten politisch-ideologischen Arbeit besonders unter der Jugend <strong>und</strong> ein innerparteiliches Leben, das<br />

den Erfordernissen des gegenwärtigen Klassenkampfes unter allen Lagebedingungen gerecht wird.<br />

Alle Mitglieder <strong>und</strong> Kandidaten der Bezirksparteiorganisation sind mit der Lageeinschätzung <strong>und</strong> den<br />

sich daraus ergebenden Konsequenzen vertraut zu machen. Gr<strong>und</strong>lage dafür bildet eine<br />

Argumentation, die unter Verantwortung des Sekretärs für Agitation/Propaganda der Bezirksleitung<br />

gemeinsam mit der Stadtleitung zu erarbeiten <strong>und</strong> den Parteisekretären am 28. 9. zu übergeben ist. Es<br />

ist zu gewährleisten, daß in allen Parteikollektiven bis Montag, den 2. 10. 1989, die Kommunisten mit<br />

657 Diesen Beschluß erhielten alle Sekretäre <strong>und</strong> Abteilungsleiter der SED-BL <strong>und</strong> die 1. Sekretäre der SED-KL<br />

(chiffrierte Fernschreiben). Der Leiter der Abteilung Sicherheit bei der SED-BL, Reinhardt, der für die<br />

Verbindung zum MfS zuständig war <strong>und</strong> zugleich Offizier im besonderen Einsatz des MfS war, erhielt 4<br />

Exemplare (Verteiler im Anhang an den Beschluß 471/89; Vertrauliche 9/03-Verschlußsache 51/89). Auf der DB<br />

des Leiters der BV des MfS am 30.09.1989 wurde ausdrücklich auf diesen Beschluß verwiesen. Interessant ist die<br />

in diesem Zusammenhang gegebene Interpretation: „Politische Mobilisierung / GO Sekretäre informiert [...<br />

Einsatz ?] Montag / KG [Kampfgruppen]-Einsatz vorbereiten“ (BStU Leipzig AB 1056, 43)<br />

658 Diese Maßnahmen waren für den Montag, den 02.10., konzipiert, waren aber auch danach noch handlungsleitend.<br />

So tagte das Sekretariat der SED-SL am 03.10. zusammen mit den 1. Sekretären der SED-Stadtbezirksleitungen<br />

<strong>und</strong> beschloß erneut auf dieser Gr<strong>und</strong>lage. Dabei heißt es u.a.: „Verstärkt ist die Arbeit in allen Einheiten der<br />

Kampfgruppen der Arbeiterklasse zu organisieren.“ (StAL SED IV F-5/01/075) Im Rat des Stadtbezirks Leipzig-<br />

Mitte wurde der Sekretariatsbeschluß in der Weise interpretiert, daß zwischen 02. <strong>und</strong> 09.10.1989 „erhöhte<br />

Sicherheitsbereitschaft“ befohlen wurde. D.h., es wurden Instruktionen zur Lageinterpretation gegeben, <strong>und</strong> es<br />

galt für alle Bereiche durchgehend „Hausbereitschaft“. (SAL SB Mitte 300)<br />

659 Das Honecker-Fernschreiben vom 22.09.1989 ist wiedergegeben in: Spiegel 17/1990, 79<br />

660 H. Hackenberg gab zu Beginn der Sekretariatssitzung einen Bericht „zur politischen Situation auf Gr<strong>und</strong><br />

provokatorischen Verhaltens von Gruppierungen im Bezirk Leipzig“ (Protokoll 28/89, S. 4 - StAL SED A 5544).<br />

326


dem Inhalt dieser Argumentation vertraut gemacht werden. Die Stadtbezirks- <strong>und</strong> Kreisleitungen sowie<br />

die Leitungen der Gr<strong>und</strong>sorganisationen sichern, daß zur Verhinderung weiterer provokatorischer<br />

Handlungen mit antisozialistischem Charakter bekannte negative Kräfte in einer offensiven<br />

massenpolitischen Arbeit bloßgestellt, entlarvt <strong>und</strong> so diszipliniert werden, daß sie an weiteren<br />

Handlungen gegen den sozialistischen Arbeiter-<strong>und</strong>-Bauern-Staat nicht mehr teilnehmen.<br />

2. Alle Formen <strong>und</strong> Methoden der politischen Massenarbeit in Vorbereitung des XII. Parteitages sind zu<br />

nutzen, um in den Arbeitskollektiven <strong>und</strong> städtischen Wohngebieten eine offensive, lebensnahe<br />

Aussprache zu entwickeln, das Vertrauen in die Politik der SED zu festigen, mit neuen Initiativen zur<br />

Stärkung der DDR beizutragen sowie eine Verurteilung der Absichten konterrevolutionärer Elemente<br />

zu erreichen. Die Arbeit ist so zu organisieren, daß noch in dieser Woche in Form von<br />

Arbeitermeetings, Treffs der Jugend, differenzierten Gesprächen <strong>und</strong> durch das Auftreten aller<br />

leitenden Kader Bedingungen geschaffen werden, feindlich-negative Elemente rechtzeitig zu erkennen<br />

<strong>und</strong> ihnen jede Wirkungsmöglichkeit zu nehmen. Dazu sind öffentliche Bekenntnisse <strong>und</strong><br />

Stellungnahmen zu organisieren.<br />

3. [...Einsatz von Parteiaktivisten]<br />

4. In den Einheiten der Kampfgruppen der Arbeiterklasse ist die politische Arbeit mit jedem einzelnen<br />

Kämpfer zu verstärken. Aus den Kollektiven der Kampfgruppen sind Stellungnahmen <strong>und</strong> persönliche<br />

Standpunkte zu organisieren, in denen sich Kämpfer, Unterführer <strong>und</strong> Kommandeure [sic!] öffentlich<br />

dazu bekennen, in diesen Tagen verstärkte Angriffe des Gegners gegen die DDR im Sinne des<br />

Gelöbnisses der Kampfgruppen der Arbeiterklasse abzuwehren, eine hohe Bereitschaft zu entwickeln,<br />

die Heimat mit der Waffe gegen innere <strong>und</strong> äußere <strong>Feinde</strong> zu verteidigen 661.<br />

5. Der Rat des Bezirkes, die Sekretariate des FDGB-Bezirksvorstandes <strong>und</strong> der FDJ-Bezirksleitung sowie<br />

die Leitungen <strong>und</strong> Vorstände der anderen Massenorganisationen beschließen eigenständige<br />

Maßnahmen zur Unterstützung einer offensiv geführten politischen Massenarbeit.<br />

6. Die 1. Sekretäre der Stadtleitung; Stadtbezirks- <strong>und</strong> Kreisleitungen führen unverzüglich Aussprachen<br />

mit den Vorsitzenden der befre<strong>und</strong>eten Parteien durch, um sie mit der Lage vertraut zu machen <strong>und</strong> die<br />

gesellschaftliche Front durch das Wirken der befre<strong>und</strong>eten Parteien zu verstärken.<br />

7. Durch den Bezirksausschuß der Nationalen Front ist darauf Einfluß zu nehmen, daß die Arbeitsgruppe<br />

Christliche Kreise bei den Ausschüssen der Nationalen Front Gespräche mit kirchlichen Amtsträgern<br />

<strong>und</strong> Laien in den Kirchenvorständen durchführen.<br />

8. In den Tagungen der gewählten Volksvertretungen, insbesondere in der Stadt Leipzig, ist regelmäßig<br />

zur Lage Stellung zu nehmen. Die Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 29. 9. ist zu nutzen,<br />

um zu den Aufgaben der Volksvertreter zur Gewährleistung von Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit <strong>und</strong> zur<br />

Zurückdrängung provokatorischer Elemente in der Stadt Leipzig Stellung zu nehmen. In den<br />

Ausführungen des Oberbürgermeisters <strong>und</strong> der Abgeordneten sind dazu klare Standpunkte zu fixieren.<br />

In einem Beschluß der Stadtverordnetenversammlung ist das Vorgehen konterrevolutionärer Elemente<br />

eindeutig zu verurteilen 662 . Die Bürger der Stadt sind darüber öffentlich zu informieren. Gleiches ist in<br />

den Stadtbezirksversammlungen durchzuführen.<br />

9. Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes führt in Abstimmung mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen<br />

erneute Aussprachen mit dem Bischof der Evangelischen Landeskirche Sachsen, Hempel, <strong>und</strong> weiteren<br />

Vertretern der Landeskirche 663 . Der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig wird beauftragt,<br />

gleichlaufend entsprechende Aussprachen mit den Superintendenten der Stadt <strong>und</strong> weiteren Pfarrern<br />

durchzuführen mit dem Ziel, sie auf ihre Verantwortung im Zusammenhang mit der Durchführung<br />

661 Eine dieser Erklärungen (von G. Lutz) wurde am 6.10.1989 durch die LVZ veröffentlicht (abgedruckt in: Sievers<br />

(1990), 65f., Neues Forum Leipzig (1989), 63). Dort hieß es u.a.: „Wir sind bereit <strong>und</strong> Willens, das von uns mit<br />

unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig <strong>und</strong><br />

wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand!“<br />

662 Über die Stadtverordnetenversammlung am 29.09.1989 s. Bericht Sievers (in: ders. (1990), 49). Die<br />

Diskussionsbeiträge der Stadtverordneten wurden u.a. durch die SED-SL vorbereitet (dies., Maßnahmen zur<br />

Durchsetzung der Festlegungen im Beschluß des Sekretariats der SED-BL vom 28.09.1989 - StAL SED 5124)<br />

663 Das Gespräch fand am 05.10. statt (Dok. 236).<br />

327


staatsfeindlicher Handlungen aufmerksam zu machen <strong>und</strong> sie aufzufordern, ihre Positionen zu ändern.<br />

Die Vorsitzenden der Räte der Kreise organisieren entsprechende Gespräche in ihrem<br />

Verantwortungsbereich. Der Staatsanwalt sowie Vertreter der staatlichen Organe führen<br />

disziplinierende Gespräche mit den Pfarrern, die offen staatsfeindlich auftreten <strong>und</strong> Teilnehmer in den<br />

Kirchen zu Demonstrationen aufwiegeln.<br />

10. Die Kreisleitung der Karl-Marx-Universität hat unverzüglich eine Lageeinschätzung an der Sektion<br />

Theologie vorzunehmen664 . Es ist zu veranlassen, daß ein theologisches Gutachten zu den sogenannten<br />

„Friedensgebeten“ erarbeitet wird, auf dessen Gr<strong>und</strong>lage die öffentliche Auseinandersetzung mit den<br />

Machenschaften kirchlicher Würdenträger zu organisieren sind. Durch den Rat des Bezirkes ist die<br />

Aktivierung der Arbeit des Beirates an der Sektion Theologie zu verstärken. Die staatliche Leitung der<br />

Sektion ist kadermäßig zu stabilisieren <strong>und</strong> zu profilieren. Gegenüber dem Theologischen Seminar<br />

(Ausbildungsstätte verschiedener Landeskirchen) sind durch den Rat des Bezirkes die Gespräche mit<br />

dem Ziel weiterzuführen, positive Kräfte zu stärken <strong>und</strong> Verstöße gegen die Gesetze zu unterbinden.<br />

11. Der Sekretär für Agitation/Propaganda der Bezirksleitung legt mit den Redaktionen der LVZ, des<br />

Senders Leipzig, den Redakteuren der Betriebszeitungen Maßnahmen fest, damit auf die Entwicklung<br />

einer offensiven Arbeit der Medien als Bestandteil der massenpolitischen Aktivitäten ständig reagiert<br />

wird <strong>und</strong> die öffentliche Auseinandersetzung eine gezielte Unterstützung erfährt.<br />

12. Die Genossen in den Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorganen haben durch geeignete Maßnahmen zu<br />

gewährleisten:<br />

- Die Aufklärung von Plänen <strong>und</strong> Absichten feindlich-negativer Kräfte sowie die Einleitung von<br />

vorbeugenden Maßnahmen zur Verhinderung dieser Aktivitäten.<br />

- Die Konzentration feindlich-negativer Kräfte an bekannten Handlungsorten nicht zuzulassen <strong>und</strong><br />

jegliche Anzeichen dieser Art im Keime zu ersticken.<br />

Die jeweiligen Einsatzkonzeptionen der Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane sind vor den jeweiligen<br />

Ereignissen dem 2. Sekretär zur Bestätigung vorzulegen, einschließlich des möglichen Einsatzes von<br />

Kampfgruppen. Durch den Chef der BDVP sind kurzfristig Handlungsvarianten für die Kampfgruppen<br />

vorzubereiten 665.<br />

Die Sekretariate der Stadt-, Stadtbezirks- <strong>und</strong> Kreisleitungen informieren über die Durchführung der<br />

Maßnahmen im jeweiligen Territorium direkt regelmäßig den 2. Sekretär der Bezirksleitung. Eine<br />

erstmalige Information hat bis Freitag, den 29.9.1989 zu erfolgen.<br />

223 SED-Information<br />

Auszug aus der Rede des 1. Sekretärs der SED-Stadtleitung, J. Prag, auf der Stadtleitungssitzung am<br />

28.09.1989 zur Situation um die Nikolaikirche (StAL SED N 929 <strong>und</strong> in: StAL SED A 5115).<br />

[...] Am vergangenen Montag war die Nikolaikirche weit überfüllt. 2000 waren in der Kirche, die<br />

Kirchentore mußten geschlossen werden, weil niemand mehr hineinging <strong>und</strong> weitere 1000 standen auf<br />

dem Nikolaiplatz davor. Ein solcher Pfarrer unserer Stadt wie Pfarrer Wonneberger hat sozusagen die<br />

Predigt gehalten. Mit solchen Worten - wer den Knüppel nimmt, muß selbst den Helm aufsetzen; wer eine<br />

Waffe in die Hand nimmt, muß sich gefallen lassen, in den Kopf geschossen zu werden - werden ganz<br />

gleich aus welchen Motiven sie sich dort versammeln, Menschen furchtbar aufgewiegelt <strong>und</strong> erhalten in<br />

der Kirche Verhaltensmaßregeln, wie man sich nach dem Gottesdienst auf dem Nikolaiplatz gegenüber<br />

den Genossen der Volkspolizei verhalten muß. Wenn der Arnold, ein gewisser Arnold, schon vor Tagen<br />

vor diesem Montag propagiert am Montag Schutzhelm <strong>und</strong> wasserdichte Bekleidung mitbringen, dann ist<br />

das eindeutig eine Orientierung auf Konfrontation. Ich darf hier sagen, unsere Genossen der Volkspolizei,<br />

664 In dem Bericht der SED-KL der KMU vom 03.10.1989 findet sich zu diesem Punkt keine Information. Es wurde<br />

nur über die vielfältigen Parteiveranstaltungen in den Tagen zwischen 29.09. <strong>und</strong> 03.10. berichtet.“ (StAL SED A<br />

6023)<br />

665 Diese Pläne des Chefs der BDVP sind den Herausgebern noch nicht bekannt geworden, s. jedoch dessen<br />

Entschluß vom 06.10.1989, teilweise abgedruckt in: Kuhn (1992), 48-51<br />

328


unsere Genossen der Sicherheitsorgane haben bisher alles vermieden, um es zu dieser Konfrontation<br />

kommen zu lassen. [...]<br />

224 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />

Brief des Superintendenten Magirius an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig vom 29.09.1989, in<br />

dem er die Einladung zur Festveranstaltung zum 40. Jahrestag der DDR ablehnt. Das Exemplar trägt die<br />

Empfangsbestätigung von Opitz <strong>und</strong> eine handschriftliche Notiz: „Ablichtung hat Gen. Dr. Reitmann<br />

erhalten.“ (StAL BT/RdB 22377).<br />

Sehr verehrter Herr Vorsitzender!<br />

Vor mir liegen die Einladungen zur Festveranstaltung <strong>und</strong> zum Empfang anläßlich des 40. Jahrestages der<br />

Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Ich muß Ihnen mitteilen, daß ich mich in der<br />

gegenwärtigen Situation nicht in der Lage weiß, der Einladung nachzukommen 666 . [/] Sehr bewußt <strong>und</strong><br />

engagiert habe ich seit der Gründung der DDR den Weg unseres Staates mitvollzogen, in ungezählten<br />

Gesprächen innerhalb unserer Gesellschaft Partei ergriffen für eine gute Entwicklung <strong>und</strong> auf<br />

ökumenischen Konferenzen außerhalb unseres Landes zum Ansehen unseres Staates beigetragen. [/] Mich<br />

bewegt es sehr tief, daß weder Partei noch Staatsapparat seit über einem Jahr die auch von mir immer<br />

wieder gestellte Frage nicht beantworten „Was müssen wir tun, daß Menschen gern in unserem Lande<br />

leben <strong>und</strong> bleiben?“ Diese brennende Frage läßt sich nicht länger verdrängen 667 . Ich habe bewußt auch<br />

unsere gemeinsame Verantwortung angesprochen; denn nur durch ein geduldiges Gespräch <strong>und</strong> in<br />

gemeinsamen Überlegungen kann es wohl dazu kommen, daß sich die Situation entspannt <strong>und</strong> wir mit<br />

dem weiteren Aufbau unseres Staates der Deutschen Demokratischen Republik vorankommen. [/] In der<br />

Hoffnung, daß Sie meine Haltung verstehen <strong>und</strong> der Dialog der Vernunft nicht abreißt, [/] grüßt Sie<br />

Ihr [gez.] Friedrich Magirius<br />

225 Kirchenbucheintragung<br />

Drei Eintragungen aus dem Gästebuch VII der Nikolaikirche vom 29.09.1989 (Nikolaikirchgemeinde).<br />

Da ich heute 2 „B<strong>und</strong>esgenossen“ meiner Art <strong>und</strong> Weise kennengelernt habe, drückt mir meine kranke<br />

Seele die Hand auf’s Herz <strong>und</strong> möchte sich ausquatschen. [/] Ich weiß nicht, was soll es bedeuten?: [/]<br />

Jeder weiß Bescheid, jeder hat mehr oder weniger Wut im Bauch über all die Provozierungen, Ärgernisse,<br />

politischen Belustigungsaktionen, Schikanen <strong>und</strong> moralischen Tiefgangsmanöver. Warum können wir<br />

nicht für unser aller Recht <strong>und</strong> persönliches Wohlergehen Mittel anwenden, die korrekt, sachlich,<br />

genehmigt <strong>und</strong> human sind, um uns wohler <strong>und</strong> ruhiger zu fühlen? Ich glaube es gibt schon mehr seelisch<br />

kranke, Suizidgefährdete; Alkoholiker als ges<strong>und</strong>e Menschen, weil es Leute zu wenig verstehen, sich<br />

zusammen zu setzen, um über Dinge zu reden, die sie krank machen <strong>und</strong> sie wissen sich nicht zu helfen.<br />

Darum müssen wir zusammenrücken. Die Zeit muß genutzt werden, denn es >>ist später als wir<br />

denken>> Mit Ausreise ist nichts getan, verändern, um leben zu können, das müßte unser Ziel sein... [/]<br />

Der Startschuß ist schon gesetzt <strong>und</strong> wer durch’s Ziel geht, ist fast der Gewinner. [... Unterschrift<br />

unleserlich]<br />

Wer ewig schluckt, stirbt von innen! (Grönemeyer)<br />

Mit meiner Unterschrift unterstütze ich den Friedensgottesdienst am Montag <strong>und</strong> die Reformbestrebungen<br />

des „Neuen Forum“ 668.<br />

[/] Alexander König [Ort nicht eindeutig zu entziffern] 29.9.89<br />

666 Die KKL des BEK hatte am 2./3. September sich noch für eine Teilnahme an dem Empfang anläßlich des 40.<br />

Jahrestages der Gründung der DDR ausgesprochen. Am 6. <strong>und</strong> 7.10. sprach sich jedoch die Mehrheit der<br />

Vertreter der Kirchenleitungen gegen eine solche Teilnahme aus (Mitter/Wolle (1993), 519f.).<br />

667 Diese beiden Sätze wurden durch Strich am linken Rand gekennzeichnet.<br />

668 Gründungsaufruf „Aufbruch 89“ hing am Informationsbrett unter der Orgelempore der Nikolaikirche.<br />

329


226 SED-Information<br />

Auszug aus dem Bericht der SED-Gr<strong>und</strong>organisation der 21. VP-Bereitschaft zum Monat September 1989, in<br />

dem festgestellt wird, daß die Angst vor den Montagseinsätzen wächst (StAL SED A 5847).<br />

Es verstärken sich die Stimmen, daß die Angst vor der Durchführung der Montagseinsätze besonders bei<br />

den Wachtmeistern wächst. Begründet wird diese Angst mit der Tatsache, daß die Genossen den<br />

Demonstranten schutzlos gegenüber stehen <strong>und</strong> der Umfang der ungesetzlichen Handlungen jeden Montag<br />

weiter größere Formen annimmt. Es wird die Meinung vertreten, daß wir auch weiterhin zuverlässig die<br />

gestellten Aufgaben erfüllen werden, wenn auch nicht zu verkennen ist, daß wir den Ereignissen hinterher<br />

laufen. Wir verteidigen unsere Macht nicht wie unseren Augapfel, sondern lassen mit ihr spielen. Das<br />

Argument, daß dieses oder jenes aus internationaler Sicht nicht getan werden kann, ist nicht mehr<br />

überzeugend. Es wird die Meinung vertreten, wer gegen die Gesetze unseres Landes verstößt, muß zur<br />

Verantwortung gezogen werden. Warum, so wird die Frage gestellt, gehen wir nicht über die Medien in<br />

die Offensive <strong>und</strong> Entlarven die Machenschaften des Gegners in unserer Stadt <strong>und</strong> informieren die<br />

Bevölkerung über die reale Lage <strong>und</strong> rufen sie zur Mitarbeit auf.?<br />

Unverständnis wird auch darüber geäußert, warum man sich mit den Menschen die montags erscheinen<br />

nicht in den Betrieben <strong>und</strong> Arbeitskollektiven auseinandersetzt <strong>und</strong> versucht im Gespräch die Ursachen<br />

für ihr Verhalten zu klären.<br />

227 Stasi-Information<br />

Interne Information des MfS vom 02.10.1989 an Mielke, Carlsohn, Mittig, Kienberg, Irmler <strong>und</strong> an den Ber.<br />

1/AG 6 über ein Gespräch am 28.09.1989 zwischen Löffler <strong>und</strong> Bischof Hempel, in dem es um das<br />

Friedensgebet am 25.09.1989 ging (BStU ZAIG 5375).<br />

Hinweis [/] auf Gespräche mit kirchenleitenden Personen<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage der Information des MfS Nr. 428/89 vom 26. September 1989 über die<br />

öffentlichkeitswirksame provokatorisch-demonstrative Aktion im Anschluß an das Montagsgebet in der<br />

Nikolaikirche in Leipzig am 25. September 1989669 wurde durch den Staatssekretär für Kirchenfragen,<br />

Genosse Löffler, mit Bischof Hempel/Dresden am 28. September 1989 ein Gespräch geführt. Bischof<br />

Hempel wurde mitgeteilt, daß sich die montäglichen Friedensgebete unwiderlegbar zum ständigen<br />

Ausgangspunkt für fortgesetzte <strong>und</strong> sich ausweitende Provokationen gegen den sozialistischen Staat<br />

entwickelt haben <strong>und</strong> eine bewiesene eklatante Verletzung des Artikels 39 der Verfassung der DDR sowie<br />

anderer Gesetze <strong>und</strong> Rechtsvorschriften durch Personen, die im Namen der Kirche zu handeln vorgeben,<br />

darstellen. Er wurde nachdrücklich aufgefordert, die Organisatoren <strong>und</strong> Gestalter der Veranstaltungen in<br />

der Nikolaikirche, die Pfarrer Führer <strong>und</strong> Wonneberger, zu disziplinieren <strong>und</strong> die Friedensgebete in der<br />

jetzigen Form einzustellen.<br />

670<br />

Bischof Hempel erwiderte, er habe „von seinen Leuten“ eine andere Darstellung des Verlaufs des<br />

Montagsgebetes erhalten, er werde aber in Absprache mit dem Landeskirchenrat notwendige Schritte<br />

überdenken <strong>und</strong> auf die Leipziger Pfarrer Einfluß nehmen. Er sei überzeugt, Führer <strong>und</strong> Wonneberger<br />

hätten keine staatsfeindlichen Absichten; sie hätten ihm in die Hand versprochen, den Boden der<br />

Verfassung nicht zu verlassen.<br />

Über die ihm vorgehaltene Ausdehnung der Friedensgebete auf andere Kirchen zeigte er sich bestürzt <strong>und</strong><br />

versprach, auch in diesem Falle Einfluß zu nehmen 671.<br />

669 abgedruckt, in: Mitter/Wolle, 174-176. In diesem ZAIG wurde der „Vorschlag“ zu diesem Gespräch unterbreitet<br />

(BStU ZAIG 3748, 6).<br />

670 In der genannten ZAIG war „vorgeschlagen“ worden, Bischof Hempel „nachdrücklichst aufzufordern“ den<br />

„Friedensgebeten einen ausschließlich religiösen Charakter zu verleihen“. Ansonsten entspricht dieser Absatz<br />

dem Vorschlag der ZAIG vom 26.09.1989.<br />

671 s. unten, Anm. 688<br />

330


Bischof Hempel äußerte weiter ziemlich erregt, die Demonstrationen in Leipzig seien nur „Symptome für<br />

tiefer liegende Ursachen <strong>und</strong> sind so nur Randerscheinungen“. Er nannte seine bekannten Auffassungen in<br />

bezug auf notwendige Veränderungen der Informationspolitik, die Aufnahme eines offenen Dialogs Staat-<br />

Kirche, die Entwicklung der Demokratie usw., damit „die Ursachen für die Krise, die zum Abwandern<br />

vieler Menschen <strong>und</strong> zum weitverbreiteten Entstehen von Resignation geführt“ hätten, beseitigt werden.<br />

Er betone, daß seine Meinung der Regierung übermittelt werden solle, <strong>und</strong> führte weiter aus, er habe<br />

dieses Land geliebt <strong>und</strong> es für die menschlichste Lösung einer Gesellschaftsordnung gehalten; nunmehr<br />

werde er aber müde, weil er keine Bereitschaft spüre, „offen <strong>und</strong> aufrichtig auf die Nöte unzähliger<br />

Menschen in den Städten <strong>und</strong> Gemeinden einzugehen.“<br />

Entsprechend der zentral abgestimmten Festlegungen erfolgte am 28. September 1989 durch Vertreter<br />

staatlicher Organe (Leiter der Abteilung Ia der Bezirksstaatsanwaltschaft Leipzig, Leiter des Sektors<br />

Kirchenfragen des Rates des Bezirkes Leipzig) ein Gespräch 672 mit Oberlandeskirchenrat<br />

Auerbach/Dresden <strong>und</strong> den Leipziger Pfarrern Führer <strong>und</strong> Wonneberger, in dem die staatliche<br />

Erwartungshaltung hinsichtlich der Verantwortlichkeit kirchlicher Amtsträger für die wiederholten<br />

Rechtsverletzungen im Anschluß an die sogenannten Montagsgebete dargelegt <strong>und</strong> zum Ausdruck<br />

gebracht wurde, daß dieses Gespräch als eine ernstzunehmende Ermahnung <strong>und</strong> Belehrung gewertet<br />

werden sollte. Eine Diskussion zu diesen Problemen wurde nicht zugelassen.<br />

228 Friedensgebetstexte<br />

Manuskript der AG Umweltschutz, die zusammen mit Pfr. K. Kaden das Friedensgebet am 02.10.1989<br />

gestaltete. Schreibmaschinentext auf Computerpapier mit handschriftlichen Überarbeitungen (ABL H 1).<br />

[Pf. Führer: Begrüßung ]<br />

Anke: Musikstück<br />

[Sup. Magirius: Einleitung]<br />

Lied Nr. 11 - Suchet zuerst<br />

Gisela: Als unsere Arbeitsgruppe am 04.09.89 zum offenen grünen Abend unter dem Thema:<br />

„Verantwortung <strong>und</strong> Gesellschaft“ mit Pfarrer Schorlemmer aus Wittenberg eingeladen hatte 673 , merkte<br />

man den ca. 600 Zuhörern beim Vortrag <strong>und</strong> in der anschließenden Diskussion an, daß hier<br />

überlebensnotwendige Dinge angesprochen wurden, daß das Thema unter die Haut ging, daß unsere Nöte<br />

artikuliert wurden. [/] Wovon war die Rede? [/] In Vorbereitung des Kirchentages 1988 in Halle hatte eine<br />

Arbeitsgruppe 20 Thesen zum Thema: „Umkehr führt weiter - wo gesellschaftliche Erneuerung nötig<br />

wird“ erarbeitet 674 . Sie hatte sie unter ein Wort von Martin Luther aus dem Jahre 1520 gestellt: „Die Zeit<br />

des Schweigens ist vergangen <strong>und</strong> die Zeit zu reden ist gekommen“. Um diese Thesen ging es auch am<br />

04.09. in der Reformierten Kirche. [/] Da wir meinen, daß sie wert sind, von breiteren<br />

Bevölkerungskreisen durchdacht <strong>und</strong> diskutiert zu werden, <strong>und</strong> weil wir heute zwei dieser Thesen in den<br />

Mittelpunkt unserer Andacht stellen. Wir sollten uns aber davor hüten, zu meinen, Umkehr,<br />

gesellschaftliche Erneuerung gelte nur für unser Land. Täglich erreichen uns Schreckensmeldungen über<br />

Katastrophen, Unfälle, Nöte als warnende Vorboten einer Lebensbedrohung globalen Ausmaßes. Auch<br />

wir tragen zu den Ursachen bei, wenn wir weiterhin unsere Lebensqualität nur an unserem materiellen<br />

Wohlstand messen. Wo lebensbedrohende <strong>und</strong> irreversible Prozesse in Gang gesetzt werden, ist ein<br />

rechtzeitiges <strong>und</strong> entschlossenes Umsteuern nötig. Und dazu gehört für uns Christen zuallererst auch, daß<br />

wir das Maß unserer Abkehr von Gott neu bedenken. Deshalb suchen, hoffen <strong>und</strong> fordern wir -<br />

672 Auch dieses „Gespräch“, d.h. die Androhung, daß der Staat auch Pfarrer inhaftieren würde, war ebenfalls im<br />

ZAIG, Nr. 428/89 „vorgeschlagen“ worden. Am 22.09.1989 war Pf. Führer schon zum Kreisstaatsanwalt bestellt<br />

worden!<br />

673 Fr. Schorlemmers Rede in der Reformierten Kirche (Laßt uns die Wahl) ist abgedruckt in: Schorlemmer (1993),<br />

92-107<br />

674 Die Thesen wurden von einer Gruppe unter Leitung von Fr. Schorlemmer erarbeitet. Abgedruckt in: Rein (1990),<br />

93-98 <strong>und</strong> J. Israel (Hg.), 81-85<br />

331


gemeinsam mit vielen nachdenklichen Menschen in aller Welt - ein Handeln, das der Größe der Probleme<br />

entspricht. Dazu gehört Schweigen aufzugeben <strong>und</strong> Verschweigen nicht weiter zuzulassen. Wir werden<br />

uns auf diesem Weg fragen müssen, ob wir auch zu einer persönlichen Umkehr, zum Tragen von<br />

möglichen Schwierigkeiten <strong>und</strong> zum Verzicht bereit sind.<br />

Eine These der Wittenberger Vorbereitungsgruppe lautet:<br />

Weil sich in der Gesellschaft Gleichgültigkeit, Resignation <strong>und</strong> Stagnation ausbreiten <strong>und</strong> sich die<br />

Zahl der Menschen erhöht, die sich deshalb zurückziehen oder hier nicht mehr leben wollen, halten wir es<br />

für nötig, darüber offen zu reden <strong>und</strong> die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so umzugestalten, daß<br />

mehr Bürger gesellschaftliche Mitarbeit als sinnvoll erleben.<br />

Traudel: Zu dieser These haben wir eine Geschichte von Peter Bleeser gef<strong>und</strong>en, die wir hier in freier<br />

Form nacherzählen möchten. Sie heißt- „Ein guter Mensch am Höllentor“.<br />

Die Hölle war total überfüllt, <strong>und</strong> noch immer stand eine lange Schlange am Eingang. Schließlich<br />

mußte sich der Teufel selbst herausbegeben, um die Bewerber fortzuschicken. „Bei mir ist alles so<br />

überfüllt, daß nur noch ein einziger Platz frei ist“, sagte er. [/] „Den muß der ärgste Sünder bekommen.<br />

Sind hier ein paar Gewaltverbrecher da?“ Und nun forschte er unter den Anstehenden <strong>und</strong> hörte sich deren<br />

Verfehlungen an. Was auch immer sie ihm erzählten, nichts schien ihm schrecklich genug, als daß er dafür<br />

den letzten Platz in der Hölle hergeben mochte. Wieder <strong>und</strong> wieder blickte er die Schlange entlang.<br />

Schließlich sah er einen, den er noch nicht befragt hatte. „Was ist mit Dir - Warum stehst Du so allein?<br />

Was hast Du getan?“ [/] „Nichts“ sagte der Mann, den er so angesprochen hatte. Ich bin ein guter Mensch<br />

<strong>und</strong> nur aus Versehen hier. Ich habe geglaubt, die Leute stünden hier nach Bananen an. „Aber Du mußt<br />

doch etwas getan haben“, sagte der Teufel. „Jeder Mensch trägt doch Verantwortung, tut etwas“. [/] „Ich<br />

sah wohl manches, aber ich blieb ruhig <strong>und</strong> hielt mich fern. Ich bemerkte, wie Menschen gegenüber ihren<br />

Mitmenschen ihre Macht ausspielten, aber ich sagte nichts dazu. Wurden Festlegungen im Betrieb<br />

getroffen, Resolutionen verfaßt oder las ich Erklärungen in der Zeitung, fragte ich niemals warum <strong>und</strong><br />

wieso. Ich sah öfters Aufgebote von Polizei <strong>und</strong> Sicherheitskräften, belästigte aber niemand mit<br />

unbequemen Fragen. Ich habe auch nie die wertvolle Zeit von Abgeordneten für Eingabegespräche in<br />

Anspruch genommen. [/] Wenn ich die Fabrikschornsteine qualmen sah, <strong>und</strong> die Flüsse seltsam rochen,<br />

fügte ich mich der Notwendigkeit der Produktionssteigerung. Schließlich wollte man ja leben. Ich war<br />

schlicht <strong>und</strong> einfach ein guter Bürger, mischte mich nicht ein. [/] „Bist Du Dir völlig sicher, daß Du das<br />

alles bemerktest, aber nichts dagegen getan hast? Du mußt Dich doch über manche Umstände <strong>und</strong><br />

Tatsachen empört <strong>und</strong> Deinem Herzen Luft gemacht haben?“ [/] „Na ja“, erwiderte der Mensch - „das<br />

schon, aber doch nur im Kreis meiner Familie oder höchstens mal bei <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n - da wußte ich genau, wie<br />

<strong>und</strong> was anders sein müßte. Bei Versammlungen habe ich aber stets geschwiegen <strong>und</strong> bin mit meiner<br />

Meinung auch nicht in die Öffentlichkeit getreten. [/] „Dann komm herein, mein Sohn, der freie Platz<br />

gehört Dir!“ [/] Und als er den „guten Menschen“ einließ, drückte sich der Teufel zur Seite, um mit ihm<br />

nicht in Berührung zu kommen.<br />

[Pf. Kaden: Predigt 675]<br />

Lied Nr. 8 - Herr, deine Liebe...<br />

Mike: Im Zusammenhang mit den gerade im Raum Halle - Leipzig verheerenden Folgen unseres<br />

gewalttätigen Umgangs mit der Natur wird in einer weiteren These unser radikales Umdenken bezüglich<br />

unserer persönlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Zielsetzung gefordert. [/] Und hier geht es ans Eingemachte,<br />

da reicht es nicht, Forderungen nach Schließung vom Braunkohleveredlungswerk Espenhain oder<br />

Bauverzicht eines Kernkraftwerkes im Raum Leipzig zu stellen, wenn wir dagegen nicht bereit sind, auch<br />

fühlbar die Folgen eines solchen Umdenkens zu übernehmen. Wer von uns würde denn wirklich<br />

beitragen, ges<strong>und</strong>e Wälder etwa durch Verzicht auf private Kraftfahrzeugbenutzung oder Einfrierung<br />

seines Wohlstandes auf dem gewiß nicht geringen Niveau von heute zu ermöglichen. Beides - so<br />

Fachleute aus Ost <strong>und</strong> West - ist nebeneinander nicht mehr zu haben, wir müssen uns entscheiden: Weiter<br />

auf Kosten der Zukunft unserer Kinder <strong>und</strong> der erschreckenden Verarmung von Millionen Menschen auf<br />

der Südseite unserer Welt der programmierten Zerstörung entgegenzutreiben oder die heiligen Kühe des<br />

675 Abgedruckt in: Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter, 34-36, siehe auch Nacherzählung von W. Heiduczek in: ders.<br />

(1990), 91ff<br />

332


eitlen Fortschritts <strong>und</strong> der materiellen Besessenheit endlich zu schlachten. Wir müssen uns entscheiden<br />

zwischen einem solidarischen Leben, das allen Menschen gleiches Lebensrecht ermöglichen will, <strong>und</strong><br />

einer habsüchtigen Wohlstandsorientierung, die rücksichtslos nur die eigenen Interessen verfolgt.<br />

Thomas: Bei der Suche nach neuen Wegen <strong>und</strong> Werten stoßen wir schnell an Grenzen, Grenzen unserer<br />

Einflußnahme, unserer Kenntnisse, unserer eigenen Bereitschaft - wir wissen, wie schwer es ist, Menschen<br />

für diesen unbequemen Weg zu motivieren. [/] Aber Grenzen bedeuten nicht das Ende. Nur mit einer<br />

offenen Diskussion in allen Bereichen, die jeder in der Familie, aber auch in der Betriebsversammlung,<br />

am Stammtisch, aber auch bei den Behörden führen muß, sind Grenzen zu überwinden. [/] Alle sind<br />

gefordert, Rückgrad zu zeigen <strong>und</strong> Veränderungen anzuregen. [/] Doch Gespräche <strong>und</strong> guter Wille sind<br />

nur der Anfang. Wir brauchen die Mitarbeit von kompetenten Fachleuten aus der Wirtschaft <strong>und</strong> den<br />

Instituten, aus Kultur <strong>und</strong> auch aus der Politik, die den Mut haben, über ihren Schatten der Trägheit <strong>und</strong><br />

der Gleichgültigkeit zu springen <strong>und</strong> im großen Rahmen über unsere Probleme sprechen können. Wer hat<br />

schon den Mut, in einer Versammlung seine Meinung zu vertreten.<br />

Mike: Was sollten wir tun? Wo ist der Ausweg, <strong>und</strong> was brauchen wir dazu?<br />

Anke: Wir brauchen Courage, um uns zu neuen Ideen zu bekennen, öffentlich unsere Meinung zu sagen<br />

<strong>und</strong> dabei Unbequemlichkeiten in Kauf zu nehmen. Die bisherige Zielsetzung unseres Lebens muß<br />

überprüft werden <strong>und</strong> ein Wertewandel stattfinden. Ist denn die fortwährende Anhäufung von Besitz alles,<br />

was der Mensch braucht? [/] Wenn seine Wünsche in Erfüllung gegangen sind, welche Werte sollen dann<br />

gelten? Was soll die Leere ausfüllen? Der alleinige Sinn des Lebens kann nicht nur im Genuß <strong>und</strong> Erwerb<br />

materieller Güter liegen, dem Rückzug in private Nischen. Handlungen wie Solidarität, Barmherzigkeit,<br />

Zivilcourage, Mitarbeit an der Umgestaltung der Gesellschaft sollten die neuen Werte mitbestimmen. Das<br />

sind auch für mich ganz wichtige Überlegungen.<br />

Mike: Nicht nur für dich allein ist es wichtig. [/] Sind wir nicht viele <strong>und</strong> zeigt uns nicht der Besuch dieser<br />

Andachten, daß viele Menschen Probleme haben? [/] Fehlen nicht die Möglichkeiten, miteinander ins<br />

Gespräch zu kommen?<br />

Anke: Es reicht noch lange nicht aus, hier unterm Dach der Kirche mutig zu sein oder mit 5000 Leuten<br />

loszumarschieren, morgen auf Arbeit, im Kollektiv, in der Familie zeigt sich, wie tief neues Denken in uns<br />

aufgebrochen ist.<br />

Mike: Fakt ist, wir unterstützen mit unserer Mutlosigkeit <strong>und</strong> unserer Gleichgültigkeit alles. Viele hier<br />

haben doch die Ziele, in diesem Land etwas zu ändern, aufgegeben. Wir müssen die Zögernden ermutigen.<br />

Eine öffentliche, kontroverse Diskussion in allen Medien, auch z.B. der 20 Thesen, ist unabdingbar. Wer<br />

sich gegen Öffnungen nach innen <strong>und</strong> außen abschottet, wird politisch nicht überleben können.<br />

Anke: Gibt es nicht schon kleine Schritte, die zu lebensverträglichen Werten <strong>und</strong> Verhaltensweisen führen,<br />

die ermutigen, motivieren könnten?<br />

Mike: Ich glaub schon, doch das soll uns Traudel selbst erzählen. Maschine<br />

Traudel: [zu dieser Rede gab es keine Vorlage, folgender Text handschriftlich auf der Rückseite des<br />

Typoskriptes]<br />

Wir möchten jetzt mit Ihnen, mit Euch beten. [/] Im Gebet bringen wir uns mit unserem Wissen<br />

<strong>und</strong> unseren Grenzen vor Gott. [/] Im Gebet rechnen wir mit der Änderungsfähigkeit von uns <strong>und</strong> anderen.<br />

[/] Im Gebet richten wir uns aus auf Gott hin in der Hoffnung auf seine lebensstärkende Kraft. [/] Nach<br />

jeder Fürbitte möchten wir uns anschließen mit dem Kyrie-Ruf, dem Sie auf den Liedzettel Nr. 17 finden.<br />

[Fürbitten 676]<br />

[Schlußlied]<br />

[Verabschiedung]<br />

229 Kirchenvorstandsprotokoll<br />

Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 54. Sitzung des KV St. Nikolai vom 02.10.1989. Das<br />

Protokoll wurde von W. Hofmann geschrieben <strong>und</strong> u.a. von Pf. Führer unterzeichnet (ABL H 54).<br />

676 Abgedruckt in: J. Israel (Hg.), 184<br />

333


[...] Als Gäste von der Bethaniengemeinde Pfarrer Jakob, Herr Götting, Herr Kamilli [...]<br />

Tagesordnung: 1. Situation des Friedensgebetes [/] 2. Arbeitsgruppen: Besucherdienst/Helferschaft [/] 3.<br />

Vorlagen des Finanzausschusses [/] 4. Aufstellung der romanischen Kultfigur [/] 5. Brief Staatssekretär<br />

Löffler [/] 6. Lesung Günter Grass [/] 7. Rechenschaftsbericht des KV [/] 8. Etwaige weitere Gegenstände<br />

[/] 9. Verabschiedung Frau Heumann<br />

Der Vorsitzende liest die Losung des Tages <strong>und</strong> eröffnet die Sitzung.<br />

Zu 1.) Bericht über das Gespräch mit OBM Dr. Seidel, das am 7.9.89, 17.30 Uhr im Neuen Rathaus<br />

stattfand.<br />

Die Gäste vom KV der Bethanienkirche fragen den KV St. Nikolai-St. Johannis an, wie sie in der<br />

derzeitigen Situation helfen können. Eine längere Aussprache mit Informationen schließt sich an.<br />

Vorschlag des KV Nikolai, Weitergabe von Informationen über das Friedensgebet an Pfarrer <strong>und</strong><br />

kirchliche Mitarbeiter <strong>und</strong> in geeigneter Weise an die Gemeinden in den Abkündigungen. Es wird von<br />

der Möglichkeit gesprochen, daß der KV der Bethanienkirche ein Friedensgebet mitgestaltet.<br />

Der KV bittet angesichts der bedrohlichen Situation den Kirchenvorstand St. Thomas-St. Matthäi, die<br />

Thomaskirche zum Montagsgebet zeitlich versetzt um 17.15 Uhr zu öffnen, um damit den Christen<br />

Leipzigs, die nicht in die Nikolaikirche kommen können, die Möglichkeit zur Teilnahme zu geben.<br />

- Die Teilnahme an einem Sonntagsgespräch (8. Oktober) in der Bekenntniskirche Berlin-Treptow?<br />

(Einladung durch Pf. Hilse) durch ein Mitglied des Kirchenvorstandes wird abgelehnt.<br />

[...es folgt der Brief an den Kirchenvorstand von St. Thomas <strong>und</strong> St. Matthäi]<br />

Zu 2.) wird vertagt [...]<br />

Zu 5.) Mitte - Ende Oktober soll ein Erinnerungsschreiben an Staatssekretär Löffler hinsichtlich des<br />

erbetenen Gespräches vorbereitet <strong>und</strong> abgeschickt werden. (Magirius, Ramson, Führer)<br />

230 SED-Information<br />

Chiffriertes Fernschreiben des 2. Sekretärs der SED-Bezirksleitung an E. Honecker über „eine erneute<br />

Provokation feindlich negativer Kräfte im Anschluß an das Montagsgebet in der Nikolaikirche Leipzig am<br />

2.10.1989“ vom 03.10.1989 unterzeichnet von H. Hackenberg (StAL SED A 6339).<br />

Werter Genosse Erich Honecker!<br />

Bereits eine Woche vor dem 2.10.89 hatte das Sekretariat der Bezirksleitung erneut zur Lage Stellung<br />

genommen <strong>und</strong> vielfältige Maßnahmen zur offensiven Bekämpfung <strong>und</strong> Zurückdrängung<br />

antisozialistischer Aktivitäten in der Stadt Leipzig <strong>und</strong> zur Mobilisierung der Mitglieder <strong>und</strong> Kandidaten<br />

der Bezirksparteiorganisation, aller in der Nationalen Front vereinten gesellschaftlichen Kräfte<br />

(einschließlich der befre<strong>und</strong>eten Parteien) sowie der Staats- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane beschlossen. Am 25.9.<br />

wurden alle Parteisekretäre der Stadt Leipzig über die Lage in der Stadt informiert <strong>und</strong> veranlaßt, eigene<br />

Maßnahmen in ihren Parteikollektiven festzulegen. Die politische Arbeit wurde lagebezogen in den<br />

Einheiten der Kampfgruppen der Arbeiterklasse mit jedem einzelnen Kämpfer verstärkt. Zahlreiche<br />

Stellungnahmen, persönliche Bekenntnisse von Kämpfern, Unterführern <strong>und</strong> Kommandeuren, in diesen<br />

Tagen die verstärkten Angriffe des Gegners im Sinne des Gelöbnisses abzuwehren <strong>und</strong> eine hohe<br />

Bereitschaft zu entwickeln, die Heimat mit der Waffe gegen innere <strong>und</strong> äußere <strong>Feinde</strong> zu verteidigen,<br />

waren Ausdruck dafür. Täglich wurden in der Leipziger Volkszeitung Standpunkte <strong>und</strong> Stellungnahmen<br />

von Werktätigen zu den Machenschaften des <strong>Feinde</strong>s sowie zur Zurückweisung der konterrevolutionären<br />

Aktivitäten in der Stadt Leipzig veröffentlicht. Durch die staatlichen Organe wurden die Gespräche mit<br />

den Vertretern der Kirche bis zur letzten St<strong>und</strong>e mit allem Nachdruck weitergeführt.<br />

In meinen Gesprächen mit den Vorsitzenden der befre<strong>und</strong>eten Parteien bek<strong>und</strong>eten diese die Bereitschaft,<br />

die gesellschaftliche Front mit ihren Mitgliedern zu stärken, was besonders durch Mitglieder der CDU,<br />

durch die aktive Teilnahme an den Veranstaltungen der Kirche <strong>und</strong> durch ihr Auftreten dazu beizutragen,<br />

negative Elemente zurückzudrängen, auch am 2.10. in der Nikolaikirche zum Ausdruck kam.<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage des Beschlusses des Sekretariats der Bezirksleitung vom 27.9.89 677 schätzten die<br />

677 s. Dok. 222<br />

334


Sekretariate der Stadtleitung, Stadtbezirks- <strong>und</strong> Kreisleitungen die Situation in ihren<br />

Verantwortungsbereichen ein <strong>und</strong> legten eigenständige Maßnahmen zur Führung der politischen<br />

Massenarbeit sowie zur Gewährleistung einer hohen Wachsamkeit fest. Ausgehend von unserem Beschluß<br />

wurden mir die abgestimmten Einsatzkonzeptionen der Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane vorgelegt,<br />

einschließlich des Einsatzes von Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Gleichzeitig wurde von mir der<br />

Einsatz gesellschaftlicher Kräfte, einschließlich von Lehrern <strong>und</strong> Schülern der Bezirksparteischule,<br />

veranlaßt.<br />

Am 2.10. fand in der Zeit bis 18.00 Uhr in der Nikolaikirche das sogenannte Montagsgebet statt, an dem<br />

ca. 2000 Personen, darunter gesellschaftliche Kräfte, teilnahmen. Bereits gegen 16.20 Uhr wurde die<br />

Kirche wegen Überfüllung geschlossen. Das führte dazu, daß ein Teil der gesellschaftlichen Kräfte keinen<br />

Zugang mehr zum sogenannten Montagsgebet fand. Durch Aushang in der Nikolaikirche wurde zu diesem<br />

Zeitpunkt auf das Stattfinden einer Parallelveranstaltung in der Reformierten Kirche verwiesen. Über<br />

diese Parallelveranstaltung wurde in den zuvor stattgef<strong>und</strong>enen Gesprächen der staatlichen Organe mit<br />

den Kirchenvertretern nicht informiert.<br />

Vor der Nikolaikirche (Kirchvorplatz) versammelten sich bis gegen 17.00 Uhr ca. 2000 Personen678 . In<br />

den Zugangsstraßen zum Kirchvorplatz hielten sich weitere ca. 1000 Personen auf. Durch Pfarrer Führer<br />

erfolgte die Eröffnung des Montagsgebets in der Nikolaikirche, das Gebet selbst durch den Jugendpfarrer<br />

Kaden. Es wurde ein Brief der evangelischen Studentengemeinde der Landeskirche Sachsen verlesen679 ,<br />

der gegen die Inhaftierung von Personen <strong>und</strong> die verhängten Sanktionen protestierte sowie sich gegen den<br />

Einsatz von Sicherheitskräften richtete. Des weiteren wurde auf ein geplantes „Fasten“ für die politischen<br />

Häftlinge vom 2.-8.10.89 in der Versöhnungskirche Leipzig-Gohlis orientiert.<br />

Pfarrer Kaden verwies anschließend darauf, daß „Ausreise keine Alternative“ <strong>und</strong> „Demonstrationen“<br />

kein Mittel in der gegenwärtigen Zeit sind <strong>und</strong> daß man sich hier in den Kampf einreihen soll. Es wurden<br />

schwerwiegende Angriffe gegen die Parteiführung <strong>und</strong> Sicherheitsorgane erhoben. Das sogenannte<br />

Montagsgebet wurde mit Fürbitten für die Inhaftierten vom 11.9. beendet. In der Reformierten Kirche<br />

wurde das Montagsgebet 17.15 Uhr bis ca. 18.00 Uhr durchgeführt. Nach der Eröffnung durch den<br />

Gemeindepfarrer hielt der katholische Pater Bernhard das anschließende Gebet. Es hatte keinen feindlich<br />

negativen Inhalt. Es wurde, wie in der Nikolaikirche, der Brief der Evangelischen Studentengemeinde<br />

verlesen <strong>und</strong> neue Termine für weitere Fürbittgebete in Leipziger Kirchen bekanntgegeben. Es werde<br />

geprüft, die sogenannten Montagsgebete künftig in den drei Leipziger Stadtkirchen (Nikolaikirche,<br />

Thomaskirche <strong>und</strong> Reformierte Kirche) durchzuführen.<br />

Nach der Beendigung des Montagsgebetes in der Nikolaikirche verharrten die Teilnehmer auf dem<br />

Kirchvorplatz mit den dort Angesammelten. Dabei kam es zu Sprechchören wie [/] „Neues Forum<br />

zulassen“ [/] „Wir bleiben hier“ [/] „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ [/] „Jetzt oder nie“ [/] „Gorbi,<br />

Gorbi“ [/] „Freiheit für die Inhaftierten“ [/] Es wurde die Internationale gegrölt.<br />

Cirka 18.25 Uhr setzte sich die Personenansammlung demonstrativ in Richtung Grimmaische Straße,<br />

Karl-Marx-Platz in Bewegung. Sie lief dann über Georgiring in Richtung Hauptbahnhof/Tröndlinring.<br />

Auf Gr<strong>und</strong> der Aggressivität der Teilnehmer <strong>und</strong> der hohen Personenzahl konnten die vorbereiteten<br />

Varianten zur Räumung des Kirchvorplatzes <strong>und</strong> zur Kanalisierung der Bewegungsrichtung nicht<br />

angewandt werden. Durch konzentrierten Einsatz der Kräfte der VP, unterstützt durch die Einheiten der<br />

Kampfgruppen der Arbeiterklasse, wurde gegen 19.15 Uhr die Bewegung, an der sich ca. 6.000 bis 8.000<br />

Personen, vorwiegend Jugendliche, beteiligten, auf dem Tröndlinring, Ecke Nordstraße zeitweilig<br />

gestört 680.<br />

Dabei kam es wiederum zu den bereits angeführten Sprechchören. Durch Gruppen<br />

678 Zu den Vorgängen am 02.10.1989, s. Zwahr (1993), 36-52<br />

679 Gemeint ist die „Erklärung des Landesjugendkonvents der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens“ zu den<br />

Verhaftungen in Leipzig vom 01.10.1989 (ABL H 1). Darin hieß es u.a.: „Wir sind betroffen darüber <strong>und</strong><br />

verurteilen es, daß Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger für die Wahrnehmung ihrer verfassungsmäßig garantierten<br />

Gr<strong>und</strong>rechte strafrechtlich verfolgt werden. Wir sehen in diesem Vorgehen den Versuch der Sicherheitskräfte, die<br />

Teilnahme von Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürgern an friedlichen Versammlungen zu kriminalisieren <strong>und</strong> dadurch zu<br />

verhindern sowie durch Einschüchterung freie Meinungsäußerung zu unterdrücken.“<br />

680 vgl. Bericht Heiduczek zur Demonstration in: ders. (1990), 92-97. Die SED-SL stellte in ihrer Lageeinschätzung<br />

am 03.10.1989 fest, daß die Meinungen sich „verdichten, daß allein mit polizeilichen Mitteln auf Dauer keine<br />

335


Jugendlicher <strong>und</strong> Einzelpersonen wurden die Sperrketten der DVP durchbrochen. Dabei gab es tätliche<br />

Angriffe gegen VP-Angehörige <strong>und</strong> grobe Beschimpfungen. Es erfolgte nur eine zögernde Auflösung der<br />

Personenansammlung am Tröndlinring/Nordstraße.<br />

Von den durchgebrochenen Teilnehmern wurde der Marsch über den Friedrich-Engels-Platz, Dittrichring<br />

mit einem Halt im Bereich der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei <strong>und</strong> der Bezirksverwaltung des<br />

Ministeriums für Staatssicherheit fortgesetzt. Hier kam es zu Sprechchören „Stasi raus“, „Inhaftierte<br />

freilassen“, <strong>und</strong> es wurde erneut die Internationale gegrölt. Eine Person, die dabei besonders aggressiv in<br />

Erscheinung trat, wurde festgenommen. Die Bewegung wurde fortgesetzt <strong>und</strong> gerufen „Dimitroffstraße,<br />

Dimitroffstraße“ (VPKA/UHA).<br />

In Höhe des Thomaskirchhofes kam es gegen 20.20 Uhr wiederum zur Ansammlung von ca. 1.500<br />

Personen mit der Bewegungsrichtung Innenstadt/Markt. Nur durch den Einsatz von Kräften der DVP mit<br />

Sonderausrüstung konnte die Auflösung der Ansammlung durchgesetzt werden. Zur eigenen Sicherheit<br />

der Kräfte der DVP kam es zum Einsatz des Schlagstockes <strong>und</strong> von Diensth<strong>und</strong>eführern mit Diensth<strong>und</strong>en<br />

(mit Korb).<br />

Gegen 21.25 Uhr waren die Handlungen beendet, <strong>und</strong> es wurde zur Nachsicherung übergegangen.<br />

Während der gesamten Marschbewegung kam es zu erheblichen Störungen des Straßenverkehrs <strong>und</strong> zu<br />

dessen teilweiser Blockierung. Durch eine große Zahl Neugieriger wurde die Bewegung dieser Personen<br />

sowie die Handlungen der DVP <strong>und</strong> der Kampfgruppen verfolgt. Die gestrige Provokation hat gezeigt,<br />

daß sich die Kirche selbst als Ausgangspunkt aller feindlichen Handlungen entwickelt. Mit den drei<br />

angeführten großen Leipziger Kirchen ist eine weitere Eskalation <strong>und</strong> Ausuferung dieser negativfeindlichen<br />

Handlungen gegeben. Es müssen Entscheidungen getroffen werden, ob dieser Gottesdienst<br />

weiter durchgeführt wird, der mit einem Montagsgebet nichts mehr zu tun hat. Das wird vor allem auch<br />

dadurch unterstrichen, daß sich diese Zusammenrottungen immer mehr zu einem Sammelbecken<br />

antisozialistischer <strong>und</strong> rowdyhafter Elemente erweisen. Sie sind mit den vorhandenen Kräften ohne<br />

Anwendung polizeilicher Hilfsmittel nicht mehr zu verhindern. Am wirkungsvollsten erwies sich der<br />

Einsatz von Spezialkräften der DVP.<br />

Das Sekretariat wird seine Anstrengungen auch weiterhin darauf richten, die Kommunisten zu<br />

mobilisieren, die politische Massenarbeit offensiv zu entwickeln <strong>und</strong> durch die Gr<strong>und</strong>organisationen den<br />

entscheidenden Kampf zu organisieren. Es gibt bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung keine<br />

Unterstützung dieser Provokationen, aber Sorge über diese Entwicklung, bei den Kommunisten die<br />

Bereitschaft <strong>und</strong> das Verlangen, entschlossener zu handeln <strong>und</strong> gegen die feindlichen Elemente<br />

vorzugehen.<br />

231 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />

Brief von Herrn J. Urban, Vorsitzender des Wohnbezirksausschusses 113, an das Bezirkskirchenamt Leipzig<br />

vom 02.10.1989. Der Brief wurde als offener Brief auch an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig,<br />

an Superintendent Magirius <strong>und</strong> an die Mitglieder des Nikolaikirchenvorstandes Pörner, Pester <strong>und</strong> Hofmann<br />

gesandt (StAL BT/RdB 22377).<br />

Ich sitze am 2.10.1989 an meinem Schreibtisch <strong>und</strong> lese Aufzeichnungen, die ich mir vom Gespräch mit<br />

Herrn Superintendent Magirius <strong>und</strong> 3 Mitgliedern des Kirchvorstandes der Stadtkirche St. Nikolai am<br />

20.7.1989 machte. Es ist nach 18 Uhr <strong>und</strong> die Geräuschkulisse des Nikolaikirchhofes dringt unangenehm<br />

Lösung zu erreichen ist“. Und setzte fort: „Der Einsatz von Angehörigen der Kampfgruppen der Arbeiterklasse<br />

wird befürwortet.“ (StAL SED N 946) Nach diesem Einsatz der Kampfgruppen gegen Demonstranten gab es in<br />

diesen deutliche Proteste. So traten mindestens zwei aus Partei <strong>und</strong> Kampfgruppe aus. In Auswertung der<br />

Parteischulungen am 03. <strong>und</strong> 04.10.1989 mit mehreren Kampfgruppenzügen wurden durch den 2. Sekretär der<br />

SED-SL u.a. folgende Meinungen „nach oben“ gemeldet: „Warum werden die Ziele des neuen Forums nicht<br />

bekanntgegeben oder in der Öffentlichkeit diskutiert?-Der Parteiführung ist die Politik aus den Händen geglitten.<br />

[...]“ (StAL SED A 5126). G. Pilz, der als Kampfgruppenmitglied am 02.10.1989 zum Einsatz kam, berichtete,<br />

daß die Annahme von Waffen verweigert wurde <strong>und</strong> der Einsatz als Provokation gewertet wurde. „Wenn noch<br />

einmal ein Befehl zum Ausrücken kommt, werden wir ihn verweigern.“ (Neues Forum Leipzig (1989),47f.)<br />

336


in die friedliche Atmosphäre sinnvoller Freizeitgestaltung. Ich lese die Worte, daß die Nikolaikirche für<br />

alle offen sei, aber nicht für alles! 681 Zu diesem ersten Treffen von Mitgliedern der<br />

Wohnbezirksausschüsse 682 der Leipziger Innenstadt mit Vertretern der Stadtkirche St. Nikolai wurde das<br />

vertrauensvolle Miteinander von Staat <strong>und</strong> Kirche besonders durch Herrn SuperintendentMagirius<br />

unterstrichen. Vereinbart wurde, daß die Wohnbezirksausschüsse 112 <strong>und</strong> 113 auf ihrer Beratung im<br />

September 1989 Vertreter kirchlicher Kreise begrüßen können <strong>und</strong> für den November 1989 ein weiteres<br />

Gespräch von Herrn Superintendent Magirius vorbereitet wird, zudem die Mitglieder der<br />

Wohnbezirksausschüsse gern auch den Superintendent von Leipzig-West begrüßen würden. Leider<br />

konnten beide Wohnbezirke im September 1989 kein Mitglied kirchlicher Kreise auf ihrer Beratung<br />

begrüßen. Im Gegensatz dazu habe ich am Montag, dem 4.9.1989, das Friedensgebet in der Nikolaikirche<br />

besucht <strong>und</strong> Worte von Herrn Superintendent Magirius gehört, die sich mit unserem Gespräch am<br />

20.7.1989 trafen. Was ich jedoch beim Verlassen der Kirche feststellte, ausländische Journalisten mit<br />

Videokamera <strong>und</strong> H<strong>und</strong>erte Schaulustige, die auf etwas warteten, was im Ergebnis nichts mit Gebet <strong>und</strong><br />

Frieden zu tun hat.<br />

Ich schreibe diesen Brief in gedanklicher Übereinstimmung mit Herrn Juhrich, Herrn Apitzsch <strong>und</strong> Herrn<br />

Prof. Dr. Schneider als den Vertretern der Wohnbezirksausschüsse 112/113, die am 20.7.1989 das<br />

Gespräch mit Herrn Superintendent Magirius <strong>und</strong> seiner Begleitung führten, weil sich inzwischen<br />

bestätigt, daß das Friedensgebet in der Ausstrahlung nicht dem Frieden dient <strong>und</strong> daß die enge<br />

Partnerschaft mit polnischen Kirchenkreisen 683 offenbar Ordnungswidrigkeit <strong>und</strong> dem Miteinander<br />

abträgliche Aktionen auslöst. Dabei beruhigt es nicht, diese Aktionen vor der Kirche zu wissen.<br />

Ausländische Massenmedien, insbesondere die der BRD, nennen die Leipziger Stadtkirche St. Nikolai <strong>und</strong><br />

das montags stattfindende Friedensgebet als Aktionen, die der Masse der Anwohner nicht gefällt, ja die<br />

belästigen.<br />

Mir ist es ein Bedürfnis Hochachtung denen auszusprechen, die mit ehrlicher Arbeit <strong>und</strong> ordentlichem<br />

Auftreten die Kirchen unserer Stadt zum Gebet aufsuchen <strong>und</strong> missionarische Hilfe leisten. Ich kenne<br />

viele dieser religiös geb<strong>und</strong>enen Bürger, die in ehrenamtlicher Arbeit helfen, die Wohnumwelt zu<br />

verschönen <strong>und</strong> mitarbeiten an der Gestaltung unserer Gesellschaft, die 40 Jahre nach einem schrecklichen<br />

Krieg auferstanden ist aus den Trümmern einer Vergangenheit, die keiner vermißt. Bei der Begegnung mit<br />

Herrn Superintendent Magirius <strong>und</strong> seinen 3 Begleitern haben wir sehr ernsthaft herausgearbeitet, daß die<br />

in der Nationalen Front der DDR vereinten gesellschaftlichen Kräfte als Volksbewegung tatkräftige <strong>und</strong><br />

kreative Partner brauchen, die parteilos <strong>und</strong> religiös geb<strong>und</strong>en sein können. Unterstrichen wurde, daß<br />

unsere Jugend Chancen hat, die wir im gleichen Alter nicht erträumt haben <strong>und</strong> die uns raten lassen,<br />

realistisch zu sein.<br />

Die Sommerpause der Friedensgebete in St. Nikolai schaffte Ruhe um unsere Stadtkirche, aber seit dem<br />

4.9.89 wird das Friedensgebet nach meiner Auffassung mißbraucht. Menschen kommen über Stadt- <strong>und</strong><br />

Landesgrenzen angereist zu Ihrer Kirche <strong>und</strong> machen diese zu einem Sammelbecken von Personen, die<br />

das friedliche Zusammenleben, ja das Glück des Friedens gefährden <strong>und</strong> provozieren, ohne dort<br />

zuzupacken, wo es möglich ist <strong>und</strong> allen zum Nutzen wäre.<br />

Trotz dieser Tatsachen, die ich bitte zu durchdenken, bleibt das Interesse an der Fortführung des<br />

Gesprächs insbesondere des für November 1989 vorgesehenen Treffens bestehen. [/] Ich hoffe, daß das<br />

Bürgerinteresse an Ruhe, Ordnung <strong>und</strong> Frieden sie bewegt, sicherlich längst nötige Entscheidungen zu<br />

treffen.<br />

Mit Hochachtung [/ gez.] J. Urban [/] Vors. d. WBA 113 [/] Mitgl. d. WKA 04<br />

681 Auf dem Schild am Bauzaun vor dem Haupteingang der Nikolaikirche stand: „Nikolaikirche / offen für alle“. Die<br />

Wendung „offen für alle, nicht für alles“ stammte von W. Leich (ca. 1982).<br />

682 Die DDR war in Wohnbezirke aufgeteilt, die Wahlbezirken entsprachen. In einem Wohnbezirk lebten in der<br />

Regel 1000 bis 3000 Wahlberechtigte. Die Wohngebietsausschüsse waren aber seine „demokratischen“ Organe.<br />

683 Sup. Magirius verwies in seiner Predigt auf seine Fre<strong>und</strong>schaft mit Masowiecki (s. oben, S.383).<br />

337


232 Polizeibericht<br />

Information des Stellvertreters des Leiters der Kriminalpolizei <strong>und</strong> Leiter des Dezernat 1 der BDVP,<br />

Oberstleutnant Patze, über das Friedensgebet am 02.10.1989 vom gleichen Tag. Die Xerokopie trägt<br />

Bearbeitungsspuren (StAL BT/RdB 22377).<br />

Am heutigen Friedensgebet, welches von 17.00-17.45 Uhr in der Nikolaikirche Leipzig stattfand, nahmen<br />

ca. 2.500 Personen teil684 . Bereits ca. 16.00 Uhr war die Kirche wegen Überfüllung geschlossen<br />

worden685 . Durch Ordner wurden die Teilnehmer auf ein weiteres Gebet hingewiesen, welches gegen<br />

17.00 Uhr in der Ev.-reformierten Kirche stattfinden sollte. Die Eröffnung nahm Pfarrer Führer vor.<br />

Anschließend sprach Jugendpfarrer Kaden die Predigt. In einem Gleichnis sprach er zum Thema „Teufel<br />

<strong>und</strong> Hölle“. In seiner Geschichte hat der Teufel alle Verbrecher der Welt unter sich. Ihm wurde gestattet,<br />

den größten Verbrecher zu verbrennen. Der Teufel entschied sich aber für den „braven Bürger“, der zu<br />

allem „Ja <strong>und</strong> Amen“ sagt <strong>und</strong> keine eigene Meinung hat. Der brave Bürger ist auch schuld an der<br />

derzeitigen Situation. Alle müssen sich schuldig bekennen, so auch er selbst, <strong>und</strong> alle Anwesenden. Man<br />

habe zu lange tatenlos zugeschaut, wohin die Entwicklung geht. Anschließend brachte Kaden massive<br />

Angriffe auf Partei, Staat <strong>und</strong> Regierung vor. Er forderte den Rücktritt des Politbüros <strong>und</strong> der Regierung.<br />

Die Sicherheitsorgane sollten aufgelöst werden. In seiner Wortwahl war K. sehr geschickt <strong>und</strong> verstand es,<br />

laufend Stimmungshöhepunkte zu schaffen686 . Der gesamte Beitrag wurde mit frenetischem Beifall <strong>und</strong><br />

Getöse begleitet. Durch die Predigt wurde die Stimmung unter den Gebetsteilnehmern wesentlich<br />

angeheizt. Abschließend gab K. bekannt, daß seiner Meinung nach die Zeit für eine Demonstration heute<br />

nicht gegeben sei 687.<br />

Im Anschluß daran sprach ein Mitglied der AG „Umweltschutz“ zum Zusammenhang Ökonomie <strong>und</strong><br />

Ökologie. Er forderte die Regierung auf, die Ökonomie zugunsten des Umweltschutzes zu verringern <strong>und</strong><br />

die Bürger zu mehr Sparsamkeit zu erziehen. Zum Schluß des Friedensgebetes wurde ein Schreiben einer<br />

Ev. Studentengemeinde verlesen. Damit erklärten sich die ESG mit den Inhaftierten der letzten<br />

Demonstration solidarisch. Weiterhin wurde die Auflösung der Sicherheitsorgane gefordert.<br />

233 Ereignisbericht<br />

Vermerk Pf. Führers über eine Information, die er am 03.10.1989 von einem Soldaten <strong>und</strong> einem Polizisten<br />

erhielt (Computerausdruck) (ABL H 1).<br />

Sinngemäße Wiedergabe einer Information, die am 3.10.89 vormittags in einer NVA-Kaserne in Leipzig<br />

vom Leiter der Politabteilung für Vertreter der Einheiten gegeben wurde:<br />

Der Westen beabsichtige durch maximale Abwerbung von Arbeitskräften, die Produktion zu stören. [/]<br />

Erich Honecker betrachtet Leipzig als das Zentrum der Konterrevolution. Drei Orte sind speziell zu<br />

nennen: [/] Berlin, Zionskirche, Leipzig, Nikolaikirche <strong>und</strong> Wittenberg. [/] Dazu kommen die<br />

oppositionellen Gruppen: Neues Forum, die Ost-CDU, die SPD-DDR <strong>und</strong> „Demokratie Jetzt“.<br />

Rädelsführer seien Bohley, Henrich (Ehemaliger Staatsanwalt) <strong>und</strong> Michael Arnold<br />

684 Mielke teilte Honecker, Stoph, Dohlus, Hager, Herrmann, Jarowinsky, Kreuz, Mittag, Dickel, Herger,<br />

Sorgenicht, Löffler u.a. mit, daß es ca. 2000 Besucher gewesen seien (ZAIG Nr. 435/89 - BStU ZAIG 3748,<br />

abgedruckt in: Kuhn (1992), 38f.).<br />

685 Das MfS sprach von „ca. 3000 Personen“ „vor <strong>und</strong> in der Umgebung der Nikolaikirche“ (ZAIG, Nr. 435/89 - s.<br />

vorhergehende Anm.).<br />

686 Die Ansprache von Pf. Kaden ist abgedruckt in: Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter, 34-36. In der Ansprache ist<br />

jedoch weder vom Politbüro die Rede noch von einem „Auflösen der Sicherheitsorgane“.<br />

687 vgl. die Beobachtung zur Predigt K. Kadens von W. Heiduczek in: ders. (1990), 91ff. Dort heißt es u.a.: „Alles<br />

stimmte, alles war richtig. Die Kanzlei [besser: Kanzel] wird zum Tribunal. Die Logik seiner Rede drängte zu<br />

dem Satz: Geht auf die Straße, aber geht ohne Gewalt! Kaden jedoch sagte: Darum halte ich Demonstrationen in<br />

der jetzigen Form zur Zeit als Mittel zur Verbesserung des politischen Klimas in unserem Land für wenig<br />

sinnvoll.Pf. Kaden demonstrierte jedoch am 02.10. mit!<br />

338


(Stomatologiestudent). [/] Ziel dieser Gruppierungen sei es: Die Störung des normalen Lebens <strong>und</strong> die<br />

Herbeiführung einer innenpolitischen Krise. [/] Ziel der Friedensgebete am Montag, 25.9.89 sei es<br />

gewesen, die Teilnehmer zu einer Straßenschlacht zu provozieren <strong>und</strong> die Leute von der Teilnahme der<br />

Feierlichkeiten zum 7. Oktober abzuhalten. Es seien 2000 Leute in der Nikolaikirche <strong>und</strong> 1000 vor der<br />

Kirche gewesen. [/] Das eigentliche Friedensgebet finde dabei nicht mehr in der Nikolaikirche, sondern in<br />

der Marienkirche in Leipzig statt. [/] Der 1. Pfarrer Führer habe einen Brief des Bürgermeisters von<br />

Leipzig verlesen „Demokratie in der DDR“ [sic!]. [/] Dann habe Pfarrer Wonneberger gesprochen über<br />

„Menschenrechte <strong>und</strong> Gewalt“. Drei Sätze aus der Rede Wonnebergers: [/] „Wer den Knüppel zieht, muß<br />

den Helm tragen. Wenn die Verfassung den Bürger nicht schützt, muß die Verfassung geändert werden.<br />

Wer die Kalaschnikow zieht, muß aufpassen, daß er keinen Kopfschuß bekommt.“ [/] Wonneberger habe<br />

offen zur Gewalt, zur Einmischung in die staatlichen Angelegenheiten <strong>und</strong> zur Gewalt/Totschlag<br />

gegenüber Sicherheitskräften <strong>und</strong> der- Polizei aufgerufen. [/] Dann habe ein dritter Pfarrer Anweisungen<br />

gegeben, wo die Hauptmarschrichtung der Demonstration hinzugehen habe. [/j (Es sei zu bemerken für<br />

den Teil der staatlichen Kräfte, daß sie auch in Zukunft nicht gewaltsam im Sinne von<br />

Schußwaffengebrauch gegen die Massendemonstrationen vorgehen werden.) [/] In der Nikolaikirche seien<br />

am 25.9. Bibelzitate verfälscht gebraucht worden. Außerdem komme die Frage der Gewalt gar nicht in der<br />

Bibel vor. [/] Aus allem sei die Konsequenz zu ziehen, daß nach dem 7. Oktober harte Maßnahmen zu<br />

treffen seien. (Welche, werde noch nicht gesagt.)<br />

Information von einem normalen Polizisten aus dem Stadtgebiet (Fußlatscher) vom 2./3.10.:<br />

Es gibt Polizisten, denen wurde gesagt, daß in der Nikolaikirche gemalte Steckbriefe hängen, wo<br />

bestimmte Polizisten drauf abgebildet sind, die geschlagen <strong>und</strong> erschlagen werden müßten.<br />

234 Innerkirchliche Mitteilung<br />

Brief vom Vorsitzenden des KV St. Nikolai (Pf. Führer) an den KV St. Thomas (Pf. Ebeling) vom<br />

03.10.1989, in dem um die Öffnung der Thomaskirche zum Friedensgebet am 09.10.1989 gebeten wird.<br />

Vorlage ist Xerokopie aus dem Buch des KV St. Nikolai (ABL H 54).<br />

Liebe Schwestern <strong>und</strong> Brüder!<br />

Unser Kirchenvorstand wendet sich in schwieriger Lage an Sie. Wie Sie wissen, hat sich die Zahl der<br />

Menschen, die montags das Friedensgebet um 17.00 Uhr besuchen wollen, im Monat September ständig<br />

erhöht. Am 25.9. waren wir mit über 2500 Personen in der Kirche bereits über die verantwortbare<br />

Aufnahmemöglichkeit belegt, ohne daß wir alle Menschen damit aufgenommen hätten.<br />

Auch am 2.10. mußte ich die Kirche wieder schließen lassen, als alle Plätze besetzt waren. Durch<br />

Verhandlungen mit der Reformierten Kirche konnte jedoch 17.15 Uhr ein weiteres Friedensgebet,<br />

gehalten von dem Grünauer katholischen Pater Bernhard, angeboten werden. Dieses Angebot wurde<br />

genutzt, so daß in relativ kurzer Zeit auch die dort vorhandenen 600 Plätze besetzt waren <strong>und</strong> auch diese<br />

Kirche geschlossen werden mußte. Unser Kirchenvorstand wendet sich nun mit der ebenso dringenden<br />

wie herzlichen Bitte an Sie, zur Verminderung der Gefahr der brachialen Konfrontation, die Thomaskirche<br />

montags 17.15 Uhr, ebenfalls wie die Reformierte Kirche, für ein Friedensgebet zu öffnen. Wie Sie<br />

wissen, verhalten sich die Teilnehmer der Friedensgebete in der Kirche so, wie es einer Kirche geziemt.<br />

Wir haben in den eineinhalb Jahren der Friedensgebete mit großen Zahlen nicht eine einzige Zerstörung<br />

oder auch nur Beschädigung erleben müssen. Die Zeit drängt, der nächste Montag steht vor der Tür.<br />

Ich bin jederzeit zu Gesprächen <strong>und</strong> Überlegungen bereit. Lassen Sie uns in dieser ernsten Situation keine<br />

Fehlbitte tun.<br />

In der Verb<strong>und</strong>enheit des Glaubens [/] Ihr [gez.] C. Führer [/] Kirchenvorstand/Vorsitzender<br />

[Auf der Abschrift des Briefes im Protokoll-Buch des Kirchenvorstandes von St. Nikolai vermerkte<br />

Pfarrer Führer folgendes:] Antwort mündlich: Am Freitag 6.10.1989, beschloß der KV St. Thomas-<br />

Matthäi einstimmig, unseren Bitten zu entsprechen <strong>und</strong> die Thomaskirche zu öffnen 688.<br />

Das teilte mir<br />

688 In der Zwischenzeit hatte der alljährliche Leipziger Pfarrertag stattgef<strong>und</strong>en. Hauptthema dort waren die FG.<br />

Bischof Hempel wünschte eigentlich eine Absetzung der Gebete wegen der Gefahr, „Blut könnte fließen“. Dabei<br />

339


persönlich, am 7.10.89, Pfarrer Ebeling mit. [gez.] C. Führer<br />

235 SED-Information<br />

Chiffriertes Fernschreiben des 2. Sekretärs der SED-Bezirksleitung an E. Krenz vom 05.10.1989 (Kopie in<br />

FZVSt).<br />

Werter Genosse Egon Krenz!<br />

Entsprechend Deines Auftrages übermittle ich Dir den Plan zur Gewährleistung einer hohen politischen<br />

Aktivität, der staatlichen Sicherheit <strong>und</strong> öffentlichen Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit in Vorbereitung <strong>und</strong><br />

Durchführung des 40. Jahrestages der DDR <strong>und</strong> zur offensiven Bekämpfung <strong>und</strong> Zurückdrängung<br />

antisozialistischer Aktivitäten <strong>und</strong> Gruppierungen im Leipziger Stadtzentrum. Das Sekretariat der<br />

Bezirksleitung hat eine Einschätzung der aktuellen Lage vorgenommen <strong>und</strong> alle erforderlichen<br />

Maßnahmen eingeleitet, um mögliche Provokationen im Keime zu ersticken. Dazu wurden<br />

Einsatzkonzeptionen erarbeitet zur Absicherung der Schwerpunkte in der Leipziger Innenstadt, besonders<br />

im Bereich der Nikolaikirche, der Thomas- <strong>und</strong> Reformierten Kirche. Bei der Beurteilung der Lage geht<br />

das Sekretariat davon aus, daß konterrevolutionäre Kräfte nicht nur im Bereich dieser Kirchen, sondern<br />

auch außerhalb zu Demonstrationshandlungen übergehen. In den Einsatzkonzeptionen wird<br />

berücksichtigt, daß das Stadtzentrum Leipzigs erhöhte Bevölkerungsbewegungen <strong>und</strong> eine Spezifik in der<br />

Straßenführung aufweist. Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage beruhen alle Maßnahmen zur Zerschlagung formierter<br />

negativer Gruppierungen.<br />

Ausgehend von dieser Lageeinschätzung wurde veranlaßt:<br />

1. Auf der Gr<strong>und</strong>lage des Beschlusses des Sekretariats der Bezirksleitung vom 27.9.1989 689 ist die<br />

offensive politische Massenarbeit [...<br />

2. Sicherung der Betriebe, 3. Sicherung der „Objekte der Partei, der staatlichen Organe“...]<br />

4. Die Einsatzleitungen 690 <strong>und</strong> Koordinierungsgruppen haben entsprechend der Lage ihre Verantwortung<br />

wahrzunehmen. Die 1. Sekretäre als Vorsitzende der Einsatzleitungen bzw. Koordinierungsgruppen<br />

veranlassen durchgängig das Diensthabenden-System für die Einheiten der Kampfgruppen vom 6.10.<br />

bis 10.10.1989.<br />

5. Mit dem Ziel der vorbeugenden Verhinderung negativ-feindlicher Handlungen von Kräften des<br />

politischen Untergr<strong>und</strong>es im Bereich der Leipziger Innenstadt (Schwerpunkt Nikolaikirche,<br />

Thomaskirche <strong>und</strong> Reformierte Kirche) sind Mitglieder der Partei in Größenordnungen zum Einsatz zu<br />

bringen, die das Auftreten konterrevolutionärer <strong>und</strong> rowdyhafter Elemente ausschließen. Dazu sind am<br />

9.10.1989 - 15.00 Uhr - aus dem Stadtparteiaktiv, dem sozialistischen Jugendverband, der<br />

Gewerkschaft 5.000 Partei-, FDJ- <strong>und</strong> Gewerkschaftsmitglieder auf dem Vorplatz der Nikolaikirche zu<br />

formieren. Bei diesem Einsatz ist zu sichern, daß mit Öffnung der Nikolaikirche zum „Gebet“ sofort<br />

2.000 Parteiaktivisten im Innenraum Platz nehmen <strong>und</strong> der Zugang negativer Kräfte weitgehend<br />

wurde an den 17. Juni 1953 erinnert. Die Leipziger Pfarrer sprachen sich für eine Ausweitung der FG aus. Damit<br />

war die Thomaskirche angefragt. Unter Protest verschiedener Pfarrer nannte Pf. Ebeling 3 Bedingungen für eine<br />

Öffnung der Thomaskirche: es müssen alle Kirchen geöffnet werden, Bischof Hempel solle anwesend sein, <strong>und</strong><br />

das Gebet solle ein Abendmahlsgottesdienst sein (G. Richter, in: Die Kirche, vom 17.3.1990, S. 1; Immer loyal,<br />

in: Spiegel, vom 12.03.1990,22f.). In einer Erklärung des damaligen DSU-Vorsitzenden H.-W. Ebeling vom<br />

8.3.1990 wird diese Darstellung bestritten. Es heißt dort u.a.: „Es bestand in Leipzig eine Absprache zwischen<br />

den einzelnen Kirchen, daß die seit 1983 durchgeführten Friedensgebete nur in der Nikolaikirche stattfinden<br />

sollen. Durch die punktuelle Konzentration auf diese Kirche sollte ein Zeichen gesetzt werden. [...] Am 5.<br />

Oktober war eine Zusammenkunft des Landesbischofs mit allen Pfarrem. Bereits vor Beginn der Konferenz<br />

informierte ich den Landesbischof, daß ich bei der Konferenz den Antrag stellen werde, alle Stadtkirchen in<br />

Leipzig am 9. Oktober für das Friedensgebet zu öffnen. [...] In der Thomaskirche errichteten wir auch eine<br />

Lazarettstation mit Pflegern, Medikamenten <strong>und</strong> Tragen. Leider war die Thomaskirche die einzige Kirche, die<br />

insoweit vorgesorgt hatte. [...]“<br />

689 vgl. Dok. 222<br />

690 s. Anhang S. 357 ff.<br />

340


eingeschränkt wird. Die Mitglieder der Partei <strong>und</strong> FDJ, die nicht im Kircheninnenraum Platz finden,<br />

übernehmen den Auftrag, die Formierung negativer Kräfte auf dem Kirchvorplatz zu verhindern. Es ist<br />

eine Reserve von 500 Genossen zu schaffen, die bei beabsichtigten Veranstaltungen in der Thomas-<br />

<strong>und</strong> Reformierten Kirche sofort zum Einsatz kommen kann. Die Formierung der Kräfte erfolgt auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage eines detaillierten Planes ab 9.10., 5.00 Uhr. Durch das Sekretariat der Stadtleitung werden<br />

Genossen namentlich ausgewählt 691 <strong>und</strong> auf einen möglichen Dialog während der Veranstaltungen in<br />

den Kirchen gezielt vorbereitet <strong>und</strong> für ihr Auftreten befähigt. Dazu ist das Zusammenwirken mit der<br />

Kreisleitung der Karl-Marx-Universität zu organisieren, um wissenschaftlich ausgebildete<br />

Persönlichkeiten in die Dialogführung mit einzubeziehen. Die Formierung des Stadtparteiaktivs erfolgt<br />

unter Verantwortung des 1. Sekretärs der Stadtleitung Leipzig im Zusammenwirken mit den 1.<br />

Sekretären der Stadtbezirksleitungen, unter Einbeziehung der Bezirksparteischule, der Karl-Marx-<br />

Universität, der anderen Hoch-<strong>und</strong> Fachschulen, der Kreisleitung Leipzig-Land, der Apparate der<br />

Partei, der staatlichen Organe <strong>und</strong> Massenorganisationen. Der Einsatzplan für das Stadtparteiaktiv ist<br />

dem 2. Sekretär der Bezirksleitung bis zum 6.10.89, 12.00 Uhr, vorzulegen.<br />

6. In Verantwortung des Sekretärs für Agitation/Propaganda der Bezirksleitung ist in der Bezirksausgabe<br />

der LW am 9.10.89 ganzseitig zur Lage im Zusammenhang mit dem Auftreten antisozialistischer<br />

Kräfte im Stadtzentrum Leipzigs prinzipiell Stellung zu nehmen. Dieser Standpunkt wird in Form der<br />

Erklärung der Stadtverordnetenversammlung, die am 29.9.89 beschlossen wurde, dargestellt. Dazu<br />

nimmt der Oberbürgermeister Stellung. Gleichzeitig ist überzeugend <strong>und</strong> emotional der<br />

antisozialistische Charakter dieser Machenschaften der negativfeindlichen Kräfte zu entlarven <strong>und</strong> die<br />

Staatsfeindlichkeit von Gruppierungen sowie Einzelpersonen herauszuarbeiten. Dazu ist Bildmaterial<br />

über das brutale Vorgehen gegen Angehörige der Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane sowie ein<br />

Gerichtsbericht über den am 2.10. angefallenen <strong>und</strong> abgeurteilten, siebenfach vorbestraften<br />

Provokateur zu veröffentlichen.<br />

7. Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes, Genosse Opitz, <strong>und</strong> sein Stellvertreter für Inneres, Genosse<br />

Reitmann, sowie der Oberbürgermeister, Genosse Seidel, werden beauftragt, in den ab 5.10.89<br />

stattfindenden Gesprächen mit dem Landesbischof der Evangelischen Kirche Sachsens, Hempel,<br />

nachdrücklich die Forderung geltend zu machen, dem sogenannten Friedensgebet sofort einen<br />

theologischen Inhalt zu geben. Unmißverständlich ist dem Bischof der offizielle Standpunkt des<br />

Vorsitzenden des Rates des Bezirkes zur Kenntnis zu geben, daß bei Nichtbeachten der gegebenen<br />

Hinweise die weitere Durchführung derartiger Veranstaltungen untersagt wird.<br />

8. Die Leiter der Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane haben ihre abgestimmte Einsatzkonzeption dem 2.<br />

Sekretär der Bezirksleitung zur Bestätigung vorzulegen, einschließlich des Einsatzes von Einheiten der<br />

Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Der 2. Sekretär der Bezirksleitung unterbreitet dem Generalsekretär<br />

des ZK der SED den Vorschlag, am 9.10.89 in der Stadt Leipzig zur Unterstützung der Schutz- <strong>und</strong><br />

Sicherheitsorgane 8 H<strong>und</strong>ertschaften der Kampfgruppen der Arbeiterklasse (in Uniform) zum Einsatz<br />

zu bringen.<br />

9. Durch den Sekretär für Agitation/Propaganda der Bezirksleitung ist zu veranlassen, daß durch das<br />

Fernsehen der DDR <strong>und</strong> die Presseorgane des Bezirkes antisozialistische Demonstrativhandlungen am<br />

9.10.89 dokumentiert werden.<br />

236 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Vermerk von Jakel, Rat des Bezirkes Leipzig, vom 06.10.1989 über ein Gespräch zwischen R. Opitz,<br />

Reitmann, Sabatowska, Jakel, Bischof Hempel, OKR Auerbach <strong>und</strong> den beiden Leipziger Superintendenten<br />

am 05.10.1989692. Der Computerausdruck wurde nicht unterzeichnet 693 (StAL BT/RdB 22377 <strong>und</strong> in: StAL<br />

691 vgl. Dok. 244<br />

692 Die Parallelüberlieferung des Gespräches (Protokoll J. Richter) ist abgedruckt in: Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak,<br />

281-286<br />

693 Wie der Entwurf (mit handschriftlichen Überarbeitungen) zeigt, war dieser von H. Reitmann erstellt worden<br />

(StAL BT/RdB 21961).<br />

341


BT/RdB 21395, ABL H 53).<br />

Das Gespräch fand auf Initiative des Ratsvorsitzenden im Gästehaus des Rates des Bezirkes statt. Am<br />

Gespräch nahmen [...] teil: [...]<br />

Eingangs gratulierte Dr. Hempel dem Ratsvorsitzenden zu seiner hohen staatlichen Auszeichnung am<br />

Vorabend des Staatsfeiertages mit den Worten: „Mit Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Hochachtung haben wir<br />

vermerkt, daß die Regierung Ihre Arbeit so hoch anerkannt hat.“ 694 Zu Beginn des Gesprächs wurde<br />

Vertraulichkeit, Offenheit <strong>und</strong> eine konzentrierte Gesprächsführung vereinbart. Gen. Opitz machte<br />

nachdrücklich die staatliche Forderung geltend, dem sogenannten Friedensgebet einen anderen Inhalt zu<br />

geben, der den Gr<strong>und</strong>sätzen der Theologie entspricht695 . Dem Bischof wurde in aller Form zur Kenntnis<br />

gegeben, daß bei Nichtbeachten der gegebenen Hinweise die weitere Durchführung derartiger<br />

Veranstaltungen nicht zugelassen wird. Es sei dringend notwendig, in der Nikolaikirche Gottesdienste<br />

durchzuführen <strong>und</strong> keine politischen K<strong>und</strong>gebungen, wie es die Pfarrer Wonneberger <strong>und</strong> Kaden<br />

praktiziert haben. In einer Erwiderung bedankte sich Landesbischof Dr. Hempel dafür, daß der<br />

Ratsvorsitzende ohne Umschweife zum Kern des Gesprächs gekommen ist. Was Pfarrer Wonneberger<br />

angeht, so habe jeder seine eigene Sprache. Er kenne Wonneberger seit langem. Hempel wörtlich: „Ich<br />

bitte Sie, auch einmal die positiven Wirkungen zu sehen; Kirche ist aufs Ganze gesehen ein<br />

stabilisierender Faktor mit großen positiven Wirkungen, auch Pfarrer Wonneberger, der mit seiner eigenen<br />

Sprache auf geistliche Durchdringung großen Wert legt. Wenn es den Montag in der Nikolaikirche nicht<br />

gäbe, hätten wir das Phänomen, was Sie ja so bewegt, auch noch. Ich behaupte ernsthaft, so sagen es auch<br />

alle meine Brüder, wenn wir alle Kirchen wegwünschen, wäre das Problem trotzdem vorhanden. Was<br />

mich kaputt macht ist, daß die Regierung immer nur den angenehmen Teil sagt. Bitte sagen Sie uns, wo in<br />

der Nikolaikirche die Stimmung angeheizt wird.“<br />

Gen. Opitz unterstrich, daß in den Friedensgebeten zunehmend politische Worte gesagt werden, es in der<br />

Nikolaikirche zu K<strong>und</strong>gebungen kommt, die von frenetischem Beifall begleitet werden. Diese<br />

K<strong>und</strong>gebungen vermengen sich dann mit staatsfeindlichen Aktionen der Leute, die vor der Kirche warten.<br />

In diesem Zusammenhang schilderte der Ratsvorsitzende die Vorgänge während <strong>und</strong> nach den letzten<br />

Friedensgebeten <strong>und</strong> lud unter Bezugnahme auf die Rede des Gen. Krenz vom 4. 10. 1989696 die<br />

anwesenden kirchlichen Vertreter ein, nachzudenken, wie man gemeinsam interessierende Probleme lösen<br />

kann, darunter auch das Problem der Nikolaikirche. Der Vorsitzende brachte eindeutig zum Ausdruck, daß<br />

es keine staatliche Schuldzuweisung wegen Verfehlungen allgemein gegenüber der Kirche gibt, sondern<br />

das Vorgehen einzelner kirchlicher Persönlichkeiten eingeklagt wird, wenn diese antisozialistisch ist.<br />

Diese Aussage wurde von Dr. Hempel zustimmend aufgenommen.<br />

Superintendent Magirius äußerte, daß er sich stets als Staatsbürger fühle <strong>und</strong> eine große Enttäuschung<br />

erlebe, weil es zu diesen Entwicklungen gekommen ist <strong>und</strong> vom Staat nicht sensibel genug reagiert werde.<br />

Er kritisierte, daß seine Bemühungen zur Beruhigung der Lage von staatlichen Vertretern völlig<br />

mißverstanden <strong>und</strong> als etwas Finsteres dargestellt werden.<br />

Hintergr<strong>und</strong> dieser Aussage von Magirius ist die Tatsache, daß eine Information <strong>und</strong> Wertung des<br />

Genossen Sabatowska zur Haltung von Magirius während einer internen Beratung mit ausgewählten<br />

Leitern aus Betrieben am 27.8.89 [sic!] Magirius zugetragen worden ist.<br />

Im weiteren Verlauf des Gesprächs betonten der Ratsvorsitzende <strong>und</strong> seine Stellvertreter für Inneres, daß<br />

heute qualitativ eine andere politische Situation vorhanden ist als noch vor einigen Wochen. So sei zu<br />

beachten, daß ein Unterschied bestehe, ob Pfarrer Kaden eine Rede vor normalem Gottesdienstpublikum<br />

hält oder vor solch einer Masse von Zulaufpublikum, das die Aussagen des Pfarrers äußerst subjektiv <strong>und</strong><br />

nicht selten staatsfeindlich interpretiert697 . Die Folgen für das Leben in der Stadt Leipzig nach den letzten<br />

694 R. Opitz erhielt am 05.10.1989 die Ehrenspange zum „Vaterländischen Verdienstorden“ in Gold.<br />

695 Im Entwurf hieß es: „[...], daß in der Nikolaikirche wieder religiöse Veranstaltungen stattfinden.“ (StAL BT/RdB<br />

21961)<br />

696 Krenz leitete zu dieser Zeit eine DDR-Delegation in China. In seiner Rede rechtfertigte er von neuem den Einsatz<br />

des Militärs gegen die Demokratiebewegung (ND 05.10.1989).<br />

697 In diesem Zusammenhang wurden nach Protokoll J. Richter folgende Sätze zitiert: „Mörder unserer Hoffnung,<br />

342


Friedensgebeten spreche eine deutliche Sprache. Es kam zu beträchtlichen Störungen der öffentlichen<br />

Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit, wobei sogar 11 Volkspolizisten verletzt worden sind698 . Die Kirchenvertreter<br />

brachten ihre Achtung über das besonnene Verhalten der Volkspolizisten zum Ausdruck 699.<br />

Superintendent Richter äußerte die Meinung, der beste Weg zur Beherrschung der Lage mit den vielen<br />

Menschen vor der Nikolaikirche wäre es, noch weitere Kirchen für das Friedensgebet zu öffnen. Richter<br />

dann wörtlich: „Endlich müssen Sie den Leuten etwas sagen. Wir brauchen authentische Aussagen des<br />

Staates, damit die Bürger merken, es tut sich endlich etwas. Die Wahrheitsfrage in der Berichterstattung<br />

der Medien ist der Angelpunkt. Ein Beispiel ist die Beschwörung der traditionellen Fre<strong>und</strong>schaft DDR-<br />

China, obwohl hier 30 Jahre Funkstille .geherrscht hat700 . Das nimmt Ihnen niemand mehr ab. Und geht<br />

es dann um konkrete Daten zur DDR, glaubt uns der Bürger dieses erst recht nicht.“ Auch Bischof Dr.<br />

Hempel äußert Vorbehalte zur Medienpolitik <strong>und</strong> nahm Bezug auf den Beschluß der Synode des B<strong>und</strong>es<br />

der Ev. Kirchen in Eisenach701. Die weitere Diskussion führte der Vorsitzende auf das Hauptanliegen des Gesprächs zurück, nämlich auf<br />

die Notwendigkeit, das Friedensgebet in der Nikolaikirche so zu gestalten, daß es zur Beruhigung der<br />

angespannten Lage beiträgt. Bischof Dr. Hempel schilderte daraufhin die Bemühungen beim Pfarrertag702 vor wenigen St<strong>und</strong>en in Leipzig, der das Thema hatte, was nun werden soll. Die Darstellung der<br />

christlichen Auffassung werde nie vollkommen gelingen. „Wir haben hier andere Maßstäbe als der Staat.<br />

Setzen wir das Friedensgebet ab, wären Sie, Herr Doktor Reitmann, sehr zufrieden. Das ginge aber nur<br />

mit einer Erklärung von mir, über die ich mit einem Zehntel meines Gehirns Tag <strong>und</strong> Nacht beschäftigt<br />

bin. Diese Erklärung müßte aber stimmig sein. Ich fürchte aber, dieser Effekt ist nicht zu erreichen.“ 703<br />

Weiter äußerte der Landesbischof die Auffassung, wonach die Bevölkerung der DDR auf einen „kleinen<br />

Gorbatschow“ warte, auf Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit der Medien, auf eine offene Darstellung<br />

der tatsächlichen Situation, jawohl, auf Veränderungen „in unseren Farben“. In der Fortführung des<br />

Gesprächs wurde durch den Ratsvorsitzenden erreicht, daß der Landesbischof letztlich folgende Position<br />

bezog: „Eigentlich wollte ich heute sagen, ich komme nimmer mehr. Jetzt sage ich aber, es war gut, daß<br />

wir uns getroffen haben. Ich habe verstanden, daß es Ihnen um Konkretes zur Nikolaikirche geht. Ich höre<br />

gern, daß Sie sehr differenzieren zwischen dem im Friedensgebet Gewollten <strong>und</strong> den Dingen da draußen.<br />

Sie möchten, daß in der Nikolaikirche keine politischen K<strong>und</strong>gebungen stattfinden. Dies habe ich<br />

aufmerksam zur Kenntnis genommen.“<br />

Hempel schätzte, daß er an der Grenze seiner physischen Belastbarkeit angelangt sei, er könne des öfteren<br />

schon nicht mehr schlafen 704.<br />

Abschließend äußerte Genosse Opitz die dringende Bitte, daß das Friedensgebet am kommenden Montag<br />

von einem ausschließlich religiösen Text charakterisiert ist, der von einer geeigneten Persönlichkeit<br />

vorgetragen wird. Es entstand der Eindruck, daß der Landesbischof <strong>und</strong> die ihn begleitenden<br />

Persönlichkeiten die Ernsthaftigkeit der staatlichen Erwartungshaltung begriffen haben <strong>und</strong> darüber<br />

Diebe der Freiheit.“ <strong>und</strong> Wonnebergers „Kalaschnikow“ (in: Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 283).<br />

698 Im Entwurf folgte hier: „obwohl die Sicherheitskräfte mit viel Einfühlungsvermögen <strong>und</strong> Rücksicht gehandelt<br />

haben“ (StAL BT/RdB 21961).<br />

699 Im Entwurf hieß es: „Die Kirchenvertreter bestätigten die Wertung über das besonnene Verhalten der<br />

Volkpolizisten.“ (StAL BT/RdB 21961)<br />

700 Am 1.10. fand anläßlich des 40. Jahrestages der Gründung der VR China eine Festveranstaltung im Leipziger<br />

Rathaus statt. Dies wurde von den kritischen Bürgern als Drohung gewertet: „Die lernen jetzt von Chinesen, wie<br />

man das macht mit den Leuten auf der Straße.“ (Hempel in diesem Gespräch am 05.10.1989, in:<br />

Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 285).<br />

701 Auszug abgedruckt in: G. Rein (1990), 217-219<br />

702 s. Anm. 688<br />

703 Im Protokoll J. Richters von diesem Gespräch heißt es: „Wir können unter äußersten Bedingungen einen<br />

Gottesdienst in Nik. absetzen. Aber Schwelle ist sehr hoch. Dann müßte der Bischof eine sehr deutliche, die<br />

Probleme benennende Erklärung abgeben. Das werden nur wenige hören. Die meisten nicht verstehen. Es wird<br />

schlimmer als zuvor.“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 285)<br />

704 Im Protokoll J. Richters von diesem Gespräch heißt es u.a.: „LB [Landesbischofl: Bittet um Schluß der Debatte<br />

mit Hinweis auf physische Grenzen.“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 286)<br />

343


nachdenken, wie sie als Kirche zur Entschärfung der explosiven Situation im Vorfeld des kommenden<br />

Friedensgebetes beitragen können. Allerdings machten sie keine eindeutige Aussage über konkrete<br />

Schritte, die sie einzuleiten gedenken. 705<br />

Nach dem Gespräch führte Hempel eine sofortige Auswertung mit den Superintendenten durch.<br />

Das Gespräch hat das angestrebte Ziel der klaren Darstellung der staatlichen Forderung erreicht <strong>und</strong> auf<br />

vielfache Weise die Kirchenvertreter zum Nachdenken veranlaßt. Die mehrfach geäußerte Bereitschaft,<br />

am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft kritisch mitzuwirken, sollte bei allen weiteren Maßnahmen des<br />

Staates im Zusammenhang mit der Nikolaikirche bedacht werden. Dafür steht Hempels Satz: „Ich denke<br />

voller Hochachtung an die Gespräche mit Herrn Honecker. Ich achte ihn sehr.“<br />

237 Stasi-Befehl<br />

Information (mit der handschriftlichen Aufschrift „Flugzeug“) vom Leiter der BV des MfS Leipzig,<br />

Hummitzsch, an alle Leiter der Kreisdienststellen des MfS vom 06.10.1989 mit dem Stempel-Vermerk:<br />

„Vertrauliche Verschlußsache 86/89,2. Ausfertigung, Blatt 1.“ Am rechten oberen Rand wurde „KD Stadt [/]<br />

B365“ vermerkt (ABL H 8).<br />

Ausgehend von der Entwicklung der politisch-operativen Lage, insbesondere in letzter Zeit aufgetretener<br />

provokatorisch-demonstrativer Handlungen <strong>und</strong> Vorkommnisse, ordert der Genosse Minister nochmals<br />

nachdrücklich, die Anreise aller Personen, von denen Gefahren ausgehen können, die bereits im<br />

Zusammenhang mit provokatorisch-demonstrativen Handlungen bzw. provokatorischen Forderungen<br />

aufgefallen sind, nach der Hauptstadt der DDR, Berlin, während des Aktionszeitraumes unter Nutzung<br />

aller Möglichkeiten <strong>und</strong> mit allen Mitteln konsequent zu verhindern. Das bezieht sich auch auf den<br />

7.10.89 bzw. 9.10.89 im Zusammenhang mit dem Montagsgebet in der Nikolaikirche. Personen, die im<br />

Zusammenhang mit den Maßnahmen zum Reiseverkehr nach der CSSR zurückgewiesen werden 706 , sind<br />

weiter unter Kontrolle zu halten. Es ist zu gewährleisten, daß diese Personen tatsächlich in ihre Heimatorte<br />

zurückkehren <strong>und</strong> an weiteren feindlich-negativen Aktivitäten gehindert werden. Die Wirksamkeit aller<br />

Vorkehrungen <strong>und</strong> Maßnahmen zur Sicherung von Veranstaltungen sind mit dem Ziel des rechtzeitigen<br />

Erkennens jeglicher provokatorisch-demonstrativer Handlungen, der Formierung <strong>und</strong> Ansammlung<br />

feindlich-negativer Kräfte nochmals gründlich zu überprüfen. Feindlichnegative Aktivitäten sind mit allen<br />

Mitteln entschlossen zu unterbinden. Es ist zu prüfen, inwieweit die bereits eingeleiteten Maßnahmen<br />

unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der politisch-operativen Lage tatsächlich ausreichend sind.<br />

Ebenfalls ist nochmals die Bereitstellung aller Kräfte zu überprüfen. Bei Notwendigkeit sind weitere<br />

Reservekräfte bereitzustellen. Sie sind gründlich einzuweisen <strong>und</strong> zu instruieren, damit sie kurzfristig zum<br />

Einsatz gelangen können. Keine Überraschungen zulassen. Dem Gegner keine Möglichkeit geben, dort<br />

aktiv zu werden, wo er annimmt, daß wir da nicht sind.<br />

238 Kirchenbucheintragung<br />

Eintragungen aus dem Gästebuch VII der Nikolaikirche vom 06.10.1989 (Nikolaikirchgemeinde).<br />

Die Menschen, die uns in diesen Tagen verlassen, nennt man Verbrecher <strong>und</strong> Verräter, die Menschen, die<br />

hier bleiben wollen, nennt man konterrevolutionär <strong>und</strong> antisozialistisch! Wie aber soll man eine Regierung<br />

705 Der Entwurf endete hier mit dem abschließenden Satz: „Unter den gegebenen Umständen stellte das<br />

Gesprächsergebnis das gegenüber der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens momentan Erreichbare da[r].“ (StAL<br />

BT/RdB 21961)<br />

706 In der Nacht zum 3. Oktober wurde der visafreie Reiseverkehr in die CSSR aufgehoben. Ausreisewillige, die<br />

über die Prager Botschaft oder Ungarn gen Westen gelangen wollten, wurden schon an den Tage zuvor an den<br />

Grenzstationen an der Weiterfahrt gehindert, die Männer nicht selten inhaftiert. Ein Teil der Protestierenden in<br />

Dresden in den ersten Oktobertagen waren Reisende, die in Bad Schandau aus dem Zug geholt wurden <strong>und</strong><br />

wieder umkehren sollten.<br />

344


nennen, die diesen Staat <strong>und</strong> seine Menschen in eine so hoffnungslose Lage getrieben hat. [/] A. T.<br />

6.10.89<br />

Eines Tages wird man uns fragen: Was habt ihr getan, wie war euer Beitrag?! <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>, wir brauchen uns<br />

nicht zu schämen. In dieser Kirche, in dieser Stadt schlägt das Gewissen der Nation. [/] J. Büttner<br />

Ich bin zwar kein junger Mensch, möchte mich aber den Beiträgen anschließen, denn das wie es jetzt ist,<br />

habe ich schon einmal durchgemacht u. denke mit Schauer daran zurück. [/] L. Wegner<br />

„Wir wollen beweisen, daß die Zeit noch Gutes leisten kann!“ [/] Interview m. K. Masur 707<br />

Was können wir beitragen, wenn die Angst uns zurückhält? [/] 6.10.89 D. Wagner<br />

Ich bleibe hier! Komme was da wolle. Ich will keine Lügen mehr! Komme, was da wolle! Ich bin gegen<br />

jede Art von Gewalt! Komme was da wolle. [Es folgt mit anderer Handschrift: Wann kommt Ihr?? [/] R.<br />

Pietsch] Lars Bagemild [... Es folgt eine Altenburger Adresse]<br />

Ich hoffe, das [sic!] die politischen Gefangenen ihre Freiheit wiedererlangen. Da ich weiß wie es gewesen<br />

ist. Ich war vom 1.5.1989 bis zum 30.9.89 in Haft. [/] Ralf Felden [... es folgt eine Altenburger Adresse]<br />

Ich bin ein Arbeiter, nach dem heutigen Artikel in der LVZ 708 habe ich Angst vor den<br />

Betriebskampfgruppen. [/] M. Litz [?] 6.10.89<br />

239 Staatlicher Ereignisbericht<br />

709<br />

Information vom Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten des Rates des Stadtbezirkes Südost der<br />

Stadt Leipzig, Büllesbach, vom 07.10.1989 über einen Gottesdienst am 07.10.1989 in der Trinitatiskirche. Auf<br />

der Kopie wurde am rechten oberen Rand „Gen. Jakel“ vermerkt (StAL BT/RdB 21726 <strong>und</strong> in: StAL BT/RdB<br />

22259).<br />

Zum Gottesdienst am 7.10.1989 kamen 6 gesellschaftliche Kräfte in der Kirche zum Einsatz. In der<br />

Kirche befanden sich ca. 350 bis 400 Personen. Damit war die Kirche total überfüllt. Der größte Teil der<br />

Besucher waren jüngere Leute, <strong>und</strong> auch eine größere Anzahl Familien mit Kindern nahmen daran teil.<br />

Vor der Kirche wurden ca. 10 PKW mit Erfurter Kennzeichen festgestellt. [/] Die Gemeinde wurde durch<br />

den Pfarrer Hammermüller begrüßt. Er sagte: „Zu unserem heutigen Gottesdienst begrüße ich alle unsere<br />

Gäste, die freiwilligen <strong>und</strong> unfreiwilligen.“ In seiner Ansprache ging er von dem Gr<strong>und</strong>satz „Du sollst<br />

Deine <strong>Feinde</strong> lieben!“ - Matthäus 6- aus. [/] „Die Genossen in den Betrieben soll keiner verdammen, alle<br />

stammen vom Herrn ab.“ Unter Bezugnahme auf die Ereignisse in der Innenstadt am 7.10.89 sagte der<br />

Pfarrer, daß die Kirche sich davon distanziert <strong>und</strong> sie keine Gewalt gutheiße. Es wurde die Frage gestellt<br />

„sollten wir diese Trunkenbolde <strong>und</strong> Randalierer um die Nikolaikirche nicht fassen, aus unserer Mitte<br />

vertreiben <strong>und</strong> den Sicherheitsorganen übergeben“? Es wurde der Standpunkt vertreten, daß Konfrontation<br />

nicht geeignet ist, die derzeitigen Probleme zu klären. Auch Provokationen wie „Buh-Rufe“ lösen keine<br />

Probleme.<br />

Danach wurden ca. 20 Namen verlesen von Bürgern, die derzeit in Haft sitzen. Es wurde nochmals klar<br />

zum Ausdruck gebracht, daß nur Ruhe <strong>und</strong> Besonnenheit derzeit helfen können. Danach wurden mehrere<br />

Kerzen entzündet.<br />

1. Kerze: Fürbitte für die Sicherheitsorgane<br />

2. Kerze: Fürbitte für die Inhaftierten<br />

3. Kerze: Fürbitte für die Umwelt, damit nicht alles abstirbt<br />

4. Kerze: Fürbitte für die jungen Soldaten <strong>und</strong> VP-Kräfte, damit sie nicht wirksam werden müssen, denn<br />

sie erleiden auch Qualen - innere <strong>und</strong> äußere.<br />

5. Kerze: Fürbitte, daß die Schützenpanzerwagen am Montag nicht zum Einsatz kommen müssen<br />

6. Kerze: Fürbitte für die Genossen oben, damit ihnen endlich ein Licht aufgeht<br />

7. Kerze: Fürbitte für einen Dialog, denn viele kritische Situationen haben wir schon gemeinsam<br />

707 Vermutlich ein Zitat aus dem ARD-Interview mit Masur am 02.10.1989, in dem dieser zur Situation in Leipzig<br />

<strong>und</strong> den Polizeieinsätzen gefragt wurde.<br />

708 s. Anm. 661<br />

709 Eine ähnliche Information liegt auch zum Gottesdienst am 30.09. von Büllesbach vor (StAL BT/RdB 21723).<br />

345


überstanden<br />

Es wurde darauf verwiesen, daß am Sonntag <strong>und</strong> Montag alle Kirchen der Innenstadt geöffnet sind. Er<br />

informierte, daß die Staatsorgane der Kirche nahegelegt haben, die Nikolaikirche zu schließen. Dies<br />

wurde abgelehnt, aber wieder mit dem Hinweis „wir wollen uns aber nicht mit den Krawallbrüdern<br />

identifizieren.“<br />

Der Pfarrer informierte über einen Standpunkt der Kirche zum „Neuen Forum“. Es soll ein<br />

Informationsblatt geben, welches die Gemeindemitglieder nach Möglichkeit vervielfältigen sollen <strong>und</strong><br />

verteilen sollen. In diesem Informationsblatt kommt der Standpunkt der Kirche zum „Neuen Forum“ zum<br />

Ausdruck.<br />

Es war uns nicht möglich, ein solches Informationsblatt zu beschaffen. Gegen 18.45 Uhr wurde der<br />

Gottesdienst beendet. Am Ausgang wurde noch eine Kollekte durchgeführt für die Bürger, die hohe<br />

Geldstrafen zahlen müssen.<br />

240 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Information vom Rat des Bezirkes Leipzig, Bereich Kirchenfragen, vom 09.10.1989 über ein Gespräch<br />

zwischen Reitmann, Bischof Hempel <strong>und</strong> OKR Auerbach am 09.10.1989. Der Computerausdruck wurde von<br />

A. Müller unterzeichnet (StAL BT/RdB 21726 <strong>und</strong> in: StAL BT/RdB 22259 <strong>und</strong> 22377)<br />

Das Gespräch kam kurzfristig auf Wunsch von Bischof Dr. Hempel zustande. Für die Notwendigkeit gab<br />

der Bischof zwei Gründe an:<br />

1. der Fairneß <strong>und</strong><br />

2. der Verantwortung wegen, die zwar zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche unterschiedlich ist, die aber zum<br />

Handeln zwingt.<br />

Hempel teilte dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für Inneres mit, daß er heute an<br />

dem Friedensgebet in der Nikolaikirche teilnehmen wird <strong>und</strong> ein Wort zu den Teilnehmern sprechen will.<br />

Er hält es für richtig, über den sinngemäßen Inhalt (er habe nichts Schriftliches vorbereitet) zu<br />

informieren. Er wolle dort folgendes sagen:<br />

1. daß nach seiner Überzeugung zwischen dem Staat <strong>und</strong> den Jungerwachsenen, die auf die Straße gehen,<br />

Gespräche notwendig sind, in denen sie über ihre Wünsche <strong>und</strong> ihre Verbitterung sprechen können,<br />

daß eine Schematisierung, wie sie zur Zeit im Fernsehen <strong>und</strong> in der Presse sichtbar wird, nichts bringt<br />

(alles unter Rowdytum einordnend) <strong>und</strong> daß er für die Freilassung der Inhaftierten, wenn sie keine<br />

Körperverletzung begangen haben, plädiert;<br />

2. daß nach der Überzeugung seines Glaubens er deutlich machen möchte, daß Besonnenheit <strong>und</strong> absolute<br />

Gewaltlosigkeit in der gegenwärtigen 710 brisanten Lage maßgebend sein müssen. Im Konfliktfall solle<br />

man lieber Gewalt in Kauf nehmen als Gegengewalt ausüben.<br />

Hempel machte in diesem Zusammenhang deutlich, daß er weiß, daß viele der Teilnehmer seinen Glauben<br />

nicht teilen, er aber auch an sie appelliert, der Zukunft <strong>und</strong> der Menschen willen nach der Andacht ruhig<br />

nach Hause zu gehen. [/] Die Regierung der DDR ist nach seiner Meinung souverän, <strong>und</strong> sie muß<br />

bestimmen, ob sie mit den Jungerwachsenen sprechen will oder nicht. Nach seiner Überzeugung gibt es<br />

zum Gespräch nur eine Alternative, <strong>und</strong> das ist die Gewalt. Er hält aber Besonnenheit für das<br />

Maßgebende. [/] Obwohl Staat <strong>und</strong> Kirche auf unterschiedlicher Ebene Verantwortung tragen, müßte der<br />

Staat sein Anliegen, was er mit seinem Wort bezwecken will, erkennen. Weiter kann er nicht gehen. Wenn<br />

der Rat des Bezirkes der Meinung ist, daß ein Dialog notwendig erscheint, so ist er bereit zu vermitteln. [/]<br />

Bischof Hempel gab aber zu bedenken, daß die Situation in Dresden eine andere ist als in Leipzig.<br />

Der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres bedankte sich bei Dr. Hempel für dessen<br />

Bereitschaft <strong>und</strong> dessen Vertrauen. Dr. Reitmann äußerte, ausgehend von der derzeitigen Situation, die<br />

sich weiter zuspitzt, alles zu tun, um mit einem entsprechenden Wort seitens der Kirche die Situation zu<br />

beruhigen. [/] Gegenüber Hempel wurde deutlich gemacht, daß auch durch die Sicherheitsorgane solange<br />

Besonnenheit gewahrt wird, wie nicht demonstriert oder Gesetze verletzt werden. Er unterbreitete den<br />

710 Im Exemplar der Akte 22377 ist „gegenwärtig“ dick unterstrichen worden.<br />

346


kirchlichen Vertretern den Vorschlag, analog wie in Dresden am 8.10.1989, auch in Leipzig zu verfahren.<br />

Genosse Dr. Reitmann erklärte sich bereit, am Dienstag, dem 10.10.1989, mit ca. 20 Vertretern aus den<br />

kirchlichen Gruppen zu sprechen, wenn der Bischof mit Nachdruck dazu auffordert, notfalls auch auf dem<br />

Nikolaikirchhof per Mikrofon, daß die Teilnehmer friedlich den Platz verlassen <strong>und</strong> nach Hause gehen<br />

sollen. In diesem Zusammenhang informierte der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres den<br />

Bischof, daß in der Michaeliskirche am 8.10.1989 während der Fürbittandacht dazu aufgefordert wurde,<br />

heute nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche schweigend <strong>und</strong> mit erhobenen Händen durch die<br />

Stadt zu marschieren.<br />

Hempel <strong>und</strong> Auerbach gaben zu verstehen, daß sie davon nichts wüßten, sie sich aber sofort nach diesem<br />

Gespräch sachk<strong>und</strong>ig machen wollen. [/] Bischof Hempel verwies auf das stattgef<strong>und</strong>ene Gespräch mit<br />

dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes <strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen Wünschen <strong>und</strong> Hoffnungen. Ihm<br />

sei aber klar, daß wir das so nicht schaffen werden. Nach seiner Meinung stehen zwar Verbindungen zur<br />

Nikolaikirche - <strong>und</strong> diese spielt auch eine gewisse Rolle - aber nur bedingt, im Kern ist sie nicht der<br />

Verursacher der jetzigen Situation. Er versteht das Ansinnen des Staates, aber ihm stellt sich gleichzeitig<br />

die Frage, <strong>und</strong> das habe er auch schon zum 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden gesagt, wie es<br />

überhaupt weitergehen solle. Nach seiner Überzeugung gibt es nur zwei Wege, entweder reden oder die<br />

absolute Gewalt.<br />

Seitens Genossen Dr. Reitmann wurde Bischof Hempel darauf aufmerksam gemacht, daß in der Presse<br />

differenzierter zur Gesamtlage Stellung genommen wird. Er verwies auf die heutigen Veröffentlichungen<br />

in der Leipziger Volkszeitung <strong>und</strong> bezog sich insbesondere auf die Stellungnahme des Oberbürgermeisters<br />

der Stadt Leipzig, der darin bekräftigt, daß man nach wie vor am Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Kirche auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage des Gesprächs vom 6.3.1978 festhalten will. [/] Mit Nachdruck wurde nochmals die Bitte an<br />

Bischof Dr. Hempel gerichtet, sich im Friedensgebet sehr deutlich zu artikulieren, weil dies insgesamt<br />

sehr hilfreich sein könnte. Dr. Reitmann wiederholte nochmals seinen Vorschlag, den Leuten heute zu<br />

sagen, daß morgen mit einem ausgewählten Kreis von Vertretern aus kirchlichen Gruppen ein Gespräch<br />

mit ihm stattfinden kann.<br />

Bischof Hempel verwies darauf, daß dies für ihn eine neue Situation darstellt, wozu er sich mit den beiden<br />

Superintendenten erst verständigen muß. Das Angebot von Dr. Reitmann nimmt er dankend zur Kenntnis,<br />

möchte aber darauf hinweisen, daß man sich davon nicht viel versprechen sollte, da in Dresden eine<br />

andere Situation besteht als in Leipzig, sie ist hier diffuser.<br />

Er zittere schon um die Auswertung des Gesprächs mit dem Oberbürgermeister der Stadt Dresden, die<br />

heute in den Dresdener Kirchen stattfindet, denn das Gespräch war nicht so erfolgreich, was nach seiner<br />

Meinung auch nicht zu erwarten war.<br />

Bischof Hempel sicherte Genossen Dr. Reitmann zu, das Ergebnis der Beratung mit den beiden<br />

Superintendenten ihm sofort telefonisch zu übermitteln. Man werde sich auch überlegen, wie sein Wort<br />

den Gottesdienstteilnehmern in der Thomaskirche, Michaeliskirche <strong>und</strong> Ev. Reformierten Kirche<br />

mitgeteilt wird.<br />

Zum Abschluß des Gesprächs machte der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes nochmals<br />

sehr eindringlich auf den Ernst der Situation aufmerksam <strong>und</strong> appellierte an die Wahrnehmung der<br />

Verantwortung des Bischofs.<br />

241 Staatliche Gesprächsnotiz<br />

Aktennotiz vom Rat des Bezirkes Leipzig, Bereich Kirchenfragen (Müller), vom 09.10.1989 über eine<br />

Information von OKR Auerbach (ABL H 53 <strong>und</strong> in: BArch 0-4 1117).<br />

Die im Gespräch am 9.10.1989 zugesagte Rückäußerung zum Vorschlag des Stellvertreters des<br />

Vorsitzenden des Rates für Inneres gegenüber Bischof Dr. Hempel erfolgte gegen 16.20 Uhr durch OLKR<br />

Auerbach.<br />

Er teilte folgendes mit:<br />

Heute sei in der Nikolaikirche wieder eine andere Situation. Die Kirche sei von einer großen Anzahl<br />

Nichtkirchenangehöriger besucht. Viele Gruppen seien seit 14.00 Uhr in die Kirche hineingegangen. Für<br />

347


sie als Kirche sei jetzt eine „merkwürdige Situation“ entstanden. Für sie sei die Sache sehr verworren,<br />

man sehe sich deshalb außerstande, über das Mikrofon zu den Teilnehmern zu sprechen. Der Bischof<br />

bleibt aber bei seinem Vorhaben, ein Wort an die Teilnehmer in der Kirche zu richten.<br />

242 SED-Information<br />

711<br />

Information des 2. Sekretärs der SED Stadtbezirksleitung Leipzig-Mitte, H. Günther, vom 09.10.1989 zur<br />

Lage in Leipzig (StAL SED IV F 02/061).<br />

Ausgehend von den Parteileitungssitzungen in den heutigen Morgenst<strong>und</strong>en, an denen<br />

Sekretariatsmitglieder <strong>und</strong> alle politischen Mitarbeiter unterstützend teilnahmen, wurde die<br />

Gesprächstätigkeit gezielt in den Arbeitskollektiven verstärkt, konkret festgelegt, welche Kader in<br />

welchen Kollektiven auftreten, um aufklärend <strong>und</strong> beruhigend zu wirken <strong>und</strong> eine Isolierung zu<br />

staatsfeindlichen Gruppierungen zu erreichen.<br />

Vielfach wurden in die Leitungssitzungen staatliche Leiter <strong>und</strong> die Vorsitzenden der Massenorganisationen<br />

einbezogen. Die Atmosphäre war sehr offen, die Genossen zeigten die erforderlichen Kampfpositionen, aber<br />

auch eine sehr kritische Haltung zur Qualität der Führungstätigkeit unserer Partei <strong>und</strong> ihrer<br />

Öffentlichkeitsarbeit. Die Erwartungshaltungen an die Rede des Generalsekretärs zum 40. Jahrestag waren<br />

größer (vergleiche konkret Information vom 08.10.89). Die Kompliziertheit der Lage wird generell erkannt,<br />

Bereitschaft zum Handeln <strong>und</strong> zur Bewahrung der sozialistischen Errungenschaften sind vorhanden, aber eine<br />

konkrete Anleitung zum Handeln wird erwartet, keine allgemeinkonkreten Ausführungen übergeordneter<br />

Organe. Hier verbindet sich auch die aus fast allen Bereichen kommende Forderung nach einer öffentlichen<br />

Äußerung der Parteiführung zur aktuellen Situation im Lande (Generalsekretär). Immer wieder kritisch<br />

angesprochen werden fehlende ZK-Informationen zu den brennenden Tagesfragen.<br />

Eine stärkere Zuwendung der Tagespresse zu den Zusammenrottungen in Leipzig wird begrüßt, jedoch<br />

entspricht die Qualität nicht den Erwartungen. So wird kritisiert, daß zu wenig Informationen <strong>und</strong> Fakten<br />

vermittelt werden über die Zusammensetzung der Demonstranten, ihre eigentlichen Ziele <strong>und</strong> über die<br />

Hintermänner. Vermißt wird Bildmaterial <strong>und</strong> Berichte über Angriffe auf bewaffnete Organe, damit der<br />

Medienrummel der BRD Lügen gestraft wird. Verbreitet ist die Meinung, daß über die Vorgänge in der DDR<br />

schnell <strong>und</strong> ausführlich in unseren Medien vor allem im Fernsehen berichtet werden muß, um mit der<br />

entsprechenden Parteilichkeit den BRD-Medien zuvorkommen, die zur Zeit die Lagekenntnis vieler Bürger<br />

bestimmen. „Ehrlicher mit den Menschen reden, sie ehrlicher informieren“, das sind immer wieder Positionen<br />

der Genossen, die darauf hinweisen, daß heute nichts mehr totgeschwiegen werden könne. In diesem<br />

Zusammenhang erwägt die Parteileitung der Handelshochschule, sich selbst an die Parteiführung zu wenden,<br />

wenn sich in den nächsten Tagen öffentlich in der Zeitung zur Lage in der DDR nicht geäußert wird.<br />

Unabhängig davon ist gegenwärtig eine intensive Aussprachetätigkeit in den Arbeitskollektiven in den Hoch-<br />

<strong>und</strong> Fachschulen <strong>und</strong> Volksbildungseinrichtungen im Gange, die in den nächsten Tagen fortgesetzt wird <strong>und</strong><br />

zum Inhalt hat, Dialog statt antisozialistische Demonstrationen als einziges Mittel zur Lösung anstehender<br />

711 Diese Information wurde von der SED-SL angefordert. Am 8.10. forderte die SED-BL mit folgenden Worten<br />

eine tägliche Berichterstattung der SED-Kreisleitungen: „Im Verlauf des gestrigen Tages kam es in Leipzig zu<br />

feindlichen Handlungen, die gegen die verfassungsmäßigen Gr<strong>und</strong>lagen unseres sozialistischen Staates gerichtet<br />

waren <strong>und</strong> die Bürger in höchstem Maße beunruhigen. Sie sind, wie mit euch bereits besprochen, mit allen<br />

Kräften <strong>und</strong> Mitteln zu unterbinden. Dazu sind die vom Sekretariat der BL beschlossenen Maßnahmen exakt<br />

durchzuführen. Es ist zu sichern: L Die weitere Arbeit der KEL, wo regelmäßig die Lage im Territorium<br />

eingeschätzt wird <strong>und</strong> notwendige Maßnahmen festzulegen sind. 2. Unverzügliche Informationen der Partei-,<br />

Gewerkschafts- <strong>und</strong> FDJ-Funktionäre sowie der Mitarbeiter der staatlichen Organe über die Lage in der Stadt<br />

bzw. im Kreis <strong>und</strong> Gewährleistung ihres offensiven politischen Auftretens vor Ort in allen Bereichen des<br />

gesellschaftlichen Lebens. 3. Sofortige regelmäßige Lageeinschätzung an die BL, Abteilung Parteiorgane zu -<br />

den politischen Aktivitäten [...] - die Wirksamkeit der gesellschaftlichen Kräfte sowie das gemeinsame Vorgehen<br />

mit den befre<strong>und</strong>eten Parteien [...] - Aktivitäten der Kirche <strong>und</strong> das Verhalten kirchlicher Kreise. [...] - Die<br />

Situation auf dem Gebiet der Versorgung der Bevölkerung, der ges<strong>und</strong>heitlichen Betreuung <strong>und</strong> des<br />

Berufsverkehrs.“ (StAL SED A 4971)<br />

348


Fragen. In allen Fach- <strong>und</strong> Hochschulen unseres Stadtbezirkes führten die Lehrkräfte <strong>und</strong><br />

Parteileitungsmitglieder Gesprächsr<strong>und</strong>en mit Studenten in den Internaten, in den oberen Klassen <strong>und</strong> der<br />

Lehrlingsausbildung wurde die Überzeugungsarbeit massiv geführt <strong>und</strong> zeigte auch in der Mehrzahl der<br />

Einrichtungen positive Wirkungen. Fragen im einzelnen:<br />

− Entsetzen der Schüler <strong>und</strong> Lehrer über die Demonstrationen, warum steht nichts in den Medien?<br />

− Wer sind die Leute, wer zerstört? Sind das alles Staatsfeinde? - Sorge <strong>und</strong> Angst der Eltern um die<br />

Kinder?<br />

− Hätte man Gegner nicht eher isolieren sollen, bevor sie in den Untergr<strong>und</strong> gehen?<br />

Als absoluter Schwerpunkt im Stadtbezirk kristallisieren sich die Berufsschulen des VTK, des<br />

Datenverarbeitungszentrums <strong>und</strong> des Baukombinates Leipzig „BBS Makarenko“ heraus, in denen die seit<br />

Tagen geführte Diskussion durch Genossen Lehrkräfte nicht bei Lehrlingen fruchten. Hier sind die Lehrlinge<br />

nicht dialogfähig <strong>und</strong> zeigen Reaktionen bis zur Trotzhaltung bezüglich der Demonstrationen in Leipzig.<br />

Äußerungen von Jugendlichen: „Ruhe an Nikolaikirche wird erst durch Eingreifen der Staatsorgane verletzt,<br />

auf dem Boden Liegende würde eingeschlagen <strong>und</strong> vor Kindern auch keine Rücksicht genommen.“ Hier<br />

zeigt sich insgesamt, daß konkrete Ziele <strong>und</strong> Zielrichtungen sowie Hintermänner oppositioneller<br />

Gruppierungen bei Jugendlichen nicht bekannt sind, unklar sind <strong>und</strong> die Aufrufe des Neuen Forums in<br />

ihrer ganzen Demagogie Jugendliche ansprechen <strong>und</strong> für ihre Zwecke mißbrauchen. In den Hoch- <strong>und</strong><br />

Fachschulen <strong>und</strong> Betriebsschulen wird die Stimmung mit Beklommenheit, Ratlosigkeit <strong>und</strong> einem<br />

spürbaren Vertrauensschw<strong>und</strong> charakterisiert.<br />

Meinungen der Werktätigen in den Betrieben <strong>und</strong> Einrichtungen:<br />

− Zusammenrottungen müssen ein Ende haben.<br />

− VerurteilungantisozialistischerDemonstrationensindungeeignet,bestehendeProbleme zu lösen -<br />

besseres Mittel der Dialog.<br />

− Herangehen der Polizei am 8.10.89 vorerst zu hart.<br />

− Angst vor Eskalation der Gewalt.<br />

In diesem Zusammenhang ebenfalls konkrete Ansprüche an die Medienpolitik, wobei die Darstellung des<br />

Artikels über die Verurteilung kriminell Vorbestrafter als nicht befriedigend bewertet wird, da nicht alle<br />

Betroffenen kriminell sind. Nicht zu übersehen sind in persönlichen Gesprächen mit Genossen<br />

Äußerungen, daß über personelle Veränderungen der Partei- <strong>und</strong> Staatsführung nachgedacht werden sollte<br />

(z.B. Stadtreinigung, Komb. Getreidewirtschaft u.a.). Über weiter angesprochene Probleme, insbesondere<br />

zur wirtschaftlichen Stärkung unseres Landes, informieren wir am 10.10.1989.<br />

Zu Handel <strong>und</strong> Versorgung<br />

In den Kaufhallen unserer zwei Warenhäuser verlief die Versorgung am heutigen Tag normal, Waren des<br />

täglichen Bedarfs <strong>und</strong> der M<strong>und</strong>produktion waren gut gesichert. Fleisch- <strong>und</strong> Gemüsekonserven nach wie<br />

vor nicht genügend im Angebot, aber nicht neu. K<strong>und</strong>enstrom <strong>und</strong> Abkauf gestaltete sich normal.<br />

Stimmung der Werktätigen durch zugespitzte Arbeitskräftesituation belastet. Darüberhinaus Befürchtung<br />

wegen Abendst<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Angst um eigene Ges<strong>und</strong>heit. Letzteres betrifft insbesondere kleine<br />

Verkaufsstellen im Stadtzentrum. Große Objekte wie Konsument „Am Brühl“ <strong>und</strong> „Centrum-Warenhaus“<br />

waren gesichert. Ansonsten wurde nach Weisung verfahren. Ab 15.00 Uhr in kleineren Verkaufsstellen<br />

des Stadtzentrums traten gezielte Provokateure im Alter zwischen 18 bis 40 Jahren auf, die mit abfälligen<br />

provozierenden Äußerungen über Preise, Warenangebot <strong>und</strong> Qualität sich äußerten, Stimmung gegen<br />

Verkäuferinnen machten bis hin zur Bemerkung: „Na ja, es kommt ja bald anders!“ Entsprechend der<br />

konkreten Lage werden die Maßnahmen zur gezielten Aussprachetätigkeit in den Arbeitskollektiven <strong>und</strong><br />

mit Jugendlichen in den nächsten Tagen fortgesetzt.<br />

Friedensgebet am 09.10.1989<br />

Texte aus dem Friedensgebet sind schon veröffentlicht. Begrüßung (Hanisch et al., 40), Erklärung der<br />

Konferenz der katholischen Priester des Dekanates Leipzig (ebenda), Erklärung der Arbeitsgruppen<br />

Menschenrechte <strong>und</strong> Gerechtigkeit (Kuhn (1992), 83f J, „Aufruf der Sechs“ (Lange, Masur, Meyer, Pommert,<br />

Wötzel, Zimmermann - Hanisch et al., 52), Bericht zweier Mitglieder der Dresdner „Gruppe der 20“ (Kopie<br />

349


im ABL), Rede Bischof Hempels (Hanisch et al., 51f.), Predigt G. Weidel (ebenda 43-46), Texte der<br />

Gottesdienste in den anderen Kirchen (ebenda 47-59). Zur Demonstration s. Zwahr (1993), 79-102 <strong>und</strong> dort<br />

angegebene Literatur.<br />

243 Stasi-Notizen<br />

Notizen des Referatsleiters des Referates XX/7 zur Referatsleitersitzung der Abteilung XX der BV Leipzig<br />

des MfS am 09.10.1989, 19.00 Uhr (BStU Leipzig, AB 1056, 52).<br />

[...] op. Lage<br />

− Zug Marsch K-M-PI – Georgiering<br />

keine Gewalt / GS [Generalsekretär E. Honecker] / Hempel / Masur<br />

− Handzettel sorgt für friedl. Verlauf NF<br />

714<br />

244 SED-Information<br />

712 713<br />

Bericht des Sekretärs der SED-Stadtleitung Leipzig, Abteilung Agitation/Propaganda (Buschmann), vom<br />

10.10.1989 „über die Einschätzung zum Gottesdienst am 9.10.1989 in der Nikolaikirche“ (StAL SED A<br />

5126).<br />

Die eingesetzten Genossen betraten in Gruppen zwischen 13.30 Uhr <strong>und</strong> 14.00 Uhr das Mittelschiff der<br />

Nikolaikirche 715.<br />

Zu diesem Zeitpunkt waren die Emporen der Kirche<br />

noch geschlossen.<br />

Ein Kirchendiener bemerkte dazu: „Wir haben eine neue Situation, deshalb sind die Emporen noch<br />

geschlossen.“ Später wurden die Emporen geöffnet mit der Bemerkung: „ Sie werden jetzt geöffnet, damit<br />

gläubige Menschen am Gottesdienst teilnehmen können.“ Daraus läßt sich schließen, daß mit einem<br />

größeren Besuch unsererseits gerechnet wurde. Während der gesamten 3 St<strong>und</strong>en Vorbereitung zum<br />

712 Rede J. Hempels abgedruckt in: Kuhn (1992), 124f.<br />

713 K. Masur hatte die „Erklärung der sechs“ (Kuhn (1992), 122f.) über den Stadtfunk, welcher Lautsprecher am<br />

Leipziger Innenstadtring stehen hatte, verlesen. H. Hackenberg hat diesen Aufruf am 9.10. per chiffriertem<br />

Fernschreiben an E. Krenz gesandt (StAL SED A 4972). In der Mitteilung an das ZK vom folgenden Tag heißt es<br />

u.a.: „In Abstimmung mit dem 2. Sekretär der Bezirksleitung führten die Sekretäre der Bezirksleitung Pommert,<br />

Wötzel <strong>und</strong> Meyer ein gemeinsames Gespräch mit den 3 Bürgern [Masur, Lange, Zimmermann]. Ziel war es, sie<br />

zu bewegen, sich an die Bevölkerung Leipzigs zu wenden, um Besonnenheit <strong>und</strong> vernünftiges Verhalten für die<br />

zu erwartende abendliche Demonstration zu erreichen. [...] Im Verlauf der harten Diskussion bestand zweimal die<br />

Gefahr, daß die Aussprache durch die Kollegen Masur, Lange <strong>und</strong> Zimmermann abgebrochen würde, wenn in<br />

den notwendigen Dingen nicht auch die Regierung unseres - wie sie immer wieder betonten-Landes einbezogen<br />

ist. [...]“ (FS Nr. 529 vom 10.10., 8.00 Uhr- StAL SED 4972)<br />

714 Gemeint sind die über 1000 Flugblätter des Neuen Forums <strong>und</strong> der Basisgruppen, abgedruckt u.a. in Kuhn<br />

(1992), 82-84<br />

715 „Gesellschaftliche Kräfte“ wurden schon vorher in die Kirche geschickt. Das Besondere am 09.10.1989 war, daß<br />

2000 in die Kirche gehen sollten (s. Entschluß des Chefs der BDVP, der in Abstimmung mit der BEL <strong>und</strong> dem<br />

Ministerium des Innern durchgeführt wurde, teilweise abgedruckt in: Kuhn (1992), 48-51, dort 50). Es gab unter<br />

den „eingesetzten Genossen“ einige, die als „dialogfähig“ eingeschätzt wurden <strong>und</strong> Gesprächsführer sein sollten.<br />

R. Wötzel (Sekretär der SEDBL) behauptete später, er habe vorgehabt, in der Kirche, vermittelt durch einen der<br />

eingesetzten Professoren, den Dialog anzubieten (Kuhn (1992), 113). Pf. Führer schätzt, daß 600 Genossen in der<br />

Kirche gewesen waren (ebenda, 12 1). Über die Aktion, die Genossen in die Kirche zu schicken, urteilte H.<br />

Hackenberg 14 Tage danach so: „<strong>und</strong> wir sind in die Kirche gegangen, Genossen, <strong>und</strong> ich muß sagen, es war<br />

falsch, wir saßen drin <strong>und</strong> die standen draußen.“ (in der Diskussion auf der BL-Sitzung am 24.10.1989 - StAL<br />

SED A 5552). Zum Einsatz der „gesellschaftlichen Kräfte“, s.a. H. Wagner, in: Neues Forum Leipzig, 88-90, <strong>und</strong><br />

Ursula W., in: Brink (1991)<br />

350


Gottesdienst herrschte in der Kirche Ruhe bei leisen Gesprächen: Provokationen bzw. gegenseitiges<br />

Aufwiegeln war nicht zu bemerken. Unsere Genossen haben durch ihre Ruhe <strong>und</strong> Besonnenheit bei den<br />

Vertretern, die regelmäßig an den Gottesdiensten teilnehmen, Wirkung hinterlassen.<br />

Die Genossen teilten zum Gottesdienst folgende inhaltliche Fakten mit:<br />

1. Die Friedensgruppe Nord zeigte im Gottesdienst Leserbriefe aus der LVZ, darunter auch den Brief des<br />

Kampfgruppenkommandeurs716 . Wert wurde auch auf die Briefe gelegt, die ein Dialogangebot<br />

signalisierten. Darunter der Standpunkt von N. Molkenburg717, Verlagsdirektor Edition Peters.<br />

2. Es traten zwei Vertreter aus Dresden auf, die im großen <strong>und</strong> ganzen sachlich über die Ereignisse in<br />

Dresden informierten. Besonders positiv wurde aufgenommen, daß 25 Vertreter von kirchlichen<br />

Gruppen ausgewählt worden sind <strong>und</strong> der OBM Bereitschaft zeigte, mit ihnen zu sprechen.<br />

3. Der Standpunkt von Prof. Kurt Masur, den auch der Kabarettist Bernd-Lutz Lange, der Pfarrer Dr.<br />

Zimmermann <strong>und</strong> die Sekretäre der Bezirksleitung Roland Wötzel, Kurt Meyer, Jochen Pommert<br />

unterzeichneten, wurden in der Kirche unter Angabe aller Namen als Dialogangebot verlesen <strong>und</strong><br />

erhielt von allen Teilnehmern in der Kirche starken, entsprechend der Einschätzung der Genossen,<br />

frenetischen Beifall.<br />

4. Landesbischof Dr. Hempel betrat erst im Verlauf des Gottesdienstes die Nikolaikirche, weil er bereits<br />

zuvor in der Thomaskirche, Nord-Kirche <strong>und</strong> der Reformierten Kirche gepredigt hatte. Er informierte<br />

darüber, daß er vom Stellv. des Rates des Bezirkes auch Gesprächsangebote erhalten habe. Dazu<br />

bemerkte er: „Wir werden es überschlafen <strong>und</strong> Formen dazu finden.“ Während des Gottesdienstes<br />

wurden die Aussagen bestätigt, daß die SED an den entscheidenden Stellen sitzt, „Wir wollen auch mit<br />

denen diskutieren“ Es wurden die Fehler angemahnt, die täglich begangen werden, auch in der Kirche.<br />

Landesbischof Hempel sprach sich dafür aus, den Kopf als Kapitän des Menschen zu nehmen.<br />

Anschließend appellierte er an die Ordnungskräfte <strong>und</strong> umgekehrt, keine Konfrontation <strong>und</strong> Gewalt<br />

anzuwenden. Er forderte alle auf, nicht hastig, aber zügig nach Hause zu gehen.<br />

Entsprechend der Orientierung kam es zu einigen Gesprächen zwischen ausgewählten Genossen <strong>und</strong><br />

Teilnehmern am Gottesdienst. In einem Gespräch wurde über eine Aussage von Vertretern des „Neuen<br />

Forum“ diskutiert, daß eine neue vierseitige Plattform in Ausarbeitung ist, die ein Bekenntnis zum<br />

Sozialismus <strong>und</strong> einen Standpunkt zur Notwendigkeit des Erhaltes von 2 deutschen Staaten beinhalten<br />

würde 718.<br />

Prof. Kurt Reibrich hatte ein Gespräch mit 2 Musikstudenten aus Leipzig, denen er erneuten Kontakt<br />

zusagte. Um ein Gespräch bemühte sich auch der schon bekannte Jochen Lässig, Organisator der nicht<br />

genehmigten Straßenmusik, der sich auch in der Kirche aufhielt.<br />

Zusammenfassend machten die vorbereiteten Genossen [/] Prof. Dr. Held, Vors. BL des KB, [/] Prof. Dr.<br />

Kurt Starke, Jugendforschungsinstitut Leipzig, [/] Prof. Dr. Bernd Okun <strong>und</strong> Prof. Dr. Neuhaus, beide<br />

KMU, [/] auf folgende Punkte aufmerksam:<br />

1. Der Ablauf des Gottesdienstes hat einen guten Beitrag dazu geleistet, daß die Bereitschaft, einen<br />

sinnvollen Dialog zu führen, zugenommen hat.<br />

2. Aus ihrer Sicht sollte die Nikolaikirche nicht mit der im Zusammenhang mit antisozialistischen<br />

Gruppierungen gebracht werden.<br />

3. Unverzüglich sollte sich eine Vielzahl von Dialogpartnern, darunter Verantwortliche von staatlichen<br />

Organen, Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens <strong>und</strong> auch anerkannte Professoren zum Dialog,<br />

besonders mit Jugendlichen, zur Verfügung zu stellen.<br />

In den nächsten Tagen sollte man sich auch über konkrete Themen verständigen, die im Gespräch<br />

716 s. Anm. 661<br />

717 Darin hieß es u.a.: „Ich bin für sachlichen Dialog, aber der ist auf der Straße, unter dem Druck <strong>und</strong> Zwang<br />

solcher Ausuferungen, nicht zu führen.“ (Brief ist abgedruckt in: Neues Forum Leipzig (1989), 79)<br />

718 C. Dietrich erinnert sich, daß es am Abend des 9.10. nach der Demonstration in der Wohnung von M. Arnold mit<br />

R. Schult (Neues Forum, Berlin) in der Diskussion vor allem darum ging, ob die „Deutsche Frage bzw. Einheit“<br />

„nun“, d.h. nach der geglückten Demonstration, thematisiert werden sollte. R. Schult lehnte dies mit Verweis auf<br />

die „Berliner“ Position des Neuen Forums (sogenannter „Offener Problemkatalog“ des Neuen Forum, abgedruckt<br />

u.a. in: Rein [1990]) ab.<br />

351


ehandelt werden sollen.<br />

4. Prof. Okun erklärte sich bereit, auch in der Presse seinen Standpunkt zu Fragen der Dialogführung zu<br />

äußern.<br />

Während des Gottesdienstes wurden in der Kirche Aufrufe des Neuen Forums <strong>und</strong> ein Liedblatt für das<br />

Friedensgebet ausgegeben.<br />

Text: „Neues Forum“ Aufruf 719<br />

Das Neue Forum ruft alle Menschen auf, die mit ihm sympathisieren: Gewalt ist keine Form der<br />

politischen Auseinandersetzung! Laßt euch nicht provozieren! Wir haben nichts zu tun mit rechtsradikalen<br />

<strong>und</strong> antikommunistischen Tendenzen. Wir wollen den offenen Dialog, den besonnenen Dialog, ernstes<br />

Nachdenken über unsere Zukunft, keine blinden Aktionen. Angesichts der gegenwärtigen kritischen<br />

Situation rufen wir alle Menschen der DDR zu verantwortlichem, solidarischem Denken <strong>und</strong> Handeln auf!<br />

4.10.1989 Die Sprecherinnen <strong>und</strong> Sprecher des Neuen Forums“.<br />

245 Staatlicher Ereignisbericht<br />

Information vom Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig, Opitz, an den Vorsitzenden des Ministerrates<br />

der DDR, Stoph, vom 09.10.1989 über das Friedensgebet am 09.10.1989 in Leipzig. Dieser Brief ist die<br />

wörtliche Übernahme eines Telegramms des 2. Sekretärs der Bezirksleitung der SED, H. Hackenberg, an das<br />

Zentralkomitee der SED, Abteilung Parteiorgane, Sektor Parteiinformation. Im Dokument sind diese<br />

Adressaten <strong>und</strong> Absender durchgestrichen <strong>und</strong> Stoph bzw. Opitz per Hand eingesetzt worden 720 (StAL<br />

BT/RdB 22377).<br />

[gez.] Werter Genosse Vorsitzender!<br />

Am Montag, dem 09.10.1989, fanden in 4 Leipziger Kirchen (Nikolaikirche, Reformierte Kirche,<br />

Michaeliskirche <strong>und</strong> Thomaskirche) 17.00 Uhr sogenannte Friedensgebete statt. Bereits während der<br />

sogenannten Friedensgebete <strong>und</strong> danach formierten sich an unterschiedlichen Straßen <strong>und</strong> Plätzen der<br />

Leipziger Innenstadt mehrere 10.000 Bürger, die sich nach den sogenannten Friedensgebeten mit den<br />

Teilnehmern zu einem gemeinsamen Demonstrationszug durch die Leipziger Innenstadt über Karl-Marx-<br />

Platz, Georgi-Ring, Tröndlin-Ring, Dittrich-Ring <strong>und</strong> danach wieder in Richtung Hauptbahnhof<br />

bewegten. Mindestens 5000 Teilnehmer kamen allein mit der Eisenbahn aus anderen Städten der DDR.<br />

Aus vorliegenden Informationen ist die Teilnahme aus den Bezirken Dresden, Karl-Marx-Stadt, Gera,<br />

Cottbus <strong>und</strong> Berlin verbürgt.<br />

Offensichtlich unter dem Eindruck hoher gesellschaftlicher Aktivität progressiver Bürger, der Wirkung<br />

der Veröffentlichungen in der LVZ, besonders vom 09.10., über rowdyhafte Ausschreitungen am 02.10.<br />

<strong>und</strong> 07.10. sowie der starken Präsents [sic!] der Deutschen Volkspolizei <strong>und</strong> der Kampfgruppen der<br />

Arbeiterklasse handelten die Teilnehmer des Demonstrationszuges ohne Gewaltanwendung.<br />

Von einem großen Teil der Teilnehmer wurden solche Worte gerufen wie: „Keine Gewalt“ [/] „Schließt<br />

euch an“ [/] „Wir sind das Volk“ [/] „Gorbi, Gorbi“ [/] „Für Reformen Reformen“ [/] „Forum zulassen“.<br />

Ihre Hauptlosung, die sie auch in Flugblättern <strong>und</strong> auf Transparenten zum Ausdruck brachten, war: [/]<br />

„Enthaltet euch jeder Gewalt.“<br />

Der Demonstrationszug löste sich selbständig gegen 20.30 Uhr ohne Ausschreitungen <strong>und</strong> Vorkommnisse<br />

auf. Die gesellschaftlichen Kräfte sowie die Einsatzkräfte der Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane bewiesen<br />

eine hohe Einsatzbereitschaft, politisches Verantwortungsbewußtsein <strong>und</strong> vorbildliche Pflichterfüllung.<br />

Der gesamte Einsatz erfolgte unter straffer Führung der Partei. Das Zusammenwirken der Schutz- <strong>und</strong><br />

Sicherheitsorgane mit den anderen staatlichen Organen war jederzeit gewährleistet. Positiv wirkten sich<br />

die aktiven Gespräche mit Bischof Hempel, den Vertretern des Landeskirchenamtes <strong>und</strong> den Leipziger<br />

Superintendenten aus.<br />

719 vgl. die beiden Flugblätter, die an diesem Tag in den Kirchen <strong>und</strong> während der Demonstration verteilt wurden<br />

(Kuhn (1992), 82-84). Die zitierte Erklärung liegt im ABL H 17.<br />

720 vgl. a. MfS, ZAIG, Nr. 452/89, in: Kuhn (1992), 140f.<br />

352


Es wird eingeschätzt, daß der Einsatz sein Ziel erreicht hat.<br />

246 Staatlicher Ereignisbericht<br />

Information vom Staatssekretär für Kirchenfragen vom 10.10.1989 an das ZK der SED über das<br />

Friedensgebet am 09.10.1989 Leipzig. Die Information wurde von Löffler unterzeichnet (SAPMO-BArch IV<br />

B 2/14/71).<br />

Am 9. 10. 1989, gegen 20.30 Uhr teilte der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Leipzig, Genosse Rolf<br />

Opitz, mit 721:<br />

Am 9.10.1989 fand zwischen Bischof Hempel <strong>und</strong> dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des<br />

Bezirkes Leipzig für Inneres ein Gespräch über die abendlichen „Friedensgebete“ in den fünf Leipziger<br />

Kirchen statt. Hempel habe nach dem Dresdener Beispiel vom 08.09. 1989 vorgeschlagen, daß er in den<br />

Kirchen den Teilnehmern die Dialogbereitschaft des Staates mitteilt, zu Geduld mahnt <strong>und</strong> aufruft, nach<br />

dem Gottesdienst ruhig nach Hause zu gehen. Nach gegebener Zustimmung hat Hempel in den fünf<br />

Kirchen persönlich das von ihm zugesagte Angebot realisiert.<br />

Ein weiteres Angebot des Rates des Bezirkes, am 10.10. 1989 mit Vertretern der Kirchenleitung ein<br />

Gespräch über die bestehende Lage <strong>und</strong> Vorschläge zur Beruhigung zu führen, wurde von Hempel später<br />

mit der Begründung abgelehnt, daß durch „Einschleusen von nicht bestimmbaren Gruppen eine<br />

unübersichtliche Lage“ entstanden sei. Im Anschluß an die Friedensgebete hat sich eine Demonstration<br />

formiert, die bis auf ca. 50.000 Teilnehmer angewachsen war <strong>und</strong> durch die Innenstadt von Leipzig<br />

marschiert. In Übereinstimmung mit Genossen Egon Kreuz greifen die Ordnungskräfte nicht ein, solange<br />

keine gewaltsamen Aktionen aus der Demonstration heraus stattfinden. Nach einiger Zeit sei festzustellen<br />

gewesen, daß zahlreiche Teilnehmer die Demonstration verlassen. Gegen 22.30 Uhr hatte sich die<br />

Demonstration aufgelöst. Materielle Schäden sind nicht entstanden.<br />

721 s. Dok. 240<br />

353


Anhang


Institutionen, Organisationsstrukturen <strong>und</strong> Ereignisse<br />

Beratung beim 1. Sekretär<br />

Mit Hilfe sogenannter Beratungen bzw. „Führungsgruppen“ sicherte sich der 1. Sekretär der jeweiligen<br />

SED-Leitung den direkten Einfluß bei Vorgängen, die „Sicherheitsfragen“ berührten. So wurde z.B. zur<br />

Absicherung des Kirchentages solch eine Koordinierungsgruppe beim 1. Sekretär der SED-BL<br />

eingesetzt 1 , sie diente vermutlich vor allem der Koordinierung zwischen den zentralen Behörden (StfK,<br />

HA XX) <strong>und</strong> den Bezirksbehörden. Unabhängig von den Beratungen beim 1. Sekretär gab es im Bezirk<br />

auf verschiedenen Strängen eine laufende Abstimmung. Z.B. waren SED-BL <strong>und</strong> RdB in benachbarten<br />

Gebäuden. Der Abteilungsleiter der SED-BL für Sicherheit, K.H. Reinhard, war zugleich „Offizier im<br />

besonderen Einsatz“ des MfS <strong>und</strong> vertrat regelmäßig die SED-BL in der BV des MfS 2 . Die Chefs der<br />

Bezirksbehörden von Polizei, MfS <strong>und</strong> Armee <strong>und</strong> der Vorsitzende des RdB waren zugleich Mitglieder<br />

der SED-BL.<br />

Bezirkssynodalausschuß (BSA)<br />

Der Bezirkssynodalausschuß entstand, nachdem es in Leipzig einige politisch-alternative kirchliche<br />

Gruppen gab, in denen keine Pfarrer mitarbeiteten. Da deutlich wurde, daß die Bindung der Gruppen an<br />

eine Gemeinde dem gesamtgesellschaftlichen Anspruch der Gruppen nicht entsprach 3 , versuchte Sup.<br />

Magirius, eine Anbindung der Gruppen an die Superintendentur zu erreichen. Dafür wurde im Rahmen<br />

der Bezirkssynode Leipzig-Ost ein Ausschuß gebildet. Es wurde der „Bezirkssynodalausschuß für<br />

Friedensdienst, Umweltschutz <strong>und</strong> Dritte Welt“ (später einfach „Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“) geschaffen,<br />

dessen Einrichtung auf der ersten Sitzung der 6. Bezirkssynode Leipzig-Ost am 2. November 1985<br />

beschlossen wurde 4 . Als Mitglieder wurden u.a. die Pfarrer Berger, Mühlmann <strong>und</strong> Wonneberger<br />

gewählt. Einen konkreten Auftrag für den Ausschuß weist das Protokoll der konstituierenden<br />

Bezirkssynodensitzung nicht aus. Die Bezirkssynodalen verstanden den Beschluß als eine Reaktion auf<br />

den Beschluß der Synode des BEK vom September 1985, der die Gemeinden zur Mitarbeit an einem<br />

„Konzil“ für Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung aufrief 5 . Der Ausschuß war<br />

ökumenisch ausgelegt, d.h., in ihm arbeiteten auch katholische Gruppen <strong>und</strong> in der Ephorie Leipzig-West<br />

beheimatete Gruppen mit. Zum Vorsitzenden des BSA wurde Pf. Berger gewählt. Er hat als inoffizieller<br />

Mitarbeiter der Stasi („Carl“) eine wichtige Funktion im Sicherheitskartell gegenüber Kirche <strong>und</strong> Gruppen<br />

gespielt 6 . Pf. Berger wollte, daß der Ausschuß Kontakt zu allen Leipziger Gruppen aufnimmt, die<br />

Gestaltung der Friedensgebete koordiniert <strong>und</strong> die Öffentlichkeitsarbeit der Gruppen zensiert (s. Dok. 20).<br />

Im BSA waren - ähnlich wie später bei den ökumenischen Versammlungen - gewählte Kirchenvertreter<br />

(Bezirkssynodale) <strong>und</strong> Gruppenvertreter formal gleichberechtigt. Faktisch war der BSA jedoch ein<br />

Meinungsbildungsorgan, welches selber nur so weit Kompetenzen hatte, wie sie ihm von der<br />

Bezirkssynode bzw. dem Superintendenten zugestanden wurden. Im BSA waren 1986/87 AG<br />

Umweltschutz, Jugendpfarramt, Frauen für den Frieden, AG Friedensdienst, Initiativgruppe Hoffnung<br />

1 In einem Bericht der Informationsgruppe beim RdB über den Leipziger Kirchentag 1989 heißt es z.B.: „Die unter<br />

Leitung des 2. Sekretärs [der 1. Sekretär war krank] der Bezirksleitung der SED tätige Führungsgruppe<br />

gewährleistete das koordinierte, einheitliche Vorgehen der Partei-, Staats- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane, organisierte<br />

<strong>und</strong> leitete den Einsatz der gesellschaftlichen Kräfte, sicherte eine ständige operative Einflußnahme <strong>und</strong> eine<br />

einheitliche Information.“ (StAL BT/RdB 38326) s. a. S. 472ff.<br />

2 BStU Leipzig AB 3843, 134<br />

3 Magirius (1990b), 9<br />

4 vgl. a. Feydt/Heinze/Schanz, 123 f., Magirius (1990b), 9, Kopie des Beschlusses bei den Herausgebern<br />

5 s. unter Konziliarer Prozeß, S. 482. Am 28. 04.1987 wurde im BSA ausdrücklich auf den Stadtökumenekreis<br />

Dresden als Vorbild verwiesen (ABL H 35).<br />

6 s. Anm. 90 <strong>und</strong> Dokumente 22, 40, 59, 87<br />

355


Nicaragua, Friedenskreis Grünau/Lindenau, der Friedenskreis Gohlis, die IG Leben <strong>und</strong> die AG<br />

Menschenrechte vertreten. Nachdem die Friedensgebete zu Massenveranstaltungen (Anfang Februar<br />

1988) geworden waren, beantragten eine Reihe weiterer Gruppen ihre Aufnahme, um einen Vertreter in<br />

den BSA entsenden zu können <strong>und</strong> die Friedensgebete mitgestalten zu können. Folgende Gruppen wurden<br />

1988 in den BSA aufgenommen (in der Reihenfolge ihrer Aufnahmeanträge): CFK Jugendgruppe, AK<br />

Gerechtigkeit <strong>und</strong> Ökumene, AK Treff für Haftentlassene, Leipziger Bezirksgruppe der Aktion<br />

Sühnezeichen, Konziliarer Prozeß im Vorschulalter, Regionalgruppe Leipzig des AK Solidarische Kirche,<br />

AK Abgrenzung, AK Gerechtigkeit <strong>und</strong> der AK Wehrdienstfragen beim Jugendpfarramt Leipzig. In der<br />

folgenden Zeit war das Hauptthema des BSA das Mitspracherecht der Gruppen bei der Gestaltung der<br />

Friedensgebete. Hier wurde der Terminplan für die Gestaltung der Friedensgebete beschlossen. Als<br />

Kommunikationsmöglichkeit der Gruppen untereinander wurde der BSA jedoch kaum genutzt. Dafür gab<br />

es den von C. Wonneberger installierten monatlichen „Gruppentreff’. Außerdem versuchten ab 1988<br />

einige Gruppenmitglieder, sich ein selbständiges Gremium zu schaffen (s. S. 481).<br />

Ehrenamtliche Mitarbeiter für Kirchenfragen<br />

Das Netz der inoffiziellen Mitarbeiter der Sicherheitsorgane war sehr verzweigt, so daß sich neben den<br />

„gesellschaftlichen Kräften“, den Stasi-Mitarbeitern <strong>und</strong> „inoffiziellen Mitarbeitern“ der Kriminalpolizei<br />

noch weitere Akteure bei kirchlichen oder oppositionellen Veranstaltungen tummelten. Vor allem bei<br />

Gottesdiensten <strong>und</strong> kleineren Veranstaltungen wurden „ehrenamtliche Mitarbeiter“ der Abteilung Innere<br />

Angelegenheiten bzw. der Referate für Kirchenfragen bei den Räten eingesetzt 7.<br />

Diese gaben Informationen, die in die Informationen zur „Kirchenpolitik“ einflossen. Die „ehrenamtlichen<br />

Mitarbeiter“ wurden unter Leitung des RdS regelmäßig geschult 8.<br />

7 Zum Beispiel besuchte „Genosse Himmelreich, ehrenamtlicher Mitarbeiter auf dem Gebiet Kirchenfragen“ ein<br />

Fürbittgebet, berichtete darüber beim Stadtbezirksrat Inneres <strong>und</strong> überbrachte das nach der Andacht verteilte<br />

Informationsblatt (Stadtbezirksrat Inneres Kühnel, Information über Fürbittengebet in St. Lucas am 25.01.1989<br />

an die Stadtbezirksleitung-Nordost der SED, vom 26.01.1989 - StAL SED A 5125). Im „Bericht über die<br />

offensive ideologische Arbeit unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Kräfte zur Zurückdrängung <strong>und</strong><br />

Unterbindung von Übersiedlungsersuchenden nach nichtsozialistischen Staaten <strong>und</strong> Westberlin“, des 1. Sekretärs<br />

der SED-SBL-Mitte vom 17.03.1989 heißt es u.a.: „Durch den kontinuierlichen Einsatz ehrenamtlicher Kräfte für<br />

die Abteilung Inneres haben das Sekretariat, die Sicherheitsorgane <strong>und</strong> der Rat vielfältige Informationen über<br />

geplante Aktivitäten von Antragstellern sowie die Haltung von kirchlichen Würdenträgern in der Nikolaikirche in<br />

bezug auf das `Friedensgebet'. In Abstimmung mit den Sicherheitsorganen wurden <strong>und</strong> werden mit an<br />

durchgeführten demonstrativ feindlichen Handlungen Beteiligten in der Abteilung Inneres<br />

Disziplinierungsgespräche geführt. Gleiches gilt bei bekanntgewordenen geplanten Handlungen. Gespräche des<br />

Stadtbezirksbürgermeisters sowie des Stellvertreters für Inneres mit kirchlichen Würdenträgern zielen, neben der<br />

Erläuterung unserer Politik, auf die Verhinderung feindlicher Demonstrativhandlungen, die in Kirchen ihren<br />

Ausgangspunkt haben, hin.“ (StAL SED N 2601).<br />

8 so Bericht Reitmann vom 29.06.1984 in: „Zur offenen Jugendarbeit`“ (VD 21/84 - StAL BT/RdB 23294).<br />

356


© by C. Dietrich<br />

Die inoffizielle Überwachung <strong>und</strong> Beeinflussung kirchlicher Arbeit<br />

<strong>und</strong> die Unterdrückung oppositionellen Verhaltens Ende der 80er Jahre<br />

Einsatzleitung <strong>und</strong> Mobilmachung<br />

Der Nationale Verteidigungsrat sowie die Bezirks- <strong>und</strong> Kreiseinsatzleitungen (BEL bzw. KEL) waren die<br />

Befehlsebene in „Spannungsperioden“, welche zuständig waren für die Absicherung der<br />

„Landesverteidigung“. Laut Statut der Einsatzleitungen (1981) gehörten zur BEL: Vorsitzender: 1.<br />

Sekretär der SED-BL, 2. Sekretär der SED-BL, Leiter der BV des MfS, Chef des<br />

Volkspolizeibezirksamtes, Vorsitzender des Rates des Bezirkes, Leiter der Abteilung Zivilverteidigung<br />

bei der SED-BL, Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen der SED-BL. Analog setzte sich auch die KEL<br />

zusammen 9 . Die Einsatzleitungen kümmerten sich um die „bewaffneten Organe“, d.h., sie legten die Soll-<br />

Zahlen fest, kontrollierten die Rekrutierung von Armee, Polizei, Kampfgruppen, MfS <strong>und</strong><br />

Zivilverteidigung <strong>und</strong> legten Maßnahmen zur Absicherung der „Wehrbereitschaft“ fest. Sie leiteten<br />

9 Stasi INTERN, 87-91<br />

357


Manöver, waren für „die Mobilmachung im Territorium“ <strong>und</strong> für die Organisierung des<br />

„Vorbeugungskomplexes“, der u.a. die Einrichtung von Internierungslagern vorsah, zuständig10 . Der 1.<br />

Sekretär der SED-Leitung (s. Dok. 58), der Vorsitzende des Rates <strong>und</strong> die Chefs von MfS (AGL) <strong>und</strong><br />

Polizei hatten jeweils eine eigene Arbeitsgruppe zur Arbeit in der Einsatzleitung. Wie der Sonderausschuß<br />

zur Untersuchung von Amts- <strong>und</strong> Machtmißbrauch infolge der SED-Herrschaft beim Sächsischen Landtag<br />

nachgewiesen hat, ging es den Einsatzleitungen in den 80er Jahren vor allem um die „Überwindung<br />

innerer Spannungsperioden“ 11 . Offensichtlich bereiteten sich die Einsatzleitungen auf<br />

bürgerkriegsähnliche Zustände vor. Außerdem waren sie - neben den SED-Sekretariaten - zentrale<br />

Gremien zur Einschätzung der Lage. So befaßten sie sich auch mit der Entwicklung der<br />

Ausreisebewegung oder der oppositionellen Gruppen im Territorium12 . Stasi-Minister Mielke hatte als<br />

Direktive für den „Verteidigungszustand <strong>und</strong> in Spannungsperioden“ festgelegt, daß Personen, „die unter<br />

dem begründeten Verdacht stehen, staatsfeindliche Handlungen zu begehen, zu dulden oder davon<br />

Kenntnis zu haben“, „schlagartig <strong>und</strong> in kürzester Frist“ festzunehmen sind. Daneben seien Personen, „die<br />

unter dem begründeten Verdacht stehen, durch ihre Handlungsweise gegen die Interessen der Sicherheit<br />

der DDR <strong>und</strong> ihrer Verteidigungsbereitschaft zu verstoßen“, zu isolieren13 . Es läßt sich zeigen, daß die<br />

Einsatzleitungen diese Festnahmen, Isolierungen <strong>und</strong> vermutlich auch Liquidationen14 zu organisieren<br />

hatten. Nach dem Bericht der B V Leipzig des MfS „über den Stand der Einsatz- <strong>und</strong><br />

Mobilmachungsbereitschaft“ vom 14.12.1988 waren für den Mobilmachungsfall in Leipzig 176<br />

Festnahmen <strong>und</strong> 261 Isolierungen, d. h. Verbringungen in eigens dafür eingerichtete Internierungslager 15,<br />

von oppositionellen Bürgern innerhalb von 24 St<strong>und</strong>en vorgesehen16 . Im Herbst 1989 begann das<br />

Sicherheitskartell, die für den Ausnahmezustand geplanten Maßnahmen umzusetzen. Als die DDR-<br />

Oppositionsgruppen dazu übergingen, landesweite politische Gruppierungen zu bilden <strong>und</strong> in Polen,<br />

Ungarn <strong>und</strong> der Sowjetunion die Reformen auch eine Beteiligung von Oppositionellen an der Macht nicht<br />

mehr ausschloß, begann sich die strategische Orientierung des Sicherheitskartells zu wandeln. War man<br />

Anfang der 80er Jahre dazu übergegangen, einen Krieg in Mitteleuropa für die nächste Zukunft<br />

auszuschließen, so sprach Mielke im April 1989 davon, daß die Kriegsgefahr nicht eingedämmt sei17 . Zu<br />

der Fastenaktion dreier Leipziger Oppositioneller im August 1989 gegen die DDR-“Leibeigenschaft“ (s.<br />

Dok. 189) sagte Mielke, daß sie „fast einen Krieg führen wollten“ 18. Am 26.09.1989 befahl Honecker als<br />

Chef des Nationalen Verteidigungsrates die Herstellung der „Führungsbereitschaft“ der Einsatzleitungen 19<br />

<strong>und</strong> als SED-Chef die Isolierung’ der Oppositionsführer 20. Dies war der erste Schritt für eine mögliche<br />

Mobilmachung. Am 08.10. gab Mielke die Anweisung, kurzfristige „Zuführungen bzw. Verhaftungen“<br />

vorzubereiten 21.<br />

Der Leiter der BV Leipzig legte dieses Mielke-Telegramm so aus, daß Maßnahmen<br />

10 Stasi INTERN, 92-95 <strong>und</strong> Zwischenbericht des Sonderausschusses zur Untersuchung von Amts- <strong>und</strong><br />

Machtmißbrauch infolge der SED-Herrschaft beim Sächsischen Landtag, vom 27.05.1993. Als Tagungstermine<br />

der BEL Leipzig lassen sich sicher feststellen: 28.03.88, 16.05.88, 27.06.88, 14.22.88, 30.01.89, 12.06.89,<br />

18.09.89, 03.10.89, 09.10.89.<br />

11 Zwischenbericht..., 2 L So waren die Manöver der 80er Jahre immer häufiger auf Auseinandersetzungen mitder<br />

eigenen Bevölkerung gerichtet (z.B. Bericht M. Gerlach, in: Kuhn (1992), 44f.)<br />

12 vgl. zu BEL: Stasi INTERN, 89-91 <strong>und</strong> Dok. 57<br />

13 Mielke, Direktive 1/67, Anlage 1 <strong>und</strong> Durchführungsbestimmungen, Zitat nach: Zwischenbericht, 17, vgl.<br />

Durchführungsbestimmung Nr. 1 zur Direktive Nr. 1/67 (teilweise in: Przybylski (1991), 398ff.)<br />

14 Zwischenbericht..., 24f.<br />

15 Das Leipziger Internierungslager war innerhalb eines Werkes in Espenhain geplant, als Zwischenlager war eine<br />

große Messehalle vorgesehen (Minderheitenvotum...).<br />

16 Anlage zum Minderheitenvotum..., S.1541-1565,1559<br />

17 Mielke auf Dienstberatung mit Leitern der B Ven, so Bericht am 12.5. in Arbeitsbuch des Referatsleiters XX/4<br />

der BV Leipzig (BStU Leipzig AB 1137)<br />

18 Mitter/Wolle, 138<br />

19 Befehl 8/89, abgedruckt in: Przybylski (1992), 367-369<br />

20 Fernschreiben vom 26.09.1989 an die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen (abgedruckt in: Spiegel 17/1990,<br />

79)<br />

21 Dienstanweisung ist u.a. abgedruckt in: Und diese verdammte Ohnmacht, 318ff.<br />

358


einzuleiten seien, die für Spannungsperioden vorgesehen waren22 . Die Listen der festzunehmenden <strong>und</strong> zu<br />

isolierenden Personen wurde aktualisiert 23 <strong>und</strong> auch der Einsatz von Militär (am 9.10. 24 ) gegen<br />

Demonstranten vorgesehen 25.<br />

Gesellschaftliche Kräfte<br />

In der DDR wurden mit „gesellschaftlichen Kräften“ einerseits alle politisch aktiven26 oder zumindest alle<br />

in offiziellen Verbänden organisierten Bürger27<br />

<strong>und</strong> andererseits ausdrücklich eingesetzte Claqueure<br />

bezeichnet. Diese „gesellschaftlichen Kräfte“ waren Personen, die nebenberuflich von der SED zu deren<br />

Sicherheitseinsätzen hinzugezogen wurden. Der Einsatz geschah nach Vorgaben, die vom MfS erarbeitet<br />

wurden <strong>und</strong> von den entsprechenden Sekretariaten der SED beschlossen wurden. Nach der Demonstration<br />

am 15.01.1989 befahl das Sekretariat der SED-BL, verstärkt Gruppen „gesellschaftlicher Kräfte“ zur<br />

„Verhinderung von Provokationen oder anders gearteter Störungen der öffentlichen Ordnung <strong>und</strong><br />

Sicherheit“ zu bilden. Besonders in Leipzig sollte eine größere Zahl einsatzfähig sein28 . Wie es in den<br />

Beschlüssen heißt, sollte das MfS die SED-Sekretäre dabei „wirksam unterstützen“. Der Leiter der BV des<br />

MfS sah folgende Einsatzmöglichkeiten für die „gesellschaftlichen Kräfte“: 1. bei Veranstaltungen der<br />

Opposition zur offensiven Auseinandersetzung, 2. als „Gruppen zum Auflösen, Isolieren, Abdrängen,<br />

Durchdringen“ der Opposition, 3. zur „offensive Auseinandersetzung bei [staatlichen] K<strong>und</strong>gebungen<br />

gegen [...] Störer“ <strong>und</strong> 4. als Zeugen <strong>und</strong> zur „Beweissicherung“. Er dachte dabei an Gruppen von<br />

höchstens 30 Personen29 . Eingewiesen wurden die „gesellschaftlichen Kräfte“ vom MfS, für den Einsatz<br />

verantwortlich war jedoch der jeweilige 1. bzw. 2. Sekretär der SED-Leitung. Hinzugezogen wurden vor<br />

allem FDJ1er (FDJ-Ordnungsgruppen), Kampfgruppenangehörige, Mitarbeiter aus den staatlichen<br />

Betrieben <strong>und</strong> Universitätsangehörige. Um zum Beispiel eine Demonstration nach dem Friedensgebet am<br />

23.01.1989 zu verhindern, wurden durch die Stadtleitung der SED „ca. 400 Genossinnen <strong>und</strong> Genossen<br />

aus dem Partei- <strong>und</strong> Staatsapparat sowie aus Gr<strong>und</strong>organisationen der Kombinate <strong>und</strong> Betriebe“<br />

zusammengerufen, in der Leipzig-Information eingewiesen <strong>und</strong> dann auf das Gebiet um die Nikolaikirche<br />

verteilt 30.<br />

22 S. Maßnahmenkatalog vom 08/09.10.1989 der Abt. XX (BStU Leipzig AB 1077, 56)<br />

23 Liste der KD Leipzig mit dem Titel „Im Rahmen des Vorbeugungskomplexes zuzuführende Personen, die dem<br />

politischen Untergr<strong>und</strong> zuzuordnen sind“ (vom 9./11.10.1989 - ABL Internierungslager Leipzig), dort werden<br />

121 Personen aufgeführt. Eine ähnliche Liste ist vermutlich auch von der BV Leipzig zusammengestellt worden.<br />

24 s. Kuhn (1992)<br />

25 Die Kampfgruppen wurden schon vor dem September 1989 eingesetzt, so z.B. zur Absicherung der<br />

„Maimanifestation“ am 01.05.1989. Am 2.10.1989 kamen 3 H<strong>und</strong>ertschaften in Leipzig zum Einsatz. s.a.<br />

Besier/Wolf, 608<br />

26 vgl. Offener Brief der Fastenstafette 1986 (Dok. 19), Flugblatt vom 09.11.1988 (Dok. 104) <strong>und</strong> die Forster<br />

Eingabe (Dok. 211), vgl. auch die doppelbödige Verwendung bei Pommert (Dok. 176)<br />

27 s. S. 95 <strong>und</strong> S. 326<br />

28 Beschluß zur offensiven politisch-ideologischen Arbeit mit allen Bürgern unter besonderer Berücksichtigung<br />

jener, die negativen bzw. feindlichen Einflüssen unterliegen (Beschluß-Nr. 45/89, die Vorlage wurde von H.<br />

Schumann erarbeitet - StAL SED A 5524 <strong>und</strong> H. Schumann, Information über erste Ergebnisse bei der<br />

Umsetzung des Beschlusses über Maßnahmen zur Verstärkung der offensiven politisch-ideologischen Arbeit<br />

vom 01.02.1989, Beschluß-Nr. 123/89 - StAL SED A 5527).<br />

29 Notizen Hummitzsch (BStU Leipzig AB 3843, 148ff.) <strong>und</strong> „Maßnahmen zur Auswahl, zur Qualifizierung, zum<br />

Einsatz sowie Führung gesellschaftlicher Kräfte zur Verhinderung von Provokationen oder anders gearteter<br />

Störungen der öffentlichen Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit im Bezirk Leipzig“ des Leiters der BV Leipzig des MfS, die<br />

vom 1. Sekretär der SED-BL bestätigt wurde (14.02.1989, abgedruckt in: STASI intern, 56-59), s.a. Mitter/Wolle<br />

(1990), 54f.<br />

30 s. Dok. 131 Im Jahresplan der Abteilung XX der BV MfS Leipzig für 1989 heißt es: „Die Kader der unter<br />

Verantwortung der Kreisleitung der SED an der KMU Leipzig gebildeten Formation gesellschaftlicher Kräfte [/]<br />

- zur operativen Kontrolle von Zusammenkünften von PUT-Kreisen, vor allem in Kirchen; [/] - zur offensiven<br />

Auseinandersetzung mit in derartigen Zusammenkünften vertretenen feindlich-negativen Positionen [/] werden<br />

359


Am 7. Mai 1989 sollen allein im Stadtbezirk Leipzig-Mitte 1350 „gesellschaftlichen Kräfte“ 31<br />

einsatzbereit gewesen sein32 . Zum Kirchentag gab es einen größeren Einsatzstab unter Leitung der SED-<br />

SL. Für den 9. Oktober 1989 hatte die Bezirkseinsatzleitung den Einsatz von über 5000 gesellschaftlichen<br />

Kräften geplant. Davon sollten allein 2000 in die Nikolaikirche gehen 33.<br />

Kampfgruppen<br />

Die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ waren paramilitärische Organisationen in den volkseigenen<br />

Betrieben. Die „Kämpfer“ waren ehrenamtliche Mitglieder - ähnlich wie bei der Freiwillige Feuerwehr.<br />

Die Ausbildung (Gr<strong>und</strong>ausbildung 132 St<strong>und</strong>en) erfolgte außerhalb der Arbeitszeit. Die Kampfgruppen<br />

wurden nach dem Aufstand 1953 ausgebaut <strong>und</strong> bildeten zusammen mit Armee, MfS <strong>und</strong><br />

Bereitschaftspolizei das militärische Rückgrat der SED-Herrschaft. Demonstriert wurde dies beim Bau der<br />

Mauer 1961. Die Kampfgruppen sollten in Spannungsperioden eine Schlüsselrolle spielen34 . Die<br />

Kampfgruppen unterstanden dem Innenministerium <strong>und</strong> wurden von den Polizeiämtern angeleitet. Sie<br />

wurden auch in Zivil - ähnlich wie die „gesellschaftlichen Kräfte“ eingesetzt35 . 1988/89 mußten die<br />

Einsatz- <strong>und</strong> SED-Leitungen jedoch feststellen, daß sich die Kampfgruppen nicht bedingungslos gegen die<br />

Bevölkerung einsetzen ließen 36. Bei Einsätzen gegen Demonstranten im Herbst 198937<br />

gab es<br />

verschiedentlich Befehlsverweigerungen 38.<br />

im Planjahr 1989 weiter qualifiziert <strong>und</strong> eingesetzt. Der differenzierte Einsatz dieser Formation zu ausgewählten<br />

Veranstaltungen <strong>und</strong> ihre Instruierung erfolgt in Abstimmung mit der Abteilung XX durch einen Beauftragten der<br />

SED-Kreisleitung. Die eingesetzten Kader sind in Zusammenarbeit mit der erfassenden DE dem Klärungsprozeß<br />

Wer ist wer?' zu unterziehen (Termin: 31.03.1989). [/] Zu sichern ist die ständige Qualifizierung dieser Kader im<br />

Zusammenwirken mit der SED-Kreisleitung der KMU. Die Führungskräfte der Formation sind - soweit noch<br />

nicht erfolgt - als IM/GMS zu verpflichten (Termin 31.03.1989)“ (Jahresplan des Leiters der Abteilung XX,<br />

(GVS 153/88) - ABL H 8)<br />

31 „Abgeschlossen ist die Auswahl der Agitatoren <strong>und</strong> gesellschaftlichen Kräfte für den Wahltag. Insgesamt stehen<br />

für den Einsatz am 7. 5. 1989 über 1350 Agitatoren im Stadtbezirk zur Verfügung. Davon 350 Agitatoren der<br />

zusätzlichen Agitatorenreserve, einschließlich der KMU, die in 4 Stützpunkten untergebracht sind. Über 1000<br />

Agitatoren kommen aus den Reihen der gesellschaftlichen Kräfte der Wohngebiete <strong>und</strong> der Partnerbetriebe.<br />

Abgeschlossen ist auch die Formierung der 100 zusätzlichen gesellschaftlichen Kräfte für den Wahltag.“<br />

(Information der SED-SBL-Mitte „über den Stand der politisch-ideologischen <strong>und</strong> organisatorischen<br />

Abschlußvorbereitung für den Wahltag am 7.5.1989“, vom 06.05.1989 - StAL SED N 2601)<br />

32 Am 7.05.1989 fand die sogenannte Wahl statt. Als Protest gegen diese Farce hatten die Leipziger Gruppen zu<br />

verschiedenen Aktionen aufgerufen, u.a. zu einer Demonstration auf dem Markt. Dort standen dann die<br />

„gesellschaftlichen Kräfte“ in einzelnen Gruppen <strong>und</strong> warteten auf Demonstranten (Dietrich (1994)).<br />

33 Entschluß des Chefs der BDVP Leipzig zum Ordnungseinsatz am 9. Oktober 1989 (06.10.1989), in: Kuhn<br />

(1992), 48-51, 50. In der Kirche waren nach kirchlichen Schätzungen ca. 1000 (C. Führer in: Löscher/Vogel, 138,<br />

Führer (1993): ca. 600). Darunter befanden sich einige Leipziger Professoren (s. Dok. 244, s.a. Bericht H.<br />

Wagner, in: Jetzt oder nie - Demokratie, 88-90 <strong>und</strong> M. Werner in: Löscher/Vogel, 139f.).<br />

34 vgl. Dok. 235<br />

35 Beschluß des Sekretariats der SED-BL Nr. 103/89 (StAL SED A 5526)<br />

36 Z. B. legte das VPKA am 11.05.1989 im Sekretariat der SED-SL einen „Bericht zum Stand der Durchsetzung der<br />

Aufgaben bei der Gewährleistung der Kampfkraft <strong>und</strong> Gefechtsbereitschaft in den Einheiten der Kampfgruppen<br />

der Arbeiterklasse im 1. Ausbildungshalbjahr 1989“ vor, in dem es u.a. heißt: „Handlungen der Kampfgruppen<br />

gegen Störer, die unter Umständen zu den Kollegen oder zum Bekanntenkreis der Kämpfer zählen, ließen in den<br />

Einheiten wiederholt Fragen <strong>und</strong> Zweifel bei den Angehörigen aufkommen, die in Einzelfällen die<br />

Notwendigkeit der Einsätze in Frage stellen.“ (StAL SED A 5121 <strong>und</strong> N 896) vgl. Besier/Wolf, 608<br />

37 Dok. 222, 230, 235, 238<br />

38 s. Anm. 680<br />

360


Kirchenstruktur in Leipzig bzw. Sachsen<br />

In Leipzig gibt es 37 evangelische Gemeinden <strong>und</strong> 11 katholische Pfarreien. Die evangelische Kirche in<br />

der DDR hatte in Leipzig ihre größte eigene theologische Ausbildungsstätte. Am Theologischen Seminar<br />

studierten ca. 200 Studenten 39 . Außerdem gibt es ein Predigerkolleg (St. Pauli mit ca. 25 Seminaristen)<br />

<strong>und</strong> eine Vielzahl an Altersheimen <strong>und</strong> Einrichtungen der Inneren Mission (Diakonie).<br />

39 s. Vogler et al.<br />

Verfassungsstruktur der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens:<br />

361


Kirchentag in Leipzig 1989<br />

Die staatliche Genehmigung des Kirchentages<br />

Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens wollte aus Anlaß der 450-Jahrfeier der Reformation<br />

1989 in Leipzig einen Kirchentag (KT) durchführen. Es war der einzige überregionale KT des Jahres 1989<br />

in der DDR. Im Dezember 1987 hatten sich der Staatssekretär für Kirchenfragen, die AG Kirchenfragen<br />

beim ZK der SED <strong>und</strong> Verantwortliche im Bezirk Leipzig (Opitz, Urbaneck, Reitmann) darauf<br />

verständigt, daß der KT stattfinden dürfe. Am 05.01.1988 wurde dies Bischof Hempel <strong>und</strong> der<br />

Öffentlichkeit mitgeteilt. In den folgenden Monaten begannen die Absprachen zwischen dem<br />

Landesausschuß für Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag (LA) <strong>und</strong> dem RdB. Der sächsische LA ist stark geprägt<br />

worden durch J. Cieslak <strong>und</strong> die theologische Idee einer missionarischen Kirche („Mission als<br />

Strukturprinzip“). So war das im März 1988 vorgelegte Konzept des Landesausschusses auch stark auf<br />

Öffentlichkeit, d.h. die Einbeziehung öffentlicher Plätze (Zentralstadion, Sachsenplatz im Zentrum der<br />

Stadt, Oper, Gewandhaus ...), orientiert. Eine Nutzung dieser Räume war vom staatlichen Wohlwollen<br />

abhängig <strong>und</strong> erforderte eine gute Diplomatie. Der Kirchentagskongreß (KTK) war 1968 aus einer Not<br />

geboren worden: Als der Staat die Durchführung eines Kirchentages untersagte, gestaltete die sächsische<br />

Kirchenleitung in kirchlichen Räumen einen (kleinen) Kongreß <strong>und</strong> demonstrierte damit ihre<br />

Unabhängigkeit. 1988/89 knüpften die staatlichen Vertreter die Bereitstellung öffentlicher Räume an die<br />

Vorlage der (inhaltlichen) Programme der Veranstaltungen <strong>und</strong> versuchten so, bei der Gestaltung des KT<br />

mitzureden40 . Der Staat wollte eine Darstellung der politisch-alternativen Gruppen <strong>und</strong> einen<br />

„politischen“ KT verhindert wissen. Schon beim ersten offiziellen Gespräch zwischen dem LA <strong>und</strong> dem<br />

RdB Leipzig versuchte der Staat darüber hinaus auch über den LA auf die Gestaltung der Friedensgebete<br />

Einfluß zu nehmen (s. Dok. 91). Der staatliche Druck wuchs, nachdem Gruppen gegen die staatliche<br />

Zensur der Kirchenzeitungen demonstrierten. Nun hieß das staatliche Ziel: Kirchentag ohne<br />

Öffentlichkeit41 . So versuchte der Staat mit einigem Erfolg, die Veranstaltungen aus der Innenstadt in<br />

Außenbezirke zu verlegen. Der Kongreß erhielt Quartier in einem abgegrenzten Bereich des<br />

Messegeländes, wofür er eine hohe Miete zahlen mußte <strong>und</strong> sich ins Programm reden ließ. Die<br />

„Absicherung“ des Kirchentages wurde im Oktober 1988, nachdem der Stellvertretende Vorsitzende des<br />

RdB für Inneres wochenlang vergeblich auf zentrale Anweisungen gewartet hatte, in die Verantwortung<br />

des Bezirkes gelegt. Dies konnte die SED-BL auch mit dem Verweis nicht verhindern, „daß es bereits vor<br />

35 Jahren schon einmal in Leipzig einen Kirchentag gegeben hat, der unter dem Motto ‚Gesamtdeutsches<br />

Treffen’ stand“ 42. Die erste Abstimmung des 1. Sekretärs der SED-BL mit dem Leiter der B V des MfS,<br />

dem Chef der BDVP <strong>und</strong> dem RdB fand am 15.12.1988 statt. Nachdem es in Leipzig am 15.01.1989 zu<br />

einer großen Demonstration für Meinungs- <strong>und</strong> Versammlungsfreiheit kam, versuchte der Staatssekretär<br />

für Kirchenfragen, in einem „vertraulichen“ Gespräch mit Bischof Hempel die Zusage für den Leipziger<br />

KT zurückzunehmen bzw. die Kirchenleitung zu bewegen, den KT nach Riesa zu verlegen43 , was jedoch<br />

von J. Hempel abgelehnt wurde (Dok. 132 <strong>und</strong> 133). Der Staat mußte also davon ausgehen, daß in der<br />

Stadt, die nach Ansicht des Sicherheitskartells zu einem Zentrum der Opposition geworden war, ein KT<br />

stattfand. Anfang März 1989 erteilte E. Honecker auf Wunsch des 1. Sekretärs der SED-BL44 die<br />

endgültige Zusage für den KT. Sie sollte als „Ausnahme“ <strong>und</strong> außergewöhnliches Entgegenkommen<br />

gegenüber der sächsischen Landeskirche <strong>und</strong> Bischof Hempel gewertet werden, denn „in Leipzig könnte<br />

man das [eigentlich] nicht machen“ 45.<br />

40 Beschluß des Sekretariates des ZK der SED vom 15.03.1988. Am 08.06.1988 informierte J. Cieslak Reitmann in<br />

einem „Vieraugengespräch“ über die einzelnen Pläne zum KT.<br />

41 Beratung am 19.10.1988 zwischen Löffler, Opitz, Kraußer, Blecha <strong>und</strong> Reitmann<br />

42 Urbaneck an Kraußer (StAL BT/RdB 20715)<br />

43 Information vom 02.03.1989 <strong>und</strong> Kalb an Jarowinsky vom 31.01.1989 (SAPMO-BArch IV B 2/14/104)<br />

44 „Mit der weiteren Kirchentagsvorbereitung würde ganz im Sinne der Differenzierung Landesbischof Dr. Hempel<br />

die Möglichkeit gegeben, international <strong>und</strong> innerkirchlich verstärkt in positiver Weise wirksam zu werden <strong>und</strong><br />

auch als einer der Präsidenten des Weltkirchenrates entsprechend aufzutreten.“ (Brief H. Schumanns vom<br />

07.03.1989 - BArch 0-4 986)<br />

45 Handschriftliche Notiz mit der Überschrift „Antwort E.H.“ auf Information der Abt. II des StfK vom 08.03.1989<br />

362


Die Gruppen <strong>und</strong> der Kirchentag<br />

Nachdem es zum Berliner (1987) <strong>und</strong> Hallenser (1988) Kirchentag zu Kirchentagen „von unten“<br />

gekommen war <strong>und</strong> der KT in Frankfurt/Main mit seinem breiten Angebotscharakter kirchliche Identität<br />

scheinbar nicht mehr „geschlossen“ darstellen konnte, hatte der LA ein großes Interesse daran, daß der<br />

Leipziger KT ein „Fest des Glaubens“ wird, bei dem die kleine Schar engagierter Christen Trost erfährt<br />

<strong>und</strong> Mut erhält. So wurde der Bibelvers „Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst?“ zum<br />

Kirchentagsmotto. Vermutlich war diese Orientierung auch eine Reaktion auf die Spannungen zwischen<br />

Gruppen der „Geistlichen Gemeindeerneuerung“ (vor allem aus dem Erzgebirge) <strong>und</strong> den politischengagierten<br />

„Stadtgruppen“, denen die sächsische Landeskirche unterworfen war. Der LA versuchte eine<br />

stärkere biblische Zentrierung des KT 46 <strong>und</strong> beschloß im Sommer 1988, keinen „Markt der<br />

Möglichkeiten“ (bei dem Basisgruppen auf den Kirchentagen 1987 <strong>und</strong> 1988 die Möglichkeit hatten, sich<br />

selbst darzustellen) durchzuführen.<br />

Die Leipziger Gruppen stellten im Juni 1988 an den LA den Antrag, in die Kirchentagsvorbereitung mit<br />

einbezogen zu werden 47 . Jedoch erst im Januar 1989 reagierte der LA auf diesen B rief der Leipziger<br />

Gruppen <strong>und</strong> teilte den Beschluß des Landesausschusses mit, anstelle eines „Marktes“ einen „Treffpunkt-<br />

Glauben heute“ zu gestalten. Die Beiträge der mitgestaltenden Gruppen sollten Antwort geben auf die<br />

Frage, wie ihr Engagement von der Bibel her motiviert wird 48 . Bevor dieser Brief abgesandt wurde, hatte<br />

ein Vertreter des Landesausschusses dem RdB schon mitgeteilt, welche <strong>und</strong> wie die Gruppen zur<br />

Mitarbeit an diesem Forum eingeladen werden sollten 49 . Eine Verständigung zwischen dem LA <strong>und</strong><br />

verschiedenen Basisgruppen kam trotz Einschaltung des Landesbischofs 50 <strong>und</strong> eines Protestes der<br />

sächsischen Basisgruppen vom 28.01.1989 51 nicht zustande. Bei einem Treffen zwischen Vertretern des<br />

LA <strong>und</strong> der Gruppen am 21.02.1989 wurde gegenüber dem LA behauptet, daß der geplante KT nur die<br />

„Frommen“ erreichen würde <strong>und</strong> gerade keine missionarische Ausstrahlung zeige. Pf. Berger warf dem<br />

LA vor, daß er die Gruppen bewußt ausgrenze <strong>und</strong> damit zwingen würde, ein eigenes Forum zu<br />

schaffen 52 . Da die Lukas-Kirche nicht als Veranstaltungsort im Kirchentagsprogramm vorgesehen war<br />

<strong>und</strong> mit Hilfe von Pf. Wonneberger der Kirchenvorstand für eine mehrtägige Nutzung der Kirche <strong>und</strong> der<br />

Gemeinderäume zu gewinnen war, fand dort der Statt-Kirchentag der Basisgruppen statt. Der Staat<br />

tolerierte ihn in der Hoffnung, daß dann die Gruppen nicht auf dem KT vertreten wären <strong>und</strong> in der<br />

Öffentlichkeit (vor ökumenischen Gästen) keine „brennenden Themen“ <strong>und</strong> Kritik am SED-Regime<br />

angesprochen würden. Auf der Pressekonferenz am ersten Tag des Kirchentagskongresses (06.07.1989)<br />

faßte J. Cieslak die Auseinandersetzungen mit Staat <strong>und</strong> Gruppen im Vorfeld des Kirchentages sinngemäß<br />

folgendermaßen zusammen: ‘Die Kongreßarbeit ist nicht öffentlich. Es gab lange Verhandlungen mit dem<br />

Staat, die kompliziert waren. Es gab Sorge beim Staat wegen der Trittbrettfahrer 53 , mit denen wir nichts<br />

zu tun haben. Es kam zu einem Kompromiß mit den staatlichen Organen, der ein ausgezeichnetes<br />

Verhältnis zwischen uns geschaffen hat. Die Journalisten sollen zeigen, was die Kirche in der DDR kann,<br />

<strong>und</strong> deutlich machen, daß man zur Bibel zurückfinden muß.’ Worte, die die öffentliche Wahrnehmung des<br />

(BArch 0-4 1405). Dort heißt es weiter: „Wir legen fest, wo Kirchentag stattfindet.“ Eine ähnliche Position<br />

vertrat Löffler auf einer Besprechung zwischen StfK, AG Kirchenfragen beim ZK, MfS ... am 04.04.1989 in<br />

Vorbereitung des KT (s. Dienstreisebericht Müller - StAL BT/RdB 20715).<br />

46 Dr. Geissler begründete dies in der Eröffnung des KT auch mit der Säkularisierung, die zu einem Verlust von<br />

Bibelkenntnissen bis in den Kern der Gemeinden geführt habe (Wegmarken, 17).<br />

47 „Damit wollen die Gruppen signalisieren, daß ihnen an einem Miteinander mit unserer Kirche gelegen ist <strong>und</strong> ein<br />

Kirchentag von unten' als isolierte Gegenbewegung ihnen nicht sinnvoll erscheint.“ Brief des BSA (Berger) vom<br />

27.06.1988 (ABL H 22).<br />

48 Vgl. Wegmarken, 59<br />

49 Information zum Gespräch mit Diakon Hänisch am 16.01.1989 von A. Müller (StAL BT/RdB 20715)<br />

50 Brief von Vertretern des BSA vom 15.01.1989 an Bischof Hempel (ABL H 22)<br />

51 s. Anm. 425<br />

52 Einen entsprechenden Beschluß hatte der BSA schon am Vortage gefaßt (ABL H 22).<br />

53 vgl. Dok. 179<br />

363


KTK <strong>und</strong> KT <strong>und</strong> dessen Abgrenzung gegenüber den politisch-alternativen Gruppen bestimmten54 . Trotz<br />

dieser Abgrenzung versuchten Basisgruppenvertreter, auf dem KTK <strong>und</strong> dem KT ihre Forderungen <strong>und</strong><br />

Positionen zu vertreten. Es wurden verschiedene Flugblätter verteilt55 <strong>und</strong> dies, obwohl ein großer Stab<br />

kirchlicher Ordnungskräfte angewiesen war, ungeplante Aktionen zu verhindern 56.<br />

Der Statt-Kirchentag war ein wichtiges Forum der Opposition (über 1000 Teilnehmer 57 ). Hier wurden<br />

Fotos über die Polizeieinsätze gegen Demonstranten in Leipzig gezeigt, Unterschriften unter verschiedene<br />

Petitionen <strong>und</strong> Solidaritätserklärungen gesammelt, ca. 40 verschiedene Publikationen u. a. zur<br />

Wahlfälschung, zur Teilung Deutschlands oder zur Jugendarbeit in der Kirche verteilt <strong>und</strong> verschiedene<br />

Vorträge <strong>und</strong> Diskussionen durchgeführt. Z.B. fand hier eine offene Podiumsdiskussion zwischen<br />

verschiedenen Vertretern der Opposition (Ludwig Mehlhorn, Edelbert Richter, C. Wonneberger), Hester<br />

Minnema (Internationale Helsinki Föderation für Menschenrechte, Wien) <strong>und</strong> Erhard Eppler (SPD) zum<br />

„Haus Europa“ <strong>und</strong> den „deutschen Zimmern“ statt 58 . Vergleichbares hatte es auf dem offiziellen<br />

Kirchentag nicht gegeben. In Anlehnung an die Vorgänge nach den Friedensgebeten versuchten einige<br />

Leipziger Gruppenmitglieder, am Ende des Kirchentages eine Demonstration durchzuführen. Auf einem<br />

Transparent hatten sie die beiden chinesischen Schriftzeichen für „Demokratie“, auf einem anderen hatten<br />

sie „Nie wieder Wahlbetrug“ geschrieben. Sie zogen damit auf die Abschlußveranstaltung des<br />

Kirchentages. Dort nahmen ca. 1.500 Kirchentagsteilnehmer an ihrer Demonstration teil. Nachdem sie<br />

von Ordnungskräften abgedrängt wurden, zogen ca. 200 Demonstranten auf die Straße. Dort wurden ihnen<br />

die Transparente durch das MfS abgenommen <strong>und</strong> der Demonstrationszug ging aufgr<strong>und</strong> aufgezogener<br />

Polizeiketten in eine Kirche. 59<br />

Die Staatliche Einflußnahme auf den Kirchentag<br />

Nachdem Honecker die Zustimmung für den KT gab, beschloß das Sekretariat der SED-Bezirksleitung<br />

vom 15.03.1989 den Rahmen der „Absicherung“ des KT. Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung wurde<br />

für die Koordinierung der „politischen Vorbereitung“ 60 verantwortlich erklärt. Weil Horst Schumann<br />

krank war, übernahm H. Hackenberg neben den „organisatorischen Maßnahmen“ auch die „politische<br />

Vorbereitung“. Dies geschah vor allem in den Beratungen beim 1. bzw. 2 Sekretär der SED-BL<br />

(18.04.1989, 11.05.1989, 29.05.1989, 19.06.1989, 07.-10.07.1989). Diese Führungsgruppe gab die<br />

Orientierung für alle anderen Abteilungen <strong>und</strong> Arbeitsstäbe. 61 Außerdem wurde eine „bezirkliche<br />

Arbeitsgruppe“ unter Leitung von H. Reitmann eingesetzt. Ihr gehörten außerdem an: Stellvertreter des<br />

Leiters der BV des MfS, Stellvertreter des Chefs der BDVP, Sekretär des Bezirksausschusses der<br />

Nationalen Front, Leiter der Abteilung Handel <strong>und</strong> Versorgung des RdB, Leiter der Abteilung Verkehrs-<br />

<strong>und</strong> Nachrichtenwesen des RdB, 1. Stellvertreter des Bezirksarztes, Stellvertreter des OBM <strong>und</strong> der Leiter<br />

des Arbeitsbereiches Kirchenfragen beim RdB. 62 Auf Beschluß des RdB Leipzig wurden außerdem eine<br />

Informationsgruppe (Leitung: Jakel) <strong>und</strong> ein Operativstab (Leitung A. Müller) eingesetzt. 63 Der<br />

Operativstab arbeitete mit den Räten der Stadtbezirke zusammen, um in die Veranstaltungen ‚operative<br />

54 s. Bericht in epd, abgedruckt in: Wegmarken, 76, vgl. Rein (1990), 186<br />

55 s. Rein (1990)<br />

56 P. Unterberg 136<br />

57 P. Unterberg 135<br />

58 Tonbandmitschnitt in: Forum für Kirche <strong>und</strong> Menschenrechte Nr. 1+2 (ABL Box 10)<br />

59 s. MfS, ZAIG 337/89, in: Mitter/Wolle (1990), 111; Foto, in: Heber/Lehmann, 43<br />

60 Sekretariatsbeschluß Nr. 124/89 (StAL SED A 5527)<br />

61 Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig, Der Leiter, Generalleutnant Hummitzsch, Maßnahmeplan zur<br />

politisch-operativen Kontrolle der Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung des Kirchentagkongresses <strong>und</strong> Kirchentages<br />

der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens vom 6.7.1989 bis 9.7.1989 in Leipzig, vom 15.06.1989,<br />

Abgekürzt: Maßnahmeplan, S. 6 (ABL H 13)<br />

62 Information der Abt. II des StfK vom 08.03.1989 (BArch 0-4 1405)<br />

63 Beschluß 72/89, Plan der staatlichen Maßnahmen zur Unterstützung der Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung ...<br />

(SAPMO-BArch IV B 2/14/104) vom 21.04.1989<br />

364


Mitarbeiter’ zu entsenden, die Informationen für die Informationsgruppe sammelten. Parallel dazu gab es<br />

eine Informations- bzw. Führungsgruppe bei der SEDSL (unter dem 2. Sekretär), die mit den SED-<br />

Stadtbezirksleitungen zusammenarbeitete <strong>und</strong> „gesellschaftliche Kräfte“ in Koordinierung mit der<br />

Kreisdienststelle des MfS64 zu verschiedenen Veranstaltungen schickte. Der Sekretariatsbeschluß der<br />

SEDBL sah vor, daß der Vorsitzende des RdB zusammen mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen<br />

entsprechend der vom Sekretariat der SED-BL beschlossenen Konzeption Gespräche mit dem<br />

Landesbischof Hempel führte (s. Dok. 145). Besonders konspirativ arbeitete der „operative Einsatzstab<br />

Kongreß 89’ „(OES) der Bezirksverwaltung des MfS65 . Dieser „operative Einsatzstab“ sollte letztlich das<br />

einheitliche Vorgehen der „staatlichen Organe“ zum Kirchentag garantieren66 Der OES überwachte die<br />

Vorbereitungen <strong>und</strong> Veranstaltungen des Kirchentages <strong>und</strong> setzte inoffizielle Mitarbeiter der Stasi zur<br />

Informationsbeschaffung über die ökumenischen Gäste <strong>und</strong> zu Personen, die am Statt-Kirchentag<br />

teilnahmen, ein. Außerdem wurden die Hotelzimmer der ökumenischen Gäste ‚operativ kontrolliert’<br />

67 68 .<br />

Die Arbeit der Journalisten geschah unter ständiger Beschattung durch die Stasi. 69 Die laufende Post- <strong>und</strong><br />

Telefonüberwachung des MfS wurde konzentriert auf die Beschaffung von Informationen über den<br />

Kirchentag. Wenn nötig, wurden für diese Tage auch ,Wanzen’ installiert. Um gegebenenfalls sofort<br />

bestimmte Aktionen unterbinden zu können, arbeitete die Stasi beim alternativen Kirchentag in der Lukas-<br />

Kirche eng mit der Polizei zusammen. 70 Der 1. bzw. 2. Sekretär der SED-BL veranlaßte außerdem über<br />

den Sekretär des Bezirksvorstandes der CDU die Teilnahme von 700 CDU-Mitgliedern am KTK, um<br />

diesen im staatlichen Interesse zu beeinflussen. Ideologisch wurden auf einer Parteiaktivtagung am<br />

23.05.1989 600 Genossen auf den KT vorbereitet. Der Leiter der AG Kirchenfragen beim ZK der SED,<br />

Peter Kraußer, stellte dort den KT in den Rahmen einer längerfristigen SED-Kirchenpolitik. 71 Er<br />

behauptete, daß eine deutliche Kontinuität in der Kirchenpolitik zu verfolgen sei, die zusammengefaßt<br />

werden könne in dem Satz: „Religion wird in dem Maße überflüssig gemacht, wie der Sozialismus sich<br />

entwickelt.“ 72 Als Strategie nannte er die Vermeidung der Konfrontation zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche <strong>und</strong><br />

eine weitere Differenzierung innerhalb der Kirche. 73 (1.) Die Christen sollten innenpolitisch fest integriert<br />

werden <strong>und</strong> (2.) sollten die Kirchen außenpolitisch im Sinne der SED-“Friedenspolitik“ wirken, außerdem<br />

(3.) sollte verhindert werden, daß die Kirche „zur Plattform für gegnerische Aktivitäten (umfunktioniert<br />

wird)“. In diesem Sinn wollte P. Kraußer auf der Parteiaktivtagung Optimismus verbreiten <strong>und</strong> meinte<br />

zum Beispiel: „Insgesamt kann man feststellen, daß der Prozeß der Anpassung der Kirchen an den realen<br />

Sozialismus weiter vorangeschritten ist <strong>und</strong> daß die Positionen der realistischen Kräfte in den Kirchen, die<br />

auf Vernunft <strong>und</strong> Verständigung aus sind, weiter gestärkt wurden.“ Wie tief die Ängste von Genossen vor<br />

64 Maßnahmeplan, S. 8<br />

65 Mitglieder des Führungsstabes waren: Oberst Eppisch (Leiter), Major Strenger (Stellvertreter), Oberst Wiegand<br />

(Leiter der Hauptabteilung XX/4) <strong>und</strong> die Leiter der Abteilungen II, VI, VII, IX, XVIII, XIX, AKG, BKG, AG<br />

Aktionen <strong>und</strong> Einsätze, KD Leipzig-Stadt <strong>und</strong> Leipzig-Land<br />

66 „Durch Einflußnahme der HA XX/4 gegenüber dem Staatssekretariat für Kirchenfragen <strong>und</strong> im Rahmen der<br />

koordinierten operativen Bearbeitung der Landeskirche Sachsen durch die BV Dresden, Leipzig <strong>und</strong> Karl-Marx-<br />

Stadt ist ein einheitliches Vorgehen der zuständigen staatlichen Organe zu gewährleisten <strong>und</strong> für die<br />

Durchführung des KTK/KT zu sichern, daß beauftragte <strong>und</strong> vorbereitete Vertreter dieser Organe in Leipzig<br />

ständig erreichbar sind, stabile Verbindungen zu den Vertretern der Landeskirche haben <strong>und</strong> aktiv zur<br />

Durchsetzung einer abgestimmten Staatspolitik in Kirchenfragen sowie bei Erfordernis, zur kurzfristigen<br />

Bearbeitung <strong>und</strong> Klärung von Vorkommnissen zum Einsatz kommen.“ Maßnahmeplan, S. 6<br />

67 Die ökumenischen Gäste durften nach staatlichen Vorgaben nicht privat untergebracht werden.<br />

68 Maßnahmeplan, S. 9<br />

69 Informationen des OES (ABL H 13)<br />

70 „Maßnahmen der Vorfeld- <strong>und</strong> Tiefensicherung sowie Außenkontrollen“, Maßnahmeplan, S.8<br />

71 Protokoll der Tagung (StAL SED N 931)<br />

72 ebenda S. 38<br />

73 „Unsere Politik war darauf gerichtet, das Verhältnis zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche so zu gestalten, daß die<br />

Konfrontation wenn möglich vermieden wird, daß wir unsere Differenzierungspolitik gegenüber kirchlichen<br />

Kreisen vorantreiben <strong>und</strong> so ein günstiges Klima für die Mitwirkung der Gläubigen in dieser Gesellschaft<br />

schaffen.“ (ebenda, S. 39)<br />

365


der Kirche saßen, wurde in der anschließenden (wie immer vorzensierten!) „Diskussion“ deutlich (vgl. a.<br />

Dok. 176). Dort sagte einer: „Vertrauen fühle ich z.B. schon beim Vorzeigen meines Parteidokumentes<br />

auf unserer heutigen Beratung. Ich verstehe das als symbolischen Schulterschluß, der notwendig ist, weil<br />

wieder welche den Wert ihrer ideologischen Waffen testen wollen, gezielt in Leipzig, wo im Juli, sicher<br />

öfter am Tage, von den Kirchtürmen der Stadt wuchtiger Glockenschlag dröhnen, die Gläubigen auf<br />

Straßen <strong>und</strong> Plätze rufen wird. Unseren Genossen werden wir sagen, das macht uns nicht knieweich…“ 74.<br />

Die Absicherung des KTK <strong>und</strong> KT durch das Sicherheitskartell (Staat, SED, MfS):<br />

74 H. Baunack, Betriebsparteisekretär im VEB Starkstromanlagenbau, ebenda, S. 63<br />

366


Kirchenvorstand St. Nikolai - St. Johannis<br />

Der Kirchenvorstand ist das kirchenrechtliche Zentrum der Gemeinde. Die Gemeinde St. Nikolai - St.<br />

Johannis ist neben St. Thomas - St. Matthäi eine der evangelischlutherischen Gemeinden im Zentrum<br />

Leipzigs. Jede dieser Gemeinden <strong>und</strong> Kirchen haben ihr eigenes Profil, welches durch die Teilung der<br />

Leipziger Gemeinden in zwei Ephorien (Leipzig-Ost <strong>und</strong> -West) mit jeweils eigenem Superintendenten<br />

verstärkt wurde. Die Nikolaikirche profilierte sich im Laufe der 80er Jahre 75 unter Pf. Führer als „Offene<br />

Stadtkirche“; d.h., die Kirche war tagsüber geöffnet, es gab wechselnde Ausstellungen <strong>und</strong><br />

Informationstafeln, die verschiedenen Räume <strong>und</strong> Seitenkapellen der Kirche wurden zu vielfältigen<br />

Veranstaltungen genutzt. Zentrale kirchliche Veranstaltungen der Stadt Leipzig, wie die Messeabende der<br />

Männerarbeit oder die Abschlußveranstaltungen der Friedensdekaden, fanden in der Nikolaikirche statt.<br />

Zum Symbol dieses „Stadtkirchenkonzeptes“ wurde das Schild, welches aufgr<strong>und</strong> der Bauarbeiten 1987<br />

am Bauzaun angebracht wurde: „Nikolaikirche - offen für alle“. Zum Kirchenvorstand gehörten 1988/89<br />

u.a. Pf. Führer (Vorsitzender, zugleich Hauptpfarrer) <strong>und</strong> (ab Sept. 1989) Pf. Dr. Haubold.<br />

Kleines Kollektiv<br />

Das „Kleine Kollektiv“ war das Gremium, in dem im lokalen Bereich die Arbeit der staatlichen Stellen zu<br />

Kirchenfragen abgestimmt wurde. Vermutlich gab es auf allen Ebenen (Gemeinde bzw. Stadtbezirk, Kreis<br />

bzw. Stadt <strong>und</strong> im Bezirk) „Kleine Kollektive“. Die Zusammensetzung <strong>und</strong> Arbeitsweise war ähnlich wie<br />

bei den sogenannten „Gremien zur Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchenden“ 76 . Vertreten waren<br />

in den „Kleinen Kollektiven“ die Abteilung Innere Angelegenheiten, das MfS, die Polizei <strong>und</strong> vermutlich<br />

die SED (Abteilung Staat <strong>und</strong> Recht) <strong>und</strong> die Nationale Front. Mitschriften zu Sitzungen dieser Gremien<br />

im Leipziger Raum konnten nur durch Zufall gef<strong>und</strong>en werden. So gibt es eine Mitschrift der Sitzung für<br />

den Bezirk vom 27.11.1980. In dieser Sitzung wurden ausführlich die Lage in Polen analysiert <strong>und</strong> die<br />

Vorgänge während der ersten Friedensdekade in Leipzig ausgewertet, dabei wurde beschlossen, welche<br />

Pfarrer zu „disziplinieren“ wären. 77 Auf der Sitzung des „Kleinen Kollektives“ beim RdS am 24.05.1984<br />

wurde beschlossen, einen Fahrradkorso anläßlich der Aktion „Mobil ohne Auto“ (03.06.1984) zu<br />

unterbinden. 78 In der Mitschrift eines Stasi-Oberstleutnants vom 03.03.1989 von der Sitzung des „Kleinen<br />

Kollektives“ der Stadt ist als Thema die Verhinderung der Demonstration am Messemontag (Gespräche<br />

mit Kirchenvertretern, „Disziplinierungsgespräche“ mit Gruppenvertretern, Ausreisegenehmigungen für<br />

Ausreiseantragsteller) zu finden. 79 Es läßt sich vermuten, daß die „Kleinen Kollektive“ eher exekutive<br />

Aufgaben hatten. Die Berichte über ihre Sitzungen stehen meist im Zusammenhang mit zentralen<br />

Weisungen (Politbürobeschlüsse, Anweisung des Staatssekretärs für Kirchenfragen 80 ). Sie waren das<br />

oberste Gremium zur laufenden Abstimmung der Aktivitäten aller „Sicherheitsorgane“ bezüglich der<br />

Kirchenpolitik (vgl. aber Beratung beim 1. Sekretär der SED-Leitung, S. 464). Die Abstimmung zwischen<br />

den Referaten Kirchenfragen <strong>und</strong> dem MfS mußte aber nicht über das „Kleine Kollektiv“ gehen, sondern<br />

war auch direkt möglich 81 . Einweisungen der Stellvertreter Inneres der Kreise zu Kirchenfragen<br />

geschahen u.a. im Beisein der Abteilung Staat <strong>und</strong> Recht der SEDBL <strong>und</strong> dem Bezirksausschuß der<br />

75 zur Krise der Gemeindearbeit in Leipzig um 1980 s. Wensierski (1982), 407f.<br />

76 s. z.B.: Ordnung Nr. 175/89 des Ministers des Innern <strong>und</strong> Chefs der Deutschen Volkspolizei vom 07.12.1988,<br />

abgedruckt, in: Lochen/Meyer-Seitz, 523-594, dort 532<br />

77 StAL BT/RdB 21719<br />

78 Information Reitmanns an Opitz vom 25.05.1984 (StAL BT/RdB 23294)<br />

79 BStU Leipzig AB 0932, 54<br />

80 s. S. 97 <strong>und</strong> 149<br />

81 s. S. 98. In der Arbeitsplatzbeschreibung des Leiters des Referates XX/4 der BV Leipzig des MfS hieß es:<br />

„ständige Aufrechterhaltung der Verbindung (...) zum Rat des Bezirkes, Sektor Kirchenfragen“ (B V für<br />

Staatssicherheit, Abteilung XX/4, Planstellen-Nr.: 1936, Leipzig 6. März 1979 - ABL H 8). Die Zusammenarbeit<br />

sah in diesem konkreten Fall so aus, daß der Leiter des Sektors Kirchenfragen, W. Jakel, zuvor Referatsleiter<br />

beim MfS war <strong>und</strong> dann als „Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit“ des MfS geführt wurde (s. Dokumente<br />

des Bestandes ABL H 53).<br />

367


Nationalen Front. 82<br />

Das Unterstellungsverhältnis der Referate Kirchenfragen <strong>und</strong> deren Arbeitskontakte:<br />

82 Vgl. Kurzbericht von H. Reitmann vom 26.01.1989 an Opitz (StAL BT/RdB 38326)<br />

368


Kommunikationszentrum (KOZ)<br />

Eine der zentralen Forderungen der politisch-alternativen Gruppen war die nach freier Kommunikation.<br />

Wie wichtig dies war, wurde für sie besonders im Zuge der Solidaritätsbewegung nach den Inhaftierungen<br />

im Januar 1988 deutlich. Die dabei in Leipzig entstandene Kontaktgruppe (s. S. 503) bemühte sich, das<br />

Terrain, das sie erobert hatte (regelmäßige Veranstaltungen mit „offenem Mikrofon“, einen eigenen<br />

Telefonanschluß ...), auch nach der Freilassung der Inhaftierten zu behalten. In diesem Sinne machten sich<br />

verschiedene Gruppenmitglieder für ein (von den Basisgruppen weitgehend selbst verantwortetes)<br />

„Kommunikationszentrum“ stark. Die Kontaktgruppe begann Februar 1988 dafür Geld zu sammeln, <strong>und</strong><br />

es bildete sich ein „Trägerkreis für ein Kommunikationszentrum“ (KOZ-Trägerkreis) 83 . Im BSA wurde<br />

Sup. Magirius die Zusage abgerungen, sich nach entsprechenden Räumen umzusehen. Der Trägerkreis<br />

entwickelte eine Konzeption für das Kommunikationszentrum, die am 29.04.1988 durch den BSA<br />

bestätigt wurde. Da Sup. Magirius im Sommer 1988 noch keine Räume genannt hatte, versuchte die<br />

Gruppe, selbst mit Pfarrern <strong>und</strong> Kirchenvorständen zu verhandeln. Der KV „Heilig Kreuz“ (Pf. Erler)<br />

erklärte sich im August 1988 bereit, einen Raum zur Verfügung zu stellen. Vorher sollte jedoch die<br />

Rechtslage des Trägerkreises geklärt sein. Dafür wurde zwischen den beiden Bezirkskirchenausschüssen<br />

Leipzig-Ost <strong>und</strong> -West <strong>und</strong> dem Trägerkreis ein Modus gef<strong>und</strong>en (vgl. Dok. 85 <strong>und</strong> 87). In den<br />

Materialien des BEK für die Friedensdekade 1988 wurde schon auf ein örtliches Büro des Konziliaren<br />

Prozesses in Leipzig hingewiesen, doch im Oktober wurden die Zusage des KV „Heilig Kreuz“ gegenüber<br />

dem Trägerkreis zurückgenommen (vgl. Dok. 100) 84 . Nun versuchte der Trägerkreis, in der Markus-<br />

Gemeinde einen Raum zu bekommen. Doch diese stellte nur ihre „Gemeindebibliothek“ als<br />

„Umweltbibliothek“ zur Verfügung. Dort konnten einige St<strong>und</strong>en pro Woche die Publikationen der<br />

politisch alternativen Gruppen eingesehen werden. Das Sicherheitskartell, welches jeden Ansatz einer<br />

kritischen Kommunikation zu unterdrücken versuchte, ging konspirativ - aber massiv - gegen die<br />

Trägergruppe vor. Das Telefon der Markus-Gemeinde wurde abgehört, <strong>und</strong> im Haus gegenüber der<br />

Bibliothek richtete das MfS einen Raum ein, der eine direkte Überwachung ermöglichte. 85 Für den<br />

Trägerkreis fand sich keine Möglichkeit mehr, einen öffentlich zugänglichen Raum selbst zu verwalten.<br />

Auf der Ökumenischen Versammlung in Dresden (April 1989) 86 <strong>und</strong> auf dem Statt-Kirchentag in Leipzig<br />

(Juni 1989) wurden die frustrierenden Erfahrungen der Gruppenvertreter mit einer Dokumentation unter<br />

dem Titel „Eine Hoffnung wird lahmgelegt“ veröffentlicht. Als es am 11. September 1989 nach dem<br />

Friedensgebet zu Verhaftungen kam, ging eine spontan gebildete Kontaktgruppe zu Pf. Turek <strong>und</strong> erhielt<br />

dort ab 15.09. einen Raum mit Telefonanschluß. Angesichts der Ausnahmesituation wurde nun nicht nach<br />

einer rechtlichen Absicherung gefragt. Wenige Tage später wurden auch von den beiden<br />

Bezirkskirchenausschüssen neue Möglichkeiten für ein KOZ eröffnet. Es sollte sich jedoch nun<br />

„Ökumenisches Begegnungszentrum“ 87 nennen. Mit dem politischen Wandel gab es jedoch neue<br />

Möglichkeiten für eine freie Kommunikation (z.B. „Bürohaus“ des Neuen Forums ab Mitte Oktober 1989<br />

in Leipzig-Lindenau).<br />

83 Zu Beginn gehörten zu dieser Gruppe u.a.: G. Heide, M. Jankowski, A. Ludwig, B. Moritz, B. Oehler, G.<br />

Oltmanns, R. Quester <strong>und</strong> A. Radicke<br />

84 vgl. Wie die Leipziger Stasi ein „KOZ“ verhinderte, in: taz vom 25.02.1991; Br. Moritz, Geschichte der<br />

planmäßigen Verhinderung eines Kommunikationszentrums...; Pf. Erler arbeitete 1989 mit dem MfS zusammen;<br />

vgl. a. Besier/Wolf, 671f.<br />

85 Bearbeitungskonzeption zur wirksamen Zurückdrängung feindlich-negativer Aktivitäten zur Etablierung eines<br />

„Kommunikationszentrums“ (KOZ) kirchlicher Basisgruppen in Leipzig [der Abteilung XX der BV Leipzig vom<br />

12.03.1989] (ABL H 9), S. 6. Vgl. Jahresplan des Leiters der Abteilung XX [BV MfS - Leipzig] vom 28.12.1988,<br />

GVS 153/88, S. 6f. (ABL H 9), teilweise abgedruckt in: Kirchliche Zeitgeschichte 2/91, 305ff.<br />

86 Von der Dresdener Versammlung wurde auch ein Brief an die beiden Leipziger Bezirkssynoden mit der Bitte um<br />

Einrichtung solch eines Kommunikationszentrums gerichtet, der u.a. von Prof. Kühn, Prof. Feiereis, R. Pahnke<br />

<strong>und</strong> Fr. Schorlemmer unterzeichnet wurde (ABL H 2).<br />

87 vgl. Protokoll der Sitzung des Vertrauensrates des „Ökumenischen Begegnungszentrums“ am 27.09.1989, in:<br />

Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 279f.<br />

369


Konziliarer Prozeß<br />

Auf der 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Vancouver 1983 wurde auf<br />

Anregung der DDR-Delegierten beschlossen, die Kirchen zu bitten, einen „konziliaren Prozeß<br />

gegenseitiger Verpflichtung (B<strong>und</strong>) für Gerechtigkeit, Frieden <strong>und</strong> die Bewahrung der Schöpfung“ zu<br />

beginnen (epd-Dok 46/83). Der Zentralausschuß des ÖRK beschloß 1984, daß dieser Prozeß zu einer<br />

ökumenischen Weltversammlung führen sollte. Die B<strong>und</strong>essynode der Evangelischen Kirchen in der DDR<br />

beauftragte 1985 die KKL mit der Koordinierung solch eines „Konzils“ <strong>und</strong> rief die Gemeinden zur<br />

Mitarbeit daran auf. 88 Am 13.02.1986 gab der Dresdener Stadtökumenekreis den Gemeinden in der DDR<br />

die organisatorische Empfehlung, zunächst „im eigenen Haus“ zu versuchen, was zu der<br />

Weltversammlung führen soll. Daraus entwickelten sich dann die drei ökumenischen Versammlungen in<br />

der DDR (Dresden <strong>und</strong> Magdeburg 1988/89) 89 . Die Synode der Sächsischen Landeskirche verhandelte<br />

den Dresdener Vorschlag im März 1986. U.a. der Sozial-Ethische Ausschuß der Synode engagierte sich in<br />

der Folgezeit für die Arbeit am Konziliaren Prozeß in Sachsen. In Leipzig wurde dafür der BSA<br />

geschaffen. Da sich kirchliche Gremien in großer Vielfalt an diesem „Prozeß“ beteiligten, konnte die<br />

Arbeit der verschiedenen Basisgruppen innerhalb der Kirche kaum noch als illegitim hingestellt werden.<br />

So trat mit dem Konziliaren Prozeß „eine neues Subjekt kirchlichen Redens“ in Erscheinung 90 , <strong>und</strong> mit<br />

dem Verweis auf den Konziliaren Prozeß konnten sich politisch-alternative Gruppen kirchlich<br />

legitimieren. Im Rückblick läßt sich feststellen, daß eine Integration der politisch-alternativen Gruppen in<br />

die kirchliche Arbeit vor allem im Konziliaren Prozeß gelang, da hier das politische Mandat der Kirche<br />

nicht über seine Grenzen thematisiert wurde. Für Leipzig verbanden sich neben den Friedensgebeten drei<br />

Institutionen mit dem Konziliaren Prozeß: der BSA, das KOZ <strong>und</strong> die von den Gruppen organisierten<br />

Zukunftswerkstätten bzw. Tage des Konziliaren Prozesses. Einige Leipziger Gruppen konnten Vertreter in<br />

die ökumenische Versammlung nach Dresden <strong>und</strong> auch nach Basel entsenden (Aktion Sühnezeichen, AG<br />

Friedensdienst, Friedenskreis Grünau/Lindenau, IHN, AGU, AKSK).<br />

Die zwölf Themenkomplexe der ökumenischen Versammlung waren: Umkehr zu Gerechtigkeit, Frieden<br />

<strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung; Leben in Solidarität; Mehr Gerechtigkeit in der DDR; Der Übergang von<br />

einem System der Abschreckung zu einem System der politischen Friedenssicherung; Wehrdienst <strong>und</strong><br />

vormilitärische Ausbildung; Friedenserziehung; Kirche des Friedens werden; Neue Lebensweisen; Den<br />

Menschen dienen - das Leben bewahren; Ökologie <strong>und</strong> Ökonomie; Energie für die Zukunft; Der Wert von<br />

Informationen für Umweltbewußtsein <strong>und</strong> -engagement.<br />

Montagsdemonstrationen<br />

Die Demonstrationen der H<strong>und</strong>erttausend im Oktober/November 1989 hatten eine längere Vorgeschichte<br />

(z.B. Kerzendemonstrationen im Herbst 1983). Die erste Demonstration an einem Montag gab es während<br />

der Frühjahrsmesse 1988. Zur Herbstmesse wurde eine erneute Demonstration erwartet. Sie wurde dann<br />

Teil des Auszugs einiger Gruppenmitglieder aus den Friedensgebeten, nachdem sie an deren<br />

Mitgestaltung gehindert wurden. Nach nichtgenehmigten Aktionen innerhalb der Kirche war die zweite<br />

Etappe des Auszugs, eigene Veranstaltungen auf dem Nikolaikirchhof durchzuführen. So wurde dieser<br />

Platz zum politischen Forum (Speakers Corner, Transparente, Flugblätter, Kerzen, Demonstrationen), <strong>und</strong><br />

aus den Nachgesprächen, die im Frühjahr/Sommer 1988 in der Kirche stattfanden, wurden Meetings auf<br />

dem Nikolaikirchhof. Die strategische Konstellation war perfekt, denn eine Behinderung durch den DDR-<br />

Sicherheitsapparat war kaum möglich. Der Zugang mußte im Interesse „freier Religionsausübung“<br />

gewährt werden, aber auch ein späteres Eingreifen konnte als „Willkürakt gegen Gottesdienstbesucher“<br />

gedeutet werden. Kirchenvertreter dagegen konnten mit gutem Gewissen sagen, daß sie das, was vor der<br />

Kirche geschieht, nicht beeinflussen können. Damit scheiterte die von der SED initiierte<br />

88 Beschluß vom 24.09.1985, in: KiS 6/1985, 245<br />

89 s. Neubert (1985); Tammer, 113 <strong>und</strong> Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden <strong>und</strong> Bewahrung der<br />

Schöpfung<br />

90 Ziemer, in: Bericht der Enquete-Kommission, 170<br />

370


ordnungspolitische Aufteilung zwischen SED-Regime <strong>und</strong> Kirche an den Meetings nach den<br />

Friedensgebeten auf dem Nikolaikirchhof.<br />

Den Gruppenvertretern reichte jedoch schon Ende 1988 das Spektrum der Friedensgebetsbesucher nicht<br />

mehr, weshalb sie an Demonstrationen unabhängig von den Friedensgebeten auf zentralen Leipziger<br />

Plätzen dachten (Dok. 119). Dies gelang ihnen am 15.01.1989 auf dem Leipziger Marktplatz (ca. 500<br />

Teilnehmer). Da staatliche Repressionen sowohl gegen die Demonstranten als auch gegen die<br />

Organisatoren durch die nationale <strong>und</strong> internationale Solidarität kaum zum Zuge kam, entstand nun in<br />

Leipzig eine Gruppe, die auf Demonstrationen als zentrales politisches Mittel setzte. 91 Das<br />

Sicherheitskartell verstärkte den Einsatz von Mitarbeitern um die Nikolaikirche (s. z.B. Dok. 131). Zu<br />

einer Demonstration nach einem Friedensgebet kam es jedoch erst wieder am Messemontag, dem 13.<br />

März 1989. Berichte von der Demonstration brachten ARD <strong>und</strong> ZDF noch am gleichen Abend. 92 Obwohl<br />

das FG am Montag, dem 1. Mai 1989, aufgr<strong>und</strong> des Feiertages ausfiel, kamen einige Menschen zur<br />

Nikolaikirche. Da die Tür verschlossen war, gingen sie in einer größeren Gruppe über den Marktplatz zur<br />

Thomaskirche <strong>und</strong> zurück. Ein ZDF-Team machte davon Aufnahmen, so daß es in den b<strong>und</strong>esdeutschen<br />

Medien hieß, in Leipzig hätte es eine Gegendemonstration zur offiziellen „Kampfdemonstration“<br />

gegeben. Für den 7. Mai, 18.00 Uhr, hatte die „Demokratische Initiative“ zu einer Demonstration gegen<br />

die Wahlfarce aufgerufen. Gegen diese Demonstration versuchte das Sicherheitskartell mit aller Gewalt<br />

vorzugehen (Innenstadtverbote, kurzzeitige Inhaftierungen, Verbreitung des Gerüchtes, daß<br />

Kampfgruppen eingesetzt <strong>und</strong> Demonstranten per Strafbefehl in Lagern inhaftiert würden, Einsatz von<br />

93 mehreren h<strong>und</strong>ert gesellschaftlichen Kräften, Sondereinsatz des MfS ... ). Dennoch versuchten mehrere<br />

h<strong>und</strong>ert Personen, auf dem Marktplatz <strong>und</strong> vor der Nikolaikirche zu demonstrieren. Es kam zu 76 brutalen<br />

Inhaftierungen, die aus Zuschauern eine protestierende Menge werden ließen. 94 Am folgenden Tag<br />

gestaltete die Initiativgruppe „Leben“ bzw. Mitglieder der „Demokratischen Initiative“ das Friedensgebet<br />

(Dok. 154). Nach dem Friedensgebet blieb die Hälfte der Teilnehmer in kleineren Gruppen diskutierend<br />

auf dem Nikolaikirchhof stehen. Kurz darauf riegelten Polizeiketten die Abgänge des Nikolaikirchhofes<br />

ab, <strong>und</strong> die Gottesdienstbesucher wurden aufgefordert, den Platz zu verlassen. Dieser Aufforderung<br />

folgten sie jedoch kaum. Einige Personen wurden festgenommen (Dok. 159). Auf einem Dach gegenüber<br />

der Kirche installierte das Innenministerium eine Kamera, so daß die Einsatzleitung des<br />

Sicherheitskartells das Geschehen auf dem Nikolaikirchplatz direkt im Führungspunkt verfolgen konnte.<br />

Die Videos wurden später Mitarbeitern der Abteilungen Innere Angelegenheiten vorgespielt, damit diese<br />

die Ausreisewilligen identifizierten <strong>und</strong> eventuell kurzfristig ausreisen ließen. 95 Das Sicherheitskartell<br />

empfand die Demonstrationen am L/7. <strong>und</strong> 8. Mai in Zusammenhang mit anderen<br />

Demokratisierungsbestrebungen 96 als sehr bedrohlich. Es wurde eingeschätzt, „daß in Leipzig eine<br />

91 Dietrich (1994), s.a. S. 500<br />

92 Dabei wurden auch einige der Organisatoren der Demonstration am 15.01.1989 als Demonstranten gezeigt. s.a.<br />

DPA-Meldung in den Zeitungen am 14.03.1989 unter den Überschriften „Rufe: Wir wollen raus!“ oder<br />

„Demonstration für Ausreise in Leipzig“, FR (15.03.1989): Bonn erinnert DDR an Menschenrechte; SZ (15.03.);<br />

Tagesspiegel (15.03.), Foto (AP) in: FAZ (15.03.), 4<br />

93 Dietrich (1994)<br />

94 Vgl. Interviewbericht von D. Pollack, in: Opp/Voß/Gern (1993), 194 Die Umweltblätter veröffentlichten im Juni<br />

1988 die Verteidigungsrede von V. Havel, die er im Frühjahr 1989 hielt, als er erneut zu einer Haftstrafe<br />

verurteilt wurde, dort hieß es u.a.: „Es geschah nämlich etwas, was mir nicht im Traum eingefallen wäre: Ein<br />

völlig überflüssiges Eingreifen der Sicherheitskräfte gegen jene, die in aller Stille <strong>und</strong> ohne jegliches Aufsehen<br />

Blumen am Denkmal niederlegen wollten, machte aus den gänzlich unbeteiligten Passanten eine protestierende<br />

Menge. Es wurde mir plötzlich klar, wie tief die Unzufriedenheit in der Bevölkerung sein muß, wenn es zu so<br />

etwas kommen kann.“<br />

95 BStU Leipzig AB 780<br />

96 In Referatsbesprechung der Abt. XX der BV Leipzig am 12.05. wurden genannt: Entwicklungen in Ungarn<br />

(Beginn der Grenzöffnung am 02.05.1989), die Ankündigung der Gründung einer Sozialdemokratischen Partei<br />

<strong>und</strong> die Dokumentation des Wahlbetruges durch Gruppen <strong>und</strong> Kirche (BStU Leipzig AB 1137). Schon im März<br />

wurden drei Großeinsätze an diesen drei Tagen gegen die Opposition geplant („Symbol ’89“).<br />

371


größere Gruppe von Personen vorhanden ist, die in Opposition zur Partei steht“ <strong>und</strong> risikobereit sei 97, <strong>und</strong><br />

beschlossen, Druck auf die Kirche auszuüben. Das MfS ging davon aus, daß die Demonstrationen mit den<br />

Friedensgebeten in direktem Zusammenhang stehen 98 <strong>und</strong> folgte der Argumentation: „Solange [die]<br />

Kirche nicht in [der] Lage ist, ist [der] Staat gezwungen weiter zu handeln auch [durch] poliz[eiliche]<br />

Maßn[ahmen]“ 99 . Mit der Polizeiaktion am 08.05.1989 hatte sich das Sicherheitskartell jedoch in eine<br />

Zwangslage manövriert. Wurden die auf dem Nikolaikirchhof stehenbleibenden Gottesdienstbesucher in<br />

Zukunft nicht eingekesselt bzw. auseinandergetrieben, mußte es wie eine Legalisierung der<br />

Demonstrationen wirken, kam es jedoch zu einem Polizeieinsatz, untergrub der Staat seine Autorität<br />

weiter. Die folgenden Montage glichen ritualisierten Machtkämpfen. Sie wurden durch die Sommerpause<br />

der Friedensgebete unterbrochen. Das erste „Montagsgebet“ nach der Sommerpause fand am 4.<br />

September, also während der Herbstmesse, statt. Es war klar, daß es eine Demonstration geben wird, da<br />

sich zur Messe Öffentlichkeit leicht herstellen ließ. Diese Möglichkeit sollte nach dem Willen einiger<br />

Oppositioneller aber nicht allein den Ausreisewilligen überlassen werden. 100 Ihre Forderungen (z.B.: „Für<br />

ein offenes Land mit freien Menschen“ „Reisefreiheit statt Massenflucht“, „Versammlungs- <strong>und</strong><br />

Vereinigungsfreiheit“) waren am Abend per TV in den Wohnstuben zu sehen, obwohl zivile Schutzkräfte<br />

die Transparente nach wenigen Sek<strong>und</strong>en herunterrissen <strong>und</strong> kassierten. Danach hatten sie versucht, einen<br />

Demonstrationszug zu organisieren, doch die Polizeiketten gestatteten kein Verlassen des Platzes vor der<br />

Nikolaikirche. Nun begann die Demonstration der Ausreisewilligen vor den Fernsehkameras. Diese<br />

beiden medienwirksamen Demonstrationen wertete das Sicherheitskartell als „Signal für [den]<br />

Generalangriff auf sozialistische Verhältnisse in der DDR“ 101 , weshalb Stasi-Minister Mielke seinen<br />

Soldaten für den nächsten Montag befahl, jede Demonstration <strong>und</strong> „Berichterstattung der Journaille“ zu<br />

unterbinden. 102 In der „Leipziger Volkszeitung“ wurden die Demonstranten als „politische Rowdys <strong>und</strong><br />

Provokateure“ beschimpft. 103 Am folgenden Montag wurde der Kirchplatz für Autos gesperrt, parkende<br />

Autos wurden abgeschleppt. Während des Friedensgebetes wurden immer wieder Personen, die sich auf<br />

dem Nikolaikirchhof versammelten, vertrieben. Nach dem FG standen kleine Grüppchen auf dem Platz.<br />

Außerhalb der Polizeiketten hatte sich eine große Zahl Schaulustiger versammelt. Das Sicherheitskartell<br />

ging brutal gegen die auf dem Nikolaikirchhof Stehenden vor. Viele wurden festgenommen. Elf von<br />

ihnen wurden in den folgenden Wochen zu mehreren Monaten Haft verurteilt. Daraufhin bildete sich eine<br />

Koordinierungsgruppe für Fürbittandachten (s. unter Koordinierungsgruppe, S. 504), die mit Blumen,<br />

Kerzen <strong>und</strong> Schildern an der Nikolaikirche gegen die Inhaftierungen protestierte <strong>und</strong> den Platz vor der<br />

Nikolaikirche zu einem „Pilgerort“ machte. Dem Sicherheitskartell wurde nach dem 11.09. klar, daß es<br />

die Entwicklung mit den bis dahin üblichen Mitteln nicht mehr aufhalten konnte. Die Polizeisperrketten<br />

waren nun nicht mehr gegen Demonstranten auf dem Kirchhof gerichtet, sondern vor allem gegen die<br />

vielen h<strong>und</strong>ert Schaulustigen, die ihre Sympathien mit den Personen im Polizeikessel zeigten. Es wurde<br />

ein neuer Einsatzkomplex begonnen: Statt „Spinne“ „Biber“. Die Situation am 18.09. war jedoch aus<br />

einem weiteren Gr<strong>und</strong> eine andere. Seit einer Woche war der „Eiserne Vorhang“ (via Ungarn) offen. Die<br />

Ausreisewilligen waren nun in der Minderheit, die Zahl der Schau- <strong>und</strong> Demonstrationslustigen hatte<br />

jedoch bedeutend zugenommen. Das Sicherheitskartell versuchte wiederum mit einem brutalen<br />

Polizeieinsatz, Demonstrationen zu unterbinden (Dok. 208, 209, 212). Am folgenden Montag waren so<br />

viele Menschen um die Nikolaikirche versammelt, daß ein Polizeieinsatz eine Demonstration vermutlich<br />

nicht verhindern konnte. Einige Tausend von ihnen zogen durch das Stadtzentrum über den Ring zum<br />

Hauptbahnhof <strong>und</strong> weiter zur Reformierten Kirche <strong>und</strong> zurück, ohne daß das Sicherheitskartell es<br />

97 In diesem Zusammenhang wurde den Stasi-Mitarbeitern auch mitgeteilt, daß es in Leipzig 20.900 Nichtwähler<br />

<strong>und</strong> Gegenstimmen gab. (BStU Leipzig AB 797)<br />

98 Die vom MfS angelegte Datei mit den Daten zu festgenommenen Demonstranten nannte sich „nicolai“. Hier<br />

wurden auch die „Zugeführten“ vom 15.01.1989 <strong>und</strong> vom 07.05.1989 gespeichert.<br />

99 OSL Tinneberg auf Referatsleiterbesprechung am 12.05.1989 (BStU Leipzig AB 1137)<br />

100 s. Bericht G. Oltmanns (1990)<br />

101 BStU Leipzig AB 744<br />

102 ebenda<br />

103 LVZ am 07.09.1989<br />

372


verhinderte. Damit war der Bann gebrochen. 104 Die Opposition <strong>und</strong> die unzufriedene Bevölkerung hatte<br />

ein effektives Medium der Druckausübung auf das SED-Regime, <strong>und</strong> die SED-Spitze verstand nun, daß<br />

ihre Macht nicht unbegrenzt ist. Honecker befahl Führungsbereitschaft (s. S. 467ff.). Alle Beteiligten<br />

drängten auf eine Entscheidung. Doch auch die Spezialeinheiten, die am 02.10. gegen die Demonstranten<br />

eingesetzt wurden, konnten nicht verhindern, daß es am 40. Jahrestag der DDR-Gründung zu weiteren<br />

Demonstrationsversuchen in der Leipziger Innenstadt kam. Die breite „Diskussionskampagne“, die die<br />

SED nach dem 25.09. einleitete (Dok. 222), zeigte vielen Bürgern, daß die Herrschenden sich durch<br />

Demonstrationen beeinflussen lassen, damit stieg die Bereitschaft, sich an Demonstrationen zu beteiligen.<br />

Mit der Massendemonstration am 09.10.1989 rechnete jedoch vermutlich niemand, weshalb alle<br />

damaligen Angaben über Teilnehmerzahlen offensichtliche Unterschätzungen waren 105 <strong>und</strong> über 100.000<br />

Personen an diesem Tag den Leipziger Ring (im Mittelalter Stadtgraben um die Stadt) abgingen, ohne daß<br />

es zu einem Repressionsakt kam, obwohl eine Niederschlagung vorbereitet gewesen war. 106 Diese <strong>und</strong><br />

die folgenden „Montagsdemonstrationen“ bestimmten in großem Maße die Dynamik der Revolution, die<br />

zur Abwahl der SED <strong>und</strong> zum Fall der Mauer führte.<br />

104 Zum 25.09.: Zwahr 23-30; Neues Forum Leipzig 31f£; Sievers 42ff.; Mitter/Wolle, 174ff.; Fotos z.B. in:<br />

Schneider (1991), 18f.; Neues Forum Leipzig, 34f.; Heber/Lehmann, 50f.<br />

105 P. Voß schließt nicht aus, daß sich an der Demonstration doppelt so viel beteiligten als die Schätzungen (ca.<br />

70.000) angaben (in: Opp/Voß, 47). Die Polizei rechnete mit „bis zu 50.000“ Teilnehmern (Entschluß des Chefs<br />

der BDVP Leipzig zum Ordnungseinsatz am 9. Oktober 1989).<br />

106 zum 09.10.1989 s. S. 457 <strong>und</strong> Minderheitenvotum ...<br />

373


Entwicklung der Montagsdemonstrationen<br />

1 2 3 4 5 6<br />

a b c d e a b c d<br />

1988<br />

14.03 900 600 400 120<br />

05.09. 700 150 150 150<br />

12.09 300<br />

9.09. 250<br />

07.10. Bachdenkmal 100 50<br />

2410 800 400<br />

09.11<br />

1989<br />

700 100<br />

1501 auf dem Markt 800 200 300 53 0 0 0<br />

16.01 200<br />

23.01. 100<br />

3001 80<br />

06.02 150<br />

13.02 150<br />

20.02. 150<br />

27.02 150<br />

06.03. 80<br />

13.03. 650 300 300<br />

01.05. kein FG 125 50<br />

07.05 auf dem Markt 1500 500 76 12 1<br />

08.05 700 200 12<br />

15.05. kein FG 120 100<br />

22.05. 450 150 200 52 37 1 24 28<br />

29.05. 120 14<br />

05.06. 1000 100 kein Polizeieinsatz<br />

12.06. 600 250 50 50 27 15 9 22 11<br />

19.06. 650 100 60 60 33 17 7 25 >11<br />

26.06. 650 180 40 40 50 5 4 1 2<br />

03.07. 800 250 250 14 8 3 4 4<br />

04.09. 1000 800 250 500<br />

11.09. 1000 500 70 250 200 89 22 19 >26 11<br />

18.09. 1800 1800 31 5 3 4<br />

25.09. 2500 4000 8000 3500 4000 4000 6 1<br />

02.10. 2000 5000 25000 8000 20<br />

07.10. kein FG 4000 4000 210 1 13 >82 13<br />

09.10. 70000<br />

1 Teinehmer am FG<br />

2 Teilnehmer am Meeting nach dem FG auf dem Nikolaikirchhof<br />

3 Teinehmer an der Demonstration<br />

3a Bericht der Teilnehmer<br />

3b MfS-Bericht<br />

3c Bericht des RdS bzw. des RdB<br />

3d Bericht der SED-SL bzw. SED-BL<br />

3e Bericht der BDVP<br />

4a Anzahl der Festnahmen, davon<br />

4b erteilte Ordnungsstrafen (bis zu 1000,- Mark)<br />

4c erteilte Strafbefehle (bis zu 10.000,- Mark)<br />

4d Haftstrafen über mehrere Monate<br />

5 Zahl der Ausreisewilligen unter den Festgenommenen<br />

6 Zahl der nicht im Bezirk Leipzig beheimateten Festgenommenen<br />

374


Olof-Palme-Marsch<br />

Der „Olof-Palme-Friedensmarsch für einen atomwaffenfreien Korridor“ war eine Initiative der<br />

„Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFGVK)“, des staatlichen<br />

Friedenskomitees der CSSR <strong>und</strong> des DDR-Friedensrates. Der BEK durfte sich an den Veranstaltungen<br />

zwischen 1. <strong>und</strong> 18. September 1987 in Strals<strong>und</strong>, Ravensbrück, Sachsenhausen, Berlin, Wittenberg oder<br />

Dresden beteiligen <strong>und</strong> sogar Teilnehmer in die B<strong>und</strong>esrepublik <strong>und</strong> in die CSSR delegieren. Die<br />

Demonstrationen einer eigenständigen Friedensbewegung waren jedoch nur in den ersten Tagen ohne<br />

Behinderungen möglich. Vermutlich, um den Besuch Honeckers in der B<strong>und</strong>esrepublik zur gleichen Zeit<br />

nicht zu belasten.<br />

Pf. Wonneberger ließ zu dieser Demonstration Plakate drucken <strong>und</strong> gestaltete das FG am 07.09.1987 als<br />

Gottesdienst zum 0.-Palme-Marsch. Leipziger Gruppenmitglieder nahmen vor allem an einem Meeting in<br />

Torgau teil, bei dem Sicherheitskräfte <strong>und</strong> „gesellschaftliche Kräfte“ nichtloyale Transparente abdrängten.<br />

Nach den Erfahrungen <strong>und</strong> Berichten von den Veranstaltungen an den Vortagen in Berlin <strong>und</strong> Wittenberg<br />

geschah dies unerwartet. Auch an dem Marsch von Torgau nach Riesa nahmen vor allem Leipziger<br />

Gruppenmitglieder teil. 107<br />

Pleißemarsch<br />

Mitglieder der IGL <strong>und</strong> der AGU versuchten 1988 anläßlich des Weltumwelttages eine öffentliche Aktion<br />

zur ökologischen Sensibilisierung <strong>und</strong> des Protestes ähnlich wie in den Vorjahren die Aktion „Mobil ohne<br />

Auto“. Sie wollten durch einen Umzug entlang des teilweise unsichtbaren, da wegen ihres zu großen<br />

Gestankes 1956 unter die Erde verlegten Leipziger Flusses Pleiße auf die Umweltverschmutzung in<br />

Leipzig aufmerksam machen. Zu dem Umzug wurde durch Flugblätter, Plakate sowie durch Briefe, u.a. an<br />

den Oberbürgermeister, Mitglieder der Gewässeraufsicht, Pfarrer, Betriebsdirektoren <strong>und</strong> Medienvertreter<br />

eingeladen. 108 Die Einladungen wurden mit der Post versandt, in Hausbriefkästen gesteckt, in<br />

Telefonzellen ausgelegt oder an Litfaßsäulen geklebt. Ein Veranstalter des Marsches wurde nicht genannt.<br />

Der Staat versuchte, „die Superintendenten in die Verantwortung zu nehmen“ 109. Infolgedessen suchte<br />

z.B. der Superintendentenvertreter, Pf. Wugk, U. Schwabe am Arbeitsplatz (bei der Inneren Mission) auf<br />

<strong>und</strong> bat ihn alle, die er zu diesem Marsch eingeladen habe, wieder auszuladen. 110 Die Pfarrer, die in den<br />

Gemeindeschaukästen zum Pleißemarsch einluden, wurden aufgefordert, die Plakate zu entfernen.<br />

Gegenüber dem Staat erklärten die Superintendenten, von dem Vorhaben nichts zu wissen, <strong>und</strong><br />

distanzierten sich von dem Umzug. 111 Auch in den Friedensgebeten durfte nicht zum Pleißemarsch<br />

eingeladen werden. Am 5. Juni 1988 trafen sich dann über 200 Personen, um demonstrativ 1 St<strong>und</strong>e durch<br />

Leipziger Straßen zu ziehen. Einige trugen Aufnäher mit der Aufschrift „1. Pleiße-Gedenkumzug“.<br />

Unterwegs entnahmen sie dem Fluß (an einer nicht verschütteten Stelle) eine Wasserprobe <strong>und</strong> stellten im<br />

Zetkinpark drei - dort am Vortag versteckte - Informationstafeln zur Pleiße auf. Schon im Sommer 1988<br />

beschloß die IG „Leben“, 1989 erneut einen „PleißeMarsch“ durchzuführen. Er sollte unter dem Motto<br />

„Betroffenheit, Besinnung <strong>und</strong> Mahnung“ stehen <strong>und</strong> offiziell angemeldet werden. Zur Vorbereitung<br />

bildete sich ein Ad-hoc-Arbeitskreis „Weltumwelttag“. Er erarbeitete eine umfangreiche Ausstellung <strong>und</strong><br />

107 s. M. Herrmann, Ein Stück „Glasnost“ - um des Friedens willen, in: KiS 5/87, 181-184; R<strong>und</strong>schreiben Mittigs<br />

vom 6.8. <strong>und</strong> 14.10.1987 in: Besier/Wolf 487-508 <strong>und</strong> Bericht in: „Streiflichter“ vom 27.10.1987 (ABL Box 6).<br />

Über die Beteiligung der Leipziger gibt es eine Fotodokumentation (Ausstellung), die zum Teil im ABL liegt.<br />

108 Flugblatt abgedruckt in: Umweltblätter 8/88, 21<br />

109 MfS-Dienstbesprechung bei Eppisch am 31.05.1988 (BStU Leipzig AB 1161)<br />

110 U. Schwabe hatte die Einladung an die Empfänger der „Streiflichter“ per Post versandt <strong>und</strong> war deshalb dem<br />

Sicherheitskartell als Initiator aufgefallen. Bei seiner Vernehmung hatte er erzählt, von der geplanten Aktion<br />

durch einen Aushang während eines Gruppentreffens in Halle erfahren zu haben <strong>und</strong> da er die Idee gut fände,<br />

hätte er sie verbreitet.<br />

111 s. Dok. 63. 01.08.1988. Sie übernahmen auch keine Verantwortung für eine ursprünglich für den 11.6.1988<br />

geplante „Zukunftswerkstatt“ (Treffender Gruppen, die sich am Konziliaren Prozesses beteiligten), so daß diese<br />

in diesen Tagen abgesagt werden mußte.<br />

375


ein Arbeitsheft zur Geschichte des Flusses. 112 Obwohl die staatlichen Stellen nicht an eine Genehmigung<br />

des „Pleißemarsches“ gedacht hatten, teilten sie die Ablehnung erst 10 Tage zuvor mit. Der Arbeitskreis<br />

beugte sich formal dem Verbot. Der Pilgermarsch sollte von zwei Gottesdiensten <strong>und</strong><br />

Informationsveranstaltungen gerahmt werden. Diese konnten schlecht verboten werden, so luden die<br />

Basisgruppen <strong>und</strong> die Kirchgemeinden zu den Gottesdiensten ein. Das Sicherheitskartell versuchte zu<br />

verunsichern, führte kurz vor dem Weltumwelttag 63 Gruppenmitglieder zu <strong>und</strong> untersagte ihnen eine<br />

Teilnahme an einer „Zusammenrottung“ am Weltumwelttag. 113 Am 4. Juni wurden mehrere<br />

Gruppenmitglieder unter Hausarrest bzw. offensive Beschattung gestellt, andere wurden auf dem Weg zur<br />

Paul-GerhardKirche festgenommen. Zum Eröffnungsgottesdienst kamen dennoch 1000 Personen. 114 Im<br />

Eröffnungsgottesdienst predigte der Universitätsprofessor K. Nowak über den Zusammenhang von der<br />

Heilung des Flusses, der Heilung der Gesellschaft <strong>und</strong> der Heilung des Menschen. 115 Am Ende des<br />

Gottesdienstes teilte Jugendpfarrer Kaden mit, daß der Pilgermarsch nicht genehmigt worden sei, <strong>und</strong> der<br />

Staat Repressionen bei Nichtbeachtung angedroht habe. Er rief „jeden einzelnen zu verantwortlicher<br />

Entscheidung auf“ 116 <strong>und</strong> lud zum Gottesdienst in der Reformierten Kirche ein. Bevor die Teilnehmer die<br />

Kirche verließen, wurde eine Liste herumgegeben, auf der sich alle eintragen sollten, die den Pilgerweg<br />

trotz Verbot gehen wollten. Im Falle von Verhaftungen konnte man dann gleich die Namen der<br />

Festgenommen feststellen. Auf die Liste trugen sich jedoch nur 22 Personen ein. 117 Die ersten, die die<br />

Kirche verließen, konnten ungehindert die Polizeiwagen passieren <strong>und</strong> zur zweiten Kirche in die<br />

Innenstadtgehen. Dann wurden jedoch die Polizei-Sperrketten zugezogen.<br />

Die Polizei war auf 300 Verhaftungen eingerichtet 118 <strong>und</strong> umstellte immer wieder die in einzelnen Gruppe<br />

gehenden Gottesdienstbesucher. Es kam zu einem Verkehrsstau auf einer wichtigen Ausfallstraße, eine<br />

größere Gruppe wurde von der Polizei zum Gebäude der SED-BL getrieben. Als sich einige Eingekesselte<br />

zu einem Sitzstreik niederließen, wurden 74 Personen herausgegriffen <strong>und</strong> festgenommen. 119 Sie sollten<br />

später Ordnungsstrafen bis zu 500,- Mark zahlen. Zum Gottesdienst des AK „Solidarische Kirche“ in der<br />

Reformierten Kirche kamen noch ca. 400 Personen. 120<br />

Sozialer Friedensdienst (SoFD)<br />

Die Forderung nach einem „sozialen Friedensdienst“ entstand innerhalb der evangelischen Kirche in der<br />

DDR nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (1961). Der Dienst in den 1964 innerhalb der<br />

Armee eingerichteten Baueinheiten konnte nicht als ein „sozialer Friedensdienst“ bezeichnet werden,<br />

weshalb sich Bausoldatengruppen <strong>und</strong> evangelische Arbeitskreise <strong>und</strong> Synoden danach für einen<br />

„Zivildienst“ z.B. im Ges<strong>und</strong>heitswesen einsetzten (EKU-Synode 1965, Handreichung „Zum<br />

Friedensdienst der Kirche“ 1965). Verstärkt wurde diese Forderung nach der Einführung des<br />

Wehrk<strong>und</strong>eunterrichtes an den Schulen (1978) wiederaufgenommen. Ein Friedenskreis in der Dresdener<br />

Weinbergsgemeinde (Frieder Burckhardt <strong>und</strong> Christoph Wonneberger) konkretisierte die Forderung nach<br />

einem Zivildienst 1980. 121 Gleichberechtigt neben dem Wehrdienst <strong>und</strong> dem Wehrersatzdienst<br />

112 Die Pleiße. Heft I(4. Juni 1989) (38 S.; ca. 1000 Exemplare)<br />

113 S. MfS, ZAIG, Hinweis auf eine geplante provokatorisch-demonstrative öffentlichkeitswirksame Aktion in<br />

Leipzig anläßlich des Weltumwelttages (BStU ZAIG 4594, 162-164).<br />

114 s. Bericht „Streiflichter“, die „Umweltblätter“ meldeten 500 Besucher („a.b.“, Pleiße-Gedenkmarsch im Juli-<br />

Heft, 91). Die Zahl „1000“ wurde von T. Hollitzer (AK Umwelttag) in einem Brief vom 13.08.1989 an die<br />

Umweltblätter verteidigt (ABL Hefter 1). Die staatlichen Stellen sprachen von 800 Teilnehmern.<br />

115 Predigt abgedruckt in: Nowak (1990a), 10-13<br />

116 so Bericht in „Streiflichter“ vom 10.07.1989<br />

117 Pleiße - Pilgerweg `89 - Eine Hoffnung wollte gehen - bis wohin kam sie? (ABL Hefter 1)<br />

118 BStU Leipzig AB 1163<br />

119 Fernschreiben-Nummer 264 der SED-BL vom 5.06. an E. Krenz (StAL SED A 4972)<br />

120 Dietrich (1994)<br />

121 Zur Entstehung s.: St. Bickhardt, Ein Friedensdienst der Zukunft hat. Nach einem Gespräch mit Christoph<br />

Wonneberger, in: Spuren<br />

376


(Bausoldaten) sollte ein „Sozialer Friedensdienst (SoFD)“ eingerichtet werden. Dies sollte die<br />

Volkskammer beschließen. Der Dresdener Kreis wollte jedoch zuvor einen synodalen Probelauf starten.<br />

So ließen sie die Initiative von einem Pfarrkonvent als Antrag an die sächsische Landessynode (Herbst<br />

1980) beschließen. Die Synode machte sich den Antrag jedoch nicht zu eigen. Daraufhin verbreitete die<br />

Dresdener Gruppe ihr Initiativpapier 122 per Kettenbrief innerhalb der evangelischen Jugendarbeit <strong>und</strong> rief<br />

zu Eingaben an die Synoden für einen SoFD auf. Diesem Aufruf folgten über 5000 Gemeindeglieder in<br />

der ganzen DDR. In Leipzig gab es einige Jugendliche, die für diesen Aufruf <strong>und</strong> für den „Berliner<br />

Appell“ Unterschriften sammelten (s. S. 42, Anm. 1). Diese unabhängige Bewegung wurde vom Staat<br />

sofort als eine Bedrohung begriffen. Der stellvertretende Leiter der Bezirksverwaltung des MfS Leipzig<br />

behauptete im Juli 1981: „Unter den gegenwärtigen Bedingungen der imperialistischen<br />

Konfrontationspolitik ist die Forderung nach einem Sozialen Friedensdienst’ eindeutig auf die<br />

Schwächung der Verteidigungsbereitschaft der DDR gerichtet.“ 123 Entsprechend gezielt versuchten die<br />

staatlichen Stellen auch in Leipzig gegen diese Initiative vorzugehen. Dabei trat jedoch der Effekt ein, daß<br />

sie die Initiative z.B. unter den Pfarrern erst bekannt machten. 124 Im Laufe des Jahres 1981 wurde SoFD<br />

zu einem wichtigen Symbol des Widerstandes gegen das SED-Regime. Die B<strong>und</strong>essynode in Güstrow<br />

(1981) machte nach einem ablehnenden Votum des Staatssekretärs für Kirchenfragen die Initiative nicht<br />

zu ihrer eigenen Forderung, doch stellte sie sich hinter das Anliegen. 125 Daraufhin erhob der Cottbuser<br />

Parteisekretär W. Walde auf einer Tagung des ZK der SED den Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit<br />

(ND 21.1L1981), die jedes weitere Eintreten für SoFD strafbar machte. Einige kirchliche Vertreter (z.B.<br />

Brief von Landesbischof Hempel oder Brief von H.J. Tschiche an Walde) protestierten dagegen,<br />

außerdem gab es bis zum Ende der DDR verschiedene Gruppen, die sich mit dem Anliegen der Initiative<br />

identifizierten <strong>und</strong> Modelle für die Verwirklichung eines SoFD entwickelten. 126<br />

Spitzengespräch am 6. März 1978<br />

Das Spitzengespräch am 6. März 1978 zwischen E. Honecker <strong>und</strong> dem Vorstand des B<strong>und</strong>es der<br />

Evangelischen Kirchen in der DDR 127 ist für die Staat-Kirche-Beziehungen in den folgenden 10 Jahren<br />

von großer Bedeutung gewesen. Eingebettet in die allgemeine Rechtsunsicherheit war die Rechtslage der<br />

Kirche von sogenannten Staat-Kirche-Gesprächen abhängig. Für die Kirche war dieses Gespräch wichtig,<br />

da sie darin als Kirche vom Staat anerkannt, ihr gesellschaftliche Funktion zugestanden <strong>und</strong> sie durch die<br />

Inszenierung gesellschaftlich aufgewertet wurde. So wurden der Kirche z.B. nun eigenverantwortete<br />

Sendezeiten im Radio <strong>und</strong> Fernsehen zugestanden. Außerdem konnten durch Berufung auf das Gespräch<br />

bestimmte Forderungen legitimiert werden. Wichtigster Satz in diesem Zusammenhang war, daß das<br />

Staat-Kirche-Verhältnis so gut sei, wie es von jedem einzelnen Christen erfahren würde. Formal wurde<br />

also den Christen das Recht auf Gleichberechtigung in der Gesellschaft zugestanden. Die SED gab die<br />

Rede vom „Absterben der Kirche“ auf <strong>und</strong> damit faktisch ihr Wahrheitsmonopol. Damit konnten jedoch<br />

gesellschaftliche Probleme nur „gesprächsfähig“ werden, wenn sie zu Staat-Kirche-Problemen firmiert<br />

wurden. Innerhalb der Kirche gab es einige Kritiker an dieser Politik des B<strong>und</strong>es bzw. der KKL. Bestärkt<br />

wurden sie, da von staatlicher Seite aus auf dieses Gespräch meist dann verwiesen wurde, wenn die<br />

Kirche dem Staat „vertrauen“ <strong>und</strong> sich nicht in gesellschaftspolitische Fragen „einmischen“ sollte. Der<br />

Präsident des Sächsischen LKA hatte bei dem Treffen 1978 moniert, daß „sich Bürger oft aus Angst vor<br />

Folgen scheuen, ihre Fragen offen auszusprechen“. K. Domsch stellte das Gespräch Anfang 1988 in eine<br />

Reihe verschiedener „vertrauensbildender Maßnahmen“ (10 Jahre „6. März“, in: Der Sonntag, 06.03.1988,<br />

1 f.) <strong>und</strong> forderte in diesem Zusammenhang am 7. März 1988 vom stellv. Vorsitzenden des RdB Leipzig<br />

122 Aufruf vom 09.05.1981 veröffentlicht in: Büscher/Wensierski/Wolschner, 169-171 <strong>und</strong> Lingner, 148f.<br />

123 Besier/Wolf 308-310, 309<br />

124 s. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 145-152; 159-162<br />

125 MBl 34 1981, 57ff.; epd-Dok 43/81, 75ff.<br />

126 s. z.B. die nichtlizenzierten Publikationen „Arbeitsheft Sozialer Friedensdienst“ (Leipzig 1988 - ABL H 2), „Wir<br />

suchen weiter nach Wegen zum Frieden“ (Naumburg 1988 - ABL H 25)<br />

127 dokumentiert in: epd-Dok 15/78, s.a. Kirchliches Jahrbuch 1978, 347-355 '28<br />

377


ein „Toleranzedikt“. Die Leipziger Pfarrer bezogen sich in ihren Gesprächen mit staatlichen Stellen im<br />

allgemeinen nicht auf das „Gespräch vom 6. März“ <strong>und</strong> das, obwohl dieses Spitzengespräch vom<br />

Staatssekretariat für Kirchenfragen durch Gespräche mit Pfarrern <strong>und</strong> Gemeindegliedern 1977/78 im<br />

Leipziger Raum vorbereitet wurde. 128<br />

128 Dohle (1988), 169 <strong>und</strong> Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 18-20, 64-99<br />

378


Staatssicherheit in Leipzig<br />

379


Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)<br />

380


Leipziger Gruppen<br />

In den 80er Jahren arbeiteten über h<strong>und</strong>ert Gemeindegruppen, Intellektuellenzirkel oder Jugendgruppen,<br />

die sich u.a. mit politischen Fragen beschäftigten, in Leipzig <strong>und</strong> bereiteten das gesellschaftliche Klima,<br />

das die Revolution 1989 ermöglichte. Jedoch gingen nur wenige Gruppen in die Öffentlichkeit bzw.<br />

wurden öffentlich beachtet, weshalb viele in Vergessenheit geraten sind. Die Fülle der sich seit 1990<br />

gebildeten Leipziger Vereine geht auch auf diese informellen Gruppen zurück.<br />

Es gab in Leipzig einige kritische Künstlerkreise, z.B. um die Zeitschriften Anschlag (1984-89), Glasnot<br />

(1986-89), Messitsch (1987-89), Sno Boy (1989) <strong>und</strong> Zweite Person (1987-90) sowie um die unabhängige<br />

Galerie „Eigen+Art“ (seit 1985). Kritische „Laientheater“ <strong>und</strong> anspruchsvolle Theatergruppen, kritische<br />

Liedermacher <strong>und</strong> eine independent-Szene („Die Art“) existierten. Es entstanden (Sub-)Kulturen, die<br />

durch die „Jugendbewegung für den Frieden“ (St. Bickhardt) der frühen 80er Jahre <strong>und</strong> durch<br />

Intellektuellenzirkel geprägt wurden. Einige Gruppen entwickelten alternative Pädagogikmodelle, andere<br />

beschäftigten sich mit fremden Kulturen, um von deren ökologischer Lebensweise zu lernen, oder sie<br />

kommunizierten über Formen der Emanzipierung. Es gab Kirchgemeindekreise, die in der Begegnung mit<br />

ihren Partnergemeinden in Westdeutschland oder im ökumenischen Austausch Gesellschaften<br />

vergleichten <strong>und</strong> eine allgemeine Dialogkultur förderten. Auch manche der Lese- <strong>und</strong> Diskussionskreise<br />

gingen 1989 nahtlos in die entstandenen politischen Gruppierungen über 129 . Ohne Vollständigkeit zu<br />

erzielen, ließen sich noch viele weitere Beispiele nennen. Die vorangegangene Aufzählung berücksichtigt<br />

Gruppen, von denen die Herausgeber wissen, daß einige ihrer Mitglieder schon vor dem Herbst 1989 an<br />

den Friedensgebeten teilnahmen. Das MfS rechnete verstärkt ab Ende Januar 1988 mit Demonstrationen<br />

<strong>und</strong> oppositionellen Aktionen im Zusammenhang mit den „Friedensgebeten für die Inhaftierten“ <strong>und</strong><br />

setzte aus diesem Gr<strong>und</strong> eine spezielle Lagegruppe der Abt. XX ein 130 , die unter dem Stichwort „Spinne“<br />

die Aktionen des Sicherheitskartells koordinierte. Diese Lagegruppe legte Ende Februar 1988 - u.a. zu den<br />

folgenden „Gruppierungen“ - spezielle Dateien an: studentische Interessenvertretung am Theologischen<br />

Seminar „WAF’ ; 2. AK Solidarische Kirche; Ausreise-Kreis „DDR-Kontakte“, Vorbereitungsgruppe der<br />

Grafik-Auktion (28.02.1988); Ausreisegruppe, die Eingaben an den Staatsrat schrieb; Ausreisegruppe, die<br />

zu einer „Aktion für friedliche Ausreise“ am 1. Mai 1988 am Brandenburger Tor aufrief; Leipziger AG<br />

„Staatsbürgerschaftsrecht’ ; Kaden-Kreis; Kreis „Freiheit <strong>und</strong> evangelische Kirche von unten - zentrale<br />

Seelsorgeeinrichtung für Bürgerrechtler <strong>und</strong> Ausreisewillige“; „Koordinierungsgruppe Friedensgebete für<br />

Inhaftierte“ 131 . Einige der Ausreisegruppen gab es zwei Monate später schon gar nicht mehr, da ihre<br />

führenden Mitglieder in der Zwischenzeit ausreisen durften. Im folgenden sollen die Gruppen genannt <strong>und</strong><br />

kurz beschrieben werden, die sich aktiv an der Gestaltung der Friedensdekaden, der Friedensgebete <strong>und</strong><br />

der Aktionen im Anschluß daran beteiligt haben. Doch auch hier gab es vermutlich - wie die Liste der<br />

MfS-Daten zeigt - mehr als die Herausgeber in Erfahrung bringen konnten.<br />

Aktion Sühnezeichen, Bezirksgruppe Leipzig<br />

Die „Aktion Sühnezeichen“ (ASZ) entstand 1958. Die ASZ bemüht sich um Hilfsaktionen bei Völkern,<br />

die unter dem faschistischen Deutschland gelitten hatten. So gab es verschiedene „Lager“, bei denen<br />

Christen ihren Urlaub zu Arbeitseinsätzen in Gedenkstätten in Polen <strong>und</strong> der damaligen CSSR verbrachten<br />

oder zusammen mit ökumenischen Gästen in der DDR an einer alten Kirche oder in einem<br />

Behindertenheim arbeiteten. Die Leipziger Bezirksgruppe hatte ca. 10 aktive Mitglieder <strong>und</strong> beschäftigte<br />

sich u.a. mit der Situation der Völker in Mittel- <strong>und</strong> Osteuropa <strong>und</strong> bereitete z.B. den“ 1. Leipziger<br />

Rumänientag“ (29.10.1988) mit vor.<br />

129 s. P. Unterberg zum „Rosenthalkreis“ oder dem Lesezirkel um C. Matzke; vgl. a. D. Rink (1994) <strong>und</strong> C. Dietrich<br />

(1994)<br />

130 Verantwortlich für diese Lagegruppe waren: Tinneberg, Cieck, Zeitschel, Oppel (alle Abt. XX) <strong>und</strong> je ein<br />

Vertreter von BKG, AKG, AuE <strong>und</strong> KD Stadt (AB XX/Lagegruppe Zeitschel - BStU Leipzig AB 1161)<br />

131 BStU Leipzig AB 0832<br />

381


Arbeitsgruppe „Konziliarer Prozeß im Vorschulalter“<br />

In dieser Gruppe (ca. 7 Mitglieder) arbeiteten vor allem Kinderdiakoninnen, die sich z.B. um einen<br />

Gegenentwurf zum staatlichen „Kindergartenlehrprogramm“ bemühten.<br />

Arbeitsgruppe Friedensdienst (AGF)<br />

Die AG Friedensdienst entstand Mitte der 70er Jahre aus einem Bausoldatenkreis (einem Hauskreis ohne<br />

kirchliche Anbindung, Mitarbeiter verschiedener Konfessionen). Dieser bemühte sich um einen<br />

(christlichen) „Friedensdienst“ anstelle des Militärdienstes. Die AG engagierte sich Anfang der 80er Jahre<br />

zusammen mit Stadtjugendpfarrer Gröger für eine breite <strong>und</strong> kontinuierliche Friedensarbeit der<br />

Kirchgemeinden in Leipzig. In diesem Zusammenhang stellten sie Materialmappen für<br />

Gemeindeveranstaltungen zusammen <strong>und</strong> führten selbst unzählige Informationsandachten durch. Sie<br />

prägte die Friedensdekade 1981 in Leipzig. Am 13.09.1982 begann sie mit den montäglichen<br />

Friedensgebeten in der Nikolaikirche. Auch die Leipziger Friedensseminare (1982-85) wurden von ihr<br />

vorbereitet.<br />

Arbeitsgruppe für Frieden Gohlis<br />

Die Arbeitsgruppe wurde von Pfarrer Weidel geleitet. Sie entstand im Herbst 1985. Die stark<br />

gemeindeorientierte Gruppe beschäftigte sich u.a. mit Friedensethik <strong>und</strong> der gesellschaftlichen Funktion<br />

der Kirche <strong>und</strong> bereitete dazu Gemeindeveranstaltungen vor. Sie versuchte einen „Dialog vor Ort“ mit<br />

Vertretern der SED <strong>und</strong> der Kommune <strong>und</strong> nutzte die Friedenskirche (Gohlis) für Ausstellungen (vgl.<br />

Dok. 56).<br />

Arbeitsgruppe Menschenrechte (AGM)<br />

Die AGM wurde Anfang 1987 von Pf. Wonneberger gegründet. Die AGM war fest in der Lukas-<br />

Gemeinde verankert <strong>und</strong> beschäftigte sich vor allem mit Menschenrechtsverletzungen im Ostblock.<br />

1987/88 setzte sie sich für einen Sozialen Friedensdienst ein (Briefe an Volkskammerabgeordnete,<br />

Materialmappe <strong>und</strong> Ausstellung). Ende 1988 gründete sie zusammen mit anderen Gruppen die<br />

„Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR“. Ab 1989 arbeitete sie eng mit dem AK<br />

Gerechtigkeit zusammen. Sie organisierte den Statt-Kirchentag (s. S. ***), richtete in der Kanzlei der<br />

Lukasgemeinde eine Bibliothek für Samisdat-Drucke <strong>und</strong> Veröffentlichungen zur DDR <strong>und</strong> zu<br />

Ostmitteleuropa ein <strong>und</strong> gab September <strong>und</strong> Oktober 1989 die umfangreiche Monatszeitschrift „Forum<br />

Kirche, <strong>und</strong> Menschenrechte“ heraus.<br />

Arbeitsgruppe Umweltschutz (AGU)<br />

Die AGU war seit Anfang der 80er Jahre in Zusammenarbeit mit dem Kirchlichen Forschungsheim<br />

Wittenberg ein Zentrum der ökologischen Bewegung in der DDR. 132 Sie war beim Jugendpfarramt<br />

angegliedert <strong>und</strong> gab von 1981 bis 1989 das Informationsblatt „Streiflichter“ heraus. Da die Gruppe<br />

zeitweise über 70 Mitarbeiter hatte, gab es mehrere selbständige Untergruppen. Diese beschäftigten sich<br />

Mitte der 80er Jahre u.a. mit Umwelterziehung (z.B.: Broschüre „Umweltschutz im Haushalt“ - 3000<br />

Exemplare) <strong>und</strong> der Sammlung von Informationen über Verstöße gegen gesetzliche Bestimmungen auf<br />

dem Gebiet des Umweltschutzes. Die Gruppe erstellte ein Bauminventar <strong>und</strong> ein Fahrradwegverzeichnis<br />

der Leipziger Innenstadt <strong>und</strong> führte Arbeitseinsätze in gefährdeten Biotopen durch. Anläßlich des<br />

Weltumwelttages organisierte die AGU alljährlich öffentliche Aktionen, z.B. Fahrraddemonstrationen<br />

(„Mobil ohne Auto“), mit denen gegen die Umweltgefährdung durch den Autoverkehr protestiert wurden.<br />

132 s. Wensierski (1986), 163ff., N. Voss in: Der Sonntag 14/1984<br />

382


Die Gruppe war eher an „konsequentem Nutzen der gesellschaftlichen Möglichkeiten“ 133 bzw. an<br />

Aufklärung als an Protest gegen das politische System interessiert. 1987 erhielt die Gruppe eigene Räume<br />

im Jugendpfarramt (heute „Haus der Kirche“), in denen Vollversammlungen stattfanden <strong>und</strong> eine<br />

Umweltbibliothek eingerichtet wurde. Die Arbeit der AGU wird heute vor allem durch den Ende 1989<br />

gegründeten Verein „Ökolöwe Leipzig“ fortgesetzt.<br />

Arbeitsgruppe Wehrdienstfragen beim Jugendpfarramt<br />

Die Gruppe wurde 1985 gegründet. Sie beriet Wehrpflichtige <strong>und</strong> setzte sich für einen sozialen<br />

Friedensdienst <strong>und</strong> für das Recht auf Wehrdienstverweigerung ein.<br />

Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR<br />

Diese DDR-weite Arbeitsgruppe wurde vor allem von der AGM <strong>und</strong> dem AKG gegründet. Im<br />

Gründungsaufruf vom 10.12.1988 wurden Kontaktadressen in Güstrow, Berlin, Naumburg, Leipzig <strong>und</strong><br />

Dorndorf bei Jena genannt. 134 Am 16.01.1989 wurden die im Gründungsaufruf genannten Personen für<br />

einen Tag festgenommen. Dennoch ließen sich die Initiatoren nicht einschüchtern. Sie sammelten Daten<br />

zu Menschenrechtsverletzungen <strong>und</strong> gaben immer wieder Mitteilungen zur Menschenrechtssituation in<br />

der DDR heraus. Getragen von Mitgliedern der AGM <strong>und</strong> des AKG gab es monatliche Treffen der DDR-<br />

Menschenrechtsgruppen in Räumen des ThSL, bei denen neue Erkenntnisse zu<br />

Menschenrechtsverletzungen <strong>und</strong> zur Entwicklung der Opposition ausgetauscht wurden. 135 Die AG ging<br />

im Laufe des Jahres 1989 in die Initiative für Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte über, die seit Ende 1988<br />

versuchte, sich als DDR-weite Initiative zu etablieren. 136<br />

Arbeitskreis „Treff für Haftentlassene“<br />

Dieser AK versuchte Menschen, die aus der Haft entlassen wurden, beim Aufbau einer eigenständigen<br />

Lebensführung zu helfen. Daneben beschäftigte sie sich jedoch auch mit den Haftbedingungen in der<br />

DDR <strong>und</strong> der Rechtssituation der Haftentlassenen. Dieser von K. Hinze geleitete Arbeitskreis hatte ca. 10<br />

Mitglieder <strong>und</strong> bildete sich im Oktober 1987.<br />

Arbeitskreis Abgrenzung <strong>und</strong> Öffnung<br />

Der AK entstand im September 1987 als Reaktion auf den Synodalantrag „Absage an Prinzip <strong>und</strong> Praxis<br />

der Abgrenzung“ 137 einer Berliner Initiativgruppe. Der Kreis von ca. 10 Theologiestudenten setzte sich<br />

u.a. theoretisch mit der administrativen Entmündigung großer Teile der Bevölkerung oder dem Umgang<br />

mit dem anderen Teil Deutschlands in der DDR-Öffentlichkeit auseinander. Dazu gestaltete er 1988 auch<br />

ein Gemeindeforum.<br />

133 So das Ergebnis einer mehrtägigen Klausur führender Gruppenvertreter im April 1987. Dort wurden als weitere<br />

Punkte genannt: „Zusammenarbeit mit engagierten Gruppen, intensive Beschäftigung mit konkreten Projekten,<br />

verschiedene Formen der Gemeindearbeit [/] Arbeitseinsätze, Nachdenken <strong>und</strong> Leben alternativer Lebensformen,<br />

Arbeiten mit <strong>und</strong> für Kinder, Wecken eines breiten Umweltbewußtseins“ (aus: Streiflichter, o. Datum, ca. Mai<br />

1987)<br />

134 Gründungsaufruf unterzeichneten u.a. folgenden Gruppen: Initiative Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte,<br />

Umweltbibliothek (Berlin), AKSK Regionalgruppen Leipzig <strong>und</strong> Thüringen, Friedenskreis Naumburg (ABL H 2)<br />

135 Die Erklärung vom 06.07.1989 ist abgedruckt in: Rein (1990), 182-185 weitere in: ABLH2<br />

136 vgl. Mitter/Wolle, 63<br />

137 s. Bickhardt (1988) bzw. Samisdat-Druck „Aufrisse I“ <strong>und</strong> „Aufrisse II“<br />

383


Arbeitskreis Bausoldaten<br />

s. u. Arbeitsgruppe Wehrdienstfragen beim Jugendpfarramt<br />

Arbeitskreis Friedensdienst<br />

s. u. Arbeitsgruppe Friedensdienst<br />

Arbeitskreis Gerechtigkeit (AKG)<br />

Der AKG war Ende 1987 von Studenten am ThSL mit dem Ziel gegründet worden, Einfluß auf die<br />

politische Entwicklung der DDR zu nehmen. Dafür gab sich der AK eine Satzung <strong>und</strong> eine feste Struktur<br />

mit einem Sprecherkreis <strong>und</strong> verschiedenen speziellen Arbeitsgruppen. Bei den Sprechern liefen alle<br />

Informationen aus den Untergruppen zusammen. Die Sprecher prägten aufgr<strong>und</strong> der hierarchischen<br />

Struktur des AKG die Arbeit der Untergruppen, die wiederum auch mit „Experten“ (Dolmetscher,<br />

Gefängnisseelsorger usw.) zusammenarbeiteten, die keine Gruppenmitglieder sein mußten. So<br />

entwickelten sich vielfältige konspirative Arbeitsstrukturen. Besonderen Wert legte der AKG auf eine<br />

breite Öffentlichkeitsarbeit. So beteiligte er sich im Frühjahr 1988 <strong>und</strong> im Frühjahr 1989 an den<br />

Koordinierungsgruppen <strong>und</strong> baute Kontakte zu Journalisten auf. Der AKG hatte vielfältige Beziehungen<br />

zu oppositionellen Gruppen in Polen, in der CSSR <strong>und</strong> im Baltikum <strong>und</strong> veröffentlicht zusammen mit<br />

anderen Gruppen Texte <strong>und</strong> Berichte tschechischer <strong>und</strong> slowakischer Dissidenten 138 . Außerdem sammelte<br />

<strong>und</strong> verbreitete der AKG Informationen zu Menschenrechtsverletzungen, zu den staatlichen Strategien im<br />

Umgang mit Ausreisewilligen 139 <strong>und</strong> zu Entwicklungen innerhalb des Machtapparates bzw. der SED (vgl.<br />

Dok. ***). Die Gruppe besaß ein eigenes (nichtlizensiertes) Wachsmatrizen-Umdruck-Gerät, mit dem sie<br />

Flugblätter herstellen konnte (z.B. zum 09.11.1988, zum 15.01. <strong>und</strong> zum 09.10.1989). Th. Rudolph brach<br />

im November 1988 sein Studium ab <strong>und</strong> widmete sich voll der politischen Arbeit im AKG.<br />

Arbeitskreis Gerechtigkeit <strong>und</strong> Ökumene<br />

Dieser Arbeitskreis entstand im Januar 1988. In ihm arbeiteten anfangs vor allem Theologen (Studenten<br />

<strong>und</strong> Assistenten des ThSL). Es war eine deutlich thematisch zentrierte Gruppe, die sich mit<br />

wirtschaftlichen Fragen beschäftigte. Angefangen hatte die Gruppe mit der Frage der Unterentwicklung<br />

der Zweidrittel-Welt <strong>und</strong> welche Rolle dabei sozialistische Staaten spielten. Später versuchte sie u.a.,<br />

Reformmodelle für die DDR zu entwickeln, <strong>und</strong> arbeitete dabei mit einem Politökonomen der Leipziger<br />

Universität zusammen. Diese Reformkonzepte fanden Eingang in die Programmdiskussionen des<br />

„Demokratischen Aufbruchs“ im September 1989. 140<br />

Arbeitskreis Solidarische Kirche (AKSK) Leipzig<br />

Der AKSK entstand 1984 aus einem Kreis junger Theologen aus verschiedenen Teilen der DDR. 1986<br />

beschloß der AKSK eine Basiserklärung 141 <strong>und</strong> gab sich folgende Struktur: Vollversammlungen (jeweils<br />

138 z.B. Varia, hrg. von AGM <strong>und</strong> AKG (erschienen März 1989, 26 Seiten), u.a. mit Übersetzungen aus „Lidove<br />

Noviny“ 2/2 über die Demonstrationen zum Gedenken an Jan Palach am 15.01.1989 in Prag <strong>und</strong> den<br />

unglaublichen Terror gegen die Demonstranten durch die Sicherheitskräfte, <strong>und</strong> Aktionstage für politisch <strong>und</strong><br />

religiös Inhaftierte in der CSSR.<br />

139 Ca. 2000 Fragebögen der IFM zur Situation der Ausreisewilligen verteilte die AKG. S.a. Erklärung der<br />

„Arbeitsgruppe Ausreise des Arbeitskreises Gerechtigkeit“ vom Februar 1989 (ABL H 2) <strong>und</strong> verschiedene<br />

geheime Anweisungen des Innenministeriums.<br />

140 s. Programmentwurf des DA (ABL H 4) <strong>und</strong> A. Müller, Unser europäisches Haus - wie stellen wir es uns vor <strong>und</strong><br />

wie können wir daran mitwirken, in: Forum für Kirche <strong>und</strong> Menschenrechte 1, 25-36<br />

141 abgedruckt in: Ost-West-Diskussionsforum 1/1988<br />

384


um den 1. Mai <strong>und</strong> den 7. Oktober) <strong>und</strong> für die Zwischenzeit einen gewählten Koordinierungsauschuß,<br />

dazu kamen in verschiedenen Gebieten „Regionalgruppen“ <strong>und</strong> einzelne thematische Gruppen. Nach der<br />

Anschriftenkartei des AKSK gehörten ca. 400 Mitglieder/Sympathisanten zu dieser (um 1988 wohl<br />

größten) DDR-weiten nicht genehmigten Organisation. 142 Das Ziel des AKSK war es, die solidarischen<br />

Strukturen in der (evangelischen) Kirche <strong>und</strong> die Partizipationsmöglichkeiten in der Gesellschaft zu<br />

fördern, dabei verstand er sich selbst als ein Netzwerk für Solidaritätsaktionen. Viele Mitglieder des<br />

AKSK waren zugleich in anderen Gruppen engagiert. Dies gilt besonders für die Leipziger<br />

Regionalgruppe 143 (ca. 25 Mitglieder). Zu ihren Sitzungen in Räumen des ThSL kamen vor allem<br />

Theologen bzw. Theologiestudenten. Sie tauschten sich über ihre Arbeit in anderen Gruppen aus <strong>und</strong><br />

bemühten sich darum, daß die Anliegen der politisch- alternativen Gruppen innerhalb der Kirche größere<br />

Resonanz gewannen (vgl. Dokumente 157 <strong>und</strong> 163). Außerdem wurde die Zeitschrift des AKSK<br />

„Solidarische Kirche“ von einer Redaktionsgruppe herausgegeben, zu der vor allem Leipziger gehörten.<br />

Christliche Friedenskonferenz (CFK), Kommission Friedensdienst der Jugend (Leipzig)<br />

Die CFK wurde 1961 als ein internationaler Zusammenschluß von Kirchen, Gruppen <strong>und</strong> Einzelpersonen<br />

in Prag gegründet. In der DDR hatte die CFK Anfang der 80er Jahre ca. 500 Mitglieder. Sie trat gegenüber<br />

der SED loyal auf <strong>und</strong> engagierte sich für eine sogenannte „friedliche Koexistenz“ <strong>und</strong> gegen den<br />

„Antikommunismus“. Die Leipziger Jugendkomission wurde 1976 gegründet <strong>und</strong> beschäftigte sich mit<br />

Abrüstungsfragen <strong>und</strong> Problemen der Zweidrittel-Welt.<br />

Demokratische Initiative - Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft (DI)<br />

Diese Initiative entstand im Januar/Februar 1989, nachdem schon zweimal Flugblätter unter dem Namen<br />

„Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft“ in der Stadt verteilt worden waren144 .<br />

Ende Februar 1989 formulierte sie ihre „Prinzipien <strong>und</strong> Methoden“ <strong>und</strong> verbreitete sie als Flugblatt145 . Sie<br />

verstand sich als eine nichtkirchliche politische „Bewegung“, die DDR-weit arbeitete. Ihr Ziel war es, als<br />

Pendant zur „Abstimmung mit den Füßen“ eine Bewegung zu verstärken, in der sich DDR-Bürger<br />

öffentlich von ihrem Dasein als Untertanen verabschiedeten. Als wesentliche Form dieser<br />

„Volksabstimmung“ unterstützte sie Demonstrationen. So rief sie per Flugblatt, mit Hilfe westlicher<br />

R<strong>und</strong>funksendern <strong>und</strong> mit M<strong>und</strong>-zu-M<strong>und</strong>-Propaganda zu Demonstrationen in Leipzig <strong>und</strong> Dresden<br />

gegen die Scheinwahl am 07.05.1989 auf. Sie lud am 24.09.1989 die neuentstandenen DDR-weiten<br />

politischen Vereinigungen zu einer ersten Absprache nach Leipzig <strong>und</strong> löste sich dort zugunsten des<br />

Neuen Forums auf 146.<br />

Eine Mark für Espenhain<br />

In Espenhain stand eine Braunkohlen-Schwelerei, welche zu extremen Umweltbelastungen im Raum<br />

Leipzig führte. Gegen dieses Werk bzw. für seine Sofortrekonstruktion hatten Umweltgruppen (vor allem<br />

aus Rötha) eine Unterschriften- <strong>und</strong> Spendenaktion mit dem Titel „Eine Mark für Espenhain“ gestartet.<br />

Sie wurde von der Synode der Sächsischen Landeskirche (Herbst 1987) <strong>und</strong> von der Synode des BEK<br />

(1988) befürwortet. In der Folge wurde dafür z.B. auch in kirchlichen Schaukästen geworben. Bis Anfang<br />

Juli 1989 wurden mit dieser Aktion 25.000 Unterschriften gesammelt 147.<br />

142 zum AKSK: H. Wagner, Kirchen, Staat <strong>und</strong> politisch alternative Gruppen, in: H. Dähn (Hg.), Die Rolle der<br />

Kirchen in der DDR, München 1993; Goertz/Tautz; Mitter/Wolle, 64f.; Findeis/Pollack/Schilling, 64ff.<br />

143 Die Stasi-Auflistung der Aktionen der Leipziger Regionalgruppe (vom 3.10.1989, in: Görtz/Tautz) liest sich fast<br />

wie eine Geschichte der Leipziger Gruppen (im Jahre 1989).<br />

144 s. Dok. 104 <strong>und</strong> Mitter/Wolle, 13f. , vgl. Dok. 130<br />

145 Flugblatt der DI, u.a. in: Mitter/Wolle 164f.<br />

146 Dietrich (1994)<br />

147 s. Potsdamer Kirche, 16.7.1989; vgl. a. auch Stasi INTERN, 311-325; Aufruf in: ABL H 1.<br />

385


Frauen für den Frieden<br />

Mit dem Appell „Anstiftung der Frauen für den Frieden“ vom 25.02.1980 entstand neben<br />

Frauenfriedensgruppen in westeuropäischen Ländern auch in der B<strong>und</strong>esrepublik eine Bewegung „Frauen<br />

für den Frieden“ 148 . Diese erhielt mit dem neuen DDR-Wehrdienstgesetz von 1982, das im Falle einer<br />

Mobilmachung auch Frauenmilitärdienst vorsah, ein Pendant in der DDR. Es bildeten sich in mehreren<br />

Städten Gruppen der „Frauen für den Frieden“ 149 , die sich gegen eine Militarisierung der Gesellschaft<br />

wandten. Die Leipziger Gruppe (ca. 15 Mitglieder) entstand aufgr<strong>und</strong> einer Absprache mit der Berliner<br />

Gruppe im Mai 1984. Sie beschäftigte sich u.a. mit Fragen der Erziehung in Kindergarten <strong>und</strong> Schule<br />

sowie der Gleichberechtigung in Familie <strong>und</strong> Gesellschaft. Die Gruppe erhielt von der<br />

Nikolaikirchgemeinde einen Raum <strong>und</strong> beteiligte sich an der Gestaltung der Friedensdekaden <strong>und</strong><br />

verschiedenen kirchlichen Veranstaltungen. 1986 organisierte sie ein Treffen der DDR-Frauengruppen 150.<br />

Friedenskreis Grünau/Lindenau<br />

Dieser katholische (bzw. ökumenische) Friedenskreis wurde nach dem NATO-Nachrüstungsbeschluß<br />

Ende 1983 gegründet. Er beschäftigte sich u.a. mit Fragen der Friedenserziehung <strong>und</strong> der Menschenrechte<br />

in Osteuropa <strong>und</strong> nahm engagiert am Konziliaren Prozeß teil. Er bereitete u.a. eine Veranstaltung zu<br />

Alternativen zur SED-Volksbildung („Schule in Bewegung“) <strong>und</strong> eine Solidaritätsandacht für politisch<br />

Inhaftierte in der CSSR vor.<br />

Gesprächskreis „Hoffnung für Ausreisewillige“<br />

Dieser Kreis wurde von Pf. Führer geleitet <strong>und</strong> entstand Ende 1986. Er beschäftigte sich mit der<br />

Rechtssituation von Ausreisewilligen <strong>und</strong> den Reformmöglichkeiten in der DDR. Nachdem die meisten<br />

Mitglieder der Gruppe ausreisen durften, stellte der Kreis Mitte 1989 seine Arbeit ein 151.<br />

Gruppe Neues Denken<br />

Diese Gruppe begann sich 1988 im „Klub der Intelligenz“ beim Kulturb<strong>und</strong> mit einer Vortragsreihe<br />

(„Dialog“) für Reformen in der DDR einzusetzen. Ihr Programm war dabei, mit Dialog anstelle der<br />

„gewaltsamen Durchsetzung eigener Interessen“ 152 eine Demokratisierung zu erreichen. In der Gruppe<br />

(vor allem Studenten, u.a. Genossen der SED) arbeiteten keine Christen mit, dennoch nahmen einige ihrer<br />

Mitglieder an den Friedensgebeten teil, <strong>und</strong> J. Tallig gestaltete das Friedensgebet am 27.06.1988 mit. Die<br />

Gruppe organisierte parallel zu den kirchlichen Gruppen am 07.05.1989 eine Beobachtung der<br />

Kommunalwahl <strong>und</strong> machte ihre Ergebnisse zu den Wahlfälschungen danach öffentlich. Die von<br />

Mitgliedern der Gruppe begonnene Einrichtung einer Bibliothek <strong>und</strong> eines Lesecafes wurde ab Oktober<br />

153<br />

1989 als Büro der Neuen Forums genutzt .<br />

Initiativgruppe Hoffnung Nikaragua (IHN)<br />

Die Initiativgruppe „Esperanza“ bzw. „Hoffnung Nicaragua“ wurde 1981 u.a. von Diakon Döring<br />

gegründet. Sie unterstützte die sandinistische Revolution <strong>und</strong> im Besonderen ein Landschulzentrum in<br />

148 s. E. Quistorp, Frauen für den Frieden, Berlin 1982<br />

149 Die Gruppen „Frauen für den Frieden“ wurden seit Juni 1985 durch das MfS im ZO V“Wespen“ (HA XX/2)<br />

„bearbeitet“.<br />

150 vgl. Findeis/Pollack/Schilling, 142ff.<br />

151 s. Führer, in: Kenntemich/Durniok/Karlauf (1993), 227; Besier/Wolf, 667<br />

152 Programmatische <strong>und</strong> konzeptionelle Überlegungen zur Veranstaltungsreihe Dialog, (ca. Oktober 1988),<br />

Reproduktion in: Feldhaus<br />

153 P. Unterberg; Dietrich (1994)<br />

386


Monte Fresco bei Managua. Dafür organisierte sie Kunstauktionen <strong>und</strong> sammelte mehrere 10.000 Mark<br />

Spendengelder. Da „Entwicklungshilfe“ ein staatliches Monopol war, konnten diese Spenden erst nach<br />

jahrelangen Verhandlungen <strong>und</strong> mit Unterstützung des BEK ihr Ziel erreichen. Ein kulturpolitisches<br />

Ereignis war eine internationale mail-art-Ausstellung, die die Gruppe gegen den massiven Widerstand des<br />

Staates in verschiedenen Städten der DDR zeigte. Ab 1987 gab die Gruppe mit der Unterstützung der<br />

Superintendentur Leipzig-Ost ein Informationsblatt („IHN-Post“) heraus. Mitte 1987 veranstaltete sie eine<br />

Vortragsreihe mit dem Thema „Politik <strong>und</strong> Hoffnung“ 154.<br />

Initiativgruppe Leben (IGL)<br />

Nachdem die AGU im April 1987 beschlossen hatte, sich an den politisch vorgegebenen Möglichkeiten zu<br />

orientieren, gründete der radikalere Flügel der AGU im Mai 1987 die IGL. Für ihre Mitglieder (ca. 30)<br />

waren ökologische Verbesserungen an politische Reformen geknüpft. Im Zentrum des Engagements der<br />

IGL stand die Öffentlichkeitsarbeit (Beteiligung mit eigenen Transparenten an Umzügen <strong>und</strong><br />

Demonstrationen, Erarbeitung von Wanderausstellungen, Organisation von Aktionstagen). Eine besonders<br />

wirkungsvolle Aktion war dabei der Pleißemarsch 1988 (s. oben, S. ***). Die thematische Arbeit der<br />

Gruppe geschah in verschiedenen Untergruppen (Ökologie, Rumänien, Wehrdienstfragen, Bürgerrechte,<br />

Perestroika). Da die Gruppe nur unregelmäßig kirchliche Räume nutzen konnte, traf sie sich in<br />

Privatwohnungen <strong>und</strong> in einer leerstehenden Wohnung, die als alternatives „Cafe“ genutzt wurde. In der<br />

stark basisdemokratisch orientierten Gruppe wurde der Eigeninitiative Vorrang vor dem Gruppenkonsens<br />

gegeben, so daß viele öffentliche Aktionen von Gruppenmitgliedern ohne „Gruppenbeschluß“ realisiert<br />

wurden (s. Chronik unter 24.10.1988, 28.11.1988 <strong>und</strong> 15.01.1989). Einige Mitglieder der IGL<br />

organisierten 1988/89 das „Leipziger Straßenmusikfestival“ 155.<br />

Jugendkonvent Leipzig<br />

Der Jugendkonvent beim Jugendpfarramt war der Dachverband der Jungen Gemeinden in der Stadt<br />

Leipzig <strong>und</strong> ein wichtiger Ort des Informationsaustausches. Er förderte die inhaltliche Arbeit der Jungen<br />

Gemeinden <strong>und</strong> versuchte, methodische Hilfen bei der Herausbildung demokratischer Denk- <strong>und</strong><br />

Verhaltensweisen unter Jugendlichen zu geben.<br />

Kadenkreis<br />

Der „Kadenkreis“ entstand aus einer Nachgesprächsgruppe im Anschluß an ein Friedensgebet Anfang<br />

Februar 1988. An den Nachgesprächen nahmen vor allem Ausreisewillige teil. So auch im Kadenkreis, der<br />

über h<strong>und</strong>ert Mitglieder hatte. Der Kern war jedoch ein Initiativkreis von ca. 10 Personen, die die<br />

Gesprächsabende vorbereiteten <strong>und</strong> Eingaben zwecks Ausreise schrieben. Der Kreis traf sich im<br />

Jugendpfarramt <strong>und</strong> in der Wohnung von Pf. Kaden. Nach der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ in<br />

Ungarn löste sich der Kreis im Mai 1989 auf.<br />

Kontakte<br />

„Kontakte“ nannte sich der Informationsbrief bzw. die Informationszeitschrift der Leipziger kirchlichen<br />

Gruppen. Sie wurde zwischen September 1984 <strong>und</strong> September 1989 von B. Moritz redigiert <strong>und</strong> von der<br />

Superintendentur Leipzig-Ost herausgegeben. Hauptinhalt waren Veranstaltungsinformationen der<br />

Gruppen. Anfangs beteiligten sich AG Friedensdienst, Frauen für den Frieden, der Friedenskreis der ESG,<br />

die IHN <strong>und</strong> die AGU an dem Mitteilungsblatt.<br />

154 Der Vortrag von I. Bernd ist abgedruckt in: „Anschlag VIII“, einen weiteren hielt W. Templin zum<br />

Zusammenhang von möglichen Reformen in der DDR <strong>und</strong> der Teilung Deutschlands, s. a. W. Volks, Hoffnung<br />

<strong>und</strong> Politik - eine Vortragsreihe, in: IHN-Post II (1987)<br />

155 S. Lieberwirth, Wer einen Spielmann zu Tode schlägt. Die Generalprobe unserer Revolution, Leipzig 1990<br />

387


Kontaktgruppe „Friedensgebet für die Inhaftierten“<br />

Nach den Inhaftierungen am 17.01.1988 am Rande einer Demonstration in Berlin entstanden in<br />

verschiedenen Städten der DDR-Gruppen, die Solidaritäts- <strong>und</strong> Protestaktionen koordinierten <strong>und</strong><br />

organisierten (vgl. Chronik, S. 518f.). Vorbild <strong>und</strong> Ansporn waren dabei die Protestaktionen nach den<br />

Aktionen des Sicherheitskartells gegen die Berliner Umweltbibliothek im November 1987. Die Leipziger<br />

Gruppe entstand am 26.01.1988 nach dem Fürbittgottesdienst in der ESG aus der Gruppe, die diesen<br />

Gottesdienst vorbereitet hatte. Sie verstand sich als Vertreterkreis der Besucher der Friedensgebete 156 <strong>und</strong><br />

bereitete die weiteren Fürbittgebete („Gebetskette“) vor. Außerdem gab sie verschiedene Erklärungen<br />

heraus 157 <strong>und</strong> konnte für einige Tage das Telefon der ESG als „Kontakttelefon“ nutzen. Damit<br />

organisierte sie - zusammen mit dem Kontakttelefon in Berlin - einen DDR-weiten Informationsaustausch<br />

zu Aktionen gegen das SED-Regime. Am Rande dieser Kontaktgruppe starteten verschiedene<br />

Basisgruppenmitglieder eigene Aktionen (Eingaben, Flugblätter, Graffitis...). Die Kontaktgruppe<br />

versuchte die Aktivitäten der verschiedenen Gruppen zu koordinieren <strong>und</strong> ging - nachdem die Inhaftierten<br />

freigelassen worden waren - dazu über, sich für ein Kommunikationszentrum der Leipziger Basisgruppen<br />

zu kümmern (s. KOZ, S. 481).<br />

Koordinierungsgruppe<br />

Die Koordinierungsgruppe entstand nach den Verhaftungen am 11.09.1989 vor allem aus dem<br />

<strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>skreis einiger der Inhaftierten. Die Gruppe versuchte, die Informationen über die Inhaftierungen,<br />

über Solidaritätsaktionen <strong>und</strong> später auch über die Demonstrationen nach den Friedensgebeten zu<br />

verbreiten. Dafür erhielt sie von der Markus-Gemeinde einen Büroraum mit Telefon. Sie unterhielt<br />

telefonischen Kontakt zu Journalisten <strong>und</strong> Multiplikatoren wie z.B. zu Werner Fischer von der Berliner<br />

Initiative Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte, zu Roland Jahn, dem Westberliner Journalisten <strong>und</strong> Unterstützer<br />

der DDR-Opposition, <strong>und</strong> zu Petr Uhl, dem Koordinator der Nachrichten der tschechoslowakischen<br />

Opposition in Prag. Sie versuchte, die Namen der Inhaftierten <strong>und</strong> der zu Strafgeldern Verurteilten in<br />

Erfahrung zu bringen, nahm Kontakt zu Angehörigen der Inhaftierten auf <strong>und</strong> sorgte dafür, daß die<br />

Inhaftierten einen Verteidiger erhielten. Sie organisierte tägliche Fürbittgebete in verschiedenen Kirchen<br />

Leipzigs <strong>und</strong> sammelte Spenden für Anwaltskosten sowie Strafbescheide. Gleichzeitig war sie eine<br />

wichtige Anlaufstelle bzw. ein Multiplikator des Neuen Forums, dessen erste Leipziger Mitglieder in<br />

dieser Gruppe mitarbeiteten. Sie verteilte den Gründungsaufruf des Neuen Forums <strong>und</strong> sammelte<br />

Unterstützerunterschriften.<br />

KOZ-Trägerkreis<br />

s. unter Kommunikationszentrum, S. 481<br />

Offene Arbeit Mockau<br />

Die sogenannte „Offene Arbeit“ einiger evangelischer Gemeinden seit Mitte/Ende der 60er Jahre war<br />

keine typische soziale Jugendarbeit, sondern im Widerstand gegen die Geschlossenheit der DDR-<br />

Gesellschaft wurde dort versucht, Jugendlichen eigene Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen. In Leipzig<br />

hatte diese Arbeit eine lange Tradition. 1984 gab es neun solcher Kreise. Besonders im Mockauer Kreis<br />

drängten einige Jugendliche (u.a. Punks) mit öffentlichen Aktionen auf politische Reformen.<br />

156 In ihrer Erklärung vom 27.01.1988 heißt es u.a.: „Kontaktgruppe muß in jedem Friedensgebet vollständig<br />

sämtliche Finanzsachen zur Abstimmung geben“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/ Nowak, 242)<br />

157 s. „fußnote 3“ <strong>und</strong> Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 241f.<br />

388


Chronik zu den Friedensgebeten<br />

<strong>und</strong> politisch-alternativen Gruppen in Leipzig<br />

1978<br />

26.-28.05. Am Rande des Kirchentages, bei dem zum erstenmal nach über 20 Jahren wieder<br />

Messehallen <strong>und</strong> Freiflächen genutzt werden konnten, kommt es zu Protesten gegen<br />

die geplante Einführung eines Wehrk<strong>und</strong>eunterrichtes.<br />

14.06. In einem Brief an die Gemeinden faßt die KKL ihre Bedenken an der Einführung des<br />

Wehrk<strong>und</strong>eunterrichtes an den allgemeinbildenden Schulen der DDR zusammen <strong>und</strong><br />

ruft die Gemeinden zur“ Erziehung zum Frieden“ auf.<br />

1979<br />

27.12. Die Sowjetunion schickt Militär nach Afghanistan. 1980<br />

Frühjahr KKL gibt für die Arbeit in den Gemeinden ein „Rahmenkonzept Erziehung zum<br />

Frieden“ heraus.<br />

13.03. Konsultation von EKD <strong>und</strong> BEK zu Friedensfragen.<br />

17.03. Die Vorsitzenden von EKD <strong>und</strong> BEK treffen sich mit dem Staatssekretär für<br />

Kirchenfragen <strong>und</strong> sprechen vor allem über den Friedensauftrag der Kirchen.<br />

30.05. Das Landeskirchenamt Dresden ruft die sächsischen Gemeinden zur Fürbitte fürHans-<br />

Jörg Weigel (Friedenskreis Königswalde) nach dessen Verhaftung wegen<br />

„staatsfeindlicher Hetze“ auf.<br />

30.06. Eine neue Veranstaltungsordnung tritt in Kraft. Sie bestimmt, daß Veranstaltungen der<br />

“Massenorganisationen“ <strong>und</strong> der bei den staatlichen Organen erfaßten Kirchen <strong>und</strong><br />

Religionsgemeinschaften nicht genehmigungspflichtig sind. Als Voraussetzung für die<br />

kirchlichen Veranstaltungen wurde festgelegt, daß „sie in eigenen oder von ihnen zu<br />

Veranstaltungen ständig genutzten Räumlichkeiten <strong>und</strong> von im Dienst der Kirchen <strong>und</strong><br />

Religionsgemeinschaften stehenden Mitarbeitern <strong>und</strong> Laien durchgeführt werden.“<br />

14.07. EKD <strong>und</strong> BEK rufen für den 9. November zu Bittgottesdiensten für den Frieden auf.<br />

22.08. B<strong>und</strong>eskanzler H. Schmidt sagt sein Treffen mit Honecker ab.<br />

19.-23.09. Synode des BEK in Leipzig stellt fest, „daß die Arbeit für den Frieden von den Kirchen<br />

nicht mehr als eine gelegentliche Aufgabe, sondern als eine der wichtigsten<br />

Herausforderungen an ihr Zeugnis <strong>und</strong> ihren Dienst verstanden <strong>und</strong> praktiziert werden<br />

muß“.<br />

09.10. Der Mindestumtausch für Besucher aus der B<strong>und</strong>esrepublik wird auf 25,- DM pro Tag<br />

angehoben.<br />

18.-22.10 Tagung der Landessynode von Sachsen in Dresden. Der Staat verbietet die Teilnahme<br />

von westlichen Journalisten. Die Synode lehnt die Unterstützung der Initiative für<br />

einen Sozialen Friedensdienst ab.<br />

23./24.10. Grünes Wochenende der im Frühjahr entstandenen AG Umweltschutz in der<br />

Michaeliskirche.<br />

09.-19.11. Friedensdekade der ev. Kirchen unter dem Thema „Frieden schaffen ohne Waffen „in<br />

Deutschland. Die geplante Friedensminute am Buß- <strong>und</strong> Bettag mit Glockenläuten um<br />

13.00 Uhr wird von der DDR-Regierung verboten. Die Sächsische Kirchenleitung läßt<br />

jedoch die Glocken am 19.11. um 13.15 Uhr läuten. Mit einer Gesprächskampagne<br />

versuchen staatliche Stellen auf die Gestaltung der Friedensdekade Einfluß zu nehmen.<br />

Viele Pfarrer betonen den gesamtdeutschen Charakter der Friedensdekade <strong>und</strong><br />

gestalten die Andachten entsprechend.<br />

1981<br />

Februar Im „Mitteilungsblatt des B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen in der DDR „ dürfen u. a.<br />

die Passagen des Berichtes der KKL zum Einmarsch sowjetischer Truppen in<br />

Afghanistan nicht erscheinen.<br />

Februar In der Nikolaikirche ist eine Ausstellung zu Umweltfragen zu sehen.<br />

18.03. Zum sogenannten „Messemännerabend“ in der Nikolaikirche spricht Bischof A.<br />

389


Schönherr über das Antirassismus-Programm des Weltkirchenrates.<br />

21.-25.03. Frühjahrssynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Während der<br />

öffentlichen Fragest<strong>und</strong>e erklärt der Präsident des Dresdener Landeskirchenamtes,<br />

Kurt Domsch, daß die Kirche bei Fragen des Mindestumtausches <strong>und</strong> des<br />

Wehrdienstes bei staatlichen Stellen „deutlich an Grenzen der<br />

Gesprächsmöglichkeiten“ stößt.<br />

28.03. Die Polizei verhaftet 94 Jugendliche, die sich in einem leerstehenden Haus in Leipzig-<br />

Lindenau die Fernsehsendung „Rockpalast“ ansahen.<br />

25.04. G. Forck wird Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Region Ost).<br />

09.05. Aufruf zum Sozialen Friedensdienst (SoFD), u.a. von Pf. Wonneberger verfaßt, wird<br />

nach mehreren Monaten der Vorarbeit verabschiedet.<br />

23.-28.06. Die in Gera tagende Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche<br />

in der DDR stellt sich hinter die Forderung nach einem zivilen Friedensdienst.<br />

06.08. Da staatliche Stellen der ev. Kirche vorwerfen, eine an diesem Tag für 17.00 Uhr<br />

geplante Demonstration für einen Sozialen Friedensdienst zu unterstützen, werden die<br />

Thomas- <strong>und</strong> die Nikolaikirche schon 16.00 Uhr geschlossen. Jugendliche, die die<br />

Demonstration aus Anlaß des Jahrestages des Atombombenabwurfs über Hiroshima<br />

vorbereitet hatten, werden vom MfS festgenommen.<br />

16.-27.08. Während der Tagung des Zentralausschusses des ÖRK in Dresden informieren sich<br />

westliche Journalisten über die Initiative zum Sozialen Friedensdienst.<br />

01.09. B<strong>und</strong>esdeutsche Medien berichten über die Inhaftierungen der Mitglieder der ESG<br />

Berlin Eckart Hübener <strong>und</strong> Klaus Teßmann durch die Staatssicherheit.<br />

01.09. Zu Beginn des neuen Schuljahres tritt die „Anweisung zur Vorbereitung <strong>und</strong><br />

Durchführung der vormilitärischen Ausbildung <strong>und</strong> Sanitätsausbildung an den<br />

erweiterten allgemeinbildenden polytechnischen Oberschulen <strong>und</strong> Spezialschulen“ des<br />

Volksbildungsministeriums in Kraft. Damit wird u.a. eine 12tägige vormilitärische<br />

Ausbildung während der Ferien für die 11. Klassen obligatorisch.<br />

12.09. Staatssekretär für Kirchenfragen lehnt jedes staatliche Eingehen auf die SoFD-<br />

Initiative ab.<br />

22.09. Die B<strong>und</strong>essynode ruft, ähnlich wie der Zentralausschuß des ÖRK seine<br />

Mitgliedskirchen, die Gliedkirchen des B<strong>und</strong>es auf „ihr Engagement für den Frieden<br />

zu verstärken „. W. Krusche wird Nachfolger von A. Schönherr als Vorsitzender der<br />

KKL.<br />

24.09. Pf R. Eppelmann fordert Honecker zu „17 vertrauensbildenden Maßnahmen“ auf, -<br />

u.a., daß sich die DDR für die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone in Mitteleuropa,<br />

für den Abzug aller ausländischen Truppen <strong>und</strong> die Entmilitarisierung Deutschlands<br />

einsetzt. Außerdem fordert er die Abschaffung des Wehrk<strong>und</strong>eunterrichtes <strong>und</strong> der<br />

vormilitärischen Ausbildung an den Schulen, den Verzicht auf Militärparaden <strong>und</strong><br />

Repräsentation von militärischem Gerät bei Volksfesten.<br />

26.09. Bischof W. Krusche sagte in einem SFB-Interview, daß die evangelischen Kirchen sich<br />

weiterhin für den Sozialen Friedensdienst einsetzen werden.<br />

06.10. Offener Brief von R. Havemann, R. Eppelmann <strong>und</strong> anderen Bürgern aus Ost- <strong>und</strong><br />

Westdeutschland an den sowjetischen Partei- <strong>und</strong> Staatschef L. Breschnew.<br />

10.10. An der Demonstration gegen den NATO-Doppelbeschluß in Bonn nehmen ca. 300 000<br />

Menschen teil.<br />

10./11.10. Am Friedensseminar in Königswalde zum Thema“ Den Frieden lernen im Konfliktfeld<br />

Europa“ nehmen über 400 Personen teil.<br />

17./18.10. Beim Friedensseminar in Meißen treffen sich ca. 140 Teilnehmer zum Thema“ Die<br />

gewaltfreie Aktion“.<br />

17.-21.10. Herbstsynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens in Dresden. Bei<br />

der Synode gehen über 800 Eingaben mit 2000 Unterschriften zum Sozialen<br />

Friedensdienst ein. Die Absender der Eingaben erhalten daraufhin ein einstimmig<br />

390


eschlossenes Antwortschreiben. Bischof Hempel erklärt in seinem Tätigkeitsbericht,<br />

daß der Dienst in der Gesellschaft nur“ zwischen Verweigerung <strong>und</strong> Anpassung“<br />

möglich sei. „Solch einen Weg zu finden, ist aber nicht nur von staatlicher Erlaubnis<br />

abhängig, sondern ... von unserer Vollmacht“.<br />

24.10. Baumpflanzaktion der AG Umweltschutz in Leipzig „zur Stärkung des<br />

Umweltbewußtseins“.<br />

08.-18.11. Friedensdekade unter dem Oberthema „Gerechtigkeit-Abrüstung-Frieden". Für die<br />

Dekade wird der Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ gedruckt. Dieses Symbol -<br />

mit dem Abbild eines von der Sowjetunion gestifteten Denkmals im New Yorker UN-<br />

Park - wird von vielen Jugendlichen als Zeichen eigenständigen Friedensengagements<br />

verwendet <strong>und</strong> von Teilen der westdeutschen Friedensbewegung als<br />

systemübergreifendes Symbol aufgegriffen. In der Nikolaikirche in Leipzig wird wenig<br />

später eine große Schautafel mit diesem Symbol aufgestellt. Mit der Einführung<br />

weiterer militärischer Ausbildungsphasen in den Schulen <strong>und</strong> im Zusammenhang mit<br />

den Friedensdekaden entsteht in Dresden, Jena, Rostock <strong>und</strong> in anderen Städten die<br />

Idee der regelmäßigen Friedensgebete. Ziel ist es, sich einmal wöchentlich zu Liedern,<br />

Informationsaustausch <strong>und</strong> Gebet an einem öffentlichen Ort zu treffen.<br />

16.11. BEK gibt eine Sammlung von Arbeitsmaterialien für Gemeindegruppen unter dem<br />

Titel: "'Pazifismus’ in der aktuellen Friedensdiskussion“ heraus.<br />

21.11. SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ druckt mehrere Reden von der Tagung des<br />

SED-Zentralkomitees. Darin wird die Forderung nach einem Sozialen Friedensdienst<br />

attackiert.<br />

29.11. Die AG Umweltschutz <strong>und</strong> der Offene Keller Stötteritz organisierten eine öffentliche<br />

Papiersammelaktion.<br />

Anfang Dez. Bei Staat-Kirche-Gespräche werden den Superintendenten Gesetzesverstöße während<br />

der Friedensdekade angekreidet.<br />

I1.-13.12. B<strong>und</strong>eskanzler H. Schmidtauf“ Staatsbesuch „in derDDR (Güstrow).<br />

13.12. In Polen wird das Kriegsrecht verhängt. In der Folge gibt es verschiedene Aufrufe in<br />

den ev. Kirchen zu Hilfssendungen für die Linderung der Not in Polen.<br />

13./14.12. In Berlin findet das von St. Hermlin initiierte Schriftstellertreffen “Berliner Begegnung<br />

zur Friedensförderung" statt.<br />

1982<br />

25.01 Pf. Eppelmann tritt mit seinem „Berliner Appell - Frieden schaffen ohne Waffen“ an<br />

die Öffentlichkeit.<br />

09.02. Pf. Eppelmann wird festgenommen, aber am 11.02. wieder freigelassen.<br />

13.02. Am „Forum Frieden mit der Jugend“ in der Dresdner Kreuzkirche nehmen mehr als<br />

5000 Menschen teil. Es wird anstelle eines Schweigemarsches, zu dem von einer<br />

Gruppe Jugendlicher anläßlich des 37. Jahrestages der Zerbombung Dresdens<br />

aufgerufen wurde, angeboten. Landesbischof Hempel hält eine Rede, in der er sein<br />

Verständnis vom begrenzten politischen Mandat der Kirche darlegt. Eine Verteilung<br />

des „Berliner Appells" wird verhindert. Im Anschluß an das Forum versammeln sich<br />

ca. 1000 Jugendliche mit Kerzen vor der Ruine der Frauenkirche. Sicherheitskräfte<br />

behindern diese Demonstration nicht.<br />

13.02. Kirchenleitung der Berlin-Brandenburgischen Kirche rät von einer Unterzeichnung<br />

des Berliner Appells ab.<br />

14.02. Pf. Wonneberger verliest den Berliner Appell im Gottesdienst <strong>und</strong> wird daraufhin<br />

kurzzeitig verhaftet.<br />

23.02. Die FDJ beginnt mit einer Aktion unter dem Motto“ Der Frieden muß verteidigt<br />

werden - der Frieden muß bewaffnet sein“, die die Wehrbereitschaft ihrer Mitglieder<br />

erhöhen soll.<br />

05.03. Im Gespräch mit Sup. Richter <strong>und</strong> Pf. Gröger versucht der Sektorenleiter für<br />

Kirchenfragen beim RdS Leipzig, Müller, Einfluß auf die Gestaltung des am folgenden<br />

391


Tag stattfindenden Jugendgottesdienstes zu nehmen.<br />

06./07.03 Leipziger Friedensseminar unter dem Titel „Was macht uns sicher?“. Der während<br />

dieses Seminars stattfindende Jugendgottesdienst wird durch die Sicherheitsorgane<br />

offensiv beschattet.<br />

07.03. F. Magirius wird Sup. von Leipzig-Ost.<br />

12.-14.03. KKL erklärt nach ihrer Klausurtagung: „Wir stehen zu den jungen Christen, die mit<br />

Worten oder Taten anzeigen, daß auch die Friedensbemühungen unseres Staates den<br />

christlichen Abrüstungsimpuls nicht erübrigen. „<br />

20.-24.03. Auf der Frühjahrssynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens nimmt<br />

die Debatte um die Friedensverantwortung größeren Raum ein. Während der<br />

Synodaltagung treffen sich Bischof Hempel <strong>und</strong> Präsident Domsch mit dem<br />

Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi. Dabei geht es um die Schwierigkeiten,<br />

denen Trägern des Aufnähers „Schwerter zu Pflugscharen“ ausgesetzt sind. K. Gysi<br />

behauptet, daß das Symbol vom Staat verboten wurde, weil es von Jugendlichen „zur<br />

Bek<strong>und</strong>ung staatsfeindlicher Gesinnung <strong>und</strong> der Beteiligung an einer illegalen<br />

politischen Bewegung“ mißbraucht werde. Die Synode bezeichnet das Vorgehen des<br />

Staates als einen „schwerwiegenden Fehler“, denn das Verbot zerstöre „auf<br />

nachhaltige Weise das Vertrauen dieser jungen Menschen“. Sie verabschiedet eine<br />

Kanzelabkündigung <strong>und</strong> einen Brief an die Jugendlichen ihrer Kirche.<br />

25.03. In der“ Frankfurter R<strong>und</strong>schau“ erscheint ein Brief R. Havemanns, in dem er sich für<br />

eine „freie Friedensbewegung auch in der DDR“ einsetzt. Die Volkskammer<br />

verabschiedet ein neues Wehrdienstgesetz, mit dem die vormilitärische Ausbildung für<br />

sämtliche Betriebe <strong>und</strong> Schulen zur Pflicht erhoben wird. General Hoffmann sagt in<br />

seiner Erklärung, daß „Pflugscharen <strong>und</strong> Schwerter“ vonnöten seien. Gleichzeitig<br />

findet eine breite Aktion der DDR-Behörden gegen pazifistische Symbole <strong>und</strong> das<br />

Zeichen der Friedensdekade „Schwerter zu Pflugscharen „ statt. Die Pfarrer werden<br />

aufgefordert, dieses Symbol aus den Schaukästen zu entfernen. Jugendliche tragen -<br />

nachdem die Aufnäher durch die Polizei entfernt wurden - anstelle des Aufnähers ein<br />

Loch, einen roten Kreis oderweißen Fleck auf ihren Jacken <strong>und</strong> Parkas.<br />

26.03. Im Organ des DDR-Volksbildungsministeriums, der“ Deutschen Lehrerzeitung „,<br />

erscheint ein Leitartikel, der das staatliche Vorgehen gegen das Symbol“ Schwerter zu<br />

Pflugscharen“ u.a. damit begründet, daß „die Wortführer des ideologischen Krieges<br />

gegen uns diese Losung dazu benutzen wollen, den realen Frieden zu entwaffnen „.<br />

28.03. In der Michaeliskirche findet ein Jugendgottesdienst unter dem Motto: Jahrmarkt des<br />

Friedens“ statt.<br />

02.04. In der Nikolaikirche findet ein Nachtgebet unter dem Thema: „Der Mensch lebt nicht<br />

vom Brot allein“ statt.<br />

07./08.05. KKL bestätigt auf ihrer Tagung Arbeitsmaterial <strong>und</strong> Thema („Angst<br />

- Vertrauen - Frieden „)für die Friedensdekade 1982.<br />

16.05. Zum Friedensseminar in Königswalde treffen sich ca. 500 überwiegend Jugendliche,<br />

um sich über die Beziehung von Konsumverhalten <strong>und</strong> Frieden auszutauschen.<br />

24.05. Ständiger Vertreter Bonns in der DDR wird Hans-Otto Bräutigam.<br />

05./06.06. Angeregt durch das Kirchliche Forschungsheim Wittenberg findet die symbolische<br />

Aktion „Mobil ohne Auto“ statt. In Leipzig organisiert die AG Umweltschutz einen<br />

Fahrrad-Corso von der Lößniger Kirche nach Plaußig.<br />

09.-16.06. In der Berliner St. Bartholomäus-Kirche versammeln sich eine Woche lang<br />

Jugendliche unter dem Motto „Beten <strong>und</strong> Fasten für Frieden ohne Gewalt“.<br />

10.06. Anläßlich des NATO-Gipfels in Bonn demonstrieren dort 500 000 Menschen.<br />

11.06. Den Superintendenten wird vom RdS Leipzig eine zunehmende Konzentration von<br />

Ausreiseantragstellern in kirchlichen Einrichtungen vorgehalten.<br />

13.06. Jugendsonntag in Eisenach wird von ca. 10.000 Jugendlichen besucht.<br />

27.06. In <strong>und</strong> vor der Erlöserkirche (Berlin) findet die von der Berlin-Brandenburger<br />

392


Kirchenleitung <strong>und</strong> dem Stadtjugendpfarramt getragene „Friedenswerkstatt“ statt.<br />

09.-11.07. Treffen von Umwelt-Arbeitsgruppen in Potsdam <strong>und</strong> eine Radsternfahrt mit etwa 600<br />

Teilnehmern.<br />

30.07. In einem Interview für den ENA legt Landesbischof Dr. Hempel seine<br />

Sicht zu den nichtstaatlichen Friedensinitiativen dar.<br />

17.09. Der AK Friedensdienst bietet den Leipziger Gemeinden in einem R<strong>und</strong>brief<br />

selbsterarbeitete Materialien zur Gestaltung der Friedensdekade an <strong>und</strong> beginnt (seit<br />

13.09.), regelmäßig Friedensgebete zu gestalten.<br />

28.09. Die Synode des B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen in der DDR „begrüßt, daß die<br />

Konferenz [der Kirchenleitungen] das Zeichen ‘Schwerter Zu Pflugscharen’ als<br />

Kennzeichen für die kirchlichen Veranstaltungen der Friedensdekade 1982 <strong>und</strong> für das<br />

Arbeitsmaterial dazu bestätigt hat. Die Synode trägt den Beschluß der Konferenz mit,<br />

das Symbol nicht in einer Form herstellen zu lassen, die als Aufnäher verwendet<br />

werden kann. Sie weiß, daß dieser Verzicht angesichts des Einsatzes <strong>und</strong> der<br />

gemachten Erfahrungen besonders vieler Jugendlicher nicht leicht fällt. Wir verzichten<br />

aber darauf um des Friedens willen. [...]“<br />

01.10. H. Kohl wird B<strong>und</strong>eskanzler.<br />

15.-17.10. Grünes Wochenende in der Leipziger Michaeliskirche, von der AG Umweltschutz<br />

vorbereitet (ca. 150 Teilnehmer).<br />

I5.-25.10. Billy Graham zu Evangelisationen in verschiedenen Orten der DDR.<br />

07.-17.11. Friedensdekade unter dem Thema „Angst, Vertrauen, Frieden“. Der AK Friedensdienst<br />

gestaltet in verschiedenen Gemeinden Abende zum Thema Pazifismus.<br />

17.11. In der Nikolaikirche findet der Abschlußgottesdienst zur Friedensdekade zum Thema<br />

„Wir können nicht schweigen“ mit Beteiligung des Landesbischofs statt.<br />

25.11. Die Initiativgruppe Hoffnung Nicaragua tritt während der Leipziger Dokumentar- <strong>und</strong><br />

Kurzfilmwoche als Mitveranstalter eines Lateinamerika-Dokumentarfilm-Abends auf.<br />

1983<br />

18.01. Bischof Hempel wird der Ehrendoktor der Leipziger Karl-Marx-Universität verliehen.<br />

28.-30.01. Tagung des BEK-Ausschusses Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft zum Thema „Die Zukunft des<br />

Friedens“ mit 80 Vertretern des Ausschusses <strong>und</strong> verschiedener Friedensgruppen.<br />

07.02. In eine Wohnung von Mitgliedern der AG Friedensdienst wird eingebrochen <strong>und</strong><br />

Materialien zur Vorbereitung des Gottesdienstes am 04.04.1983 durchstöbert.<br />

04.03. Die Polizei nimmt die Personalien aller Teilnehmer einer Vorbereitungsr<strong>und</strong>e für den<br />

Gottesdienst am 04.04.1983 auf.<br />

05.03. In der Michaeliskirche Leipzig findet ein Friedensgottesdienst zum Thema „Frieden<br />

1983 - ein hoffnungsloser Fall?“ statt. Der RdS Leipzig, Abteilung Kirchenfragen,<br />

schätzt in einem Protokoll ein, daß es in dem Friedensgottesdienst f<strong>und</strong>ierte Angriffe<br />

gegen den Wehrdienst <strong>und</strong> das Wehrdienstgesetz der DDR gab.<br />

05./06.03. In Berlin findet auf Einladung des Präsidiums der Berlin-Brandenburgischen Synode<br />

die Tagung „Konkret für den Frieden“ mit 125 Vertretern von Friedensgruppen statt.<br />

04.04. Gedächtnisgottesdienst der AG Friedensdienste zum 15. Todestag M. L. Kings in der<br />

Nikolaikirche. Pf. Führer macht in seiner Predigt auf Formen des Rassismus in der<br />

DDR-Gesellschaft aufmerksam.<br />

04./05.06. In Leipzig <strong>und</strong> anderen Städten findet die symbolische Aktion „Mobil ohne Auto“<br />

statt.<br />

08.06. Die DDR schiebt Roland Jahn (Jenaer Friedensgemeinschaft) in die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

ab.<br />

29.06. Friedenswerkstatt in <strong>und</strong> an der Erlöser-Kirche (Berlin)<br />

07.-10.07. In Dresden findet ein evangelischer Kirchentag unter dem Thema „Vertrauen wagen,<br />

damit wir leben können“ statt.<br />

06.08. Fastenaktionen in verschiedenen Städten der DDR im Gedenken an den ersten<br />

Atombombenabwurf über Hiroshima.<br />

393


10.08. Gleichlautende Schreiben vom EKD-Ratsvorsitzenden, Held, <strong>und</strong> KKL-Vorsitzenden,<br />

Hempel, aus Vancouver an B<strong>und</strong>eskanzler Kohl <strong>und</strong> Staatsratsvorsitzenden Honecker<br />

zur Friedensverantwortung<br />

01.09. In Berlin versuchen Jugendliche eine Menschenkette zwischen der Botschaft der USA<br />

<strong>und</strong> der UdSSR zu bilden. Die Polizei schreitet ein <strong>und</strong> verhindert die Aktion.<br />

September In der Leipziger Hausbesetzerszene Friedrichstraße/Brüderstraße finden eine Reihe<br />

politischer Diskussionsabende statt.<br />

29.10. Einweihung des ev. Gemeindezentrums im Neubaugebiet Leipzig-Grünau.<br />

05.11. <strong>und</strong> an den folgenden Tagen kommt es nach den Friedensgebeten zu Kerzen-Demonstrationen von<br />

Jugendlichen (vor allem Offener Keller Mockau <strong>und</strong> IHN) in der Innenstadt.<br />

06.-16.11. Friedensdekade unter dem Thema „Frieden schaffen aus der Kraft der Schwachen“.<br />

10.-13.11. „Ökumenische Begegnungstage zum 500. Geburtstag Martin Luthers“ mit ca. 200<br />

ökumenischen Gästen in Leipzig.<br />

17.-20.11. In Leipzig finden auch nach dem Ende der Friedensdekade mehrstündige<br />

Friedensgebete statt.<br />

18.11. Eine halbe St<strong>und</strong>e vor Eröffnung der Leipziger Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche<br />

findet erneut eine Kerzendemonstration statt. Daraufhin werden zahlreiche Personen<br />

inhaftiert, 6 Personen erhalten Haftstrafen wegen ihrer Teilnahme an der<br />

Demonstration von bis zu zwei Jahren.<br />

27./28.11. Wehrdienstverweigerer erhalten Haftstrafen von bis zu 20 Monate.<br />

02.12. Jugenddiakon Rochau (Halle) wird nach Verurteilung wegen „staatsfeindlicher<br />

Hetze“ zu drei Jahren Haft aufgr<strong>und</strong> eines Ausreiseantrages in die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

abgeschoben.<br />

12.12. B. Bohley <strong>und</strong> U. Poppe von der Initiative“ Frauen für den Frieden“ Berlin werden<br />

inhaftiert <strong>und</strong> bis zum 24.01.1984 festgehalten.<br />

1984<br />

03./04.03. In Eisenach findet die Tagung „Konkret für den Frieden“ mit Mitgliedern von<br />

Basisgruppen aus der DDR statt.<br />

16.03. Gespräch zwischen dem Vorsitzenden des RdB Leipzig <strong>und</strong> Vertretern der<br />

Landeskirche Sachsens Hempel, Domsch <strong>und</strong> Schlichter. Themen sind<br />

Ausreiseproblematik <strong>und</strong> der Begriff „Kirche im Sozialismus“.<br />

06.-09.05. Die Landessynode von Sachsen beklagt die Stationierung neuer Raketensysteme in<br />

Europa <strong>und</strong> fordert die Gemeinden auf im Gebet für den Frieden nicht nachzulassen.<br />

10.05. DDR sagt Teilnahme an den Olympischen Spielen in Los Angeles ab.<br />

30.05. In der Berliner Bartholomäuskirche wird ein ständiges Antikriegsmuseum eröffnet.<br />

01.-03.06. „Mobil ohne Auto“ - in Leipzig u.a. mit einem ungenehmigten Fahrradkorso von der<br />

Bethanienkirche nach Rötha.<br />

17.06. Umweltgottesdienst in Mölbis (bei Leipzig), u.a. mit Bischof Hempel.<br />

20.06. Ökumenischer Friedensgottesdienst „Schritte zum Frieden“, der vor allem von<br />

Basisgruppen vorbereitet wurde.<br />

11.07. DDR-Verteidigungsminister besucht erstmals seit Bestehen der Baueinheiten (1964)<br />

Bausoldaten.<br />

25.07. DDR-Regierung erhält einen 950-Millionen-DM-Kredit auf Bürgschaft der<br />

B<strong>und</strong>esregierung.<br />

01.09. Die Leipziger Friedensgruppen gestalten einen Gottesdienst anläßlich des 45.<br />

Jahrestages des Beginns des II. Weltkrieges in der Nikolaikirche unter der Leitung von<br />

Pf. Sengewald.<br />

04.09. Honecker sagt seinen geplanten Besuch in der B<strong>und</strong>esrepublik ab.<br />

26.-28.10. In der Michaeliskirche finden Veranstaltungen der Initiativgruppe Hoffnung Nicaragua<br />

unter dem Titel „Drei Tage für Monte Fresco“ statt; u.a. Seminare über das Leben in<br />

Nicaragua. Die Rocknacht am 27.10. - u.a. mit S. Anderson <strong>und</strong> „Musik-Brigade“ -<br />

besuchen r<strong>und</strong> 700 Jugendliche. Es gibt eine vom Staat verbotene Mail-Art-<br />

394


Ausstellung zu sehen.<br />

11.-21.11. Friedensdekade unter dem Thema „Leben gegen den Tod“. In Leipzig wird im<br />

Gegensatz zum Vorjahr kein Programm zur Friedensdekade hergestellt. Der Gruppe<br />

„Frauen für den Frieden“ wird keine Möglichkeit zur Gestaltung eines Abends der<br />

Friedensdekade gegeben. Es gibt eine große Paketaktion für Äthiopien (31 Pakete).<br />

15.11. M. Stolpe hält in der Michaeliskirche einen Vortrag mit anschließen der Diskussion<br />

zum Thema: „Leben gegen den Tod - Was können Christen in der DDR für den<br />

Frieden tun?“ Das Friedensgebet in der Nikolaikirche gestaltet die IHN zusammen mit<br />

zwei Dominikanerpatres aus Nikaragua.<br />

17.11. Abend für den Frieden in der Michaeliskirche u.a. mit einem Film über Martin Luther<br />

King <strong>und</strong> einer Diskussion über die Staat-Kirche-Beziehung, bei der der<br />

Kirchenleitung vorgeworfen wird, daß sie sich nicht genügend gegen staatliches<br />

Unrecht wendet <strong>und</strong> sich damit von der „Basis“ entfernt.<br />

18.11. Friedensgebet der katholischen Liebfrauengemeinde in der Nikolaikirche mit<br />

polnischen Christen.<br />

1985<br />

11.02. Gespräch zwischen Honecker <strong>und</strong> dem Vorsitzenden der KKL, Hempel.<br />

13.02. Nach dem Gottesdienst aus Anlaß des 40. Jahrestages der Zerstörung Dresdens in der<br />

Kreuzkirche gehen etwa 5000 Teilnehmer mit Kerzen <strong>und</strong> Blumen zur Ruine der<br />

Frauenkirche.<br />

01.-03.03. Dritte Tagung „Konkret für den Frieden“ mit weit über 100 Vertretern von<br />

Basisgruppen aus der DDR in Schwerin.<br />

09./10.03. Leipziger Friedensseminar mit Chr. Ziemer als Hauptreferenten.<br />

18.03. Gemeinsame Friedenserklärung von EKD <strong>und</strong> BEK zum 40. Jahrestag des<br />

Kriegsendes.<br />

23.-27.03. Anläßlich der Tagung der Landessynode von Sachsen in Dresden hält der Präsident<br />

des LKA K. Domsch einen Vortrag über den“ Weg unserer Kirche seit 1945-<br />

Erfahrungen <strong>und</strong> Auftrag „, in dem er erklärt, daß die Formel“ Kirche im<br />

Sozialismus“ weniger Ortsbeschreibung als Aufgabe <strong>und</strong> damit“ Ortswahl“ sei.<br />

24.04. Honecker besucht Papst Johannes Paul II.<br />

02.-09.06. „Woche der Verantwortung für die Schöpfung“ der Evangelischen Kirchen in Leipzig<br />

(u.a Vorträge zum Thema: Stadtökologie, Stadtbegrünung, Naturschutz in der Stadt<br />

<strong>und</strong> „Mobil ohne Auto“ - eine Fahrt ins Braunkohlen-Tagebaugebiet im Süden der<br />

Stadt).<br />

09.06. Landesjugendsonntag der Thüringer Landeskirche in Eisenach mit etwa 12.000<br />

Teilnehmern: „Das Leben gewinnen“.<br />

Sept. Das Interesse an den Friedensgebeten in der Nikolaikirche sank über die Jahre hinweg<br />

sehr stark ab. Es fanden sich oft gerade einmal 5 einsame „Friedensbeter“ in der<br />

Nikolaikirche ein. Deshalb wird nun verstärkt Werbung für die Friedensgebete in den<br />

Leipziger Gemeinden gemacht.<br />

04.09. Messemännerabend mit Generalsuperintendent G. Krusche, "Die<br />

Friedensverantwortung der Kirchen zwischen Ost <strong>und</strong> West“.<br />

12.-16.10. Tagung der Landessynode von Sachsen in Dresden. Sie beschließt die Unterstützung<br />

des geplanten „Konzils des Friedens“ <strong>und</strong> bittet die Gemeinden, sich darauf<br />

vorzubereiten.<br />

10.-20.11. Friedensdekade unter dem Thema „Frieden wächst aus Gerechtigkeit“. In Leipzig<br />

finden täglich 18.00 Uhr von den Basisgruppen gestaltete Friedensgebete in der<br />

Nikolaikirche statt. Am Abend sind auch das Friedenscafe <strong>und</strong> die Friedensbibliothek<br />

in den Seitenkapellen der Nikolaikirche geöffnet. In der Kirche gibt es Ausstellungen,<br />

die von den Gruppen gestaltet wurden. Während der Friedensdekade findet in der<br />

Lukaskirche eine Fastenstafette statt <strong>und</strong> die Kirche ist r<strong>und</strong> um die Uhr offen. Die<br />

Gruppe „Frauen für den Frieden“ gestaltet Foren, in denen sie sich gegen die<br />

395


entmündigende <strong>und</strong> militaristische Erziehung im Kindergarten wendet.<br />

1986<br />

Jan. Gründung des Bezirkssynodalausschusses, in dem alle Gruppen zusammengeführt<br />

werden sollen <strong>und</strong> die Gestaltung der Friedensgebete besprochen wird.<br />

24.01. Appell verschiedener DDR-Basisgruppenmitglieder zum UNO-Jahr des Friedens an<br />

die DDR-Regierung.<br />

13.02. Der Stadt-Ökumene-Kreis Dresden lädt alle Christen <strong>und</strong> Kirchen in der DDR zu einer<br />

Ökumenischen Versammlung in Vorbereitung der ÖRK-Weltversammlung ein.<br />

28.02.-02.03. Basisgruppentreffen „Frieden konkret IV“ mit 300 Teilnehmern in Stendal.<br />

15.-19.03. Tagung der Landessynode von Sachsen in Dresden. Sie nimmt den Vorschlag des<br />

ökumenischen Arbeitskreises Dresden auf 1988 eine ökumenische Versammlung der<br />

Christen in der DDR für Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung<br />

durchzuführen.<br />

27.03. Auf Initiative des MfS führt Sabatowska (RdS Leipzig) mit Sup. Magirius ein<br />

Gespräch mit dem Ziel der „Disziplinierung“ von Pf. Wonneberger.<br />

06.05. Gespräch zwischen Reitmann (RdB Leipzig) <strong>und</strong> Vertretern des Landeskirchenamtes.<br />

Der Kirche wird vorgeworfen, sich zu sehr für Ausreisewillige einzusetzen. Präsident<br />

Domsch <strong>und</strong> OKR Rau erklären, daß die Kirche nicht zum Anlaufpunkt für<br />

Antragsteller werden will.<br />

05.-08.06. Umwelttage in Leipzig (Lukaskirche).<br />

15.06. Umwelttag in Rötha bei Leipzig.<br />

26.06.-29.06. Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag in acht Orten der Region Leipzig.<br />

29.06. Friedenswerkstatt in <strong>und</strong> an der Berliner Erlöserkirche.<br />

August Die Theologische Studienabteilung gibt einen Reader mit dem Titel „Reproduktion von<br />

Religion in der Gesellschaft. Ein Beitrag zum Problem der sozialisierenden Gruppen<br />

<strong>und</strong> ihrer Zuordnung zu den Kirchen“ von E. Neubert heraus.<br />

September Pf. Wonneberger (Lukas-Gemeinde) übernimmt die Organisation der Friedensgebete<br />

<strong>und</strong> die Koordinierung der Friedensdekade auf Bitten von Sup. Magirius.<br />

01.09. Honecker empfängt Abordnung des Friedensrates der DDR. An dem Empfang nehmen<br />

als Vertreter des BEK Präses Gaebler <strong>und</strong> Oberkirchenrätin Lewek teil, die Honecker<br />

einen zensierten „Friedensreport“ übergeben <strong>und</strong> über die Friedensarbeit des BEK<br />

informieren. Am gleichen Tag weilt eine Delegation der B<strong>und</strong>estagsabgeordneten der<br />

Grünen zu Besuch in der DDR.<br />

02.09. Berliner Zionskirchgemeinde eröffnet die Umweltbibliothek.<br />

19.-23.09. Synode des B<strong>und</strong>es in Erfurt. Bischof Demke bedauert, daß Antragsteller auf<br />

Übersiedlung aus der DDR kaum das seelsorgerliche Gespräch suchten, weil davon<br />

ausgegangen würde, daß die Kirche“ im Prinzip“ gegen eine Übersiedlung sei.<br />

26./27.10. Ökumenische Friedensgebetsgottesdienste in der DDR im Zusammenhang mit dem<br />

Welttreffen christlicher Konfessionen <strong>und</strong> aller Weltreligionen in Assisi/Italien, zu dem<br />

Papst Johannes Paul II. eingeladen hatte.<br />

09.-19.11. Friedensdekade unter dem Thema „Friede sei mit euch“. Täglich 18.00 Uhr finden<br />

Friedensgebete der Leipziger Basisgruppen in der Nikolaikirche statt. Davor sind das<br />

„Friedenscafe“ <strong>und</strong> die Friedensbibliothek in der Nikolaikirche geöffnet.<br />

10.11. Diskussionsabend mit dem Präses des B<strong>und</strong>essynode, Gaebler, zum Thema „Wer<br />

vertritt die kirchliche Friedensarbeit?“ in der Leipziger Luthergemeinde. Dabei kam es<br />

zu vehementer Kritik von Gruppenmitgliedern an kirchenleitenden Entscheidungen<br />

<strong>und</strong> an der Beteiligung an dem Empfang am 01.09.1986.<br />

12.11. In der Lukas-Kirche können Autoren ihre nicht veröffentlichten Texte<br />

14.11.<br />

bei der sogenannten „Offenen Lesebühne“ vortragen.<br />

Friedensgebet in der Nikolaikirche unter dem Motto: „Du hast keinen Ausreiseantrag<br />

gestellt, warum nicht?“ Im Anschluß daran bildet sich der Gesprächskreis „Hoffnung“.<br />

16.11. St. Krawczyk mit seinem Programm „Wir kommen noch wie sonst zusammen“ in der<br />

396


Michaeliskirche.<br />

17.11. Forum der Gruppe „Frauen für den Frieden“ zum Thema Gleichberechtigung in der<br />

DDR.<br />

19.11. Ökumenischer Abschlußgottesdienst der Friedensdekade in der Nikolaikirche mit K.<br />

Stauss.<br />

22./23.11. Kirchliches Menschenrechtsseminar unter dem Thema „Menschenrechte - der<br />

Einzelne <strong>und</strong> die Gesellschaft“ in Berlin. Das Treffen war schon für 1985 geplant,<br />

wurde aber vom Staat untersagt. Es findet unter der Bedingung statt, daß keinerlei<br />

Briefe <strong>und</strong> Erklärungen verfaßt <strong>und</strong> keine Gäste eingeladen werden.<br />

23.11. Der BSA wertet die Friedensdekade in Leipzig aus. Pf. Wonneberger macht den<br />

Vorschlag, daß sich die verschiedenen Leipziger Gruppen koordiniert an den<br />

Friedensgebeten beteiligen sollten. In der Folge bildet sich eine Koordinierungsgruppe<br />

für die allwöchentlichen Friedensgebete.<br />

1987<br />

14.02. Erste ökumenische Arbeitstagung zum Konziliaren Prozeß in Dresden auf Einladung<br />

des Dresdner Stadtökumenekreises.<br />

27.02.-01.03. Seminar „Konkret für den Frieden“ mit über 200 Mitgliedern von Basisgruppen aus<br />

der DDR in Leipzig.<br />

08.03. Beschluß der KKL zur gesellschaftlichen Mitverantwortung der ev. Kirchen, in dem es<br />

u.a. heißt, daß in kirchlichen Äußerungen zu politischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Fragen<br />

„darauf geachtet werden [müsse], daß die Bindung an das Evangelium deutlich<br />

erkennbar wird“.<br />

18.-22.03. Festwoche zum 775jährigen Bestehen des Thomanerchores Leipzig.<br />

22.03. St. Krawczyk gibt ein Konzert in der Lukas-Kirche. Ein Teilnehmer des Konzertes<br />

schreibt an den Leipziger Oberbürgermeister: „Ich möchte Ihnen hiermit die Frage<br />

stellen, wie Sie es verantworten können, ein solches Subjekt in der Öffentlichkeit<br />

auftreten zu lassen.“ Pf. Wonneberger wird später von Bischof Hempel <strong>und</strong><br />

Kirchenleitung dafür gerügt, daß er die Kirche für dieses Konzert zur Verfügung<br />

stellte.<br />

21.-24.03. Die Landessynode von Sachsen verabschiedet eine Stellungnahme zum sozialen<br />

Wehrersatzdienst angesichts des großen Personalmangels in Pflegeeinrichtungen <strong>und</strong><br />

stellt sich hinter die Forderungen nach Reiseerleichterungen nach Ost- <strong>und</strong> West-<br />

Europa.<br />

13.04. Beim Vorsitzenden des RdB Leipzig findet ein Gespräch mit Landesbischof Hempel,<br />

Präsident Domsch <strong>und</strong> OKR Rau statt. Darin wird der Kirche vorgeworfen, den<br />

Basisgruppen zu viel Raum zu geben, der dann durch diese Gruppen übergebührlich<br />

beansprucht wird. Dabei wird besonders auf das Konzert von St. Krawczyk in der<br />

Lukaskirche verwiesen.<br />

24.05. In einer Veranstaltung unter dem Thema „Ich bin so frei“ im Keller der<br />

Michaelisgemeinde stellt sich die neugegründete Arbeitsgruppe Menschenrechte vor.<br />

01.06. Friedensgebet der AG Umweltschutz in der Nikolaikirche, anschließend findet als<br />

symbolische Dokumentation der Einheit von Beten <strong>und</strong> Tun ein Arbeitseinsatz an einer<br />

Grünanlage am Nordplatz statt.<br />

08.06. Während eines Konzertes vor dem Reichstag in Westberlin versammeln sich mehrere<br />

h<strong>und</strong>ert Jugendliche vor dem Brandenburger Tor. Die Ansammlung schlägt nach<br />

Eingriffen der Polizei in eine politische Demonstration gegen die Mauer um.<br />

23.06. Das Politbüro genehmigt eine Städtepartnerschaft zwischen Leipzig <strong>und</strong> Hannover.<br />

24.-27.06. In Berlin findet der evangelische Kirchentag unter dem Motto „Ich will bei Euch<br />

wohnen „ statt. Kirchliche Basisgruppen gestalten außerhalb des offiziellen<br />

Kirchentages selbständig einen „Kirchentag von unten“ <strong>und</strong> machen so die<br />

innerkirchlichen Spannungen augenfällig.<br />

01.07. DDR-Bürger erhalten für Westreisen nur noch 15,- DM pro Jahr.<br />

397


17.07. Die DDR schafft die Todesstrafe ab.<br />

13.08. Der Theologe R. Lampe wird aufgr<strong>und</strong> eines symbolischen Protestes gegen die Mauer<br />

verhaftet <strong>und</strong> am 3.12. zu mehr als 12 Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Die Strafe<br />

wird jedoch auf Bewährung ausgesetzt.<br />

28.08. Das SED/SPD-Papier “Streit der Ideologien <strong>und</strong> die gemeinsame Sicherheit“ wird<br />

veröffentlicht.<br />

01.-19.09. Olof-Palme-Friedensmarsch in der DDR. Kirchliche Basisgruppen beteiligen sich mit<br />

eigenen Transparenten am Friedensmarsch. In einigen Städten wird von „eingesetzten<br />

staatlichen Demonstranten“ versucht, die Plakate der Basisgruppenmitglieder mit den<br />

eigenen Plakaten zu verdecken (z.B. in Torgau wo viele Basisgruppenmitglieder aus<br />

Leipzig teilnahmen).<br />

07.-11.09. E. Honecker besucht die B<strong>und</strong>esrepublik.<br />

22.09. B<strong>und</strong>essynode in Görlitz fordert „eine Erweiterung <strong>und</strong> durchschaubare rechtliche<br />

Regelungen von Reisemöglichkeiten für alle DDR-Bürger sowohl in die sozialistischen<br />

Länder als auch in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet, so daß die<br />

Genehmigungsentscheidungen überprüfbar werden „. Die Gemeinden werden gebeten,<br />

sich stärker am Konziliaren Prozeß zu beteiligen, <strong>und</strong> aufgerufen, Gottesdienste mit<br />

den Themen Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung durchzuführen.<br />

Der Antrag zur Absage an Praxis <strong>und</strong> Prinzip der Abgrenzung einer Berliner<br />

Gemeindegruppe wird ohne Beschluß behandelt.<br />

06.-08.10 Vollversammlung der Solidarischen Kirche in Leipzig.<br />

10.-14.10. Tagung der Landessynode von Sachsen stellt zu den Gruppen in den Gemeinden fest,<br />

daß sie ein Zeichen der Lebendigkeit der Kirche Jesu Christi seien; für andere<br />

fernerstehende Gruppen müsse für die Aufnahme unter dem Dach der Kirche das<br />

Kriterium gelten, daß sie bzw. ihre Äußerungen dem Evangelium entsprechen.<br />

14.10. Sekretariat des ZK der SED beschließt härtere Gangart gegenüber den Kirchen unter<br />

dem Motto“ Der Kirche, was der Kirche, dem Staat, was dem Staat ist. „<br />

15.10. Die Vorbereitungsgruppe für die ökumenische Versammlung in der DDR gibt ihren<br />

Aufruf“ Eine Hoffnung lernt gehen - Gerechtigkeit den Menschen, Frieden den<br />

Völkern, Befreiung der Schöpfung - Geh mit!“ heraus.<br />

22.10. Der Stellvertreter des Leipziger Oberbürgermeisters versucht Sup. Richter dazu zu<br />

bewegen, den Auftritt St. Krawczyks am 25.10. in der Laurentiuskirche abzusagen. Mit<br />

gleichem Ziel finden am folgenden Tag ein Gespräch mit Pf. Lösche statt.<br />

25./31.10. Konzerte St. Krawczyks in der Laurentiuskirche bzw. der Lukas-Kirche.<br />

07.11. Die KKL konstatiert eine neue Kirchenpolitik der DDR-Regierung aufgr<strong>und</strong> der<br />

Absage der Regierung von Gesprächen zu Bildungsfragen, Militärpolitik u.a.<br />

08.-18.11. Friedensdekade unter dem Thema“ Miteinander Leben“.<br />

13.11. Im Rahmen der Friedensdekade findet die Friedensnacht in der Nikolaikirche statt.<br />

Dort werden Unterschriften zu einer Eingabe an die Synode des B<strong>und</strong>es zur „Absage<br />

an Geist <strong>und</strong> Praxis der Abgrenzung“ gesammelt.<br />

14.11. Veranstaltung der IG Leben mit dem Titel „Anspruch <strong>und</strong> Realität alternativer<br />

Gruppen in der DDR“ in Leipzig-Leutzsch.<br />

16.11. In der Reformierten Kirche findet ein Forum zum Sozialen Friedensdienst unter dem<br />

Titel: „Der Friede muß unbewaffnet sein“ unter Beteiligung von westdeutschen<br />

Friedensgruppenmitgliedern statt.<br />

24./25.11. Die Umweltbibliothek der Zionskirche in Berlin wird durch die Staatsanwaltschaft<br />

durchsucht. Es werden Vervielfältigungsgeräte <strong>und</strong> Papiere beschlagnahmt. Sieben<br />

Mitarbeiter der Umweltbibliothek werden verhaftet. In den folgenden Tagen<br />

entwickeln sich in der ganzen DDR verschiedene Formen der Solidarisierung:<br />

Mahnwachen, Fürbitt- <strong>und</strong> Informationsandachten, Resolutionen...<br />

10.12. Zum Tag der Menschenrechte werden einige Mitglieder der IFM zeitweilig inhaftiert.<br />

12.12. Der Chefredakteur der FDJ-Zeitung „Junge Welt“ setzt in einem Artikel Teilnehmer<br />

398


der Berliner Mahnwachen mit rechtsradikalen Schlägern gleich.<br />

14.12. Die AG Menschenrechte gestaltet das Friedensgebet in der Nikolaikirche unter dem<br />

Motto „Zwischen Mauern leben“.<br />

16.12. In Vorbereitung des Leipziger Kirchentages 1989 treffen sich Reitmann, Präsident<br />

Domsch <strong>und</strong> OKR Auerbach.<br />

1988<br />

05.01. Gespräch zwischen dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig <strong>und</strong><br />

Landesbischof Hempel. Die Landeskirche Sachsens erhält eine erste Zusage für die<br />

staatliche Unterstützung bei Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung des Leipziger<br />

Kirchentages 1989.<br />

07.01. Nachdem die Mitarbeiter der Umweltbibliothek wieder freigelassen wurden, werden<br />

auch die Ermittlungsverfahren eingestellt.<br />

10.01. Gründung des Netzwerkes "arche" in der Berliner Umweltbibliothek.<br />

16.01. Seminar „Abgrenzung <strong>und</strong> Öffnung „in Oranienburg bei Berlin. Eingeladen waren<br />

alle, die sich in Eingaben an die B<strong>und</strong>esssynode mit dem Antrag „Absage an Prinzip<br />

der Abgrenzung „ auseinandergesetzt hatten.<br />

16.01. Die AG Menschenrechte richtet eine Eingabe an die Volkskammer, in der sie die<br />

Einführung eines Sozialen Friedensdienstes (SoFD) fordert.<br />

17.01. In Berlin werden r<strong>und</strong> 120 Personen festgenommen, die bei der traditionellen<br />

Gedenkdemonstration der SED für Karl Liebknecht <strong>und</strong> Rosa Luxemburg mit eigenen<br />

Losungen <strong>und</strong> Plakaten teilnehmen. Die Hälfte der Festgenommenen wird wenige<br />

St<strong>und</strong>en später nach West-Berlin abgeschoben. In den folgenden Tagen finden in der<br />

ganzen DDR Fürbittgottesdienste für die Inhaftierten statt.<br />

18.01. Beim Friedensgebet in der Nikolaikirche wird über die Inhaftierungen am Vortage<br />

informiert.<br />

19.01. Karsten D. Voigt (SPD) erklärt im Deutschlandfunk, daß die DDR durch die<br />

Abschiebung der inhaftierten Ausreisewilligen eine „einheitliche deutsche<br />

Staatsbürgerschaft“ praktiziert.<br />

21.01. Ost-Berliner Kirchenleitung fordert in einer Erklärung die Freilassung der im<br />

Zusammenhang mit der Demonstration am 17. Januar Festgenommenen. Sie erklärt<br />

sich bereit zur Teilnahme an den Fürbittandachten.<br />

21.01. Im Semesterabschlußgottesdienst der ESG berichten Studenten über die Vorgänge in<br />

Berlin.<br />

22.01. Inder Leipziger Michaeliskirche wird eine Informationsveranstaltung, die anläßlich der<br />

Vorgänge um die Berliner Umweltbibliothek angesetzt war, zu einer großen<br />

Informationsveranstaltung zu den erneuten Verhaftungen in Berlin. Hier wird für die<br />

Idee geworben, auch in Leipzig Informations- bzw. Friedensgebete durchzuführen <strong>und</strong><br />

Unterschriften unter eine Protestresolution gesammelt.<br />

25.01. Führende Berliner Oppositionelle werden unter Anschuldigung des „Landesverrates“<br />

inhaftiert.<br />

Ab dem 25.01. finden in Leipzig täglich Fürbittgebete für die Inhaftierten <strong>und</strong> für<br />

Reformen statt. Das Gebet am Montag, dem 25.01., findet in der Nikolaikirche (ca.<br />

300 Teilnehmer) statt. Die weiteren zuerst in der ESG, später in verschiedenen Kirchen<br />

der Innenstadt. Es werden Flugblätter verteilt, mit denen auf die Friedensgebete<br />

aufmerksam gemacht wird.<br />

26.01. Pf. Barthels wird wegen der Bereitstellung der Räume der ESG für die täglich<br />

stattfindenden Fürbittandachten in den RdS Leipzig bestellt. Es gibt einige zeitweilige<br />

Verhaftungen. Das Informationsgebet in den Räumen der ESG besuchen ungefähr 100<br />

Personen. Das MfS bildet eine spezielle Lagegruppe („Spinne“), die alle Aktionen des<br />

Sicherheitskartells gegen oppositionelle Aktivitäten um die Fürbittengebete<br />

koordinieren soll.<br />

27.01. Die Leipziger Kontaktgruppe, welche die Fürbittgebete koordiniert, gibt eine<br />

399


Gr<strong>und</strong>satzerklärung heraus. Bei einem Gespräch im RdB erklären die Leipziger<br />

Superintendenten, daß sie über das „Auftauchen“ der Ausreiseantragsteller überrascht<br />

seien. Sie sagen, daß es für sie eine neue Situation sei, da diese Gruppe weder mit dem<br />

Staat noch mit der Kirche etwas im Sinne hätte. Die Superintendenten werden darum<br />

gebeten, die Fürbittgebete nicht in der Innenstadt durchzuführen.<br />

29.01. Treffen zwischen der Kontaktgruppe, Pf. Kaden, Pf. Barthels <strong>und</strong> den beiden<br />

Superintendenten. Es wird vereinbart, daß die beiden Pfarrer für die Fürbittgebete<br />

verantwortlich sind, für die Friedensgebete jedoch Pf. Führer.<br />

01.02. An verschiedenen Stellen Leipzigs werden Flugblätter, u.a. mit folgender<br />

Aufforderung verteilt: „Bürger setzt euch ein für Demokratie <strong>und</strong> Menschenrechte, übt<br />

Solidarität mit den zu unrecht verhafteten Bürgerrechtlern.“ Zum Friedensgebet in St.<br />

Nikolai kommen 700 Besucher. Seit dem Überfall auf die Umweltbibliothek im<br />

November 1987 <strong>und</strong> den Verhaftungen im Januar 1988 kommen immer mehr<br />

Ausreiseantragsteller zu diesem Gebet. Die Kontaktgruppe erklärt, daß Verhaftungen<br />

in Weimar, Dresden <strong>und</strong> Leipzig zeigen würden, daß das staatliche Vorgehen breit<br />

angelegt sei <strong>und</strong> sich gegen Gerechtigkeit <strong>und</strong> Offenheit richte. Sie ruft zu weiteren<br />

Fürbittandachten auf <strong>und</strong> bietet ihre Hilfe dabei an.<br />

02.-09.02. Mehrere der in Berlin Inhaftierten werden direkt in die BRD abgeschoben, andere<br />

bekommen befristete Visa, mit denen sie die DDR für 6 Monate <strong>und</strong> länger verlassen<br />

müssen. Zwei werden auf Bewährung in die DDR entlassen.<br />

02.02. Treffen der Superintendenten mit dem Stellvertreter des Oberbürgermeisters. Dieser<br />

erklärt, daß der Staat Mittel <strong>und</strong> Wege finden wird, die Tätigkeit der Kontaktgruppe zu<br />

unterbinden. Am Friedensgebet nehmen ca. 800 Personen teil.<br />

05.02. J. Tallig bringt an der stark begangenen Unterführung in der Nähe des Neuen<br />

Rathauses folgende Sprüche an: „Wir brauchen Offenheit <strong>und</strong> Demokratie wie die Luft<br />

zum Atmen. M. Gorbatschow“, „Neues Denken auch nach innen“ <strong>und</strong> „Hoch Lenin!<br />

B.B.“. J. Tallig wird deshalb am 15.02.1988 verhaftet <strong>und</strong> zu über 6000,- Mark Strafe<br />

verurteilt.<br />

12.-15.02. Erste Ökumenische Versammlung „Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der<br />

Schöpfung“ in Dresden. An der Versammlung nehmen 150 Delegierte von 20 Kirchen<br />

<strong>und</strong> Religionsgemeinschaften teil. Während der Versammlung finden öffentliche<br />

Veranstaltungen statt, bei denen „Zeugnisse der Betroffenheit“ vorgetragen werden.<br />

13.02. In Dresden gedenken 3000 Menschen in der Kreuzkirche der Bombenopfer im Jahre<br />

1945. Anschließend kommt es zu einer Demonstration<br />

Beendigung der Fürbittgottesdienste mit einem Meditationsgottesdienst mit<br />

anschließender Vorstellung von Leipziger Basisgruppen in der Michaeliskirche.<br />

19.02. Der Vertreter des Politbüros der SED, W. Jarowinsky, hält dem Vorsitzenden des BEK,<br />

W. Leich, eine Standpauke wegen Einmischung der Kirche „in staatliche<br />

Angelegenheiten“.<br />

Gemeindeabend „Leben <strong>und</strong> Bleiben in der DDR“ zur Problematik der Übersiedlung<br />

nach Westdeutschland in St. Nikolai (Pf. Führer). Er wird von ca. 900 Menschen<br />

besucht. Pf. Führer bietet das Friedensgebet als „Kontaktmöglichkeit“ für<br />

Ausreiseantragsteller an. Der AK Gerechtigkeit verteilt nach dem Gemeindeabend <strong>und</strong><br />

nach dem folgenden Friedensgebet einen Brief zur „gesetzlichen Regelung der<br />

Ausreise“. Mehrere 100 Antragsteller werden diesen an E. Honecker senden.<br />

22.02. Superintendent Magirius teilt im Friedensgebet mit, daß Seelsorge für<br />

Ausreiseantragsteller nur individuell geschehen könne (somit also keine<br />

Friedensgebete für Ausreiseantragsteller).<br />

26.02. Dienstkonferenz des MfS bei Mielke berät Fragen der Mobilmachung <strong>und</strong><br />

Internierung.<br />

26.-28.02. Viertes Basisgruppentreffen „Frieden Konkret“ unter dem Thema „Teilhabe statt<br />

Ausgrenzung - Wege zu einer solidarischen Lebens- <strong>und</strong> Weltgestaltung“ in Cottbus.<br />

400


28.02. Graphikauktion in der Reformierten Kirche. Der Erlös soll der Ökumenischen<br />

Versammlung, den Basisgruppen <strong>und</strong> „in Bedrängnis geratenen<br />

Basisgruppenmitgliedern“ zugute kommen.<br />

29.02./01.03. Die Ausreiseantragsteller F.W. Sonntag <strong>und</strong> Dr. M. Kunze (AKG) werden inhaftiert.<br />

Ihnen wird die Erarbeitung <strong>und</strong> Verteilung der Eingabe zur „gesetzlichen Regelung der<br />

Ausreise“ vorgeworfen. In diesem Zusammenhang werden auch weitere Antragsteller<br />

kurzzeitig festgenommen <strong>und</strong> belehrt, daß ihnen die Mitarbeit in kirchlichen Gruppen<br />

<strong>und</strong> Veranstaltungen untersagt sei.<br />

02.03. Das MfS setzt eine spezielle Lagegruppe zur Koordinierung der Aktionen gegen<br />

Ausreisewillige <strong>und</strong> gegen Friedensgebete („Bearbeitungskomplex ‘Spinne“‘) ein. Die<br />

Abteilungen Innere Angelegenheiten werden angewiesen, bei den Ausreisewilligen<br />

keine Hoffnungen auf Ausreisemöglichkeiten aufkommen zu lassen <strong>und</strong> sie vom<br />

Besuch kirchlicher Veranstaltungen abzuhalten.<br />

03.03. Gespräch zwischen Honecker <strong>und</strong> Landesbischof W. Leich zehn Jahre nach dem Staat-<br />

Kirche-Gespräch vom 06.03.1978. Danach senden b<strong>und</strong>esdeutsche TV-Stationen ein<br />

Interview mit W. Leich, in dem er die vorgetragenen kirchlichen Forderungen nach<br />

Rechtssicherheit, Reiseerleichterungen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Reformen öffentlich<br />

benennt.<br />

Friedensgebet der IHN. Pf. Führer zitiert Passagen aus der Schnellinformation des<br />

BEK zum Spitzengespräch, die die Ausreiseproblematik betreffen. Es werden<br />

Fürbitten für die Inhaftierten gesprochen.<br />

06.03. Die Polizei verprügelt Gottesdienstbesucher in Berlin.<br />

10.03. F. W. Sonntag <strong>und</strong> Dr. M. Kunze können die Untersuchungshaftanstalt verlassen.<br />

12./13.03. Im Vorfeld des während der Frühjahrsmesse stattfindenden Friedensgebetes am 14.03.<br />

werden viele Ausreiseantragsteller kurzzeitig verhaftet <strong>und</strong> genötigt zu unterschreiben,<br />

daß sie sich künftig nicht an der Vorbereitung von kirchlichen Veranstaltungen<br />

beteiligen.<br />

13.-27.03. Ausstellung mit Fotos vom Olof-Palme-Marsch in der Reformierten Kirche in Leipzig.<br />

14.03. Friedensgebet des AK Solidarische Kirche mit anschließender Demonstration. Bilder<br />

davon sind am Abend in ARD <strong>und</strong> ZDF zu sehen.<br />

29.03. Der Bezirkssynodalausschuß „Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der<br />

Schöpfung“ der Bezirkssynode Leipzig-Ost beschließt auf Antrag von Sup. Magirius:<br />

„Die Gruppen sollen in den nächsten Friedensgebeten, die den Rahmen einer<br />

Großveranstaltung angenommen haben, die Begleitung eines verantwortlichen Pfarrers<br />

suchen <strong>und</strong> akzeptieren.“ Damit wird die seit 1982 bestehende Praxis der<br />

eigenverantwortlichen Gestaltung der Friedensgebete durch Laien <strong>und</strong> Basisgruppen<br />

beendet.<br />

18.04. Das Friedensgebet in der Nikolaikirche wird von der Arbeitsgruppe Gerechtigkeit <strong>und</strong><br />

Ökumene mit ökumenischen Gästen, u.a. aus den Philippinen <strong>und</strong> Cuba, gestaltet.<br />

Nach dem Friedensgebet gibt es drei Gesprächsgruppen.<br />

25.04. Friedensgebet in der Nikolaikirche, gestaltet von der Arbeitsgruppe Menschenrechte,<br />

zum Thema „Macht <strong>und</strong> Umgang mit Macht“.<br />

29./30.04. Das MfS inhaftiert mehrere Wehrdienstverweigerer. Gruppenmitglieder richten ein<br />

Kontaktbüro im Jugendpfarramt ein. Die Inhaftierten werden jedoch wenige Tage<br />

später wieder freigelassen.<br />

09.05. Das Friedensgebet wird vom Offenen Keller Mockau gestaltet.<br />

28.05. In Leipzig veranstalten verschiedene Basisgruppen eine „Kleine ökumenische<br />

Versammlung“ (Tag für den Konziliaren Prozeß) in der Probsteikirche.<br />

05.06. 1. Pleiße-Gedenkumzug. Er soll auf die katastrophale Umweltsituation in Leipzig<br />

aufmerksam machen. Organisiert wurde er von Mitgliedern kirchlicher Basisgruppen.<br />

Die Superintendenten distanzieren sich von dem Gedenkumzug. Die Sicherheitsorgane<br />

verhindern ihn nicht.<br />

401


09.06. Pf. Führer versendet an zwei Pfarrer <strong>und</strong> an Sup. Magirius einen Brief bzgl. der<br />

Abänderung der Friedensgebete.<br />

12.06. 6. Umweltgottesdienst unter dem Thema „Unsere Zukunft hat schon begonnen“ in<br />

Deutzen bei Leipzig.<br />

17.06. Bezirkssynodalausschuß bleibt bei seinem Beschluß vom 29.03.1988 bezüglich der<br />

Friedensgebete. Bis zum 31.10.1988 liegt die Gestaltung der Friedensgebete bei den<br />

Gruppen unter Verantwortung eines von ihnen genannten Pfarrers.<br />

20.06. Kirchenvorstand St. Nikolai ist zu Gespräch beim Stadtbezirksbürgermeister Leipzig-<br />

Mitte geladen. Darin bittet der Staat um die Beendigung der Friedensgebete <strong>und</strong> der<br />

Nachgespräche für Ausreisewillige.<br />

24.06. Auf dem Kirchentag in Halle werden die“ 20 Thesen aus Wittenberg zur Erneuerung<br />

<strong>und</strong> Umgestaltung der DDR“ veröffentlicht.<br />

27.06. Die IG Leben hält zusammen mit Pf. Wonneberger das letzte Friedensgebet vor der<br />

Sommerpause. Zum Schluß wird eine Kollekte zur Finanzierung der Strafgelder<br />

gesammelt, die J. Tallig zahlen sollte, da er Losungen an der Fußgängerunterführung<br />

am W.-Leuschner-Platz angebracht hatte (s. 05.02.1988). Es kommen über 1000 Mark<br />

zusammen. Der anwesende Superintendentenstellvertreter, Pf. Wugk, distanziert sich<br />

noch während des Friedensgebetes von dieser „konkreten Fürbitte“, da sie eine<br />

„illegale“ Sammlung sei.<br />

08.07. Podiumsgespräch in der ESG unter Leitung von Pf. Barthels, u.a. mit AG<br />

Menschenrechte <strong>und</strong> dem AK Gerechtigkeit, bei dem es um Menschenrechtsfragen<br />

geht. Es wird vor allem von Ausreisewilligen besucht.<br />

13.07. Berufung von Kurt Löffler an Stelle von K. Gysi als Staatssekretär für Kirchenfragen.<br />

01.08. Ein Ausreisewilliger demonstriert in der Innenstadt von Leipzig mit dem Transparent:<br />

„Die DDR - ein Rechtsstaat? Es werden gr<strong>und</strong>sätzliche Menschenrechte verweigert.“<br />

08.08. Veranstaltung zu den Gefahren der Nutzung von Kernenergie in der Michaeliskirche.<br />

Organisiert wurde sie von der AGM, AGU, IGL <strong>und</strong> dem AKG.<br />

15.08. Sup. Magirius sendet einen Brief an die Gruppen, in dem er mitteilt, daß das<br />

Friedensgebet nach der Sommerpause in die alleinige Regie des Kirchenvorstands von<br />

St. Nikolai übergeht.<br />

23.08. Hauptabteilung XX des MfS teilt BV Leipzig mit, daß der Kirchentag 1989 stattfinden<br />

soll, jedoch nur in einem kleinen Rahmen. Das Stadion dürfe der Kirche nicht zur<br />

Verfügung gestellt werden.<br />

25.08. In verschiedene Leipziger Briefkästen werden Kettenbriefe unter dem Motto<br />

„Demokratie für alle“ verteilt.<br />

29.08. Das erste Friedensgebet nach der Sommerpause wird nicht - wie geplant - von der AG<br />

Menschenrechte veranstaltet, sondern von den Superintendenten. Zu Beginn erklärt Pf.<br />

Führer, daß die neue Regelung nötig sei, „damit das Friedensgebet weiterhin<br />

stattfinden kann“. Superintendent Magirius versprach, seinen Brief vom 15.08.1988 zu<br />

verlesen. Da dies nicht geschieht, kommt es zu massiven Protesten von<br />

Gruppenmitgliedern in <strong>und</strong> vor der Kirche. Der Kirchenvorstand von St. Nikolai<br />

beschließt am gleichen Abend die neue Ordnung der Friedensgebete.<br />

01.09. Gespräch von Vertretern der Basisgruppen mit Sup. Magirius <strong>und</strong> Pf. Führer führt zu<br />

keinem Kompromiß.<br />

05.09. Verschiedene Basisgruppenmitglieder senden einen Offenen Brief an Bischof Hempel.<br />

Im Friedensgebet wird zu Beginn des Eingangsliedes dieser offene Brief <strong>und</strong> die<br />

Dokumentation des Gesprächs vom 19.02.1988 zwischen Bischof Leich <strong>und</strong> Dr.<br />

Jarowinsky verteilt. Nach dem Friedensgebet wird vor der Kirche eine Erklärung<br />

einiger Basisgruppenmitglieder verlesen. Im Anschluß daran demonstrieren ca. 150<br />

Personen zum Markt, bis zivile Sicherheitskräfte die Demonstration auflösen.<br />

12.09. In einer DDR-weiten Aktion versuchen die Sicherheitsorgane zu verhindern, daß<br />

Ausreisewillige am Friedensgebet teilnehmen. Im Friedensgebet wird von den<br />

402


Bankreihen aus diese Polizeiaktion bekanntgemacht <strong>und</strong> kritisiert. Während des<br />

Friedensgebetes verteilen Ausreisewillige Einladungen zu einer Demonstration am<br />

07.10. 1988.<br />

16.-22.09. Synode des B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen in der DDR in Des<br />

sau fordert Reformen, Offenheit <strong>und</strong> Rechtssicherheit.<br />

19.09. Eine Gruppe von Ausreiseantragstellern sammelt nach dem Friedensgebet auf dem<br />

Nikolaikirchhof Unterschriften. Im Friedensgebet tragen einige Gruppenmitglieder<br />

M<strong>und</strong>binden mit dem Aufdruck „Redeverbot“.<br />

20.09. Synode des BEK ruft zu einem breiten innergesellschaftlichen Dialog auf.<br />

21.09. Gespräch zwischen dem Stellvertreter des Vorsitzenden des RdB Leipzig mit dem<br />

Vorsitzenden des Landesausschusses Kongreß- <strong>und</strong> Kirchentag. Die staatliche<br />

Unterstützung für den Kirchentag wird von einer „weiteren Versachlichung der<br />

Friedensgebete in der Nikolaikirche“ abhängig gemacht.<br />

23.-30.09. In Berlin <strong>und</strong> Potsdam findet die von DDR-Basisgruppen organisierte Aktionswoche<br />

gegen die IWF- <strong>und</strong> Weltbanktagung in West-Berlin statt.<br />

27.09. Die Bezirkskirchenausschüsse Leipzig-Ost <strong>und</strong> -West verständigen sich mit dem KOZ-<br />

Trägerkreis auf einen Modus zur Einrichtung eines Leipziger<br />

Kommunikationszentrums.<br />

28.09.-2.10. 1. Leipziger Zukunftswerkstatt in der Philippuskirchgemeinde. Sie wurde als Teil des<br />

Konziliaren Prozesses von Leipziger Basisgruppen organisiert.<br />

30.09. In der Berliner Carl-von-Ossietzky-Oberschule werden vier Schüler aus politischen<br />

Gründen relegiert; andere erhalten Schulstrafen. Wenig später finden an<br />

verschiedenen Orten in der DDR Protestandachten <strong>und</strong> Veranstaltungen zu Problemen<br />

in der sogenannten „Volksbildung“ statt.<br />

03.10. Nach dem Friedensgebet informieren Gruppenvertreter vor der Nikolaikirche die<br />

Friedensgebetsbesucher über aktuelle Probleme <strong>und</strong> Ereignisse (z.B. über die<br />

Schließung der Zwickauer Umweltbibliothek). Dafür werden Beton-Platten, die auf<br />

dem Nikolaikirchhof liegen, als Redner-Bühne genutzt.<br />

07.10. Am Bach-Denkmal vor der Thomaskirche treffen sich fast h<strong>und</strong>ert Ausreisewillige <strong>und</strong><br />

Oppositionelle.<br />

08.-11.10. 2. Ökumenische Versammlung für „Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der<br />

Schöpfung“ in Magdeburg. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen werden zur Kritik an<br />

die Gemeinden geben.<br />

10.10. Demonstration gegen die Zensur der Kirchenzeitung in Berlin wird durch<br />

Sicherheitskräfte vor laufenden Kameras westlicher TV-Stationen brutal unterb<strong>und</strong>en.<br />

Nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche wird von Basisgruppenmitgliedern ein<br />

Beschluß zu gesellschaftlichen Fragen der Synode des BEK verlesen.<br />

14.10. Wiedereinweihung der restaurierten russisch-orthodoxen Kirche in Leipzig mit dem<br />

Botschafter <strong>und</strong> Vertretern der Regierung der UdSSR. Gespräch zwischen Vertretern<br />

des Ministeriums für Kohle <strong>und</strong> Energie, Sup. Richter, Pf. Kaden <strong>und</strong> zwei Vertretern<br />

kirchlicher Basisgruppen aufgr<strong>und</strong> einer Eingabe des Jugendpfarramtes zur<br />

Perspektive der Kernenergie in der DDR.<br />

17.10. Während des Friedensgebetes wird von Basisgruppenmitgliedern eine Binde vor dem<br />

M<strong>und</strong> getragen, auf die das Wort „Redeverbot“ gedruckt ist. Nach dem Friedensgebet<br />

werden auf dem Nikolaikirchhof ein Brief an den Staatssekretär für Kirchenfragen zur<br />

Aufhebung der Zensur kirchlicher Presseerzeugnisse verlesen <strong>und</strong> 274 Unterschriften<br />

dazu gesammelt.<br />

19.10. Zwischen dem Staatssekretär für Kirchenfragen, dem Vorsitzenden des RdB Leipzig,<br />

einem Vertreter des staatlichen Presseamtes <strong>und</strong> Vertretern der SED-Leitung wird die<br />

staatliche Vorbereitung des Leipziger Kirchentages abgestimmt.<br />

24.10. Das Friedensgebet wird vom Friedenskreis Grünau-Lindenau gestaltet. Während des<br />

Eingangsliedes („O komm, du Geist der Wahrheit“) gehen 15 Basisgruppenmitglieder<br />

403


mit Kerzen <strong>und</strong> Transparenten in den Altarraum <strong>und</strong> stellen bzw. setzen sich dorthin.<br />

Kaplan Fischer begrüßt jeden mit Handschlag <strong>und</strong> „Friede sei mit dir“. Zum Schluß<br />

des Friedensgebetes versucht G. Oltmanns eine Erklärung zu dieser Aktion zu<br />

verlesen, doch das Mikrophon wird sofort von Sup. Magirius abgeschaltet. Es kommt<br />

zu einer tumultuarischen Diskussion. Danach stellten sich die Plakatträger mit ihren<br />

Plakaten auf die Betonplatten vor der Nikolaikirche. Gruppenvertreter verteilen<br />

Kerzen, die angezündet werden. Es wird die Erklärung verlesen, die sie in der Kirche<br />

nicht verlesen konnten.<br />

26./27.10 Die Plakatträger vom 24.10.1988 werden kurzzeitig festgenommen. Ihnen wird durch<br />

das MfS ein Ermittlungsverfahren wegen „staatsfeindlicher Hetze“ angedroht.<br />

27.10. Die beiden Superintendenten erklären dem KOZ-Trägerkreis, daß die Gemeinde<br />

Heilig-Kreuz keine Räume für ein Kommunikationszentrum zur Verfügung stellt.<br />

29.10. IG Leben, AK Gerechtigkeit <strong>und</strong> Aktion Sühnezeichen führen einen Aktionstag zur<br />

Solidarität mit dem rumänischen Volk im Gemeindehaus Mockau durch.<br />

31.10. Anläßlich des Reformationstages findet kein Friedensgebet statt. AG Menschenrechte<br />

<strong>und</strong> die IG Leben veranstalten einen Informationsabend zum Thema Sozialer<br />

Friedensdienst in der Lukaskirche.<br />

01.11. T. Rudolph <strong>und</strong> J. Läßig lassen sich exmatrikulieren, um sich völlig ihrer politischen<br />

Arbeit widmen zu können.<br />

06.-16.11 Friedensdekade unter dem Thema“ Friede den Fernen - Friede den Nahen“.<br />

07.11. Der AK Solidarische Kirche gestaltet die Andacht in St. Nikolai. In ihr werden<br />

Parallelen zwischen Nationalsozialismus <strong>und</strong> der DDR gezogen. In der<br />

Michaeliskirche gestalten die „Frauen für den Frieden“ einen „Elternabend zur<br />

Friedenserziehung“. In der Friedenskirche berichtet Prof. U. Kühn über die 2.<br />

Ökumenische Versammlung.<br />

09.11. Aktion Sühnezeichen gestaltet die Andacht in St. Nikolai. Anschließend gibt es einen<br />

nicht genehmigten Schweigemarsch mit Kerzen im Gedenken an die Pogromnacht<br />

1938, an dem ca. 200 Menschen teilnehmen. Parallel dazu wird ein Flugblatt<br />

„Initiative zur gesellschaftlichen Erneuerung der DDR“ verteilt.<br />

10.11. Der AK Gerechtigkeit gestaltet zusammen mit der Musik-Gruppe „Cäsar <strong>und</strong> die<br />

Spieler“ die Andacht in der Nikolaikirche. Während des Friedensgebetes werden<br />

Kerzen verteilt, danach stehen einige Besucher mit brennenden Kerzen vor der Kirche.<br />

11.11. Lange Friedensnacht der Leipziger Gruppen in der Nikolaikirche.<br />

13.11. „Tag für Espenhain“ in der Reformierte Kirche mit ca. 300 Teilnehmer.<br />

14.11. Nach dem Friedensgebet verteilt eine Gruppe Ausreiseantragsteller ein Flugblatt, in<br />

dem zu einem „Schaufensterbummel“ für den 20.11. eingeladen wird. Die Gruppe wird<br />

kurz darauf verhaftet <strong>und</strong> im März 1989 zu Haftstrafen zwischen 10 <strong>und</strong> 20 Monaten<br />

verurteilt. Auf der Sitzung der BEL stellt der Leiter der Leipziger BV des MfS fest,<br />

daß die Kampfgruppen politisch nicht mehr zuverlässig seien. Das MfS setzte einen<br />

Arbeitsstab ein, der die Inhaftierung von R. Müller, G. Oltmanns <strong>und</strong> T. Rudolph<br />

vorbereiten soll.<br />

17.11. In Leipzig finden sich vielfältige Graffiti gegen Ceaucescu anläßlich seines DDR-<br />

Besuches.<br />

19.11. Die sowjetische Zeitschrift“ Sputnik“ wird von der Postzeitungsliste gestrichen <strong>und</strong> ist<br />

damit in der DDR nicht mehr erhältlich.<br />

2. Leipziger Tag zum konziliaren Prozeß.<br />

21.11. Bei einem Gespräch zwischen Basisgruppenmitgliedern <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand von<br />

St. Nikolai wird die weitere Gestaltung der Friedensgebete abgestimmt.<br />

27.11. DDR-weiter Aktionstag der Basisgruppen gegen die DDR-Volksbildung. Zwischen<br />

Kirchenvorstand St. Nikolai, Vertretern verschiedener Gruppen (die vom Bischof<br />

eingeladen wurden) <strong>und</strong> Bischof Hempel findet ein Gespräch zum politischen Mandat<br />

der Kirche statt.<br />

404


28.11. Während der Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche protestieren Mitglieder der IG Leben<br />

<strong>und</strong> andere Bürgerrechtler in einer symbolischen Aktion (Luftballons mit der<br />

Aufschrift „Sputnik“ <strong>und</strong> den Namen der verbotenen sowjetischen Filme) gegen die<br />

Zensurmaßnahmen der DDR-Behörden. Einige Teilnehmer erhalten dafür<br />

Ordnungsstrafen.<br />

01./02.12. Honecker prägt auf der 7. Tagung des ZK der SED in Reaktion auf die Proteste gegen<br />

das „ Sputnik „- Verbot den Slogan „Sozialismus in den Farben der DDR“ als Symbol<br />

für die Unbelehrbarkeit der SED-Führung. Außerdem wird eine „Reinigung“ der<br />

Partei im Zuge des Umtauschs der Mitgliedsausweise für Ende 1989 beschlossen.<br />

04.12. 5 Ausreisewillige besetzen die Weimarer Herder-Kirche, Sup. Reder läßt darauf die<br />

Kirche von der Polizei räumen.<br />

05.12. Nach dem Friedensgebet wird von einzelnen Gruppenvertretern auf dem<br />

Nikolaikirchhof <strong>und</strong> später in Leipziger Briefkästen <strong>und</strong> öffentlichen Einrichtungen ein<br />

Flugblatt verteilt, auf dem an die UN-Menschenrechtsdeklaration erinnert <strong>und</strong><br />

provokativ behauptet wird, daß das „öffentliche Eintreten für die Menschenrechte<br />

durch massive Demonstration staatlicher Sicherheitskräfte“ am 10.12. nicht möglich<br />

sein wird.<br />

06.12. Das MfS beginnt, eine spezielle Computer-Datei zu Teilnehmern am Friedensgebet<br />

anzulegen.<br />

10.12. Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR beginnt mit ihrer Arbeit.<br />

Sie hat sich zum Ziel gestellt, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren <strong>und</strong> zu<br />

veröffentlichen, damit dagegen vielfältig protestiert werden kann. Leipziger<br />

Ausreisewillige nehmen an einer Kerzendemonstration in Halle teil.<br />

18.12. Pf. Eppelmann entdeckt in seiner Wohnung mehrere Abhörgeräte. Das Konsistorium<br />

erstattet Anzeige gegen Unbekannt.<br />

Solidaritäts- <strong>und</strong> Informationsveranstaltung unter dem Titel „Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

in Polen <strong>und</strong> der CSSR“ in der Markus-Gemeinde.<br />

22.12. In der Zeitschrift der AG Umweltschutz wird der Aufruf zur Mitarbeit an der<br />

Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR verbreitet.<br />

1989<br />

10.01. Text 003 der Ökumenischen Versammlung mit dem Titel“ Mehr Gerechtigkeit in der<br />

DDR - unsere Aufgabe, unsere Erwartung“ wird nachträglich veröffentlicht. Er übt<br />

Kritik an den politischen Verhältnissen im Land <strong>und</strong> macht Vorschläge zu deren<br />

Verbesserung.<br />

Pf. Führer heftet diesen an die Informationstafel der Nikolaikirche. Traditionelles<br />

„Jahreswechselgespräch“ zwischen kirchlichen <strong>und</strong> staatlichen Vertretern der Stadt<br />

Leipzig. Sup. Magirius kritisiert die neue Reiseverordnung als Bürokratismus.<br />

11.01. Kurz vor Mitternacht beginnen Basisgruppenmitglieder, in verschiedenen Leipziger<br />

Stadtbezirken ein Flugblatt in Hausbriefkästen zu verteilen, mit dem sie aus Anlaß des<br />

Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht <strong>und</strong> Rosa Luxemburg zu einer<br />

Demonstration am 15.01. einladen. Das Flugblatt ist unterschrieben mit „Initiative zur<br />

demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft“. In der Nacht <strong>und</strong> an den folgenden<br />

Tagen werden 12 Mitglieder dieser spontanen Initiative verhaftet.<br />

15.01. Abschluß des 3. KSZE-Folgetreffens in Wien. Die Außenminister der USA <strong>und</strong> der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik gehen in ihren Reden aufgr<strong>und</strong> von Informationen der<br />

tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung „Charta 77“ zu den Inhaftierungen in<br />

Leipzig auf die Menschenrechtssituation in der DDR <strong>und</strong> die Verhaftungen ein.<br />

Auf dem Leipziger Marktplatz findet eine nichtgenehmigte K<strong>und</strong>gebung für Reformen<br />

in der DDR statt. F. Kowasch hält eine kurze Ansprache, im Anschluß daran setzt sich<br />

der Demonstrationszug mit ca. 500 Personen in Bewegung. Nach ca. 800 Metern<br />

versucht die Polizei, die Demonstration aufzulösen <strong>und</strong> nimmt kurzzeitig 53<br />

Demonstranten fest.<br />

405


Am Abend findet in der Lukas-Kirche die erste Fürbittandacht für die Verhafteten<br />

statt. Es beginnen in verschiedenen Städten der DDR Solidaritätsandachten <strong>und</strong><br />

Protestaktionen. In der Folge kam es in Halle sogar zu Brandanschlägen gegen die<br />

SED-Kreisleitung.<br />

18.01. Bei einer Auswertung der versuchten Verhinderung der Demonstration am 15.01.<br />

zwischen dem stellv. Minister der MfS, Mittig, dem Leiter der BV, Hummitzsch, <strong>und</strong><br />

dem 1. Sekretär der SED-BL wird entschieden, zukünftig mehr Polizisten einzusetzen.<br />

Die Entlassung der Inhaftierten wird zentral (Honecker, HA IX des MfS) beschlossen.<br />

19.01. 17.00 Uhr teilt der RdB den Leipziger Superintendenten mit, daß alle in<br />

Zusammenhang mit der Flugblattaktion Inhaftierten wieder frei seien.<br />

20.01. In der Markus-Gemeinde findet das letzte Fürbittgebet (in Verantwortung des AKSK)<br />

statt, das vor allem die aus der Haft Entlassenen gestalten.<br />

21.01. 3. Leipziger Tag zum Konziliaren Prozeß in der Michaeliskirche.<br />

23.01. Während des Friedensgebetes dankt M. Arnold im Namen aller zeitweilig Verhafteten<br />

<strong>und</strong> verliest ihre gemeinsame Erklärung, obwohl Superintendent Magirius dies<br />

verboten hatte. Auf dem Nikolaikirchhof wird danach an die Gottesdienstbesucher ein<br />

Informationsblatt <strong>und</strong> eine „Entgegnung zu den Erklärungen des Dresdner<br />

Landeskirchenamtes <strong>und</strong> der Leipziger Superintendenten“ von verschiedenen Berliner<br />

Gruppen verteilt.<br />

24.01. Leiter der Leipziger B V des MfS kritisiert auf der Dienstbesprechung das „Handeln<br />

der Kräfte am Ereignisort“ anläßlich der Demonstration am 15.01. als „zu<br />

unentschlossen“. Honecker entscheidet nach dem Ausbleiben einer Demonstration im<br />

Anschluß des Friedensgebetes am Vortage das Einstellen der Ermittlungsverfahren<br />

gegen die Organisatoren der Demonstration.<br />

27.01. 2. Leipziger Rumänientag in der Pauluskirche Leipzig-Grünau.<br />

30.01. Kirchenleitung ist aufgr<strong>und</strong> der Friedensgebete zum Bezirksstaatsanwalt bestellt.<br />

Einige Glieder der Friedenskirche Gohlis stellen einen Antrag auf Genehmigung einer<br />

öffentlichen Veranstaltung (Schweigemarsch) anläßlich des Jahrestages der<br />

Ermordung der Geschwister Scholl für den 25.02.1989. SED, staatliche Organe <strong>und</strong><br />

MfS bedrängen die Antragsteller in den folgenden drei Wochen so, daß diese ihren<br />

Antrag zurückziehen.<br />

06.02. An der Berliner Mauer wird Chris Geffroy ermordet.<br />

13.02. Nachtgebet in der Dresdener Kreuzkirche zur Erinnerung an die Zerstörung der Stadt.<br />

Bei einer anschließenden Demonstration kommt es zu Übergriffen der<br />

Sicherheitsorgane auf Träger von Transparenten. Eine Verhaftung von Leipziger<br />

Gruppenvertretern wurde unter körperlichem Einsatz der Bürgerrechtler verhindert.<br />

14.02. Kirchenvorstand von St. Nikolai beschließt, daß die Gruppen die Friedensgebete ab<br />

April wieder gestalten können.<br />

15.02. In Leipzig gibt es mindestens 1400 Ausreiseantragsteller.<br />

18.02. Markus-Gemeinde stellt ihre „Gemeindebibliothek“ als „Umweltbibliothek“ zur<br />

Verfügung.<br />

20.02. Bischof Forck kritisiert in Bonn die Unterstützung der Ausreisebewegung in der DDR<br />

durch die B<strong>und</strong>esregierung.<br />

21.02. Gespräch zwischen dem Landesausschuß des Kirchentages <strong>und</strong> sächsischen<br />

Basisgruppenvertretern führt zu keinem Kompromiß über die Beteiligung der Gruppen<br />

am Kirchentag.<br />

24.-26.02. 7. Treffen der Basisgruppe „Frieden konkret“ in Greifswald. Am Rande des Treffens<br />

werden Absprachen über die Bildung von DDR-weiten politischen Organisationen<br />

getroffen.<br />

27.02. Pf. Führer <strong>und</strong> AK „Hoffnung“ gestaltet das Friedensgebet.<br />

28.02. Abend zum Thema „Kommunalwahlen“ organisiert vom AK Gerechtigkeit, IG Leben<br />

<strong>und</strong> AG Menschenrechte in der Markus-Gemeinde.<br />

406


02.03. Lageberatung der Bezirksverwaltung des MfS zu dem Ergebnis, daß Leipzig mehr <strong>und</strong><br />

mehr zum Zentrum oppositioneller Gruppen wird. Als Schwerpunkte werden die<br />

Wahlen (07.05.1989) <strong>und</strong> die Friedensgebete ab 01.04.1989 benannt. Es wird<br />

beschlossen, alle Leipziger Ausreisewilligen, die die Friedensgebete besuchen oder in<br />

Basisgruppen mitarbeiten, ausreisen zu lassen.<br />

05.03. BEK-Vorsitzender Bischof Leich schlägt in einem Vortrag in Jena vor, zur Bestimmung<br />

kirchlicher ldentität in der DDR auf die Formel „Kirche im Sozialismus“ zu<br />

verzichten.<br />

07.03. Gespräch beim RdS Leipzig, Bereich Kirchenfragen, mit Pf. Führer, Pf. Wugk <strong>und</strong> L.<br />

Ramson. Es geht um das Friedensgebet vom 27.02.1989.<br />

Solidaritätsveranstaltung für die Inhaftierten in der CSSR in der Lukaskirche.<br />

11.03. IFM veröffentlicht ihre Basiserklärung, mit der sie eine DDR-weite politische<br />

Organisation schaffen will.<br />

11./13.03. B<strong>und</strong>eswirtschaftsminister H. Haussmann <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esbauminister O. Schneider sagen<br />

ihren Besuch bei der Leipziger Frühjahrsmesse wegen Schußwaffengebrauch an der<br />

innerdeutschen Grenze ab.<br />

12.03. Ministerpräsident J. Rau trifft sich in Leipzig mit Bischof Hempel <strong>und</strong> E. Honecker.<br />

13.03. Der Rektor des Theologischen Seminars, Prof. U. Kühn, hält das Friedensgebet in der<br />

Nikolaikirche. Ca. 600 Ausreisewillige <strong>und</strong> Gruppenmitglieder demonstrieren nach<br />

dem Friedensgebet. Die Ausreiseantragsteller, die an der Demonstration teilnehmen,<br />

erhalten kurz darauf die Ausreisegenehmigung. Ca. 50 ausreisewillige Leipziger<br />

können in den folgenden Wochen täglich in die B<strong>und</strong>esrepublik ziehen.<br />

14.03. Solidaritätsveranstaltung für die Inhaftierten in der CSSR in der Katholischen<br />

Liebfrauenkirche.<br />

15.03. Staatssekretär für Kirchenfragen <strong>und</strong> der Vorsitzende des RdB Leipzig teilen Bischof<br />

Hempel mit, daß der Kirchentag stattfinden kann. Dieser Beschluß wurde am Morgen<br />

nach der Zustimmung Honekkers vom Sekretariat der SED-BL gefaßt. Es beschloß<br />

außerdem eine verstärkte Mobilisierung von sogenannten „gesellschaftlichen Kräften“.<br />

Gemeindeabend zu den „Kommunalwahlen“ in der Michaelisgemeinde.<br />

17.03. Buchlesung von Stephan Heym in der Nikolaikirche.<br />

19.03. Aus Anlaß des DDR-weiten Aktionstages für die in der CSSR politisch <strong>und</strong> religiös<br />

Verfolgten finden in der Leipziger Markus-Gemeinde Informationsveranstaltungen<br />

statt. Dabei werden Protestkarten an den CSSR-Präsidenten bzw. Solidaritätskarten an<br />

die Inhaftierten verteilt.<br />

20.03. Friedensgebet in der Nikolaikirche. Von Basisgruppenmitgliedern wird ein<br />

Transparent mit der Aufschrift „Freiheit für Havel <strong>und</strong> alle politischen <strong>und</strong> religiösen<br />

Inhaftierten in der CSSR“ von der Empore entrollt.<br />

29.03. Die Regionalgruppe Thüringen des AK Solidarische Kirche erklärt öffentlich ihre<br />

Nichtteilnahme an der Kommunalwahl <strong>und</strong> kritisiert die SED-Innenpolitik.<br />

31.03.-04.04. Die sächsische Synode faßt mehrere Beschlüsse zu politischen Fragen.<br />

01.04. Veranstaltung zum Problem der Volksbildung in der DDR unter dem Motto „Schule in<br />

Bewegung“ in der Heilandsgemeinde. Im Anschluß daran senden Mitglieder<br />

verschiedener Basisgruppen einen Brief an das Organisationsbüro des „IX.<br />

Pädagogischen Kongresses“.<br />

03.04. J. Pommert behauptet auf der SED-Bezirksleitungssitzung, daß „der Gegner“ einen<br />

„Generalangriff“ gegen die DDR gestartet habe.<br />

07.04. Staatssekretär für Kirchenfragen erhebt bei Bischof Hempel Einspruch gegen den<br />

Beschluß der Synode zur Wahl <strong>und</strong> behauptet, dieser sei ein Aufruf zum Wahlboykott.<br />

10.04. Leipzigs kirchliche Basisgruppen dürfen das montägliche Friedensgebet wieder<br />

mitgestalten. AK Gerechtigkeit hält das erste Friedensgebet. Im Friedensgebet wird<br />

eine Kontaktadresse für die Beratung von Wehrdienstverweigerern bekanntgegeben.<br />

Die Pf. P. Weiß <strong>und</strong> G. Schleinitz schreiben unter Anregung des Staatssekretariats für<br />

407


Kirchenfragen an E. Honecker einen Brief, in dem sie das Engagement der politischalternativen<br />

Gruppen kritisieren <strong>und</strong> behaupten, daß dadurch die Kirche am „Dasein<br />

für den Nächsten in dieser Gesellschaft gehindert werden könnte“.<br />

17.04. Polnische Untergr<strong>und</strong>gewerkschaft „Solidarnosc“ wird legalisiert.<br />

Friedensgebet wird durch die AG Menschenrechte gestaltet.<br />

18.04. Sekretariat der SED-SL Leipzig berät über Einsätze von Kampfgruppen gegen<br />

oppositionelle Demonstrationen. Umweltschützer aus Leipzig <strong>und</strong> Borna<br />

veröffentlichen geheime Pläne der DDR-Regierung für den Bau eines<br />

Atomkraftwerkes in der Nähe von Leipzig.<br />

24.04. Nikolaikirchgemeinde hält das Friedensgebet.<br />

26.-30.04. 3. Ökumenische Versammlung für“ Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der<br />

Schöpfung“ in Dresden.<br />

30.04. Staatssekretär für Kirchenfragen versucht in einem Gespräch mit Vertretern der<br />

sächsischen Kirchenleitung die Beschlußfassung von Papier 003 der Ökumenischen<br />

Versammlung zur Rechtssituation in der DDR zu verhindern. Bischof Hempel verweist<br />

jedoch darauf daß 40-45% der DDR-Bevölkerung in deutliche Distanz zum Staat<br />

gegangen seien.<br />

01.05. An der offiziellen Maidemonstration in Leipzig nehmen ca. 300 000 Personen teil. Aus<br />

Anlaß des Feiertages findet kein Friedensgebet statt, dennoch kommen einige<br />

Besucher. Über 200 von ihnen gehen schweigend durch die Leipziger Innenstadt. Das<br />

ZDF filmt diesen Marsch <strong>und</strong> sendet ihn als Gegendemonstration zu den offiziellen<br />

„Mai-Manifestationen“.<br />

02.05. Ungarn beginnt mit dem Abbau des“ Eisernen Vorhangs“.<br />

07.05. Auf dem Leipziger Marktplatz versammeln sich gegen 18.00 Uhr über 1000<br />

Demonstranten, Besucher der Leipziger Markttage <strong>und</strong> zivile Ordnungskräfte. Vor der<br />

Nikolaikirche kommt es zu brutalen Verhaftungen. Durch Flugblätter <strong>und</strong> M<strong>und</strong>-zu-<br />

M<strong>und</strong>-Propaganda war seit März durch die „Initiative zur demokratischen Erneuerung“<br />

zu einer symbolischen Aktion gegen die „Wahl“ aufgerufen worden. Zu gleicher Zeit<br />

beobachten ca. zweih<strong>und</strong>ert Bürgerrechtler in den Wahllokalen die Auszählung der<br />

Stimmen <strong>und</strong> werden ähnlich wie Gruppen in anderen Städten der DDR in den<br />

folgenden Tagen auf den Wahlbetrug aufmerksam machen.<br />

08.05. Das Friedensgebet hält die IG Leben. Thema ist das „Politische Mandat der Kirche“.<br />

Nach dem Friedensgebet wird um die Kirchen ein Polizeiring gebildet. Die<br />

Sicherheitsorgane erwarteten offensichtlich eine Demonstration gegen den<br />

Wahlbetrug. Die „Demonstranten“ innerhalb des Kessels werden gefilmt. Einige<br />

werden kurzzeitig festgenommen.<br />

09.05. Ein Pfarrer erstattet Anzeige wegen Körperverletzung aufgr<strong>und</strong> des<br />

Polizeieinsatzes nach dem Friedensgebet am Vortage.<br />

10.05. Die Arbeitsgruppe Kampfgruppen bei der SED-BL kommt in der Zusammenfassung<br />

der dreimonatigen Kontrolle aller Kampfgruppen im Bezirk zu dem Ergebnis, daß bei<br />

Einsätzen auf „Straßen <strong>und</strong> Plätzen“, d.h. gegen Demonstranten, „ideologische<br />

Schwierigkeiten“ auftreten.<br />

11.05. Auf der Sekretariatssitzung der SED-SL werden vor allem Sicherheitsfragen beraten.<br />

Der Chef des VPKA berichtet, daß es innerhalb der Kampfgruppen immer wieder zu<br />

Zweifeln an der Notwendigkeit der Einsätze „gegen Störer, die unter Umständen [zum]<br />

Kollegen oder Bekanntenkreis der Kämpfer zählen“, kommt.<br />

15.05. Am Pfingstmontag findet kein Friedensgebet statt. Dennoch sind über h<strong>und</strong>ert<br />

Personen gekommen, die einen kleinen Demonstrationszug bilden.<br />

15.-21.05. Ökumenische Versammlung der Kirchen für“ Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung<br />

der Schöpfung“ in Basel.<br />

16.05. Stadtbezirksbürgermeister von Leipzig-Mitte lädt den Nikolaikirchenvorstand zum<br />

Gespräch. Dieser lehnt die Einladung aber ab.<br />

408


18.05. Sondersitzung des Nikolaikirchenvorstandes mit Bischof Hempel. Der Versuch des<br />

Bischofs, die Friedensgebete zu verändern, wird von Pf. Führer <strong>und</strong> dem<br />

Kirchenvorstand abgelehnt. Sie werden lediglich in „Montagsgebete“ umbenannt.<br />

22.05. Friedensgebet wird von der CFK gestaltet. Noch vor dem Ende des Friedensgebetes<br />

werden durch Polizeiketten alle Straßen um die Nikolaikirche abgeriegelt. Die<br />

Eingekesselten rufen u.a.: „Wir wollen raus.“ Es kommt wiederum zu Verhaftungen.<br />

23.05. Parteiaktivtagung zur Instruktion führender SED-Genossen durch den Leiter der<br />

Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK. Den Genossen wird u.a. erklärt, daß die<br />

Genehmigung des Kirchentages nicht ein Tolerieren der politischen Aktivitäten<br />

verschiedener Pfarrer bedeutet.<br />

25.05. Gespräch zwischen Bischof Hempel <strong>und</strong> dem Vorsitzenden des RdB Leipzig.<br />

Hauptthema ist die Entwicklung der montäglichen Friedensgebete. Dem Bischof wird<br />

die Ablehnung des Pleißemarsches mitgeteilt.<br />

28.05. Am Festgottesdienst zum 450. Jahrestag der Reformation in Sachsen in der<br />

Nikolaikirche nehmen sowohl Bischof Hempel als auch H. Reitmann teil.<br />

29.05. Der AK Friedensdienst gestaltet das Friedensgebet. Noch bevor alle Teilnehmer des<br />

Friedensgebetes die Kirche verlassen haben, wird der Nikolaikirchhof durch Polizei<br />

<strong>und</strong> H<strong>und</strong>esstaffeln eingekesselt. Verschiedene Gruppenmitglieder werden zeitweilig<br />

verhaftet <strong>und</strong> zum Teil geschlagen. Auch Zuschauer außerhalb des Kessels werden<br />

verhaftet.<br />

31.05. Bischof Hempel schreibt in einem Brief an den Vorsitzenden des RdB Leipzig, daß er<br />

in Zusammenarbeit mit verantwortlichen Pfarrern <strong>und</strong> den Superintendenten festgelegt<br />

hat, daß das Friedensgebet in der Nikolaikirche von der Auslegung biblischer Texte<br />

<strong>und</strong> dem Gespräch über den Konziliaren Prozeß bestimmt bleibt.<br />

Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Dialog beim Kulturb<strong>und</strong> Leipzig versuchen<br />

vergeblich, die konstituierende Sitzung der Stadtbezirksversammlung Leipzig-Mitte<br />

durch Intervention <strong>und</strong> Bekanntgabe ihrer Beweise für einen Wahlbetrug zu<br />

verhindern.<br />

02.06. Gespräch zwischen Sup. Magirius, Pf. Steinbach, verschiedenen Betriebsdirektoren<br />

<strong>und</strong> dem Minister für Kohle <strong>und</strong> Energie aufgr<strong>und</strong> einer Eingabe der Bezirkssynode<br />

Leipzig-Ost wegen der Luftverschmutzung im Raum Leipzig/Borna an Honecker.<br />

Auf der Dienstberatung der BV des MfS wird festgestellt, daß die Losung „<strong>Feinde</strong><br />

werden wie <strong>Feinde</strong> behandelt“ nicht mehr stimmt. Aufgr<strong>und</strong> der veränderten Situation<br />

seien Differenzierungen gefordert.<br />

03.06. KKL faßt einen Meinungsbildungsbeschluß zur Wahlfälschung. In ihm heißt es u.a.:<br />

„Wir bitten Gemeindeglieder <strong>und</strong> Mitarbeiter unserer Kirchen, ihre Anfragen sachlich<br />

vorzubringen, damit immer deutlich bleibt, daß wir aus der Mitverantwortung für das<br />

Ganze, in die uns unser Glaube stellt, reden <strong>und</strong> handeln. Dazu gehört die<br />

Entschiedenheit ebenso wie Umsicht. Übertriebene Aktionen <strong>und</strong> Demonstrationen<br />

sind kein Mittel der Kirche. Auch der Einsatz für Wahrheit muß in der Liebe<br />

geschehen.“<br />

4. Tag zum Konziliaren Prozeß in der Katholischen Probsteikirche.<br />

04.06. Das chinesische Militär walzt die Demokratiebewegung auf dem „Platz des<br />

Himmlischen Friedens“ in Peking nieder. Weit über 3000 Menschen kommen dabei<br />

ums Leben.<br />

In Polen finden Sejm-Wahlen statt, bei denen sich erstmals auch die Opposition<br />

beteiligen kann. „ Solidarnosc „ erhält 99 der 100 Senatssitze.<br />

2. Pleißegedenkumzug. Die geplante Demonstration an der Pleiße wurde vom Staat<br />

untersagt, dennoch finden die beiden Gottesdienste zu Beginn <strong>und</strong> am Ende der<br />

geplanten Strecke statt. Zahlreiche Teilnehmer werden zeitweilig festgenommen <strong>und</strong><br />

sollen hohe Ordnungsstrafen zahlen.<br />

05.06. Friedensgebet wird von der AG Umweltschutz gestaltet. Zum Friedensgebet kommen<br />

409


ca. 1250 Besucher (u.a. der Bischof). Die Sicherheitskräfte halten sich zurück.<br />

07.06. In Berlin werden zwei Demonstrationen gegen die Wahlfälschung brutal aufgelöst.<br />

Dabei werden fast 200 Personen festgenommen.<br />

08.06. Die Volkskammer erklärt Verständnis für den „Einsatz bewaffneter Kräfte“ durch die<br />

chinesische Führung gegen die Demokratiebewegung, die sie als „Konterrevolution“<br />

bezeichnet.<br />

09.06. A. Ludwig bittet erfolglos per R<strong>und</strong>brief um eine Sondersitzung des Bezirkssynode<br />

Leipzig-Ost aufgr<strong>und</strong> der Vorgänge im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen.<br />

10.06. Auf dem Thomas-Müntzer-Kongreß des BEK fordert KKL-Vorsitzender Bischof W.<br />

Leich politische Veränderungen in der DDR.<br />

Das von Leipziger Basisgruppenmitgliedern organisierte nichtgenehmigte<br />

Straßenmusikfestival findet in der Leipziger Innenstadt statt. Über eintausend Musiker<br />

<strong>und</strong> Zuhörer nehmen daran teil. Gegen Mittag werden fast h<strong>und</strong>ert Teilnehmer durch<br />

die Polizei zugeführt <strong>und</strong> vernommen. Da sich ein großer Teil der Teilnehmer den<br />

Anordnungen der Sicherheitsorgane widersetzt, kommt es zu einer Treibjagd der<br />

Polizei gegen Festivalteilnehmer durch die Innenstadt. Am Abend kann das Festival<br />

ungestört beendet werden. Während des Festivals <strong>und</strong> an den folgenden Tagen<br />

verkaufen Gruppenmitglieder Aufnäher mit chinesischer Flagge <strong>und</strong> Trauerflor als<br />

Protestzeichen gegen die von den DDR-Medien begrüßte brutale Niederschlagung der<br />

chinesischen Demokratiebewegung.<br />

11.06. Der Dom zu Greifswald wird im Beisein von E. Honecker eingeweiht. Die Einweihung<br />

wird im DDR-Fernsehen übertragen. Vom anschließenden Empfang des<br />

Staatsratsvorsitzenden im Rathaus wird der offizielle Vertreter des BEK, Bischof<br />

Forck, ausgeschlossen.<br />

7. Umweltgottesdienst in Rötha bei Leipzig. Es wird gegen den geplanten Bau eines<br />

AKWs in Börln bei Leipzig protestiert <strong>und</strong> bekanntgegeben, daß schon 25 000 DDR-<br />

Bürger die Aktion“ 1 Mark für Espenhain“ unterstützten.<br />

12.06. Die Friedensgruppe Grünau/Lindenau gestaltet das Friedensgebet. Danach kommt es<br />

zu einer kleinen Demonstration (ca. 200 Personen), die durch Sicherheitskräfte<br />

aufgelöst wird.<br />

15.06. Auf einer Stadt-Parteiaktivtagung der SED wird demagogisch Stimmung gegen die<br />

Leipziger Bürgerrechtler <strong>und</strong> Friedensgebete gemacht.<br />

18.06. AK Solidarische Kirche <strong>und</strong> AK Gerechtigkeit gestalten in der Markuskirchgemeinde<br />

eine Informationsandacht zur chinesischen Demokratiebewegung <strong>und</strong> deren<br />

Niederschlagung.<br />

19.06. Tagung der Kreiseinsatzleitung Leipzig. Es wird festgestellt, daß die ideologische<br />

Position seit zwei Jahren immer unklarer geworden ist <strong>und</strong> damit die Zahl der<br />

Kampfgruppenmitglieder ständig abnimmt. In der Beratung beim 1. Sekretär der SED-<br />

BL plädiert der Bezirkspolizeichef für eine Verlagerung der Polizeiaktionen. Nicht die<br />

Friedensgebete, sondern die Provokateure sollten danach behindert werden. H.<br />

Hackenberg (SED-BL) erklärt in diesem Zusammenhang, daß energisch gegen jede<br />

„Version der Konterrevolution“ vorgegangen werden solle. Er billigt alle Festnahmen<br />

<strong>und</strong> plädiert für die offensive Einsetzung der Medien.<br />

Die Nikolaikirchgemeinde hält zusammen mit dem christlichen Umweltseminar Rötha<br />

das Friedensgebet (über 1000 Besucher). Danach findet ein kleiner Schweigemarsch<br />

statt, der durch Sicherheitskräfte unterb<strong>und</strong>en wird.<br />

24.06. In der „Leipziger Volkszeitung“ erscheint ein Hetzartikel gegen<br />

Friedensgebetsbesucher.<br />

26.06. Pf. Führer verliest im Friedensgebet einen Protestbrief gegen die Todesurteile in China<br />

<strong>und</strong> protestiert gegen den Artikel der LVZ vom 24.06.1989. Nach dem Friedensgebet<br />

kommt es erneut zu einem Polizeikessel. S. Kulow wird verhaftet,<br />

zusammengeschlagen <strong>und</strong> bis zur Amnestie im Oktober inhaftiert.<br />

410


30.06. Superintendent Magirius führt ein Gespräch mit dem Chefredakteur der LW wegen des<br />

Artikels vom 24.06. ohne Ergebnis.<br />

01.07. Im ersten Halbjahr 1989 haben ca. 39 000 Menschen die DDR mit staatlicher<br />

Genehmigung <strong>und</strong> über5 000 ohne Genehmigung gen B<strong>und</strong>esrepublik verlassen.<br />

03.07. Das letzte Friedensgebet vor der Sommerpause wird vom Jugendkonvent Leipzig<br />

gestaltet. Es kommt danach erneut zu einer Polizeiaktion gegen<br />

Friedensgebetsteilnehmer.<br />

06.-09.07. Evangelischer Kirchentagskongreß <strong>und</strong> Kirchentag der Landeskirche Sachsens in<br />

Leipzig. Parallel dazu findet in der Lukaskirche aus Protest gegen den Ausschluß<br />

kritischer Gruppen aus dem offiziellen Kirchentagsgeschehen der Statt-Kirchentag<br />

statt. Die AG Menschenrechte <strong>und</strong> der AK Gerechtigkeit veröffentlichen einen Brief<br />

an die Bevölkerung der DDR, in dem sie die „offen zutage tretende Gewalt staatlicher<br />

Organe in Leipzig“ anprangern <strong>und</strong> den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft<br />

fordern.<br />

07.07. Ostblock-Gipfel in Bukarest. Gorbatschow gesteht jedem Ostblock-Land seine eigene<br />

Entwicklung zu. Honecker verläßt den Gipfel wegen einer Gallenblasenkolik. Er nimmt<br />

seine Geschäfte erst am 26.09. wieder auf.<br />

08.07. Brief des Berliner Initiativkreises „Absage an Praxis <strong>und</strong> Prinzip der Abgrenzung“<br />

<strong>und</strong> weiterer Unterzeichner an die Kirchen der Ökumenischen Versammlung wird auf<br />

dem Kirchentag verteilt. Angesichts des staatlichen Rechtsbruches bei der<br />

Kommunalwahl wird darin zur Einsetzung“ autorisierter Gesprächsr<strong>und</strong>en“(R<strong>und</strong>e<br />

Tische!) aufgerufen.<br />

09.07. Auf der Abschlußveranstaltung des Kirchentages beginnen Teilnehmer des Statt-<br />

Kirchentages eine Demonstration, der sich viele Kirchentagsbesucher anschließen. Die<br />

Demonstration führt durch die Stadt <strong>und</strong> endet aufgr<strong>und</strong> von Polizeiketten in der Petri-<br />

Kirche. Dort findet eine Fürbittandacht u.a. für Sven Kulow, der am 26.06. inhaftiert<br />

wurde, statt. Das Sicherheitskartell setzte u.a. einen Hubschrauber gegen den<br />

Demonstrationszug ein.<br />

Sicherheitskräfte riegeln die Dresdner Kreuzkirche während einer Trommelaktion für<br />

die Demokratiebewegung in China ab <strong>und</strong> nehmen ca. 40 Personen fest.<br />

17.07. Leiter der B V des MfS behauptet auf der Dienstversammlung: „Wenn wir den<br />

Untergr<strong>und</strong> nicht unter Kontrolle bringen, dann wird es eines Tages zur<br />

Straßenschlacht kommen. Es gilt von Anfang an: Dagegenhalten.“<br />

19.07. Das „Neue Deutschland“ veröffentlicht einen Briefwechsel zwischen Bischof H.<br />

Gienke <strong>und</strong> E. Honecker, in dem die gute Gemeinschaft zwischen Marxisten <strong>und</strong><br />

Christen beschworen wird.<br />

06.08. Informationsandacht gegen ein geplantes Reinst-Siliziumwerk in der Kirche in<br />

Dresden-Gittersee. Danach kommt es zu einer Demonstration, die von<br />

Sicherheitskräften brutal aufgelöst wird.<br />

22.08. Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, H. Schumann, meldet sich nach langem<br />

Urlaub als krank. H. Hackenberg übernimmt seine Geschäfte.<br />

24.08. Tadeusz Mazowiecki vom „ Bürgerkomitee Solidarnosc“ wird polnischer<br />

Ministerpräsident.<br />

25.08. KKL-Vorsitzende Bischof Leich bietet Honecker ein vertrauliches Gespräch an.<br />

Der Oberbürgermeister bittet die Kirche, die Friedensgebete nicht am Messe-Montag,<br />

dem 04.09.1989, wieder beginnen zu lassen.<br />

In Leipzig gibt es knapp 5000 Ausreiseantragsteller. Genauso viele sind seit dem<br />

01.01.1989 mit Genehmigung der DDR-Behörden aus der Stadt ausgereist. Außerdem<br />

über 1000 „illegal“.<br />

26.08. Menschenrechtsseminar in der Berliner Golgathakirchgemeinde. Eine Initiativgruppe<br />

veröffentlicht den Aufruf zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei.<br />

27.08. Drei Jugendliche beginnen in der Thomaskirche ein Fasten für die demokratische<br />

411


Umgestaltung der DDR. Die Aktion wird am folgenden Tag abgebrochen.<br />

31.08. Bezirkskirchenausschüsse von Leipzig-Ost <strong>und</strong> -West stimmen der Einrichtung eines<br />

Ökumenischen Begegnungszentrums in der Markusgemeinde zu.<br />

01.09. Kirchenvorstand von St. Nikolai wird von Gen. Sabatowska ins Rathaus bestellt. Ihm<br />

wird nahegelegt, die Friedensgebete am 04.09.1989 nicht beginnen zu lassen. Der<br />

Kirchenvorstand läßt sich davon jedoch nicht beeindrucken.<br />

02.09. Staatssekretär Ar Kirchenfragen teilt Bischof Leich mit, daß das für den 12.09.<br />

geplante Spitzengespräch ausfallen müsse. Bischof Leich verweist auf die staatliche<br />

Gesprächsverweigerung seit über einem Jahr <strong>und</strong> sagt: „Nun ist das Faß<br />

übergelaufen. „Die KKL beschließt daraufhin einen Brief an Honecker, in dem sie die<br />

Möglichkeiten einer „mündigen Beteiligung der Bürger an der Gestaltung“<br />

gesellschaftlicher Prozesse als „unabdingbar“ bezeichnet <strong>und</strong> offene Diskussionen<br />

einklagt.<br />

AK zur Situation der Menschenrechte in der DDR gibt eine Erklärung heraus, in der er<br />

auf die Inhaftierung zweier Flugblattverteiler verweist. Sie hatten zu einem<br />

Wahlboykott aufgerufen <strong>und</strong> wurden unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu Haftstrafen<br />

bis zu anderthalb Jahren verurteilt.<br />

Leiter der BV Leipzig des MfS stellt fest, daß nicht mehr zu verhindern sei, daß<br />

Westjournalisten anläßlich des Friedensgebetes am04.09. eine „große Storie“<br />

bekämen. Auf der Dienstversammlung bezeichnet er das MfS als die Avantgarde der<br />

Perestroika in der DDR.<br />

04.09. Erstes Friedensgebet nach der Sommerpause wird von der Nikolaikirchgemeinde<br />

gestaltet. Die Predigt hält Sup. Magirius. Danach findet eine Demonstration für „offene<br />

Grenzen, Versammlungsfreiheit <strong>und</strong> Vereinigungsfreiheit“ vor laufenden Kameras<br />

verschiedener westlicher Agenturen statt. Anschließend kommt es zu einem<br />

Demonstrationszug „Für freie Fahrt nach Gießen“, der auf dem Leipziger<br />

Hauptbahnhof endet. Zur gleichen Zeit findet in der Reformierten Kirche eine<br />

Veranstaltung mit Friedrich Schorlemmer zur „gesellschaftlichen Erneuerung“ statt.<br />

05.09. Aufgr<strong>und</strong> der bevorstehenden Öffnung der ungarischen Westgrenze kommt es im<br />

Politbüro zur ersten Debatte seit Jahren.<br />

Die SED-BL Leipzig empfiehlt dem Staatssekretär für Kirchenfragen „umgehend“ ein<br />

Gespräch mit dem Kirchenvorstand der Nikolaikirche zu führen.<br />

06.09. Den Vortrag zum Messemännerabend hält der Vorsitzende des Präsidiums der<br />

Ökumenischen Versammlung, Sup. Ziemer, zum Konziliaren Prozeß unter dem Titel:<br />

„Eine Hoffnung lernt gehen“.<br />

07.09. Brutaler Polizeieinsatz gegen Demonstration wegen des Wahlbetrugs auf dem Berliner<br />

Alexanderplatz.<br />

Die „Leipziger Volkszeitung“ <strong>und</strong> andere DDR-Zeitungen beginnen auf die Vorgänge<br />

um die Nikolaikirche („Unruhestifter in der Leipziger Innenstadt“) einzugehen.<br />

08.09. Foto-Dokumentation über Polizeimaßnahmen im Frühsommer in Leipzig (u.a. nach<br />

den Friedensgebeten), die während des Statt-Kirchentages gezeigt wurde, wird durch<br />

die Stasi beschlagnahmt.<br />

10.09. Der Gründungsaufruf des Neuen Forums (Aufbruch 89) wird unterzeichnet <strong>und</strong><br />

veröffentlicht.<br />

Der Brief der KKL an Honecker wird den Gemeinden bekanntgegeben.<br />

11.09. Ungarn öffnet seine Grenze nach Österreich für DDR-Bürger.<br />

Bischof Hempel nimmt am Friedensgebet teil. Es wird der Brief der KKL an Honecker<br />

verlesen <strong>und</strong> von ca. 1300 Gottesdienstbesuchern mit Beifall aufgenommen. Während<br />

des Friedensgebetes riegeln Polizeiketten das Gebiet um die Nikolaikirche hermetisch<br />

ab. Nach dem Friedensgebet werden 89 Personen festgenommen. Viele wurden ohne<br />

Gerichtsverfahren zu Geldstrafen zwischen 1000 <strong>und</strong> 5000 Mark verurteilt. 19<br />

Gottesdienstbesucher müssen bis Mitte Oktober in der Haftanstalt der Staatssicherheit<br />

412


leiben.<br />

12.09. Demokratie Jetzt verabschiedet Gründungsaufruf „zur Einmischung in die eigenen<br />

Angelegenheiten“.<br />

ARD bringt eine Sendung über den Verfall von ganzen Stadtteilen Leipzigs <strong>und</strong> über<br />

das Lebensgefühl Leipziger Jugendlicher.<br />

13.09. Im ZDF bzw. in RIAS-TV erklären B. Boley, D. Henrich <strong>und</strong> Prof. Dr. J. Reich die<br />

Zielstellung des Neuen Forums.<br />

In Leipzig bildet sich eine Gruppe, die Solidaritätsaktionen für die Inhaftierten<br />

koordiniert. Sie erhält von der Markus-Gemeinde einen Raum mit Telefon <strong>und</strong><br />

organisiert in den nächsten Wochen die täglichen Fürbittandachten, die Informierung<br />

der Journalisten über die Vorgänge in Leipzig <strong>und</strong> z.B. das Anbringen von<br />

Transparenten an Fenstern der Nikolaikirche <strong>und</strong> Kerzen vor der Nikolaikirche.<br />

14.09. Die Nachrichten westdeutscher R<strong>und</strong>funkstationen geben bekannt, daß die<br />

Sammlungsbewegung Demokratischer Aufbruch gegründet wird.<br />

15.09. Sup. Richter schickt an alle Pfarrämter des Kirchenbezirkes Leipzig-West eine<br />

Empfehlung zur Fürbitte für die am 11.09. Inhaftierten.<br />

15.-19.09. Synode des BEK in Eisenach. Basisgruppenmitglieder aus Leipzig verteilen auf der<br />

Synode Fotos von den Inhaftierten <strong>und</strong> den Polizeieinsätzen <strong>und</strong> bitten um öffentlichen<br />

Protest durch die Synode. Bischof Hempel gibt einen Informationsbericht über die<br />

Vorgänge in Leipzig. Die Synode erklärt: „Die Massenauswanderung von Bürgern der<br />

DDR in die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland zwingt dazu, Ursachen dafür zu benennen,<br />

daß offensichtlich viele, besonders auch junge Menschen in unserem Land <strong>und</strong> für<br />

unser Land keine Zukunft mehr sehen. (... J Wir brauchen: - demokratische<br />

Parteienvielfalt; - Reisefreiheit Ar alle Bürger; - wirtschaftliche Reformen; [...]-<br />

Möglichkeit friedlicher Demonstrationen [...]“<br />

17.09. In der Berliner Gethsemane-Kirche findet das erste Fürbittgebet für die in Leipzig<br />

Inhaftierten statt. Es folgen täglich weitere auch in anderen Städten.<br />

18.09. Verschiedene DDR- Unterhaltungskünstler solidarisieren sich mit den Zielen des<br />

Neuen Forums.<br />

Das Friedensgebet wird von der Friedensgruppe Grünau/Lindenau gestaltet. Die<br />

Nikolaikirche ist nahezu überfüllt. Während des Friedensgebetes werden wieder<br />

Polizeiketten um die Nikolaikirche aufgezogen. An diesen sammeln sich über tausend<br />

Schaulustige. Polizei inhaftiert erneut Demonstranten.<br />

19.09. Neues Forum beantragt Zulassung als offizielle Vereinigung.<br />

Ein Mitglied der Koordinierungsgruppe für die Fürbittengebete (C. Dietrich) erklärt in<br />

einem ARD-Telefon-Interview, daß es in Kürze zu Wahlen kommen müsse, an denen<br />

sich neben dem Neuen Forum auch andere neugegründete politische Vereinigungen<br />

beteiligen werden.<br />

20.09. Pf. Wugk <strong>und</strong> Pf. Führer schicken ein Schreiben an den RdS Leipzig, Abteilung<br />

Kirchenfragen, in dem sie sich über die Aktion der Sicherheitskräfte nach dem<br />

Friedensgebet am 18.09.1989 beschweren.<br />

21.09. DDR-Innenministerium erklärt das Neue Forum als staatsfeindlich <strong>und</strong> lehnt dessen<br />

Zulassung ab. Das MJS gibt den entsprechenden SED-Sekretariaten in den folgenden<br />

Tagen laufend Informationen über die Entwicklung der“ oppositionellen<br />

Sammlungsbewegungen „.<br />

Per Strafbefehl <strong>und</strong> ohne Gerichtsverfahren werden die ersten der am 11.09.<br />

inhaftierten Friedensgebetsbesucher zu 4 bis 6 Monaten Haft verurteilt.<br />

22.09. E. Honecker fordert in einem Fernschreiben an die SED-Bezirksleitungen die<br />

„Isolierung der Organisatoren der konterrevolutionären Tätigkeit“ <strong>und</strong> daß „die<br />

feindlichen Aktionen im Keim erstickt werden müssen“.<br />

23.09. Das MfS entscheidet, die Weitergabe des Gründungsaufrufes des Neuen Forums,<br />

welcher u.a. in der Nikolaikirche aushängt, gemäß 220 des StGB zu ahnden.<br />

413


24.09. Im Gemeindesaal der Markus-Gemeinde treffen sich erstmals - auf Einladung der<br />

Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft - Vertreter der<br />

verschiedenen neuentstandenen Bürgerbewegungen, um ihre zukünftigen Initiativen<br />

miteinander abzustimmen. Der Deutschlandfunk verbreitet als Gesprächsergebnis, daß<br />

das Neue Forum als Dachorganisation aller Bürgerbewegungen akzeptiert werde. Doch<br />

darauf haben sich die Teilnehmer nicht geeinigt.<br />

25.09. Die AG Menschenrechte gestaltet zusammen mit Pfarrer Wonneberger das<br />

Friedensgebet. Nach dem Friedensgebet demonstrieren ca. 8000 Menschen vom<br />

Nikolaikirchhof in Richtung Hauptbahnhof. Sie singen „We shall overcome“ <strong>und</strong><br />

rufen: „Freiheit“ oder „Neues Forum (zulassen)“.<br />

26.09. Eine Diskussion über die Krise in der DDR im Politbüro wird auf Antrag Hagers<br />

vertagt.<br />

Demonstration in Berlin nach Fürbittenandacht in der Gethsemane-Kirche.<br />

Stellvertretender Minister des MfS, Mittig, erklärt, daß es falsch gewesen sei, daß die<br />

Verantwortung für die Verhinderung von Demonstrationen allein in Leipzig lag.<br />

27.09. Das Sekretariat der SED-Bezirksleitungssitzung beschließt einen Katalog an<br />

Maßnahmen, mit denen die Opposition in den folgenden Wochen unterdrückt werden<br />

soll.<br />

28.09. Der Bezirksstaatsanwalt droht Pf. Führer <strong>und</strong> Pf. Wonneberger mit Haftstrafen, falls<br />

sie weiterhin das „Recht der DDR verletzen“.<br />

29.09. Außerordentliche Politbürositzung, auf der Honecker die Ausreise der<br />

Botschaftsbesetzer über DDR-Territorium beschließen läßt.<br />

Beginn einer Leserbriefkampagne gegen die Besucher der Friedensgebete bzw. der<br />

Demonstranten in der „Leipziger Volkszeitung“. Auf der<br />

Stadtverordnetenversammlung geht der Oberbürgermeister in seinem Bericht auf die<br />

Vorgänge um die Nikolaikirche mit verleumdenden Bemerkungen gegen Kirche <strong>und</strong><br />

Opposition ein. Der Bericht wird gegen alle Gewohnheit nicht einstimmig bestätigt.<br />

30.09. B<strong>und</strong>esaußenminister D. Genscher erklärt in Prag, daß die Botschaftsflüchtlinge<br />

ausreisen dürfen. Damit können über 6000 DDR-Bürger in die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

ausreisen. Sup. J. Richter sendet an die Pfarrämter des Kirchenbezirkes Leipzig-West<br />

einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit.<br />

01.10. In Ostberlin gründet sich trotz massiver Behinderung durch die Sicherheitsorgane<br />

(Polizeiketten, Hausarreste) der Demokratische Aufbruch.<br />

01.-03.10. Vor der Bonner Botschaft in Prag versammeln sich erneut über 7000 Menschen, die in<br />

die B<strong>und</strong>esrepublik wollen <strong>und</strong> in den folgenden Tagen auch ausreisen dürfen.<br />

02.10. Das „Neue Deutschland“ erklärt, daß den ausgereisten Bürgern „keine Träne<br />

nachzuweinen“ sei. In Leipzig gibt es schon Probleme bei den öffentlichen<br />

Verkehrsmitteln, da viele Fahrer gen Westen ausgereist waren. Es werden Soldaten<br />

eingesetzt. In der Berliner Gethsemanekirche beginnen unbefristete Mahnwachen<br />

gegen die Inhaftierungen in Leipzig, Potsdam <strong>und</strong> Berlin. Täglich finden in Berlin<br />

Informationsandachten statt.<br />

Die AG Umweltschutz gestaltet das Friedensgebet. Ein Friedensgebet findet zur<br />

gleichen Zeit wie in St. Nikolai auch in der Reformierten Kirche statt. An der<br />

Demonstration im Anschluß an das Friedensgebet nehmen ca. 25.000 Personen teil. Es<br />

kommt zu Ausschreitungen <strong>und</strong> einem brutalen Einsatz von Polizei, Sondereinheiten<br />

<strong>und</strong> Kampfgruppen.<br />

Gewandhauskapellmeister Kurt Masur erklärt in einem ARD-Interview angesichts der<br />

Polizeieinsätze „Ich schäme mich“ <strong>und</strong> ruft zu einem gesamtgesellschaftlichen Dialog<br />

auf.<br />

03.10. Die Regierung hebt den visafreien Reiseverkehr in die CSSR auf. Seit Tagen werden<br />

Reisende in Richtung CSSR/Ungarn an der Grenze festgenommen bzw.<br />

zurückgewiesen. Am Abend sammeln sich auf dem Dresdener Hauptbahnhof<br />

414


Ausreisewillige, die auf die Züge aus Prag mit den Botschaftsbesetzern warten, um<br />

ebenfalls gen B<strong>und</strong>esrepublik reisen zu können. Kurz nach Mitternacht versucht die<br />

Polizei, den Bahnhof zu räumen. Der Bahnverkehr kommt teilweise zum Erliegen. Am<br />

folgenden Abend kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den<br />

Sicherheitskräften <strong>und</strong> Demonstranten bzw. Ausreisewilligen. Daraufhin finden täglich<br />

Demonstrationen, u.a. mit Kerzen als Zeichen für Gewaltlosigkeit, am Bahnhof <strong>und</strong> in<br />

der Dresdener Innenstadt statt. Ausreisewillige, die aus den Zügen nach Prag geholt<br />

wurden, flüchten in verschiedene Dresdener Kirchen.<br />

Die Leipziger Bezirkseinsatzleitung tagt <strong>und</strong> beschließt, den Einsatz von Armee-<br />

Einheiten gegen Demonstranten vorzubereiten.<br />

04.10. Vertreter von Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch, Initiative Frieden <strong>und</strong><br />

Menschenrechte, Neues Forum <strong>und</strong> SDP setzen sich für die Freilassung der<br />

Inhaftierten sowie für Wahlen unter UN-Aufsicht ein.<br />

CDU-Tageszeitung „Die Union“ veröffentlicht einen Artikel unter der Überschrift:<br />

„Zum Dialog über alle uns bewegenden Fragen ermutigen“, in dem die Vorgänge um<br />

die Nikolaikirche auf die Ausgrenzung von Kritik durch die Regierenden<br />

zurückgeführt werden.<br />

05.10. Mielke weist die Dienststellen des MJS in Berlin an, Reservekräfte zu mobilisieren <strong>und</strong><br />

die Maßnahmen zur Unterbindung von Demonstrationen effizienter zu gestalten. Dabei<br />

heißt es, sie sollten mit „allen Mitteln“ unterb<strong>und</strong>en werden.<br />

Bei friedlichen Demonstrationen in Dresden setzt die Polizei massiv Gewalt ein <strong>und</strong><br />

nimmt mehrere h<strong>und</strong>ert Beteiligte fest.<br />

RdS Leipzig bildet eine Arbeitsgruppe, die einen Überblick über die Ausfälle aufgr<strong>und</strong><br />

der großen Abwanderung in den verschiedenen kommunalen Bereichen auflistet <strong>und</strong><br />

für Gegenmaßnahmen verantwortlich ist.<br />

Auf dem evangelischen Pfarrertag der Region Leipzig kommt es zur<br />

Auseinandersetzung über die Aufgabe der Kirche angesichts eines drohenden<br />

Bürgerkrieges.<br />

Vertreter des Staates fordern von Bischof Hempel die „Entpolitisierung“ der<br />

Friedensgebete. Der Ratsvorsitzende des RdB behauptet, daß es nicht vorgesehen sei,<br />

mit Waffen gegen Demonstranten vorzugehen.<br />

06.10. Während die Demonstrationen in Dresden weitergehen, erteilen die Dresdener<br />

Behörden sofortige Ausreisegenehmigungen. Der Thüringer Landesbischof bittet die<br />

Pfarrer seiner Landeskirche, Friedensgebete vorzubereiten <strong>und</strong> die Kirchen als<br />

Zufluchtsorte zu öffnen.<br />

In der Berliner Erlöserkirche findet eine „Zukunftswerkstatt“ unter dem Motto: „Wie<br />

nun weiter, DDR?“ mit ca. 2000 Teilnehmern statt. Das Podium zur Reformdiskussion<br />

wird von einem Künstlerprogramm eingerahmt: „Und morgen hau’n wir auf die<br />

Pauke!“<br />

LVZ druckt eine Erklärung eines Kampfgruppenkommandeurs, in der es heißt: „Wir<br />

sind bereit <strong>und</strong> willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu<br />

schützen, um diese konterrevolutionäre Aktion endgültig <strong>und</strong> wirksam zu unterbinden.<br />

Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand!“<br />

Dagegen gehen bei staatlichen Stellen eine Vielzahl von Protestbriefen, u.a. vom<br />

Neuen Forum Leipzig <strong>und</strong> vielen Pfarrern, ein.<br />

07.10. 40. Jahrestag der Gründung der DDR.<br />

Gorbatschow sagt vor den Genossen des Politbüros: „Wenn wir zurückbleiben,<br />

bestraft uns das Leben sofort. „ Die Regierung feiert im „Palast der Republik“,<br />

während es wenige Meter entfernt zu einer großen Protestdemonstration kommt. Sie<br />

wird ähnlich wie eine weitere im Stadtteil Prenzlauer Berg brutal aufgelöst. Vertreter<br />

der Kirchenleitung versuchen vergeblich zwischen Polizei <strong>und</strong> Demonstranten zu<br />

vermitteln. Auch in anderen Städten (z.B.: Dresden, Plauen, Karl-Marx-Stadt, Suhl,<br />

415


Erfurt, Halle, Magdeburg, Potsdam, Arnstadt) kommt es zu Demonstrationen <strong>und</strong><br />

brutalen Polizeieinsätzen. In Plauen werden sogar Hubschrauberstaffeln eingesetzt.<br />

In Schwante gründet sich die SDP.<br />

Der Vorsitzende des BEK, Landesbischof W. Leich, fordert in einem ARD-Interview<br />

ein neues Wahlrecht <strong>und</strong> neue Reiseregelungen.<br />

Zum „Nationalfeiertag“ versuchen den ganzen Tag verschiedene Gruppen (300-2000<br />

Personen), in der Leipziger Innenstadt zu demonstrieren. Die Sicherheitskräfte gehen<br />

brutal dagegen vor. Es werden H<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Wasserwerfer eingesetzt. Fast zweih<strong>und</strong>ert<br />

Personen werden verhaftet <strong>und</strong> u.a. in Pferdeställen auf einem Gelände, auf dem ein<br />

Internierungslager für den „Spannungsfall“ vorgesehen war, festgehalten. Der<br />

amtierende 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, J. Pommert, meldet an das ZK: „Es ist<br />

die Absicht zu erkennen, die Volkspolizei zu beschäftigen.“<br />

Während zweier Veranstaltungen des Neuen Forums in der Michaeliskirche<br />

unterzeichnen ca. 700 Menschen den Gründungsaufruf „Aufbruch 89“.<br />

08.10. Erneut Demonstrationen in mehren Städten der DDR. Während am Abend in Dresden<br />

auf Initiative ev. <strong>und</strong> kath. Amtsträger der Polizeieinsatz beendet <strong>und</strong> ein erstes<br />

Gespräch zwischen Vertretern der Demonstranten <strong>und</strong> des Stadtrates verabredet<br />

werden, wird in Berlin <strong>und</strong> anderen Städten brutal gegen jegliche<br />

Bürgeransammlungen vorgegangen. Es werden über tausend Bürger festgenommen<br />

<strong>und</strong> in vielen Fällen mißhandelt.<br />

Die KP Ungarns löst sich selbst auf.<br />

Stasi-Chef Mielke wiederholt seine Weisung vom 05.10. für die ganze DDR. Er<br />

befiehlt“ volle Dienstbereitschaft „Ar alle Dienststellen <strong>und</strong> fordert die Einleitung von<br />

Maßnahmen, die eine kurzfristige Verhaftung oppositioneller Personen ermöglicht.<br />

Waffenträger sollen ihre Waffen stets bei sich tragen.<br />

In Leipzig wird daraufhin ein „Operativer Einsatzstab“ gebildet. Alle Diensteinheiten<br />

sind angewiesen, sich auf Einsätze vorzubereiten, wie sie nach einer internen<br />

Bestimmung für den „Spannungsfall“ vorgesehen sind. In den folgenden St<strong>und</strong>en<br />

werden die Verhaftungen von mehreren h<strong>und</strong>ert Oppositionellen vorbereitet. Eine<br />

außerordentliche Sekretariatssitzung der SED-Stadtleitung beschließt, für den Abend<br />

die Parteisekretäre der SED-Gr<strong>und</strong>organisationen per Alarmierungssystem zu einer<br />

Beratung zu laden. An dieser Instruktion nehmen 450 Genossen teil. Dabei muß sich<br />

die Parteileitung deutliche Anfragen durch Parteisekretäre der Gr<strong>und</strong>organisationen<br />

gefallen lassen.<br />

09.10. 7.30 Uhr tagt die Bezirkseinsatzleitung (entsprechend einem Honecker-Telegramm).<br />

Sie stellt fest, daß Demonstrationen faktisch nicht mehr zu verhindern sind.<br />

Die SED-Gr<strong>und</strong>organisationen tagen in Erwartung bürgerkriegsähnlicher<br />

Auseinandersetzungen am Abend. In der Stadt kursieren verschiedene Gerüchte über<br />

militärische Vorbereitungen. Es werden Empfehlungen gegeben, nicht in die<br />

Innenstadt zu gehen. Die am 7.10. bekanntgegebenen Kontaktadressen des Neuen<br />

Forums werden in einigen Schulen <strong>und</strong> Betrieben inoffiziell weitergegeben.<br />

Die meisten Pfarrer werden von staatlichen Vertretern aufgesucht <strong>und</strong> von einer<br />

möglichen Teilnahme an einer Demonstration abgehalten.<br />

Der Leiter des Leipziger Zentralinstitutes für Jugendforschung, W. Friedrich, übergibt<br />

E. Krenz eine Erklärung, in der er feststellt, daß die SED mit einer Opposition leben<br />

müsse, <strong>und</strong> den Rücktritt Honeckers empfiehlt.<br />

Die Stimmung in der Stadt ist gereizt. Gegen eine Festnahme von Personen auf dem<br />

Platz vor der Oper wird mit einem Hupkonzert protestiert.<br />

Die Friedensgebete finden in 5 Leipziger Kirchen statt. Zu diesen Friedensgebeten<br />

werden ca. 2.000 sogenannte „gesellschaftlichen Kräften“ beordert, so daß die<br />

Nikolaikirche schon 14.10 Uhr gefüllt ist. An der Nikolaikirche wird ein großes Tuch<br />

mit der Aufschrift: „Leute keine sinnlose Gewalt, reißt Euch zusammen ...“<br />

416


angebracht. Nach den Friedensgebeten findet eine Demonstration von über 100.000<br />

Bürgern statt. Es werden Tausende Flugblätter mit dem Aufruf zur Gewaltlosigkeit<br />

verteilt. K. Masur liest über den Stadtfunk einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit <strong>und</strong> zum<br />

Dialog, den auch SED-Sekretäre unterzeichneten.<br />

Es kommt zu keiner Gewalt, obwohl Bereitschaftspolizei, Armee, Kampfgruppen <strong>und</strong><br />

Staatssicherheit in der Stadt zusammengezogen waren.<br />

Nach dieser großen Demonstration <strong>und</strong> dem „Dialog-Versprechen“ kommt es zu einer<br />

Unmenge an Resolutionen <strong>und</strong> spontanen Initiativen, die das Ende der SED-DDR<br />

bedeuten. Mit einigen regionalen Unterschieden (!) beginnt an diesem Abend die<br />

sogenannte „Herbstgesellschaft“, an deren Ende die Wiedervereinigung stand.<br />

10.10. Die wöchentliche SED-Politbürositzung findet in erweiterter R<strong>und</strong>e statt <strong>und</strong> wird um<br />

einen Tag verlängert.<br />

11.10. Politbüro erklärt, sich Diskussionen stellen zu wollen.<br />

Der Bürgermeister des Stadtbezirks Leipzig-Mitte erklärt auf einer Festveranstaltung<br />

zum 40. Jahrestag der DDR: „Es gibt keinen Gr<strong>und</strong>, unsere bewährten im Leben jedes<br />

Bürgers spürbaren sozialistischen Gr<strong>und</strong>sätze <strong>und</strong> Errungenschaften, den lebendigen,<br />

realen Sozialismus zugunsten der Wiederbelebung eines kapitalistischen Leichnams<br />

preiszugeben.“<br />

Das Landeskirchenamt Sachsens schickt an alle Pfarrämter eine Kanzelabkündigung<br />

des Landesbischofs Hempel, in dem er sich für Dialog <strong>und</strong> Gewaltfreiheit einsetzt.<br />

12.10. Zwischen dem Oberbürgermeister <strong>und</strong> den leitenden kirchlichen Amtsträgern der Stadt<br />

findet ein Gespräch statt. Sup. Richter macht dabei den Vorschlag, daß ein<br />

verantwortlicher Vertreter des Rates der Stadt am Montag zu den Menschen sprechen<br />

müßte.<br />

13.10. Gespräch beim Rat des Bezirkes mit Vertretern von kirchlichen Gruppen der Stadt<br />

Leipzig.<br />

E. Krenz, Stasivizechef Mittig, Stabschef der Polizei K.-H. Wagner, Sekretär des<br />

Verteidigungsrates Streletz sowie ZK-Abteilungsleiter Herger treffen sich mit H.<br />

Hackenberg in Leipzig <strong>und</strong> geben den Befehl „Gewaltfreiheit“ für den 16.10.1989.<br />

14.10. Das Neue Forum gibt die Zahl von 25. 000 Mitgliedern bekannt. Kirchlicherseits wird<br />

die Forderung nach unabhängiger Untersuchung der Gewaltanwendung um den 7.10.<br />

herum als Vorbedingung des „Dialoges“ erhoben.<br />

16.10. Mielke schickt ein Telegramm an die Leiter aller Diensteinheiten, worin er<br />

Anweisungen gibt, verstärkt Kontrollmaßnahmen durchzuführen, damit es nicht zu<br />

weiteren Demonstrationen kommt.<br />

Das Friedensgebet findet in 5 Leipziger Kirchen statt. Danach kommt es zu einer<br />

Demonstration von ca. 150 000 Bürgern um den Leipziger Innenstadtring. Krenz,<br />

Mielke <strong>und</strong> Honecker verfolgen das Geschehen am Bildschirm des Innenministeriums.<br />

Die „Aktuelle Kamera“ berichtet kurz über die Demonstration.<br />

17.10. Mit der Absicht, die Demonstrationen einzustellen, trifft sich der Leipziger<br />

Oberbürgermeister mit Vertretern verschiedener christlicher Konfessionen.<br />

18.10. Honecker wird von Krenz als SED-Vorsitzender abgelöst.<br />

20.-24.10. Die Synode der Sächsischen Landeskirche protestiert u.a. gegen die Gewalt gegenüber<br />

Demonstranten...<br />

23.10. Das Neue Forum gibt den Ort seines Büros in Leipzig bekannt. Über eine viertel<br />

Million Bürger demonstrieren in Leipzig für Reformen bzw. Ende der SED-Herrschaft.<br />

24.10. Krenz wird Vorsitzender des Staats- <strong>und</strong> des Nationalen Verteidigungsrates.<br />

Auf der SED-Bezirksleitungssitzung erklärt H. Hackenberg „Wir leben von Montag zu<br />

Montag.“. „Wenn ihr so wollt, das sage ich hier ganz offen, sind wir auch nicht in der<br />

Lage zu sagen, wie wir den Montag verhindern können. Das muß ich sagen. Wenn wir<br />

das gekonnt hätten, da hätten wir das schon zehnmal gemacht.“ Und „wir spüren<br />

selber, daß uns der Dialog auseinanderläuft“.<br />

417


27.10. Der Staatsrat verkündet eine Amnestie für sogenannte „Republikflüchtlinge“ <strong>und</strong><br />

inhaftierte Demonstranten.<br />

07.11. Die DDR-Regierung tritt zurück.<br />

09.11. Die Mauer ist für DDR-Bürger offen.<br />

01.12. Die Volkskammer streicht den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung.<br />

07.12. Erste Sitzung des Zentralen R<strong>und</strong>en Tisches<br />

11.12. Hauptthema der Leipziger Montagsdemonstration ist die „Wiedervereinigung“.<br />

24.12. Die innerdeutschen Grenzen öffnen sich auch für B<strong>und</strong>esbürger bedingungslos.<br />

418


Verzeichnis der aufgesuchten Archive <strong>und</strong> benutzen Akten<br />

Archiv Bürgerbewegung e.V. Leipzig (ABL)<br />

Box 2, 4, 6, 10, 11, 19, 21, H 1-3, 8,8/1, 9/1, 10, 15, 25,35,44/1, 53, 54, 55, Z 2<br />

B<strong>und</strong>esbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR<br />

Zentralarchiv (BStU): ZAIG 3660, ZAIG 3707, ZAIG 3748, ZAIG 3752, ZAIG 4594, ZAIG 4595,<br />

ZAIG 4596, ZAIG 4598, ZAIG 5367, ZAIG 5375, HA XX/4 609, Ha XX/4 838, HA XX/4 1608, HA<br />

XX/4 1305<br />

B<strong>und</strong>esbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Außenstelle<br />

Leipzig (BStU Leipzig): Abt. XX MB 1981-1984, Arbeitsbücher (BStU Leipzig AB): AB 0740-3905<br />

IM-Akten: XIII 489/78, XIII 1371/80, AIM 1228/89<br />

Personalakte: KS 5/75<br />

B<strong>und</strong>esarchiv Potsdam, Bestand Staatssekretariat für Kirchenfragen (BArch 0-4):<br />

Akten des Staatssekretärs: 435+36, 455, 461, 594, 652, 766-68, 770 (StS), 771,<br />

777,781,795,801,803,816,958-60,969,971-73,973,975,985+86,989<br />

Akten des Hauptabteilungsleiters: 1028, 1068, 1086, 1116+17, 1122+23, 1182, 1188, 1192, 1205,<br />

1215, 1217, 1225, 1230, 1235, 1265, 1270<br />

Akten der Abteilung „Ev. Kirchen“: 1385+86, 1404+05, 1431-36, 1448, 1478,<br />

1504,3252+53,3255,3803,3804+05,3805,3883,3973,3974<br />

Akten der Abteilung „Information“: 6107, 6136-38<br />

B<strong>und</strong>esarchiv, Stiftung der Archive der Parteien <strong>und</strong> Massenorganisationen Bestand SED (SAPMO-<br />

BArch):<br />

Verschiedene Protokolle der Politbürositzungen, Handakte Kreuz: IV 2/2.039/277 Bestand AG<br />

Kirchenfragen beim ZK: IV B 2/14/9, IV B 2/14/19, IV B 2/14/21, IV B 2/14/23, IV B 2/14/57, IV B<br />

2/14/69, IV B 2/14/71, IV B 2/14/102, IV B 2/14/104<br />

Kirchenvorstand St. Nikolai - St. Johannis:<br />

Sitzungsprotokolle im Protokollbuch des Kirchenvorstandes: Die verwendeten Abschriftsvorlagen<br />

(Kopien) liegen im ABL H 45<br />

Gästebücher der Nikolaikirche zwischen 1988 <strong>und</strong> dem 10.10.1989<br />

Sächsisches Staatsarchiv<br />

Dresden, Bestand Bezirkstag/Rat des Bezirkes (StAD RdB):<br />

45081<br />

Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, Bestand Bezirkstag/Rat des Bezirkes (StAL BT/RdB):<br />

20072, 20665-671, 20676, 20707, 20710-15, 20738, 20740, 20749, 20771, 20784, 21100-03, 21127,<br />

21131, 21133, 21135, 21142+43, 21366, 21369, 21392+93,21395,21397,21399,21401, 21403+04,<br />

21406, 21408+09,21411, 21414, 21421, 21437+38, 214450, 214453, 21458+459, 21467-470, 21547,<br />

21668, 21723, 21956+57, 21959, 21962, 22259, 31764,35741+42,38326<br />

Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, Bestand SED (StAL SED):<br />

A 4645, A 4757-4761, A 4969-4972, A 4987, A 5115, A 5124-5126, A 5200, A 5201, A 5322, A<br />

5342, A 5371, A 5381, A 5522-5555, A 5847, A 5861, A 5865, A 5934, A 5935, A 6023, A 6025, A<br />

6031, A 6320, A 6321, A6399, A 6534, A 6563, A 6650, A 6655, A 6662, A 6784, N 845, N 883-903,<br />

N 928-932, N 945, N 946, N 2532-2552, N 2556-2571, N 2600, N 2601, IV F-4/14/040, IV-F-<br />

5/02/059, IV F-5/01/075, IV F 02/061<br />

Stadtarchiv Leipzig (SAL):<br />

Bestand RdS, Abteilung Innere Angelegenheiten (SAL ZR):<br />

3195, 7046-7051, 7058, 6539, 6540, 6543, 6544, 6544/1, 6544/2, 8710, 8951“ 9657, 10434<br />

419


Bestand Rat des Stadbezirks Mitte:<br />

299,300<br />

Unlizensierte Publikationen der Basisgruppen<br />

Die Mücke, hg. von AG Menschenrechte <strong>und</strong> AK Gerechtigkeit, [Leipzig März 19891 (ABL Box 21)<br />

Arbeitsheft Sozialer Friedensdienst, Leipzig 1988 (ABL H 2)<br />

Christlicher Arbeitskreis Weltumwelttag Leipzig, Die Pleiße, Leipzig 1989 (ABL) Dietrich, Christian<br />

(1989), „Was war los in Leipzig?“, in: „Solidarische Kirche“, Februar 1989 (ABL Box 11)<br />

Dokumenta Zion. Sonderausgabe der Mit-Welt-Blätter [ 1988] (ABL Box 19) „fußnote³“, hg. von P.<br />

Grimm / R. Weißhuhn / G. Poppe (Hgg.), [Dokumentation über Verhaftung <strong>und</strong> Solidarisierung<br />

Januar/Februar 1988], Mai 1988 (ABL Box 21)<br />

Grenzfall, [Informationszeitschrift der IFM 1986-1989] (ABL Box 2)<br />

Kontakte [Zeitschrift der Leipziger Gruppen bei der Superintendentur Leipzig-Ost bzw. im<br />

Bezirkssynodalausschuß] (ABL H 2 <strong>und</strong> Z 2)<br />

Spuren. Zur Geschichte der Friedensbewegung in der DDR, hg. von St. Bickhardt, M. Haeger, G. Poppe,<br />

E. Richter, H.-J. Tschiche im Februar 1988 (ABL Box 21)<br />

Streiflichter [Informationsbrief bzw. Zeitschrift der AGU 1981-19891, Leipzig (ABL Box 6)<br />

Über das Nein hinaus. Aufrisse Zwei, herausgegeben von St. Bickhardt, R. Lampe <strong>und</strong> L. Mehlhorn im<br />

Oktober 1988 (ABL Box 13)<br />

Umweltblätter [Informationszeitschrift der Umweltbibliothek der Berliner Zionsgemeinde 1986-1989]<br />

(ABL Box 4)<br />

Wahlfall 89, Eine Dokumentation, hrg. von der Koordinierungsgruppe Wahlen (Berlin, Juli 1989) (ABL<br />

Box 7)<br />

Wir suchen weiter nach Wegen zum Frieden. Eine Sammlung von Dokumenten, Konzepten, Beiträgen<br />

zum Thema: SoFd, zusammengestellt von A. Schaller im Auftrag des Naumburg FAK (Juni 1988)<br />

(ABL H 25)<br />

Verwendete Literatur<br />

Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (Hg.), Christen im Streit um den Frieden. Beiträge zu einer neuen<br />

Friedensethik. Positionen <strong>und</strong> Dokumente, Freiburg 1982<br />

Alles ist im Untergr<strong>und</strong> obenauf, Eine Auswahl aus KONTEXT 1-7, Berlin 1993<br />

Amnesty International (Hg.), Deutsche Demokratische Republik. Rechtsprechung hinter verschlossenen<br />

Türen, Bonn „1992<br />

Bekanntmachung des vollständigen Wortlautes der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen<br />

Landeskirche Sachsens vom 13. Dezember 1950 unter Berücksichtigung aller Änderungen bis Ende<br />

1986, in: Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, 1986, A 85 - A 92<br />

Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte <strong>und</strong> Folgen der SED-Diktatur in<br />

Deutschland“ beim B<strong>und</strong>estag (Drucksache 12/7820)<br />

Besier, Gerhard/Wolf, Stefan (Hg.), Pfarrer, Christen <strong>und</strong> Katholiken. Das Ministerium für<br />

Staatssicherheit der ehemaligen DDR <strong>und</strong> die Kirchen, Neukirchen-Vluyn 1991<br />

Bickhardt, Stefan (Hg.), Recht ströme wie Wasser. Christen in der DDR für Absage an Praxis <strong>und</strong> Prinzip<br />

der Abgrenzung. Ein Arbeitsbuch, Berlin 1988<br />

Brink, Nana, „Dann haben wir den Ring geschlossen“, in: tageszeitung 10.10.1991, 6<br />

Bürgerkomitee Leipzig (Hg.), STASI intern. Macht <strong>und</strong> Banalität, Leipzig 1991 Büscher, Wolfgang /<br />

Wensierski, Peter, Null Bock auf DDR. Aussteigerjugend im anderen Deutschland, Reinbek 1984<br />

Büscher/Wensierski/Wolschner (Hg.), Friedensbewegung in der DDR. Texte 1978-1982, Hattingen 1982<br />

DDR-Handbuch, hrg. vom B<strong>und</strong>esministerium für innerdeutsche Beziehungen Köln 31985<br />

Der Sonntag. Gemeindeblatt der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens, Dresden 1981-1989<br />

420


Der Spiegel, Hamburg 1983-1989<br />

Die Kirche. Evangelische Wochenzeitschrift (Allgemeine Ausgabe), Berlin 1982-1989<br />

Dietrich, Christian, Die Kirche zwischen offiziellem <strong>und</strong> inoffiziellem Bereich der Gesellschaft - Eine<br />

lokale Studie am Beispiel Leipzig 1988/89 (MS), Naumburg 1991<br />

Dietrich, Christian, Fallstudie Leipzig 1987-1989. Die politisch-alternativen Gruppen in Leipzig vor der<br />

Revolution, Expertise der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte <strong>und</strong> Folgen der SED-<br />

Diktatur in Deutschland“ beim B<strong>und</strong>estag, Leipzig 1994<br />

Dohle, Horst, Gr<strong>und</strong>züge der Kirchenpolitik der SED zwischen 1968 <strong>und</strong> 1978 (Diss. phil. B), Berlin<br />

1988<br />

Dönert, Albrecht <strong>und</strong> Paulus Rummelt, Die Leipziger Montagsdemonstrationen, in:<br />

Grabner/Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober, Berlin 1990, 147-158<br />

Ehring, Klaus / Martin Dallwitz [Hubertus Knabe], Schwerter zu Pflugscharen. Friedensbewegung in der<br />

DDR, rororo-aktuell 5019, Reinbeck 1982<br />

epd-Dokumentation [epd-Dok], 1978-1989<br />

Evangelischer Nachrichtendienst [ENA], Berlin 1980-1989<br />

Feldhaus, Friedhelm, Politisch-alternative Gruppen im sozialen Raum der DDR – am Beispiel politischer<br />

Dokumente <strong>und</strong> Erklärungen Leipziger Oppositionsbewegungen [Diplomarbeit, Sozialwissenschaften],<br />

Hannover 1993<br />

Feydt, Sebastian / Christiane Heinze / Martin Schanz, Die Leipziger Friedensgebete, in:<br />

Grabner/Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober, Berlin 1990, 123-135<br />

Fiedler, Martin, Die stumpfe Lyrik des großen Kraken, in: Leipziger Volkszeitung, vom 8.11.1991, S. 3<br />

Findeis, Hagen, Überblick über die sozialethisch engagierten Gruppen in Leipzig Anfang 1989, in:<br />

Grabner/Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober, Berlin 1990, 91-96<br />

Findeis, Hagen / Detlef Pollack / Manuel Schilling, Die Entzauberung des Politischen. Was ist aus den<br />

politisch alternativen Gruppen der DDR geworden?, Leipzig <strong>und</strong> Berlin 1994<br />

Fischer (1990), Hans-Friedrich, Kirche <strong>und</strong> Friedensgebete in Leipzig, in: Hans-Jürgen Sievers,<br />

St<strong>und</strong>enbuch einer Revolution, Zollikon <strong>und</strong> Göttingen 1990, 13-20<br />

Fischer (1994), Hans-Friedrich, Statement für die öffentliche Anhörung der Enquête-Kommission beim<br />

B<strong>und</strong>estag zum Thema „Kirchen <strong>und</strong> Christen im Alltag der DDR“ (MS), Leipzig/Dresden 1994<br />

Fischer, Hans-Friedrich, Interview mit dem Wiener R<strong>und</strong>funk in der Sendung „Gospel Extra“ am<br />

25.09.1989, Tonbandmitschrift im ABL<br />

Forschungszentrum zu den Verbrechen des Stalinismus/IFM e.V. (Hg.), Ausgewählte<br />

Quartalseinschätzungen über den OV Märtyrer der BV Leipzig, Dresden 1991<br />

Forschungszentrum zu den Verbrechen des Stalinismus/IFM e.V. (Hg.), Dokumente zur Kirchenpolitik in<br />

Sachsen. Nicht personenbezogene Operativinformationen der Kreisdienststelle Leipzig-Stadt zur Rolle<br />

kirchenleitender Persönlichkeiten in Sachsen, Dresden 1991<br />

Franke, Ulrike / Andreas Fünfstück / Detlef Pollack / Joachim Rasch / Thomas Weiß, Der Pfarrer im<br />

Spannungsfeld von Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft. Auswertung von Interviews mit Leipziger PastorInnen<br />

vor <strong>und</strong> nach der Wende, in: Grabner/ Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober, Berlin 1990, 47-62<br />

Führer (1992), Christian, Hoffnungsträger für die Bedrängten, Interview in: Junge Welt vom 30.10.1992<br />

Führer (1993), Christian, Interview im Oktober 1993 mit MDR (Mitschrift im ABL)<br />

Goertz, Jochen / Lothar Tautz, Arbeitskreis „Solidarische Kirche“ (AKSK), Referat zur 60. Sitzung der<br />

Enquête-Kommision am 08. <strong>und</strong> 09. Februar 1994 in Dresden (MS)<br />

Grabner, Wolf-Jürgen / Christiane Heinze / Detlef Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober. Kirchen <strong>und</strong><br />

alternative Gruppen im Umbruch der DDR. Analysen zur Wende, Berlin 1990<br />

Grabner, Wolf-Jürgen, Kirche <strong>und</strong> Politik. Ergebnisse einer Befragung von Leipziger Gemeindegliedern,<br />

in: Grabner/Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober, Berlin 1990, 63-80<br />

Grammes, Tilmann / Ari Zühlke, Ein Schulkonflikt in der DDR. Arbeitshilfen für die politische Bildung,<br />

hrg. von B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung, Bonn o.J.<br />

Haase, N. u.a. (Hg.), VEB-Nachwuchs. Jugend in der DDR, Reinbek 1983<br />

Hanisch, Günter, Gottfried Hänisch, Friedrich Magirius <strong>und</strong> Johannes Richter, Dona nobis pacem.<br />

Fürbitten <strong>und</strong> Friedensgebete Herbst ‘89 in Leipzig, Berlin 1990<br />

421


Hauser, Uli / Kai Herrmann, Der betrogene Held, in: Stern 42/93, 118-124<br />

Heber, Norbert / Johannes Lehmann (Hgg.), Keine Gewalt! Der friedliche Weg zur Demokratie, Berlin<br />

1990<br />

Heiduczek, Werner, Der ‘Kleine Oktober’, in: ders., Im gewöhnlichen Stalinismus. Meine unerlaubten<br />

Texte, Leipzig <strong>und</strong> Weimar 1991, 207-226 <strong>und</strong> in: Stefan Heym <strong>und</strong> Werner Heiduczek (Hgg.), Die<br />

sanfte Revolution, Leipzig <strong>und</strong> Weimar 1990, 82-97; zitiert nach letzterem<br />

Heinze, Christiane / Pollack, Detlef, Zur Funktion der politisch-alternativen Gruppen im Prozeß des<br />

gesellschaftlichen Umbruchs in der DDR, in: Grabner/ Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober,<br />

Berlin 1990, 82-90<br />

Heym, Stefan <strong>und</strong> Werner Heiduczek (Hgg.), Die sanfte Revolution, Leipzig <strong>und</strong> Weimar 1990<br />

Hildebrand, Gerold, Verweigerer in der DDR, in: J. Albrecht, M. Büchner, M. Rüdiger, B. Sondhauß<br />

(Hgg.), Stattbuch Ost, Berlin 1991, 126-131<br />

Hildebrandt, Jörg <strong>und</strong> Gerhard Thomas (Hgg.), Unser Glaube mischt sich ein ... Evangelische Kirche in<br />

der DDR 1989. Berichte, Fragen, Verdeutlichungen, Berlin 1990<br />

Kaden, Klaus (1990), Von den Friedensgebeten ging alles aus, in: Stefan Heym <strong>und</strong> Werner Heiduczek<br />

(Hgg.), Die sanfte Revolution, Leipzig <strong>und</strong> Weimar 1990, 101-105<br />

Kalkbrenner, J., Urteil ohne Prozeß. Margot Honecker gegen Ossietzky-Schüler, Berlin 1990<br />

Kaufmann, Christoph / Doris M<strong>und</strong>us / Kurt Nowak (Hgg.), Sorget nicht, was ihr reden werdet. Kirche<br />

<strong>und</strong> Staat in Leipzig im Spiegel kirchlicher Gesprächsprotokolle (1977-1989). Dokumentation, Leipzig<br />

1993<br />

Kenntemich, Wolfgang / Manfred Durniok / Thomas Karlauf, Das war die DDR. Eine Geschichte des<br />

anderen Deutschland, Berlin 1993<br />

Kirche im Sozialismus NS]. Zeitschrift zu Entwicklungen in der DDR, Berlin 1980-1989<br />

Kuhn, Ekkard, Der Tag der Entscheidung. Leipzig, 9. Oktober 1989, Berlin 1992<br />

Kühn, Rainer, Wie der Oktober entstand, in: Die andere Zeitung 1/1990 (01.01.1990), 12<br />

Kuhrt, Eberhard, Wider die Militarisierung der Gesellschaft. Friedensbewegung <strong>und</strong> Kirche in der DDR,<br />

Melle 1984<br />

Kyrie Eleison [Fürbitten des Friedensgebetes am 2.10.1989 in der Leipziger Nikolaikirche], in: Zur<br />

Freiheit berufen. Die Kirche in der DDR als Schutzraum der Opposition 1981-1989, hrsg. von Jürgen<br />

Israel, Berlin 1991, 183f.<br />

Läßig, Jochen, Herbst ‘89 - ein Jahr danach. Ursachen <strong>und</strong> Folgen des Scheitern einer Revolution. Vortrag<br />

am 8.10.1990 in der Universität Leipzig (MS)<br />

Leipziger Demontagebuch. Demo. Montag. Tagebuch. Demontage, hrg. von Wolfgang Schneider, Leipzig<br />

<strong>und</strong> Weimar o.J. [1990]<br />

Lindner, Bernd <strong>und</strong> Ralph Grüneberger (Hrsg.), Demonteure. Biographien des Leipziger Herbst, Bielefeld<br />

1992<br />

Lingner, Olav, Friedensarbeit in der Evangelischen Kirche der DDR 1978-1987, in: Kirchliches Jahrbuch<br />

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Lochen, Hans-Hermann / Christian Meyer-Seitz (Hgg.), Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung<br />

Ausreisewilliger, Köln 1982<br />

Löscher, Lutz / Jürgen Vogel, Leipziger Herbst. Eine subjektive Dokumentation (Radio DDR, Sender<br />

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Magirius, Friedrich (1990a), Vorwort, in: Grabner/Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober, Berlin<br />

1990, 7-9<br />

Magirius, Friedrich (1990b), „Selig sind, die Frieden stiften ...“, Friedensgebete in St. Nikolai zu Leipzig,<br />

Berlin 1990, 92-99 <strong>und</strong> in: Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter, Dona nobis pacem, Berlin 1990, 7-14<br />

(zitiert nach letzterem)<br />

Magirius, Friedrich (1990c), Wiege der Wende, in: Wolfgang Schneider, Leipziger Demontagebuch, 10-<br />

13<br />

Magirius, Friedrich: „Ich muß mich nicht rechtfertigen“. Interview mit dem Leipziger Stadtpräsidenten zu<br />

den neuerlichen Vorwürfen gegen ihn, in: Leipziger Morgenpost vom 16.10.1993, 5<br />

422


Maser, Peter, Kirchen <strong>und</strong> Religionsgemeinschaften in der DDR 1949-1989, Konstanz 1992<br />

Mechtenberg, Theo, Friedensverantwortung der evangelischen Kirchen in der DDR, in: R. Henkys (Hg.),<br />

Die evangelischen Kirchen in der DDR, München 1982, 355-399<br />

Meckel, Markus / Martin Gutzeit, Opposition in der DDR. Zehn Jahre kirchliche Friedensarbeit -<br />

kommentierte Quellentexte, Köln 1994<br />

Minderheitenvotum von M. Arnold <strong>und</strong> Fraktion Bündnis 90/Grüne zum Schlußbericht des<br />

Sonderausschusses zur Untersuchung von Amts- <strong>und</strong> Machtmißbrauch infolge der SED-Herrschaft,<br />

Dresden Juni 1994<br />

Mitter, Armin/Stefan Wolle (Hg.), Ich liebe euch doch alle! Befehle <strong>und</strong> Lageberichte des MfS, Januar-<br />

November 1989, Berlin 1990<br />

Mühler, Kurt / Steffen H. Wilsdorf, Die Leipziger Montagsdemonstration. Aufstieg <strong>und</strong> Wandel einer<br />

basisdemokratischen Institution des friedlichen Umbruchs im Spiegel empirischer Meinungsforschung,<br />

in: Berliner Journal für Soziologie, Sonderheft 1991, 37-45<br />

Neues Forum Leipzig (Hg.), Jetzt oder nie - Demokratie!, Leipziger Herbst ‘89, Leipzig 1989<br />

Nowak, Kurt, Jenseits des mehrheitlichen Schweigens. Texte von Juni bis Dezember 1989 (pro vocation<br />

2), Berlin 1990<br />

Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung, Berlin 1990<br />

Opp, Karl-Dieter, Peter Voß <strong>und</strong> Christiane Gern, Die volkseigene Revolution, Stuttgart 1993<br />

Ost-/West-Diskussionsforum, hrg. von Ost-West-Gesellschaft e.V. Düsseldorf 1988-1990<br />

Pechmann, Roland / Jürgen Vogel, Abgesang der Stasi. Das Jahr 1989 in Presseartikeln <strong>und</strong> Stasi-<br />

Dokumenten, Braunschweig 1991<br />

Przybylski, Peter, Tatort Politbüro, Band 2, Berlin 1992<br />

Przybylski, Peter, Tatort Politbüro, Die Akte Honecker, Berlin 1991<br />

Rein, Gerhard (Hg.), Die Opposition in der DDR. Entwürfe für einen anderen Sozialismus, Berlin 1989<br />

550<br />

Rein, Gerhard, Die protestantische Revolution 1987-1990, Berlin 1990<br />

Richter, Johannes (1989), „Wir sind Sachsen!“, in: Rein, Gerhard (Hg.), Die Opposition in der DDR,<br />

Berlin 1989, 182-187<br />

Riecker, Ariane / Annete Schwarz / Dirk Schneider, Stasi intim. Gespräche mit ehemaligen MfS-<br />

Angehörigen, Leipzig 1990<br />

Rink, Dieter, Das alternative Milieu in Leipzig: Alternative Protestanten, linksintellektuelle Aufsteiger<br />

<strong>und</strong> Kulturoppositionelle zwischen Ausgrenzung <strong>und</strong> Etablierung (MS), Leipzig 1994<br />

Rüddenklau, Wolfgang, Störenfried. DDR-Opposition 1986-1989. Mit Texten aus den Umweltblättern,<br />

Berlin 1992<br />

Rummel, Susanne, Sankt Nikolai - Unsere Aurora? in: Müller, Manfred, Protestanten. Begegnung mit<br />

Zeitgenossen, Halle/Leipzig 1990, 152-168<br />

Schnauze!. Gedächtnisprotokolle 7. <strong>und</strong> 8. Oktober 1989, hrsg. von Berliner Verlags-Anstalt Union,<br />

Berlin 1990<br />

Schneider, Wolfgang, Oktoberrevolution 1989, in: Leipziger Demontagebuch, 5-9<br />

Schorlemmer, Friedrich, Träume <strong>und</strong> Alpträume, München 1993<br />

Selitrenny, Rita / Thilo Weichert, Das unheimliche Erbe. Die Spionageabteilung der Stasi, Leipzig 1991<br />

Sievers, Hans-Jürgen, St<strong>und</strong>enbuch einer deutschen Revolution, Göttingen 1990<br />

Singt <strong>und</strong> klingt, Liederbuch für die evangelische Jugend, hrg. vom Burckhardhaus in der DDR <strong>und</strong> vom<br />

Evangelischen Jungmännerwerk, 71981<br />

Sühnezeichen/Friedensdienste (Hg.), Ökumenische Versammlung, Dresden, Magdeburg, Dresden, Berlin<br />

1990<br />

Swoboda, Jörg (Hg.), Die Revolution der Kerzen. Christen in den Umwälzungen der DDR, Wuppertal <strong>und</strong><br />

Kassel „1990<br />

Tallig, Jürgen, Rowdys, Helden <strong>und</strong> Spaziergänger, in: Das Parlament Nr. 38/1990, 3<br />

Tammer, Josef, Ökumenische Versammlung in der DDR: Beschreibung eines Weges, in: Beiheft zur<br />

Ökumenischen R<strong>und</strong>schau 62, Franfurt/Main 1991, 113-118<br />

taz-DDR-Journal zur Novemberrevolution, Berlin 1990<br />

423


Teske, Alexander, „Das war ein Tritt von hinten“. Wie die Kirche einen Mitbegründer der Montagsdemos<br />

einfach fallen ließ, in: Leipziger Morgenpost vom 14.10.1993, 5<br />

Teske, Alexander, Ein Wende-Denkmal wackelt. Neue Vorwürfe gegen Stadtpräsident Magirius, in:<br />

Leipziger Morgenpost vom 15.10.1993, 3<br />

Tetzner, Reiner, Leipziger Ring. Aufzeichnungen eines Montagsdemonstranten, Oktober 1989 bis 1. Mai<br />

1990, Frankfurt/Main 1990<br />

Und diese verdammte Ohnmacht, Report der unabhängigen Untersuchungskommission zu den Ereignissen<br />

vom 7./8. Oktober 1989 in Berlin, Berlin 1991<br />

Unterberg, Peter, „Wir sind erwachsen, Vater Staat!“ Vorgeschichte, Entstehung <strong>und</strong> Wirkung des Neuen<br />

Forums Leipzig, Diplomarbeit. Sozialwissenschaften. Universität Bochum (MS) 1991<br />

Vogler, Werner u.a. (Hgg.), Vier Jahrzehnte kirchlich-theologische Ausbildung in Leipzig. Das<br />

Theologische Seminar / Die Kirchliche Hochschule Leipzig, Leipzig 1993<br />

Wagner, Harald (1989), Die Leute hatten Angst um ihre Kinder, in: Die Opposition in der DDR, hrg. von<br />

G. Rein, Berlin 1989, 175-181<br />

Was geschah am 9. Oktober. „Von den Arbeitern verlassen“, in: Spiegel 48/1989 (27.1 L 1989), 19-27<br />

Wende, Franziska, Revolutionserlebnisse einer Leipziger Postbotin, Amberg 1990<br />

Wendemarken. Vom Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag in, Leipzig 1989, hrg. vom Kongreß<br />

<strong>und</strong> Kirchentag in der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens o.0., o.J. [1990] Wensierski, Peter,<br />

Friedensbewegung in der DDR, in: Aus Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte, 33/1983, Nr. 17, 3-13<br />

Wensierski, Peter, Unterwegs zur „offenen Kirche“, in: Die evangelischen Kirchen in der DDR. Beiträge<br />

zu einer Bestandsaufnahme, hrg. von R. Henkys, München 1982<br />

Wensierski, Peter, Von oben nach unten wächst nichts. Umweltzerstörung <strong>und</strong> Protest in der DDR,<br />

Franfurt/Main 1986<br />

Wielepp, Christoph, Montags abends in Leipzig, in: DDR. Ein Staat vergeht, hg. von Th. Blanke <strong>und</strong> R.<br />

Erd, Frankfurt/Main 1990, 71-78<br />

Zander, Helmut, Die Christen <strong>und</strong> die Friedensbewegungen in beiden deutschen Staaten. Beiträge zu<br />

einem Vergleich für die Jahre 1978-1987 (Beiträge zur politischen Wissenschaft Bd. 54), Berlin 1989<br />

Ziemer, Christoph, Erfahrungen - Ergebnisse - Perspektiven, in: Beiheft zur Ökumenischen R<strong>und</strong>schau<br />

62, Franfurt/Main 1991, 119-124<br />

Zur Freiheit berufen. Die Kirche in der DDR als Schutzraum der Opposition<br />

1981-1989, hrsg. von Jürgen Israel, Berlin 1991<br />

Zurück zu Deutschland. Umsturz <strong>und</strong> demokratischer Aufbruch in der DDR, hrg. vom Rheinischen<br />

Merkur, Bonn 1990<br />

Zwahr, Hartmut, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig <strong>und</strong> die Revolution in der DDR, Göttingen 1993<br />

Zwischenbericht des Sonderausschusses zur Untersuchung von Amts- <strong>und</strong> Machtmißbrauch infolge der<br />

SED-Herrschaft beim Sächsischen Landtag, vom 27.05.1993 (MS)<br />

424


Personenverzeichnis<br />

Arnold, Michael (geb. 1964), Stomatologiestudium in Leipzig, Mitglied der IGL, Mitbegründer der DI<br />

<strong>und</strong> des Neuen Forums, 1990 Abgeordneter im Sächsischen Landtag für Bündnis 90/Grüne, 53, 66,<br />

104, 208<br />

Auerbach, Dieter (geb. 1933), Theologiestudium in Leipzig, 1959 Pfarrer in Seifersdorf, 1970 in<br />

Radebeu1,1973 in Meißen Superintendent <strong>und</strong> Dompfarrer, 1983 Oberkirchenrat im<br />

Landeskirchenamt, mit der Wahrnehmung der Geschäfte eines Oberlandeskirchenrates beauftragt<br />

Bächer, Heinz (geb. 1957), 1979 Theologiestudium in Leipzig, Mitglied der AG Friedensdienst, 1985<br />

Vikar <strong>und</strong> Pfarrer in Trockenborn (Thüringen)<br />

Bartels, Michael (geb. 1949), Theologiestudium, 1978 Pfarrer in Welbsleben bei Aschersleben, 1984<br />

Studentenpfarrer in Leipzig, 1992 Pfarrer in Magdeburg<br />

Becker, Bernhard (geb. 1946), 1968-1989 inoffizieller Mitarbeiter des MfS (IMS/B „Fuchs“), Mitglied der<br />

AG Friedensdienst, des AK Solidarische Kirche <strong>und</strong> verschiedener anderer Gruppen<br />

Bellmann, Rudi (geb. 1919), 1955 Mitarbeiter bzw. Stellvertretender Leiter der AG Kirchenfragen beim<br />

ZK der SED, 1977-1988 Leiter dieser Arbeitsgruppe<br />

Berger, Matthias (geb. 1942), Dr. theol., 1967 Pfarrer Versöhnungskirche Leipzig, 1976 Leipzig-<br />

Volkmarsdorf mit Dienstleistung Leipzig-Thonberg Erlöserkirche<br />

<strong>und</strong>KirchlichesFriedhofsamtLeipzig,1978-1989inoffiziellerMitarbeiterderMfS (IMB „Carl“), 1979-81<br />

Jurafernstudium an der Leipziger Universität mit Unterstützung des Rates des Bezirkes <strong>und</strong> des MfS,<br />

1981-1991 1. Pfarrer an der Erlöserkirche Leipzig-Thonberg, 1985 Dr. jur., 1986-1989 Vorsitzender<br />

des Bezirkssynodalausschusses für „Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“<br />

Biermann, Wolf (geb. 1936), Liedermacher, seit 1965 Auftrittsverbot, 1976 Ausbürgerung<br />

Bitterlich, Günther (geb. 1929), bis 1982 Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig<br />

für Inneres<br />

Boche, Karsten (geb. 1966)<br />

Bohley, Bärbel (geb. 1945), 1969-1974 Studium an der Staatlichen Kunsthochschule in Berlin,<br />

Freischaffende Malerin in Berlin, Mitglied der AG „Frauen für den Frieden“, 1983 Ausschluß aus der<br />

Bezirksleitung Berlin des Verbandes der Bildenden Künste in Berlin, 1985 Mitbegründerin der IFM,<br />

1989 Mitinitiatorin des Neuen Forums<br />

Böllmann, Wolfgang (geb. 1945), Theologiestudium, 1974 Pfarrer, 1982 Pfarrer in Leipzig-Marienbrunn<br />

Bonhoeffer, Dietrich (1906-1945), Theologiestudium in Tübingen <strong>und</strong> Berlin, 1933 Pfarrer in London,<br />

1935 Direktor des Predigerseminars Funkenwalde, 1943 Verhaftung, 1945 im KZ Flossenbürg<br />

ermordet<br />

Bootz, Andre (geb. 1963), Mitglied der IG Leben <strong>und</strong> AG Umwelttag<br />

Bormann, Maria, Mitglied des Kirchenvorstandes von St. Nikolai - St. Johannis<br />

Bornschlegel, Carola (geb. 1969), Mitglied der IG Leben<br />

Böttcher, Till (geb. 1969), Tischler, Mitarbeiter der Umweltbibliothek Berlin<br />

Brettschneider, Harald (geb. 1942), Theologiestudium, Zimmererlehre, 1969 Pfarrer inWittgendorf,1979<br />

Referent im Landeskirchenamt als Landesjugendpfarrer, 1991 Mitarbeiter der Stadtmission in Dresden<br />

Büllesbach, 1989 Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten des Stadtbezirks Südost der Stadt Leipzig<br />

Buschmann, Jörgen, 1989 Sekretär der SED-Stadtleitung Leipzig, Abteilung Agitation/Propaganda<br />

Castillo, Anke (geb. 1964), Krankenschwester, 1983 Inhaftierung<br />

Castillo, Patrik (geb. 1963), Sohn eines Dichters <strong>und</strong> Journalisten aus Guatemala, 1983 Inhaftierung<br />

Cieslak, Johannes, Ofenbaumeister, 1967-69 Präsidium der EKD-Synode, Mitglied des Lückendorfer<br />

Kreises, 1968-1983 Präsident der Sächsischen Synode, Vorsitzender der Kirchentagsausschusses der<br />

Landeskirche<br />

Conrad, Klaus (geb. 1942), Major des MfS, Leiter der Abteilung XX/4 der Bezirksverwaltung Leipzig des<br />

MfS<br />

Demele, Ernst (geb. 1940), Ingenieur, Mitglied der IGL <strong>und</strong> AGF<br />

Demke, Christoph (geb. 1935),1953-1958 Theologiestudium an der Humboldt-Universität Berlin, 1964-<br />

1977 Dozent für Neues Testament am Sprachenkonvikt Berlin, 1977-1981 Sekretär der Kommission<br />

425


für Theologie beim BEK, 1981-1983 Leiter des Sekretariats des BEK, 1983 Bischof der<br />

Kirchenprovinz Sachsen, 1986 Stellvertreter der KKL, 1990-1991 Vorsitzender der KKL<br />

Dietrich, Christian (geb. 1965), Theologiestudium in Naumburg, Leipzig <strong>und</strong> Marburg, 1983 ESG <strong>und</strong><br />

Friedensarbeitskreis Naumburg, Mitbegründer des AKSK, der DI <strong>und</strong> des Demokratischen Aufbruchs<br />

Dohle, Horst, Prof. Dr. cs. phil. (geb. 1935), 1975 persönlicher Mitarbeiter beim Staatssekretär für<br />

Kirchenfragen, 1979 Abteilungsleiter im Staatssekretariat für Kirchenfragen<br />

Dohlus, Horst (geb. 1925), 1960-1986 Leiter der Abteilung Parteiorgane beim ZK der SED, 1971 Sekretär<br />

des ZK der SED, 1980 Mitglied des Politbüros<br />

Domsch, Kurt, Dr. jur. h.c. (geb. 1928), Bauingenieur, 1960-1975 Mitglied der Sächsischen<br />

Landesssynode, 1966 Zweiter Stellvertreter des Präsidenten der Landessynode Sachsens, 1970-1975<br />

Präsident der Generalsynode der VELK in der DDR, 1975-1989 Präsident des LKA Dresden, 1977-<br />

1982 Stellvertretender Vorsitzender der KKL<br />

Döring, Hans-Joachim, Diakon an der Thomaskirche Leipzig, Mitglied IHN, 1990 Leiter von INKOTA<br />

Dusdal, Edgar (geb. 1960), Theologiestudium in Leipzig <strong>und</strong> Naumburg, 1982 Mitglied des AG<br />

Friedensdienst <strong>und</strong> der IHN, 1985 Mitbegründer des AKSK,1988/89 Vikar <strong>und</strong> Repetent am ThSL,<br />

1989/90 Sprecher des Neuen Forum Leipzig<br />

Ebeling, Hans-Wilhelm (geb. 1934), Schlosser, 1957 Studium der Theologie in Leipzig, 1962 Pfarrer in<br />

Lieberose, 1976 Pfarrer an der Thomaskirche Leipzig, 1989 Initiator der Christlich-Sozialen Partei<br />

Deutschlands, 1990 Mitbegründer <strong>und</strong> Vorsitzender der Deutschen Sozialen Union, Minister im de-<br />

Maziere-Kabinett<br />

Ebisch, Margot, Abteilung Innere Angelegenheiten, Rat des Bezirkes Leipzig, Referat Kirchenfragen<br />

Eichelbaum, Dirk, Mitglied des Kirchenvorstandes St. Nikolai - St. Johannis<br />

Eigenfeld, Katrin, Mitinitiatorin der “Christlichen Frauen für den Frieden - Halle“<br />

<strong>und</strong> des Neuen Forums, 1983 Inhaftierung wegen ihres politischen Engagements<br />

Elsässer, Ralf (geb. 1962), Ingenieur für Bauwesen, Mitglied der AG Umweltschutz<br />

Eppelmann, Rainer (geb. 1943), Maurer, 1969 Theologische Ausbildung an der Predigerschule Paulinum<br />

in Ostberlin, 1974-1989 Hilfsprediger <strong>und</strong> Pfarrer an der Samariterkirchgemeinde in Berlin, 1989<br />

Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs, 1990 Vorsitzender des Demokratischer Aufbruchs,<br />

Minister im de-Maziere-Kabinett, 1990 MdB <strong>und</strong> Stellvertretender Vorsitzender der CDU in<br />

Brandenburg, Vorsitzender der Enquete-Kommission <strong>und</strong> des CDA der CDU<br />

Eppisch, Reinhard (geb. 1935), 1980 Stellvertreter Operativ des Leiters der Bezirksverwaltung des MfS<br />

Leipzig, 1987-1989 Erster Stellvertreter des Leiters der Bezirksverwaltung des MfS Leipzig<br />

Etzold, Rolf (geb. 1928), Oberst des MfS, Leiter der Abteilung IX der Bezirksverwaltung des MfS in<br />

Leipzig<br />

Falcke, Heino, Dr. habil. theol. (geb. 1929), 1958 Pfarrer in Wegeleben, 1964 Pfarrer der EKU <strong>und</strong><br />

Dozent am Katechetischen Oberseminar Naumburg, 1964 Direktor des Predigerseminars der EKU in<br />

Gnadau, 1973 Probst in Erfurt<br />

Falk, Torsten (geb. 1958), Sozialdiakon, 1986 Mitarbeiter der Offenen Arbeit Mockau<br />

Fenzlau, Abteilung Innere Angelegenheiten, Rat der Stadt Leipzig, Referat Kirchenfragen<br />

Fischbeck, Hans-Jürgen (geb. 1938), Dr. habil., Physiker, 1987 Mitglied des Initiativkreises „Absage an<br />

Prinzip <strong>und</strong> Praxis der Abgrenzung“, 1989 Mitinitiator von Demokratie Jetzt<br />

Fischer, Hans-Friedrich (geb. 1946), Kaplan der katholischen Gemeinde Lindenau, Mitglied der<br />

Friedensgruppe Grünau-Lindenau<br />

Fischer, Johannes (geb. 1966), Krankenpfleger, Mitglied der AG Menschenrechte<br />

Fischer, Werner (geb. 1950), Mitbegründer der IFM, 1988 Verhaftung <strong>und</strong> Abschiebung nach England,<br />

1990 Regierungsbeauftragter für die Auflösung des MfS<br />

Fischer, Gerhard (geb. 1939), Oberstleutnant, Leiter der Bezirkskoordinierungsgruppe Leipzig des MfS<br />

Fleischhack, Sebastian (geb. 1959), Mitglied der AG Menschenrechte <strong>und</strong> der Arbeitsgruppe<br />

Wehrdienstfragen beim Jugendpfarramt<br />

Forck, Gottfried (geb. 1923), 1947-1951 Theologiestudium, 1952 Assistent an der Kirchlichen<br />

Hochschule Berlin, öbersiedlung in die DDR, 1954 Studentenpfarrer an der Humboldt-Universität<br />

Berlin, 1959 Pfarrer in Lautawerk (Niederlausitz), 1963 Direktor des Predigerseminars Brandenburg,<br />

426


1971 Mitglied der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg, 1973 Generalsuperintendent in Cottbus,<br />

Vizepräsident der Synode der BEK, 1981 Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg,<br />

1984-1987 Vorsitzender des Rates der EKU, 1991 Ruhestand<br />

Fritz, Reinhold (geb. 1930), Theologiestudium, 1955 Pfarrer in Kleinröhrsdorf, 1965 Landesjugendpfarrer<br />

in Sachsen, 1973 Pfarrer in Karl-Marx-Stadt <strong>und</strong> Superintendent im Kirchenbezirk Karl-Marx-Stadt,<br />

1978 Oberkirchenrat mit der Wahrnehmung der Geschäfte eines OLKR im Dresdner<br />

Landeskirchenamt<br />

Fritzsche, Klaus (1935-1992), 1953 Theologiestudium in Leipzig, 1958 Gleisbauer, 1961 Pfarrer Leipzig-<br />

Wahren, 1966 Pfarrer in Lützschena, 1977 Leipzig-Kleinzschocher Taborkirchgemeinde, 1981-1992<br />

Pfarrer in Leipzig-Grünau, Pauluskirche<br />

Führer, Christian (geb. 1943), Theologiestudium, 1968 Pfarrer in Lastau, seit 1980 Pfarrer an der<br />

Leipziger Nikolaikirche<br />

Führer, Katharina, Tochter von C. Führer<br />

Gaebler, Rainer (geb. 1938), Ingenieur, 1972 Mitglied der Sächsischen Landeskirche, 1977 synodales<br />

Mitglied der Dresdner Kirchenleitung, 1983-1984 Präsident der Sächsischen Landessynode, 1986-1990<br />

Präses der B<strong>und</strong>essynode<br />

Garstecki, Joachim (geb. 1942), Studium der katholischen Theologie, 1971 Studienreferent für<br />

Friedensfragen im Sekretariat des BEK, 1971 Mitglied des katholischen Aktionskreises Halle<br />

Gerlach, Manfred, Prof. Dr. jur. (geb. 1928), 1967-1990 Vorsitzender der LDPD<br />

Gerlach, Thomas (geb. 1964), Theologiestudium am ThSL in Leipzig, Mitglied des AKSK<br />

Gollomb, Eugen (1917-1988), 1967-88 Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde in Leipzig,<br />

wichtiger Gesprächspartner im jüdisch-christlichen Dialog<br />

Gorbatschow, Michail Sergejewitsch (geb. 1931), 1985-90 Generalsekretär des ZK der KPdSU, 1988-90<br />

Staatspräsident der UdSSR<br />

Grimm, Peter (geb. 1965), 1984 Laientheater Wühlmaus, 1986 Mitglied der IFM, Initiator <strong>und</strong> Redakteur<br />

des „grenzfall“<br />

Gröger, Wolfgang (geb. 1942), Theologiestudium, 1975 Pfarrer in Eichigt (Thüringen), 1981-1987<br />

Jugendpfarrer in Leipzig, 1987 Pfarrer in der Gedächtniskirche Leipzig-Schönefeld<br />

Grötsch, Siegfried, Mitglied des Kirchenvorstandes St. Nikolai - St. Johannis<br />

Gruender, Hans-Dieter (geb. 1930), Theologiestudium, 1953 Pfarrer in Oranienburg, 1954 Pfarrer in<br />

Zeulenroda, 1963 Pfarrer in Grimma, 1973 Pfarrer in der Apostelkirche Leipzig-Großzschocher<br />

Grünert, Wilfried (geb. 1963), Küster in der Leipziger Nikolaikirche <strong>und</strong> Mitglied des Kirchenvorstand St.<br />

Nikolai<br />

Güntherberg, Wolfgang, Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat der Stadt Leipzig, Referat<br />

Kirchenfragen<br />

Gysi, Klaus (geb. 1912), 1966-1973 Minister für Kultur, 1973-1978 Botschafter in Italien, 1979<br />

Staatssekretär für Kirchenfragen, 1988 Ruhestand<br />

Hachulla, Ulrich (geb. 1943), Maler <strong>und</strong> Graphiker in Leipzig<br />

Hackenberg, Helmut (geb. 1926), 2. Sekretär der Bezirksleitung der SED in Leipzig<br />

Hager, Kurt (geb. 1912), 1963-1989 Mitglied des Politbüros der SED, 1976-1989 Mitglied des Staatsrates<br />

der DDR, 1985-1989 Sekretär für Wissenschaft <strong>und</strong> Kultur im ZK der SED<br />

Hammermüller, Frieder (geb. 1942), 1970 Pfarrer in Sornzig, 1981 Pfarrer in Leipzig-Anger-Crottendorf<br />

Trinitatiskirche<br />

Hänisch, Gottfried (geb. 1931), Diakon, Leiter des Amtes für Gemeindedienst Leipzig, Mitglied des<br />

Landesausschusses Kongreß- <strong>und</strong> Kirchentag<br />

Hanisch, Günter (geb. 1929), Propst <strong>und</strong> Dekan an der Katholischen-St.-Trinitatiskirche in Leipzig-Mitte<br />

Hannsmann, Anke (geb. 1969), Mitglied der AG „Friedenserziehung im Vorschulalter“ <strong>und</strong> der<br />

Koordinierungsgruppe (Herbst 1989)<br />

Hartmann, Udo (geb. 1962), Mitglied der IGL,<br />

Hartmann, Manfred, Fotografiker, Mitglied des AK Gerechtigkeit<br />

Hattenhauer, Katrin (geb. 1968), Theologiestudium am Theologischen Seminar in Leipzig, 1988 Mitglied<br />

des AK Gerechtigkeit, 1989 Mitbegründerin der DI<br />

427


Haustein, Manfred, Dr. habil. theol. (geb. 1929), Theologiestudium, 1954 Pfarrer in Weißenborn, seit<br />

1957 Leiter des Wissenschaftsbereiches für Praktische Theologie an der Sektion Theologie an der<br />

KMU Leipzig, war Teilnehmer an den Gesprächsr<strong>und</strong>en des Stellv. des Vors. für Inneres des RdB mit<br />

„ausgewählten progressiven Geistlichen <strong>und</strong> Theologen“<br />

Heide, Gabriele (geb. 1958), Mitglied AG „Frauen für den Frieden“<br />

Heinrich, Peter (geb. 1940), Jurist, Hauptabteilungsleiter im Staatssekretariat für Kirchenfragen, für<br />

Sicherheitsfragen zuständig <strong>und</strong> zugleich Offizier im besonderen Einsatz des MfS<br />

Heinze, Christfried (geb. 1953), Klempner, Jugenddiakon, nachdem er 1987 einen Ausreiseantrag stellte,<br />

wurde ihm gekündigt, Hausmeister an der Friedensgemeinde Leipzig-Gohlis, Mitinitiator des<br />

„Kadenkreises“<br />

Hempel, Johannes, Dr. theol (geb. 1929), Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie <strong>und</strong><br />

Theologie in Tübingen, Heidelberg <strong>und</strong> Berlin, 1955 Pfarrer in Gersdorf, 1958 Pfarrer an der<br />

Thomaskirche in Leipzig, gleichzeitig Studieninspektor am Predigerkolleg St. Pauli, 1963<br />

Studentenpfarrer in Leipzig“ 1967 Studiendirektor am Predigerkolleg St. Pauli in Leipzig, 1972-1994<br />

Landesbischof der Sächsischen Landeskirche in Dresden, 1982-1986 Vorsitzender der KKL, 1983<br />

einer der Präsidenten des ÖRK, 1991 Stellvertretender Ratsvorsitzender der EKD<br />

Hentzschel, Sophie (geb. 1949), 1974 Pastorin in Elsterberg, 1979 Pastorin in der Gedächtniskirche<br />

Leipzig-Schönefeld, Mitglied der AG „Frauen für den Frieden“<br />

Herger, Wolfgang (geb. 1935), 1985-89 Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen des ZK der SED<br />

Herrmann, Joachim (geb. 1928), Journalist, 1978 Mitglied des Politbüros, Sekretär des ZK der SED für<br />

Agitation <strong>und</strong> Propaganda<br />

Heym, Stefan (geb. 1913), Schriftsteller, 1979 Ausschluß aus dem DDR-Schriftstellerverband<br />

Hillebrand, Jürgen, Dr. phil., Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat der Stadt, Leiter des Sektors<br />

Kirchenfragen<br />

Hinze, Klaus (geb. 1952), 1980 Sozialdiakon beim Jugendpfarramt Leipzig (Michaeliskirche),<br />

Spezialausbildung zur Arbeit mit „sozialgefährdeten Jugendlichen“<br />

Hirsch, Ralf (geb. 1960), 1986 Mitglied der IFM, 1988 Verhaftung <strong>und</strong> Abschiebung nach Westberlin,<br />

1990 Mitarbeiter im Büro des Regierenden Bürgermeisters Momper<br />

Hoffmann, Reinhard, Dr. (geb. 1938), Mitglied der sächischen Landessynode<br />

Hofmann, Kirchenmusikdirektor, Mitglied des Kirchenvorstandes St. Nikolai - St. Johannis<br />

Hollitzer, Tobias, geb. 1966, Modellbauer, Mitglied des Umweltkreis Rötha <strong>und</strong> der AG Weltumwelttag<br />

Holicki, Axel (geb. 1962), Mitglied der AG Umweltschutz <strong>und</strong> des AK Gerechtigkeit, 1988 Übersiedlung<br />

nach Westdeutschland<br />

Honecker, Erich (1912-1994), 1958-1971 ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen, 1976 Generalsekretär der<br />

SED, 1971-1989 Generalsekretär des ZK der SED, 1971-1989 Vorsitzender des Nationalen<br />

Verteidigungsrates der DDR, 1976-1989 Vorsitzender des Staatsrates der DDR<br />

Huhn, Rechtsanwältin, Mitglied der Synode des BEK <strong>und</strong> der CDU, Mitunterzeichnerin des „Weimarer<br />

Briefes“<br />

Hummitzsch, Manfred (geb. 1929), Generalleutnant, 1967-1989 Leiter der Bezirksverwaltung des MfS<br />

Leipzig<br />

Ihmels, Folkert (geb. 1928), 1958 Pfarrer in Na<strong>und</strong>orf, 1969 Rektor des Diakonenhauses in Moritzburg,<br />

1977 Dresden Landeskirchenamt als Oberkirchenrat mit der Wahrnehmung der Geschäfte eines<br />

OLKR, Stellvertreter des Landesbischofs, 1978 Mitglied des Landeskirchenamtes<br />

Irmler, Werner (geb. 1930), 1965-1989 Leiter der ZAIG des MfS, 1977 Generalmajor, 1987<br />

Generalleutnant<br />

Jahn, Martina, Mitarbeiterin des Staatssekretariats für Kirchenfragen<br />

Jahn, Roland (geb. 1953), 1976 Exmatrikulation wegen Protestes gegen die Ausbürgerung Biermanns,<br />

führendes Mitglied der Gruppe „Friedensgemeinschaft Jena“, 1983 gewaltsame Abschiebung in die<br />

B<strong>und</strong>esrepublik, Mitarbeiter bei „Kontraste“ beim SFB <strong>und</strong> freier Journalist<br />

Jakel, Walter (geb. 1944), Lehrer, Oberleutnant des MfS, 1969 operativer Mitarbeiter der Abt. XX/4 der<br />

BV Leipzig des MfS, gegen katholische Kirche <strong>und</strong> u.a. gegen Arbeitsgruppe „Friedensdienst“<br />

eingesetzt, 1975 aus ges<strong>und</strong>heitlichen Gründen wegen Wehruntauglichkeit aus dem MfS-Dienst<br />

428


entlassen, 1975 Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat des Bezirkes Leipzig, Leiter des Sektors<br />

Kirchenfragen, 1980 GMS „Rat“ der Abt. XX/4 der BV Leipzig des MfS<br />

Jankowski, Martin (geb. 1965), Bibliothekar <strong>und</strong> Liedermacher, Mitarbeiter der Kontaktgruppe<br />

Jarowinsky, Werner (1927-1990), 1957-1963 Mitarbeiter im Ministerrat für Handel, 1963-1984 Mitglied<br />

des ZK, 1984-1989 Mitglied des Politbüros, 1984 ZK-Sekretär, auch zuständig für Kirchenfragen,<br />

1989/1990 Vorsitzender der SED-PDS Volkskammerfraktion<br />

Kaden, Klaus (geb. 1951), Theologiestudium, 1979 Pfarrer in Ottendorf, 1987 Jugendpfarrer im<br />

Jugendpfarramt Leipzig, 1990 Pfarrer an der Michaeliskirche Leipzig<br />

Kahl, Hanna (geb. 1925), 1940-1950 Mitarbeit im elterlichen Landwirtschaftsbetrieb, 1951/52 Ausbildung<br />

am Seminar für kirchlichen Frauendienst, Berlin, 1960-1975 Leiterin der „Arbeit auf dem Lande“ der<br />

Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, 1976 Sekretärin des Landesausschusses für<br />

Kongreß- <strong>und</strong> Kirchentag<br />

Kähler, Christoph, Prof. Dr. theol. (geb. 1944), 1977 Pfarrer in der Lukaskirche Leipzig-Reudnitz, 1981<br />

Dozent am Theologischen Seminar Leipzig, 1986-1988 Rektor<br />

Kallenbach, Gisela (geb. 1944), Chemieingenieur, 1984 Mitglied der AG Umweltschutz, 1990 Referentin<br />

für Umweltfragen bei RdS Leipzig<br />

Kamilli, Karl-August (geb. 1945), Geophysiker, Mitglied der AG Friedensdienst, Mitbegründer SDP in<br />

Leipzig, 1990 Stellvertretender Vorsitzender der SDP<br />

Kämpf, verh. Leukert, Ute (geb. 1954), Antiquitätenhändlerin, Mitglied der AG „Frauen für den Frieden“<br />

Kienberg, Generalmajor, Leiter der HA XX des MfS<br />

Kind, Steffen (geb. 1952), Dr.-Ing., Mitglied des AK Gerechtigkeit<br />

Kirchner, Martin (geb. 1949), 1973-1975 Mitarbeiter im Hauptvorstand der Ost-CDU, 1975 Jurist im<br />

Kreiskirchenamt Gera, 1981 Kreiskirchenrat in Gera, Mitglied der Synode Thüringens, der B<strong>und</strong>es-<br />

<strong>und</strong> der VELK-Synode, 1987-1989 Juristischer OKR in Thüringen, 1989/1990 Generalsekretär der<br />

Ost-CDU, 1990 Mitglied der Volkskammer, Enttarnung als inoffizieller Stasi-Mitarbeiter<br />

Klenk, Gerd, Ingenieur für Elektroprojektion, Mitglied des Friedenskreises Gohlis <strong>und</strong> des BSA<br />

Klier, Freya (geb. 1950), Freischaffende Theaterregisseurin, Mitarbeit in den AK „Kirche von Unten“ <strong>und</strong><br />

„Solidarische Kirche“, 1988 Verhaftung <strong>und</strong> Ausweisung aus der DDR, Publizistin<br />

Koch, Jens (geb. 64), Elektriker, Studium der Theologie am ThSL<br />

Körner, Detlef (geb. 1962), Mitglied der AG Umweltschutz <strong>und</strong> der IG Leben, Mitinitiator des 1.<br />

Pleißemarsches<br />

Kowasch, Fred (geb. 1965), Mitglied der AGU <strong>und</strong> IGL, Organisator eines autonomen Cafes, Januar 1989<br />

inhaftiert wegen Rede zur Demonstration am 15.01.1989, 1989 Übersiedlung nach Westberlin,<br />

Journalist<br />

Kraußer, Peter, Mitarbeiter des Zentralrates der FDJ, 1989 Leiter der AG Kirchenfragen beim ZK der<br />

SED<br />

Krawczyk, Stefan (geb. 1955), Liedermacher, 1985 Auftrittsverbot, 1988 Inhaftierung <strong>und</strong> Ausbürgerung<br />

Krenz, Egon (geb. 1937), 1974 1. Sekretär des Zentralrates der FDJ, 1983-1989 Mitglied des Politbüros<br />

<strong>und</strong> ZK-Sekretär für Sicherheit sowie Jugend <strong>und</strong> Sport, 1989 1.Sekretär des ZK, Vorsitzender des<br />

Nationalen Verteidigungsrates <strong>und</strong> Vorsitzender des Staatsrates der DDR<br />

Kretzschmar, Gottfried, Prof. Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Sektion Theologie der<br />

KMU Leipzig<br />

Krumbholz, Gerd (geb. 1945), Theologiestudium, 1972 Pfarrer Heiligkreuzkirche Leipzig, 1976 Pfarrer<br />

Michaeliskirchgemeinde, 1990 Pfarrer im Evangelisch-Lutherischen Diakonissenhaus<br />

Krusche, Günter, Dr. theol (geb. 1931), 1956 Pfarrer in Taucha bei Leipzig, 1959 Pfarrer an der<br />

Johanniskirche in Dresden, 1968 Referent im LKA Dresden, 1974 Studieninspektor am<br />

Predigerseminar Lückendorf, 1977 Vorsitzender der Studienkommission des Lutherischen Weltb<strong>und</strong>es,<br />

1983 Generalsuperintendent in Berlin, 1993 Ruhestand<br />

Krusche, Werner, Dr. theol. (geb. 1917), Theologiestudium, 1954 Pfarrer an der Auferstehungskirche in<br />

Dresden, 1958 Studiendirektor am Predigerseminar Lückendorf, 1966 Dozent für Systematische<br />

Theologie am ThSL, 1968 Bischof der Kirchenprovinz Sachsen <strong>und</strong> zugleich Domprediger in<br />

Magdeburg, 1976-1979 Vorsitzender des Rates der EKU-Bereich DDR, 1981-1982 Vorsitzender der<br />

429


KKL, 1983 Ruhestand.<br />

Kühn, Ulrich (geb. 1932), Prof. Dr. theol., 1969 Dozent am ThSL, später auch Prof. in Wien, 1988-90<br />

Rektor des ThLS<br />

Kunze, Michael, Dr. (geb. 1944), Mitglied des AK Gerechtigkeit<br />

Kurzke, Leiter der Abtl. IA beim Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Leipzig<br />

Läßig, Jochen (geb. 1961), Theologiestudium 1983-1985 in Halle, 1985-1988 am ThSL, 1988<br />

Mitbegründer des AK Gerechtigkeit, Mitinitiator des „Straßenmusikfestivals“, seit 1990<br />

Fraktionsvorsitzender Bündnis 90/Grüne in Leipzig<br />

Lehnert, Anne-Kathrin (geb. 1965), Mitglied des Gemeindekirchenvorstandes von St. Nikolai - St.<br />

Johannis <strong>und</strong> von „Frauen für den Frieden“<br />

Leich, Werner, Dr. theol. h.c. (geb. 1927), 1954 Pfarrer in Wurzbach/Thüringen, 1966-77 Vorsitzender<br />

der Lutherischen Bekenntnisgemeinschaft in Thüringen, 1967-1978 Vizepräsident der Synode<br />

Thüringens, 1969 Superintendent in Lobenstein, seit 1978 Bischof von Thüringen, 1984-1986<br />

Leitender Bischof der VELK in der DDR, 1986-1990 Vorsitzender der KKL<br />

Lewek, Christa (geb. 1927), Germanistikstudium, 1958 Eintritt in den Dienst der EKD, 1969<br />

Oberkirchenrätin im Sekretariat des BEK, 1988 Ruhestand<br />

Liebknecht, Karl (1871-1919), Sozialdemokratischer Reichtagsabgeordneter, Mitbegründer der KPD<br />

Löffler, Kurt (geb. 1932), 1973-1988 Staatssekretär im Ministerium für Kultur, 1980-1983 Sekretär des<br />

Staatlichen Lutherkomitees, 1988/89 Staatsekretär für Kirchenfragen, 1991 Direktor für Marketing,<br />

Werbung <strong>und</strong> Öffentlichkeit im ostdeutschen Sparkassen- <strong>und</strong> Giroverband<br />

Lohmann, Jürgen (geb. 1944), Mitglied der AGF, inoffizieller Mitarbeiter des MfS (IMB „Junge“)<br />

Lösche, Martin (geb. 1941), 1967 Pfarrer in Oberfrankenheim, 1978 Pfarrer in der St.-Laurentiuskirche<br />

Leipzig-Leutzsch<br />

Loyal, Stellvertreter des Stadtbezirksbürgermeisters für Inneres des Stadtbezirks Mitte in Leipzig<br />

Ludwig, Andreas (geb. 1963), Mitglied des AKG <strong>und</strong> der Bezirkssynode Leipzig-Ost<br />

Luther, Martin (1483-1546), deutscher Reformator<br />

Lux, Petra (geb. 1956), Journalistin, Frauen für den Frieden, Sprecherin des Neuen Forums<br />

Luxemburg, Rosa (1870-1919), Mitbegründerin der KPD<br />

Magirius, Friedrich (geb. 1930), Theologiestudium, 1955 Pfarrer am Diakonissenhaus in Moritzburg,<br />

1958 Pfarrer in Einsiedel, 1974 Pfarrer in der Kreuzkirche Berlin, Leiter der Aktion Sühnezeichen<br />

Berlin, 1982 Superintendent des Kirchenbezirkes Leipzig-Ost, 1990-1994 Stadtpräsident von Leipzig<br />

Masur, Kurt, Prof. Dr. h.c. (geb. 1927), Dirigent, 1970 Gewandhauskapellmeister<br />

Mayer, Kurt, Sekretär der SED-Bezirksleitung Leipzig<br />

Michael, Klaus (geb. 1935), 1960 Pfarrer in Thallwitz, 1967 Pfarrer in Wurzen, 1981 Pfarrer an der<br />

Pauluskirche Leipzig-Grünau<br />

Mielke, Erich (geb.1907), 1950-1989 Mitglied des ZK der SED, 1957-1989 Minister für Staatssicherheit<br />

der DDR, 1976-1989 Mitglied des Politbüros des ZK der SED<br />

Mihm, Christa (geb. 1957), freischaffende Sängerin (jüdische Lieder, Ragtime <strong>und</strong> Flamengo)<br />

Mittag, Günter (1926-1994),1966 Mitglied des Politbüros, 1976 Sekretär des ZK der SED für Wirtschaft,<br />

1984 Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR<br />

Mittig, Rudi (geb. 1925), zuletzt Generaloberst des MfS, 1956-1964 Leiter der BV Potsdam des MfS,<br />

1964-1970 Leiter der HA XVIII, 1970-1989 Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit<br />

Moritz, Brigitte (geb. 1954), Mitglied der AG Friedensdienst <strong>und</strong> der „Frauen für den Frieden“,<br />

Gemeindehelferin in der Lukasgemeinde, 1991/92 Geschäftsführerin der Stiftung „R<strong>und</strong>er Tisch“ e.V.<br />

Moritz, Hans (geb. 1926), Prof. Dr. theol., 1961 Direktor des Religionssoziolgischen Instituts der<br />

Universität Leipzig, 1991 Emeritierung, Enttarnung als inoffizieller Mitarbeiter des MfS<br />

Motzer, Christoph (geb. 1963), Mitglied AG Menschenrechte <strong>und</strong> der Offenen Arbeit Mockau<br />

Mühlmann, Sieghart, Dr. theol. (geb. 1942), 1980 Pfarrer an der Gedächtniskirche Leipzig-Schönefeld,<br />

Mitglied des Ausschusses Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft des BEK, 1989/90 Bürgerkomitee zur Auflösung<br />

des MfS<br />

Müller, Andreas (geb. 1955), Theologiestudium, Repetent am ThSL, Mitglied des AKSK <strong>und</strong> des AK<br />

Gerechtigkeit <strong>und</strong> Ökumene, Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs, 1990 Stadtrat in Leipzig<br />

430


Müller, Axel, Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat der Stadt Leipzig, Bereichsleiter Kirchenfragen<br />

Müller, Dieter (geb. 1943), Oberstleutnant, Stellvertretender Leiter der Bezirksverwaltung Leipzig des<br />

MfS (Operativ)<br />

Müller, Rainer (geb. 1963), Maurer, 1988-89 Theologiestudium am ThSL, Mitglied des AK Gerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> des AK Solidarische Kirche, Mitbegründer der IFM Leipzig<br />

Munkwitz, Karl (geb. 1933), Stellvertreter des Bezirksstaatsanwaltes in Leipzig<br />

Münnich, Udo (geb. 1945), Mitglied der CFK, 1982 inoffizieller Mitarbeiter des MfS<br />

Natho, Eberhard (geb. 1932), Theologiestudium in Greifswald, 1961 in Güsten, 1961-1971<br />

Stadtverordneter in Staßfurt (zuletzt für die CDU), 1970 Kirchenpräsident der Evangelischen<br />

Landeskirche Anhalt, 1971 zugleich Pfarrer in der St. Georg-Kirche in Dessau, Mitglied der KKL <strong>und</strong><br />

des Rates der EKU, 1979/80 Ratsvorsitzender der EKU<br />

Neiber, Gerhard (geb. 1929), 1953-1961 Abteilungsleiter in der BV Schwerin des MfS, 1961-1980 Leiter<br />

der BV Frankfurt/Oder, 1980-1989 Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit<br />

Nitzsche, Helmut (geb. 1940), Mitglied der AGF<br />

Nowak, Kurt, Prof. Dr. theol. Dr. phil. (geb. 1942), Prof. für Kirchengeschichte an der Leipziger<br />

Universität<br />

Oehler, Bernd (geb. 1960), Theologiestudium am ThSL, Mitglied des AKG <strong>und</strong> des AKSK, 1992 Pfarrer<br />

in Wermsdorf<br />

Oltmanns, Gesine (geb. 1965), 1988 Mitglied der AKG, 1989 Mitglied des Ausreisekreises der IG Leben<br />

<strong>und</strong> Mitinitatorin der DI, 1991 Mitarbeiterin in der Gauck-Behörde<br />

Opitz, Rolf (geh. 1929), 1949 Pressereferent im Ministerium für Volksbildung, 1955 Stellvertretender<br />

Vorsitzender des Rates des Stadt Görlitz, 1958 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises<br />

Riesa, 1962 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Dresden, 1971 Stellvertretender<br />

Leiter der Instrukteurabteilung beim Vorsitzenden des Ministerrates, 1974-1989 Vorsitzender des<br />

Rates des Bezirkes Leipzig<br />

Packmohr, Horst (geb. 1950), Stadtrat für Umweltschutz <strong>und</strong> Wasserwirtschaft beim Rat der Stadt Leipzig<br />

Penno, Doreen (geb. 1965), Chemielaborantin, Gemeindehelferin, 1988/89 Mitglied des AKG, Leiterin<br />

des Ausreisekreises, Mitte 1989 als inoffizielle Mitarbeiterin des MfS enttarnt (IMB „Maria“)<br />

Petersohn, Thomas (geb. 1950), 1968-1989 inoffizieller Mitarbeiter des MfS, 1984-1990 Küster der<br />

Nikolaikirche<br />

Petzold, Martin, Dr. theol. (geb. 1946), 1973 Doz. für Systematische Theologie, Stellvertretender Direktor<br />

für Erziehung <strong>und</strong> Ausbildung an der KMU Leipzig, Sektion Theologie<br />

Pohler, Georg, Dr.-Ing., Mitglied des Friedenskreises Grünau-Lindenau<br />

Pommert, Jochen (geb. 1929), Sekretär der SED-Bezirksleitung Leipzig für Agitation <strong>und</strong> Propaganda<br />

Pörner, Ursula, Mitglied des Kirchenvorstandes St. Nikolai<br />

Prag, Joachim, 1. Sekretär der Stadtleitung Leipzig der SED<br />

Quester, Roland (geb. 1965), führendes Mitglied der AG Umweltschutz, 1989 Mitbegründer der<br />

Umweltgruppe Ökolöwe<br />

Rachwalski, Bernhard, katholischer Pfarrer von St. Laurentius (Leipzig-Thonberg)<br />

Radicke, Andreas (geb. 1963), Mitglied der IGL, 1989 Hausmeister der Lukasgemeinde<br />

Ramson, Lutz, Mitglied des Kirchenvorstandes St. Nikolai - St. Johannis Rathenow, Lutz (geb. 1952),<br />

Schriftsteller, Autor mehrerer Bücher, die in der DDR nicht erscheinen konnten<br />

Rau, Johannes (geb. 1924), 1963 Pfarrer in Schneeberg, 1972 Superintendent in Freiberg <strong>und</strong> Pfarrer am<br />

Freiberger Dom, 1981-01.09.1989 OKR im Landeskirchenamt Dresden<br />

Reagen, Ronald (geb. 1911), 1967-1975 Gouverneur von Kalifornien, 1980-1988 Präsident der USA<br />

Reinhardt, Karl-Heinz (geb. 1936), Offizier im besonderen Einsatz des MfS, Leiter der Abteilung<br />

Sicherheit der SED-BL Leipzig<br />

Reitmann, Hartmut, Dr. jur. (geb. 1951), 1982-1990 Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des<br />

Bezirkes Leipzig für Innere Angelegenheiten<br />

Richter, Frank (geb. 1966), Maschinen- <strong>und</strong> Anlagenschlosser, Mitglied des Jugendkonventes <strong>und</strong> der AG<br />

Menschenrechte<br />

Richter, Johannes (geb. 1934), 1952 Theologiestudium in Leipzig, 1958 Pfarrer in Schneeberg, 1961<br />

431


Pfarrer in Grünhain, 1970 Pfarrer in der Trinitatiskirchgemeinde Dresden-Johannstadt, 1976<br />

Superintendent des Kirchenbezirkes Leipzig-West <strong>und</strong> Pfarrer an der Thomaskirche<br />

Rosentreter, Claus (geb. 1933), Leiter der Arbeitsgruppe beim Leiter der Bezirksverwaltung des MfS<br />

Leipzig (AGL), 1990 Regierungsvertreter im Komitee zur Auflösung MfS/AfNS im Bezirk Leipzig,<br />

1993 Mitarbeiter einer Werbeagentur<br />

Rothe, Aribert (geb. 1952), Pfarrer an der Michaeliskirche Leipzig, Vorsitzender der Evangelischen<br />

Erwachsenenbildung in Thüringen<br />

Rudolph, Thomas (geb. 1963), Studium der Theologie in Halle <strong>und</strong> am ThSL, 1988 Mitbegründer des AK<br />

Gerechtigkeit <strong>und</strong> Mitglied des AK Solidarische Kirche, 1989 Mitbegründer der IFM Leipzig, 1992<br />

Leiter des „Forschungszentrums zu den Verbrechen des Stalinismus“ in Dresden<br />

Sabatowska, Rudolph (geb.1935), Diplom-Ökonom, Stellvertreter des Oberbürgermeisters <strong>und</strong> Stadtrat für<br />

Inneres Rat der Stadt Leipzig<br />

Saarstedt, Wolfgang (geb. 1961), 1980/81 in der offenen Jugendarbeit engagiert, inoffizieller Mitarbeiter<br />

der Kriminalpolizei, 1986 inoffizieller Mitarbeiter des MfS, 1988 Mitglied der AGM, 1989<br />

Aufkündigung der Zusammenarbeit mit dem MfS <strong>und</strong> Mitarbeit in der DI<br />

Schade, Beate (geb. 1965), Theologiestudium am ThSL, Mitglied des AK Solidarische Kirche<br />

Scharf, Kurt, Dr. theol. (1902-1990), 1951 kommissarischer Pfarrer an der Marienkirche in Ostberlin,<br />

1961 Verweser des Bischofsamtes des Ostbereichs von Berlin-Brandenburg, Ende August 1961<br />

Ausweisung gen Westberlin, 1961-1967 Ratsvorsitzender der EKD, 1966-1967 Bischof von Berlin-<br />

Brandenburg (bzw. Westberlin), 1980-1984 Vorsitzender der Aktion Sühnezeichen<br />

Scheffke, Siegbert (geb. 1959), Bauingenieur, 1986 Umweltbibliothek Berlin, Fotograf <strong>und</strong><br />

Vidoekameramann für „arche“ <strong>und</strong> anderer oppositioneller Gruppen, Fernseh-Journalist<br />

Schleinitz, Gottfried, Dr. theol. (geb. 1938), 1962 Pfarrer in Wilkau-Haßlau, 1970 Jugendpfarramt<br />

Leipzig, 1977 Pfarrer an der Gnadenkirche Leipzig-Wahren, CFK Basisgemeinde Leipzig-Wahren<br />

zusammen mit Pf. Weiß, Studiendirektor des Predigerkollegs St. Pauli<br />

Schlichter, Eberhard (geb. 1938), 1984-1990 OLKR im LKA Dresden <strong>und</strong> Stellvertreter des Präsidenten<br />

Schmidt, Norbert (geb. 1928), Oberst, Leiter der Kreisdienststelle Leipzig-Stadt des MfS<br />

Schnabel, Hubert, 2. Sekretär der SED-Stadtleitung Leipzig<br />

Schnur, Wolfgang (geb. 1944), 1973 Diplomjurist, Rechtsanwalt, Mitglied der Synode der Ev. Kirche in<br />

Mecklenburg, juristischer Berater für Wehrdienstverweigerer innerhalb der ev. Kirche, inoffizieller<br />

Mitarbeiter des MfS (IMB „Torsten“), 1989 Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs<br />

Schöne, Gerhard (geb. 1948), Liedermacher<br />

Schöne, Stefan, Vorsitzender des Landesjugendkonvents der Ev.-Lutherischen Landeskirche Sachsens<br />

Schönerstedt, Michael (geb. 1953), Leutnant des MfS in der KD Leipzig-Stadt<br />

Schönherr, Albrecht (geb. 1911), 1936 Ordination in Berlin-Dahlem, 1967 Verwalter des Bischofsamtes<br />

in Berlin-Brandenburg (Region Ost), 1969-1981 Vorsitzender der KKL, 1972 Bischof von Berlin-<br />

Brandenburg<br />

Schorlemmer, Friedrich (geb. 1944), 1971 Jugend- <strong>und</strong> Studentenpfarrer in Merseburg, 1978 Dozent am<br />

Ev. Predigerseminar Wittenberg <strong>und</strong> Prediger an der dortigen Schloßkirche, 1989 Mitbegründer des<br />

Demokratischen Aufbruchs, 1990 Fraktionsvorsitzender der SPD in Wittenberg, 1991 Studienleiter der<br />

Ev. Akademie Sachsen-Anhalt<br />

Schreiber, Uwe (geb. 1947), 1974 Pfarrer in Mahlis, 1981 Pfarrer an der Markuskirche in Leipzig-<br />

Reudnitz, 1988 Pfarrer in der St. Nikolai-St. Thomaskirchgemeinde in Chemnitz<br />

Schubert, Gotthold (geb. 1928), 1952 Pfarrer in Markkleeberg/Großstädteln<br />

Schulze, Horst (geb. 1935), 1959 Pfarrer in Flöha, 1962 Pfarrer in Wermsdorf, 1971 Pfarrer in<br />

Hohenstein-Erntstthal, 1980 Superintendent des Kirchenbezirkes Wurzen<br />

Schumann, Horst (geb. 1924), Erster Sekretär der Bezirksleitung der SED in Leip“ zig<br />

Schwabe, Uwe (geb. 1962), Instandhaltungsmechaniker, 1984 Mitglied des AGU, 1987 Mitbegründer der<br />

IG Leben, Mitglied der AG Menschenrechte, 1991-1993 Mitarbeiter im Archiv Bürgerbewegung e.V.<br />

Leipzig<br />

Schwanitz, Wolfgang (geb. 1930), 1974 Leiter der BV Berlin des MfS, 1985 Stellvertreter des Ministers,<br />

1989 Leiter der Amtes für Nationale Sicherheit<br />

432


Seidel, Bernd (geb. 1929), Dr., 1979-1984 Stadtbezirksbürgermeister Leipzig-Mitte, 1984-1986 1.<br />

Stellvertreter des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig, 1986-1989 Oberbürgermeister der Stadt<br />

Leipzig<br />

Seidel, Rudolf (geb. 1932), Oberstleutnant, Leiter des Büros des Leiters der BV Leipzig des MfS<br />

Sellentin, Frank (geb. 1965), Zimmermann, Mitglied der AG Umweltschutz, 1987 Mitbegründer der IGL,<br />

Firma für Lehmbau<br />

Sengewald, Matthias (geb. 1955), Bezirksjugendwart im Jugendpfarramt Leipzig, Mitglied der AG<br />

Friedensdienst<br />

Setzepfand, Stadtbezirksbürgermeister Stadtbezirk Mitte<br />

Sievers, Hans-Jürgen (geb. 1943), Mechaniker, 1962 Studium an der Predigerschule Paulinum in Berlin,<br />

1968 Pfarrer der reformierten Gemeinde Bergholz bei Pasewalk, 1974 Pfarrer in der evangelischreformierten<br />

Kirche in Leipzig, 1983 Vorsitzender des Kirchenb<strong>und</strong>es evangelisch-reformierter<br />

Gemeinden in der DDR, 1984 Schriftleiter des Monatsblattes „Friede <strong>und</strong> Freiheit“<br />

Sinagowitz, Oberst der Volkspolizei<br />

Sindermann, Horst (1915-1990), 1967-1989 Mitglied des Politbüros des ZK der SED, 1973-1976<br />

Vorsitzender des Ministerrates <strong>und</strong> 1976-1989 Präsident der Volkskammer <strong>und</strong> Stellvertretender<br />

Staatsratsvorsitzender<br />

Sonntag, Frank-Wolfgang (geb. 1961), 1988 Mitglied des AKG, 1988 Übersiedlung in die<br />

B<strong>und</strong>esrepublik, Journalist<br />

Sorgenicht, Klaus (geb. 1923), 1954-89 Leiter der Abteilung Staats- <strong>und</strong> Rechtsfragen des ZK der SED<br />

Steinbach, Walter-Christian, Pfarrer in Rötha bei Leipzig, 1983 Begründer des Röthaer Umweltseminars,<br />

heute Regierungspräsident von Leipzig<br />

Stellmacher, Rainer-Lutz (geb. 1956), Anfang der 80er Jahre Fotographiestudent an der Hochschule für<br />

Graphik <strong>und</strong> Buchkunst in Leipzig, Mitglied der AG Friedensdienst<br />

Stiehler, Karl-Heinz (geb. 1943), Pfarrer der Ev.-Luth. Freikirche in Leipzig<br />

Stier, Christoph (geb.1941),1970 Pfarrer in Rostock Lütten-Klein, 1976-1984 Mecklenburgischer<br />

Landespastor für Weiterbildung <strong>und</strong> Akademietätigkeit, Mitglied der Synode des BEK, Synodales<br />

Mitglied der KKL, 1981 Vorsitzender des Studienauschusses der theol. Studienabteilung des BEK,<br />

1984 Landesbischof von Mecklenburg<br />

Stolpe, Manfred (geb. 1936), 1962-1969 Juristischer Oberkonsistorialrat im Konsistorium der DDR-<br />

Region der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg, 1967-1989 inoffizieller Mitarbeiter des MfS, 1969-1982<br />

Leiter des Sekretariats des BEK, 1982-1990 Präsident des Konsistoriums der Berlin-<br />

Brandenburgischen Kirche, Stellvertretender Vorsitzender des B<strong>und</strong>es der Ev. Kirchen in der DDR,<br />

seit 1990 Ministerpräsident von Brandenburg<br />

Stoph, Willi (geb. 1914), 1950-1989 Mitglied des ZK der SED <strong>und</strong> Mitglied der Volkskammer, 1953-<br />

1989 Mitglied des Politbüros des ZK der SED, 1964-1973 <strong>und</strong> 1976-1989 Vorsitzender des<br />

Ministerrates, 1973-1976 Vorsitzender des Staatsrates<br />

Straßenburg, Gerhard, Chef der BDVP<br />

Strenger, Major, ab Februar 1989 Leiter der Abteilung XX der BV Leipzig des MfS<br />

Synkowski, Uwe (geb. 1967), Mitglied der AGM<br />

Turek, Rolf-Michael (geb. 1949), 1981 Pfarrer im Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie Leipzig-Dösen,<br />

1984 Pfarrer im Markuspfarramt Leipzig<br />

Unger, Anita (geb. 1965), 1984 Mitglied der „Frauen für den Frieden“, 1988 Mitglied der IG Leben,<br />

Sozialarbeiterin<br />

Urbaneck, Heinz, Mitglied der Bezirksleitung der SED, Leiter der Abteilung Staat <strong>und</strong> Recht<br />

Ventzke OP, Bernhard, Pater, 1988 Kaplan an St. Martin in Leipzig-Grünau<br />

Vollbach, Ekkehard (geb. 1939), 1965 Pfarrer an der St. Nicolaikirche in Aue, 1975 Pfarrer in der<br />

Heilandkirchgemeinde Leipzig-Plagwitz, 1987 Superintendent im Kirchenbezirk Borna bei Leipzig<br />

Wagner, Harald, Prof. Dr. theol (geb. 1950), Sportlehrer im Hochschuldienst, Inhaftierung,<br />

Theologiestudium, Pfarrer in Holzhausen bei Leipzig, Repetent am ThSL, Mitglied des<br />

Fortsetzungsausschusses des AKSK, 1993 Professor an der Ev. Fachhochschule Dresden<br />

Waldhell, Leiter des Referates XX/2 der KD Leipzig-Stadt des MfS<br />

433


Wallner, Oberstleutnant des MfS, bis 1989 Leiter der Abteilung XX der BV Leipzig des MfS<br />

Walter, Stefan (geb. 1965), Elektriker, Mitglied der Koordinierungsgruppe (1989)<br />

Walther, Katrin (geb. 1970), Mitglied des Jugendkonventes, der AG Umweltschutz, des AK Gerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> der AG Menschenrechte<br />

Weidel, Gotthard (geb. 1947), 1975 Pfarrer in Kahnsdorf, 1984 Pfarrer in der Friedenskirche in Leipzig-<br />

Gohlis, Mitglied der Friedensgruppe Gohlis<br />

Weismann, Bernhard (geb. 1942), Bezirksjugendwart, 1983 Ephoralvikar Leipzig-West, 1984 Pfarrdiakon<br />

in Störmthal bei Leipzig<br />

Weismannm, Ruth (geb. 1948), Bezirksjugendwartin im Jugendpfarramt Leipzig<br />

Wenzel, Hartmut (geb. 1941), Superintendent von Altenburg bis Nov. 1988, danach Oberpfarrer in<br />

Themar<br />

Winterstein, Dr., Kinderarzt, Mitarbeiter bei der Umweltorganisation „arche“<br />

Wirth, Klaus (geb. 1953), Mitglied des Kadenkreises<br />

Wolf, Helmut (geb. 1938), Mitglied des AK Bausoldaten <strong>und</strong> der AGF<br />

Wolf, Matthias (geb. 1956), Theologiestudent am ThSL, Mitglied des AK Solidarische Kirche<br />

Wonneberger, Christoph (geb. 1944), 1973 Pfarrer an der Thomaskirche in Leipzig, 1977-1984 Pfarrer an<br />

der Weinbergskirche in Dresden, Mitbegründer der Initiative „Sozialer Friedensdienst“, 1985-1991<br />

Pfarrer an der Lukaskirche Leipzig, Begründer der AGM<br />

Wötzel, Roland (geb. 1938), 1. Sekretär der SED-Stadtleitung Leipzig, 1988/89: 2. Sekretär der SED-<br />

Bezirksleitung<br />

Wugk, Manfred (geb. 1934), 1959 Pfarrer in Niedercunnersdorf, 1975 Pfarrer an der<br />

Christuskirchgemeinde in Leipzig-Eutritzsch, 1990 Leiter des Katharinenhofes in Großhennersdorf<br />

Ziegler, Martin, 1958 Pfarrer, 1981-1991 Leiter der Sekretariats der BEK, 1989 einer der Moderatoren des<br />

Zentralen R<strong>und</strong>en Tisches<br />

Ziegs, Michaela (geb. 1970), Mitglied der IG Leben<br />

Ziemer, Christoph (geb. 1941), 1968 Hilfsgeistlicher <strong>und</strong> Pfarrer in Pirna, 1972 Studiendirektor <strong>und</strong><br />

Gemeindepfarrer in Lückendorf, 1974 Leiter der Theologischen Studienabteilung beim BEK, 1980<br />

Superintendent in Dresden-Mitte <strong>und</strong> zugleich Pfarrer an der Kreuzkirche, Initiator des Konziliaren<br />

Prozesses in der DDR als Leiter des Dresdner „Stadtökumenekreises“<br />

Zimmermann, Peter (geb. 1944), bis 1990 Dozent für Ökumenik an der Sektion Theologie der KMU<br />

Leipzig, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Christliche Kreise beim Stadtausschuß Leipzig der Nationalen<br />

Front, inoffizieller Mitarbeiter des MfS (IMB „Karl Erb“)<br />

Zweynert, Peter (geb. 1943), OLKR im LKA Dresden<br />

434


Abkürzungsverzeichnis<br />

Editorische Zeichen<br />

[?] vorhergehendes Wort nicht sicher zu entziffern<br />

[...] Weglassungen durch die Herausgeber oder Materialgeber [gez.] gezeichnet von:<br />

[sic!] Hinweis auf einen Fehler im Original<br />

[/] Zeilenwechsel, der durch die Herausgeber nicht übernommen wurde<br />

Abkürzungen<br />

AB Arbeitsbuch. Zur Sicherung der Dienstgeheimnisse waren z.B. die Mitarbeiter des MfS<br />

oder der Abt. Innere Angelegenheiten verpflichtet, Informationen, die dem<br />

Dienstgeheimnis unterlagen, nur in personengeb<strong>und</strong>enen Arbeitsbüchern festzuhalten.<br />

Formal hätte vor jeder Sitzung eine Kontrolle der verwendeten Verschlußsachen-<br />

Arbeitsbücher <strong>und</strong> deren Registrierung stattfinden müssen.<br />

ABL Archiv Bürgerbewegung Leipzig<br />

Abt. Abteilung<br />

Abt. IX Untersuchungsabteilung des MfS<br />

Abt. VIII Beobachtungs- <strong>und</strong> Ermittlungsabteilung des MfS<br />

Abt. XII Speicher <strong>und</strong> Archiv des MfS<br />

Abt. XX Abteilung der BV des MfS zur Überwachung des Staatsapparates, der Kultur, der<br />

Kirchen (XX/4) <strong>und</strong> politisch alternativer Personen <strong>und</strong> Gruppierungen (u.a. XX/9)<br />

AG Arbeitsgruppe<br />

AGF Arbeitsgruppe Friedensdienst (s. S. 496)<br />

AGL Arbeitsgruppe des Leiters der Bezirksverwaltung des MfS (war u.a. für die<br />

Vorbereitung der Mobilmachung zuständig)<br />

AGM Arbeitsgruppe Menschenrechte (s. S. 496)<br />

AGU Arbeitsgruppe Umweltschutz (s. S. 497)<br />

AIM Abgelegte Akte eines inoffiziellen Mitarbeiters AK Arbeitskreis<br />

AKF Arbeitskreis bzw. Arbeitsgruppe Friedensdienst (s. S. 496)<br />

AKG Arbeitskreis Gerechtigkeit (s. S. 498)<br />

AKG Auswertungs- <strong>und</strong> Kontrollgruppe der Bezirksverwaltung des MfS<br />

AKSK Arbeitskreis Solidarische Kirche (s. S. 499)<br />

amt. amtierend<br />

Anm. Anmerkung<br />

AOPK Archivierte „Operative Personenkontrolle“ (MfS)<br />

AOV Archivierter „Operativer Vorgang“ (MfS)<br />

APO Arbeitsparteiorganisation<br />

AStA Antragsteller auf ständige Ausreise aus der DDR<br />

ASZ Aktion Sühnezeichen (s. S. 496)<br />

AuE Abteilung Aktionen <strong>und</strong> Einsätze der Bezirksverwaltung des MfS<br />

AuI Referat Auswertung <strong>und</strong> Information innerhalb einer Abteilung der Bzirksverwaltung<br />

bzw. eines Referates der Kreisdienststelle des MfS<br />

BArch B<strong>und</strong>esarchiv<br />

BBS Betriebsberufsschule<br />

BDVP Bezirksdirektion der Deutschen Volkspolizei<br />

BEK B<strong>und</strong> der Evangelischen Kirchen in der DDR<br />

BEL Bezirkseinsatzleitung (s. S. 467)<br />

BePo Bereitschaftspolizei<br />

BKG Bezirkskoordinierungsgruppe. Diese Abteilung der Bezirksverwaltung des MfS war<br />

zuständig für Ausreiseantragsteller.<br />

BL Bezirksleitung (der SED)<br />

BPS Bezirksparteischule<br />

435


BStU B<strong>und</strong>esbeauftragter für die Stasi-Unterlagen<br />

BV Bezirksverwaltung (für Staatssicherheit)<br />

CFK Christliche Friedenskonferenz<br />

DA Demokratischer Aufbruch<br />

DB Dienstberatung<br />

DE Diensteinheit (MfS)<br />

DH Diensthabender<br />

Dok. Dokument<br />

dt. deutsch<br />

ENA Evangelischer Nachrichtendienst in der DDR<br />

epd-Dok Evangelischer Pressedienst – Dokumentation<br />

Eph. Brief des Paulus an die Epheser<br />

ESG Evangelische Studentengemeinde<br />

EV Ermittlungsverfahren<br />

ev., evang. evangelisch<br />

FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />

FDJ Freie Deutsche Jugend, einzige in der DDR zugelassene Jugendorganisation<br />

fdl. feindlich (MfS)<br />

FG Friedensgebet<br />

FR Frankfurter R<strong>und</strong>schau<br />

FS Fernschreiben<br />

FZVSt Forschungszentrum für die Verbrechen des Stalinismus (Dresden)<br />

GBI. Gesetzblätter der DDR<br />

Gen. Genosse<br />

Genn. Genossin<br />

GO Gr<strong>und</strong>organisation (der SED)<br />

GVS Geheime Verschlußsache. Unterlagen, die als Staats- bzw. Parteigeheimnis eingestuft<br />

wurden <strong>und</strong> zu denen nur sogenannte Geheimnisträger (GVS- bzw. VVS-Berechtigte)<br />

Zugang hatten. Diese unterlagen strengen Sicherheitsauflagen <strong>und</strong> -überprüfungen, bei<br />

denen das MfS Veto-Recht hatte. In der Rangfolge rangierten Geheime<br />

Verschlußsachen vor Vertraulichen Verschlußsachen <strong>und</strong> nach Geheimen<br />

Kommandosachen.<br />

GWL Gebäudewirtschaft Leipzig (Kommunale Wohnungsverwaltung)<br />

HA Hauptabteilung (des MfS)<br />

HJ Halbjahr<br />

HW Hauptwohnung<br />

IA Innere Angelegenheiten<br />

IFM Initiative Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte<br />

IGL Initiativgruppe Leben (s. S. 502)<br />

IM inoffizieller Mitarbeiter (MfS), Spitzel<br />

IMB inoffizieller Mitarbeiter zur „Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender<br />

Personen, feindlicher Stellen <strong>und</strong> Kräfte“ (MfS)<br />

IMS inoffizieller Mitarbeiter „Sicherheit“ (MfS)<br />

INKOTA Netzwerk der kirchlichen Zweidrittel-Welt-Gruppen (Information, Koordination,<br />

Tagungen), welches 1971 gegründet wurde. Mit diesem Netzwerk arbeitete die<br />

Initiativgruppe „Hoffnung Nicaragua“ eng zusammen.<br />

IWF Internationaler Währungsfonds<br />

JHS Juristische Hochschule<br />

KB Kulturb<strong>und</strong><br />

KD Kreisdienststelle (MfS)<br />

KEL Kreiseinsatzleitung (s. S. 467)<br />

KiS Kirche im Sozialismus<br />

436


KKL Konferenz der Kirchenleitungen<br />

KL Kreisleitung (der SED)<br />

KMU Karl-Marx-Universität<br />

KOZ Kommunikationszentrum (s. S. 481)<br />

KP Kommunistische Partei<br />

KT Kirchentag<br />

KTK Kirchentagskongreß<br />

KV Kirchenvorstand<br />

LA Landesausschuß Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag<br />

UM Leipziger Frühjahrsmesse<br />

LKA Landeskirchenamt<br />

Lpz Leipzig<br />

Ltg. Leitung<br />

LW Leipziger Volkszeitung<br />

MA Mitarbeiter<br />

MBI Mitteilungsblatt des BEK<br />

MfS Ministerium für Staatssicherheit<br />

ND Neues Deutschland<br />

neg. negativ (MfS)<br />

NSW nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet<br />

NVA Nationale Volksarmee<br />

NW Nebenwohnsitz<br />

OBM Oberbürgermeister<br />

OES Operativer Einsatzstab<br />

OKR Oberkirchenrat<br />

OLKR Oberlandeskirchenrat<br />

OPK Operative Personenkontrolle (MfS)<br />

ÖRK Ökumenischer Rat der Kirchen<br />

OSL Oberstleutnant<br />

OSV Ordnungsstrafverfahren<br />

OV Operativer Vorgang (MfS)<br />

OWVO Ordnungswidrigkeitsverordnung<br />

Pf., Pfr. Pfarrer<br />

Pkt. Punkt<br />

PKZ Personenkennzahl<br />

PUT politische Untergr<strong>und</strong>tätigkeit (MfS). Für ihre spezifische Sprache hatte das MfS auch<br />

ein Wörterbuch erstellt. In diesem heißt es, daß diese PUT „eine der gefährlichsten<br />

Erscheinungsformen subversiver Tätigkeit“ sei. Beschrieben wird sie dort u.a.<br />

folgendermaßen: „Gesamtheit der im engen Zusammenwirken von inneren <strong>und</strong><br />

äußeren feindlichen Kräften gegen die sozialistische Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung<br />

gerichteten untergr<strong>und</strong>spezifischen Handlungen <strong>und</strong> Aktivitäten, wie die Ausarbeitung<br />

<strong>und</strong> Verbreitung von feindlichen Plattformen, die Bildung von verfassungsfeindlichen<br />

Personenzusammenschlüssen <strong>und</strong> die Versuche der antisozialistischen Kräfte, auch<br />

unter Ausnutzung legaler Möglichkeiten öffentlichkeitswirksam zu werden <strong>und</strong> weitere<br />

Personen gegen die Politik von Partei <strong>und</strong> Regierung zu mobilisieren.“ (MfS,<br />

Juristische Hochschule Potsdam GVS JHS 001-400/81, S. 403)<br />

RdB Rat des Bezirkes<br />

RdK Rat des Kreises<br />

RdS Rat der Stadt<br />

Ref. Referat<br />

S. Seite<br />

s. siehe<br />

437


SAPMO Stiftung Archiv der Parteien <strong>und</strong> Massenorganisationen der DDR im B<strong>und</strong>esarchiv<br />

SBBM Stadtbezirksbürgermeister<br />

SDP Sozialdemokratische Partei (in der DDR)<br />

Sekr. Sekretär<br />

SL Stadtleitung (der SED)<br />

SLO Superintendentur Leipzig-Ost<br />

SoFD Sozialer Friedensdienst (s. S. 490)<br />

St. Sanct<br />

StAL Sächsisches Staatsarchiv Leipzig<br />

Stellv. Stellvertreter<br />

StfK Staatssekretariat für Kirchenfragen<br />

StGB Strafgesetzbuch<br />

StPO Strafprozeßordnung<br />

Sup. Superintendent<br />

SZ Süddeutsche Zeitung<br />

taz die tageszeitung<br />

ThSL Theologisches Seminar Leipzig<br />

TV Teilvorgang (eines Zentralen Operativen Vorgangs des MfS)<br />

ÜSE Übersiedlungsersuchender<br />

VAE Vorläufige aktive Erfassung<br />

VEB Volkseigener Betrieb<br />

vgl. vergleiche<br />

VP Volkspolizei<br />

VPKA Volkspolizeikreisamt<br />

VVS Vertrauliche Verschlußsache (s. GVS)<br />

WK Wohnkomplex<br />

ZAIG Zentrale Auswertungs-<strong>und</strong> Informationsgruppe des MfS<br />

ZK Zentralkomitee (der SED)<br />

ZKG Zentrale Koordinierungsgruppe des MfS<br />

ZOV Zentraler operativer Vorgang (MfS)<br />

ZPDB Zentrale Personendatenbank des MfS<br />

438

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