03/2017 Gesundheit-Spezial
Fritz + Fränzi
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Bild: Alain Laboile<br />
Ungefähr ein Kind pro<br />
Klasse leidet an einer<br />
behandlungsbedürftigen<br />
Depression.<br />
Leere und Trauer kennt<br />
der 16-jährige Jakob,<br />
seitdem er von der Primar-<br />
in die Sekundarstufe<br />
wechselte. Um sie<br />
zu vertreiben, fängt er an zu kiffen.<br />
Später erscheint der Junge<br />
wiederholt angetrunken zum<br />
Unterricht. Als ihn ein Vertrauenslehrer<br />
darauf anspricht, streitet<br />
Jakob die Trunkenheit erst ab und<br />
fängt dann an zu weinen. Sein<br />
Leben sei völlig verkorkst und<br />
hoffnungslos. Er wisse überhaupt<br />
nicht, wie es nach der Schule weitergehen<br />
solle. Und ja, er denke<br />
darüber nach, sich das Leben zu<br />
nehmen. Der Lehrer ruft umgehend<br />
Alain Di Gallo an. Der<br />
Direktor der Klinik für Kinderund<br />
Jugendpsychiatrie Basel ist<br />
alarmiert. «Ich bestellte Jakob und<br />
seine Mutter noch am gleichen<br />
Abend in die Klinik», erinnert er<br />
sich. Dort erzählt der Junge, dass<br />
seine Eltern seit fünf Jahren<br />
getrennt seien. Seine Mutter<br />
erklärt, sie habe unter dem unerwarteten<br />
Fortgang ihres Mannes<br />
sehr gelitten und sei kaum noch<br />
für ihren Sohn da gewesen. Jakob<br />
ist überzeugt, auch seine Freunde<br />
würden ihn nicht mehr mögen.<br />
Immer mehr hat er sich zurückgezogen<br />
und ins Comic-Zeichnen<br />
vertieft. Für den Psychiater deutet<br />
alles auf eine Depression hin.<br />
Geschichten wie die von Jakob<br />
gibt es viele. In der Schweizer<br />
SMASH-Studie aus dem Jahr 2002<br />
gaben 35 Prozent der Mädchen<br />
und knapp 20 Prozent der befragten<br />
Jungen an, sie seien häufiger<br />
traurig und deprimiert. «Eine<br />
behandlungsbedürftige Depression<br />
hat am Ende nur ein Bruchteil<br />
von ihnen», beruhigt Experte<br />
Di Gallo. Rund drei Prozent der<br />
Kinder und fünf Prozent der<br />
Jugendlichen, also etwa eine Person<br />
pro Klasse, leiden daran. Das<br />
Fatale: Häufig bleiben die Symptome<br />
unerkannt – insbesondere,<br />
wenn sie mit dem Eintritt in die<br />
Pubertät zusammentreffen. Eltern<br />
fällt es dann schwer, zu erkennen,<br />
ob der Sprössling die Zimmertür<br />
ab-schliesst, weil er sich – wie in<br />
diesem Alter völlig gesund – von<br />
ihnen abgrenzt oder weil er ernsthaft<br />
krank ist.<br />
Stimmungsschwankungen<br />
«Gelegentliche Nullbockstimmung<br />
und ein schwankendes<br />
Selbstwertgefühl während der<br />
Pubertät sind völlig normal»,<br />
meint auch Di Gallo. Gleichzeitig<br />
sei diese Lebensphase eine Zeit, in<br />
der sich gehäuft psychische Störungen<br />
entwickelten. «Negative<br />
Gedanken über die eigene Person»,<br />
so Di Gallo, «können ein<br />
Baustein für die Entstehung von<br />
Depressionen sein.» Eine Untersuchung<br />
der Universität Zürich hat<br />
gezeigt, dass Pubertierende besonders<br />
rasch auf negatives Feedback<br />
reagieren. Das könnte erklären,<br />
warum sich Jugendliche alles so<br />
sehr zu Herzen nehmen.<br />
Während der Pubertät fallen<br />
solche negativen Empfindungen<br />
auf besonders fruchtbaren Boden.<br />
Jetzt gleicht das Gehirn einer<br />
Grossbaustelle: Unwichtige Nervenverbindungen<br />
werden gekappt,<br />
wichtige ausgebaut. Nicht alle<br />
Hirnanteile entwickeln sich dabei<br />
gleich schnell. Das limbische System<br />
und die Amygdala – beides<br />
Hirnstrukturen, die Belohnung<br />
und Emotionen verschlüsseln –<br />
gedeihen schneller als das Stirnhirn.<br />
Das wiederum hat eine kontrollierende<br />
Funktion, mahnt also<br />
zur Ordnung und erinnert an<br />
Regeln.<br />
Die Suche nach dem Kick<br />
Dieses Ungleichgewicht macht<br />
Heranwachsende anfällig für riskantes<br />
Verhalten. Jugendliche<br />
rasen mit dem Mofa umher, probieren<br />
Drogen, betrinken sich und<br />
wechseln ihre Geschlechtspartner<br />
– immer auf der Suche nach dem<br />
ultimativen Kick. «Die Schwelle,<br />
bei der ein Reiz das Gefühl >>><br />
Wenn das Leben keinen Sinn mehr macht<br />
2014 nahmen sich laut Bundesamt für Statistik<br />
31 Jugendliche zwischen 10 und 19 Jahren das<br />
Leben. «Diese Zahl muss uns zu denken geben»,<br />
sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Alain<br />
Di Gallo. Nach Unfällen sind Selbsttötungen<br />
hierzulande die häufigste Todesursache bei<br />
Jugendlichen. Die Zahl der Suizidversuche<br />
schätzen Fachleute noch einmal 100-fach höher.<br />
Depressionen sind der stärkste Risikofaktor<br />
für einen Suizid: Betroffene Buben und Mädchen<br />
hegen oft Selbstmordgedanken. Als Gründe<br />
nennen sie Gefühle wie Einsamkeit und sich<br />
nicht geliebt fühlen, Wut, Ärger und<br />
Enttäuschungen. «Suizidalität muss mit<br />
depressiven Jugendlichen offen angesprochen<br />
werden. Falls notwendig, werden konkrete<br />
Hilfsmassnahmen verbindlich festgelegt», so<br />
Di Gallo. Dazu gehöre der Besuch bei einem<br />
<strong>Spezial</strong>isten und auch, zu Hause Waffen und<br />
Medikamente unzugänglich zu machen.<br />
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März <strong>2017</strong>57