03/2017 Gesundheit-Spezial
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
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März <strong>2017</strong><br />
<strong>Gesundheit</strong><br />
Das macht<br />
Kinder stark<br />
Die neue Achtsamkeit<br />
Meditation mit Kindern –<br />
wie funktioniert das?<br />
Böser, böser Zucker<br />
Wie Eltern ihre Kinder<br />
richtig ernähren<br />
Schlafen und Lernen<br />
Wie guter Schlaf und gute<br />
Noten zusammenhängen
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2 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Editorial<br />
Liebe Leserin, lieber Leser<br />
Bild: Geri Born<br />
Claudia Landolt<br />
Leitende Autorin<br />
beim Schweizer<br />
ElternMagazin<br />
Fritz+Fränzi<br />
Einer meiner vier Söhne mag Fussball nicht. Vergangenes Jahr mühte er sich damit ab,<br />
den Ball bei drei Versuchen wenigstens ein Mal ins Tor zu bekommen. Denn Jungs,<br />
die Fussball nicht mögen, haben zumindest in der Primarschule einen schweren Stand.<br />
Man kann seine Talente nicht aussuchen, denn niemand ist perfekt – auch das eigene<br />
Kind nicht. Aber mindestens eine Sache kann jeder Mensch gut, und genau darum geht<br />
es in diesem Heft: wie Kinder ihre Stärken entdecken, ohne sich für ihre Schwächen zu<br />
schämen, und trotzdem bereit sind, Herausforderungen anzunehmen.<br />
Wir Erwachsenen können sie dabei unterstützen. Ich hätte meinem Sohn nur zu<br />
gern gesagt, er solle in der Pause doch lieber Pingpong spielen, statt sich mit den fussballverrückten<br />
Klein-Neymars zu messen. Tat ich aber nicht. Ich tröstete, ermutigte –<br />
und schwieg. Eisern. Was geschah? Mein Sohn entpuppte sich als meisterhafter Goalie<br />
und wird nun von den anderen Fussballjungs regelmässig ins Tor gewählt. Einstimmig.<br />
Tore schiessen immer noch die anderen, aber er, er hält jeden Ball.<br />
Herzlichst, Ihre Claudia Landolt<br />
Inhalt<br />
<strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong> März <strong>2017</strong><br />
Geist<br />
04 «Eltern, glaubt an eure Kinder»<br />
Der Glücksforscher Ernst Fritz-<br />
Schubert weiss, was unsere Kinder<br />
wirklich glücklich macht.<br />
14 Die neue Achtsamkeit<br />
Meditation mit Kindern – funktioniert<br />
das? Unsere Autorin hats ausprobiert.<br />
18 Was Kinder stark macht<br />
Sechs Tipps für Eltern vom<br />
Psychologen, die wirklich helfen.<br />
Körper<br />
22 Ein gesunder Selbstwert<br />
Die Gefühle der Eltern beeinflussen<br />
den Selbstwert des Kindes –<br />
weiss der Kinderarzt Cyril Lüdin.<br />
26 Schlafen und Lernen<br />
Über den Zusammenhang zwischen<br />
gutem Schlaf und guten Noten.<br />
28 Schlafen und Handy<br />
Was blaues Licht dem Körper<br />
vorgaukelt.<br />
30 Kinder und Zähne<br />
Böser, böser Zucker: Die Banane<br />
muss weg.<br />
34 Kinder und Augen<br />
Alles über Schielen, Kurzund<br />
Schwachsichtigkeit.<br />
38 Kein Zoff mit der Ernährung<br />
Stress am Familientisch? Alles<br />
über Zen beim Essen.<br />
42 Tipps und Tricks rund ums Essen<br />
Wie man Teenagern Pizza, Chips<br />
und Burger abgewöhnt.<br />
Seele<br />
44 Es lebe das Spiel!<br />
Lasst die Kinder endlich spielen.<br />
Ein Plädoyer.<br />
52 Mentale Muster lösen<br />
Wie ein brasilianischer Psychiater und<br />
Bestsellerautor Kinderseelen stärkt.<br />
56 Achtung, Depression!<br />
In der Pubertät treten oft seelische<br />
Verstimmungen auf. Alles über die<br />
ersten Anzeichen.<br />
62 So kommuniziere ich richtig<br />
Kinder sind Meister im Ignorieren<br />
der elterlichen Befehle. Wir sagen,<br />
wie wir garantiert gehört werden.<br />
Service<br />
66 Bücher und Links / Impressum<br />
Die Bilder in diesem Heft stammen vom<br />
französischen Fotografen Alain Laboile.<br />
Er ist Vater von sechs Kindern. Über<br />
viele Jahre hat er das Leben seiner<br />
Familie im Südwesten Frankreichs<br />
mit der Kamera festgehalten. Kindsein<br />
heisst dort baden im Fluss, mit Fröschen<br />
spielen und nackt durch den Garten<br />
laufen. www.laboile.com<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>3
Geist<br />
«Eltern, glaubt<br />
an eure Kinder»<br />
Ein Kind braucht kein Ritalin und keine Matura, um stark und<br />
glücklich zu sein, sagt der Heidelberger Glücks forscher und Pädagoge<br />
Ernst Fritz-Schubert. Ein Gespräch über Lernen, Lebensfreude<br />
und Loslassen. Interview: Claudia Landolt Bilder: Alain Laboile<br />
4 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong> März <strong>2017</strong>5
Geist<br />
Ernst Fritz-Schubert spricht gern,<br />
schnell und viel. Und wenn er<br />
spricht, leuchten seine Augen. Der<br />
pensionierte Schulleiter empfängt<br />
uns in seinem pittoresken, über<br />
100 Jahre alten Haus am<br />
Philosophen weg in Heidelberg.<br />
Hier haben sich früher Liebende<br />
zum Stelldichein getroffen. Die<br />
Wohlfühlatmosphäre und das<br />
liebliche Ambiente kontrastieren<br />
mit den pointierten Äusserungen<br />
des älteren Herrn mit dem<br />
ungewöhnlichen Doppelnamen.<br />
«Schule muss mehr sein als blosse<br />
Qualifizierungsanstalt», sagt<br />
Fritz-Schubert, während er Kaffee<br />
kocht. «Schule empfinde ich in<br />
dieser Form als starke Vergeudung<br />
der Möglichkeiten. Kinder<br />
verlernen das Gefühl, selbst wirksam<br />
zu sein, wirklich gebraucht zu<br />
werden».<br />
Herr Fritz-Schubert, gingen Sie gern<br />
zur Schule?<br />
An meine eigene Schulzeit habe<br />
ich keine guten Erinnerungen.<br />
Meine Neugier und die Lust, die<br />
Berufsfachschule und im Wirtschaftsgymnasium<br />
in Deutschland<br />
seit 2007 auf dem Stundenplan<br />
steht, in Teilen Österreichs und<br />
zeitweilig auch im Internat Ingenbohl<br />
in der Schweiz.<br />
Was wollen Sie Kindern damit<br />
vermitteln?<br />
Dass es neben dem vordergründigen<br />
materiellen Glück auch das<br />
lebenslange Glück gibt, das durch<br />
die eigenen Werte geprägt wird.<br />
Macht die Schule unsere Kinder<br />
unglücklich?<br />
Die Schule ist eine künstliche Veranstaltung.<br />
Lehrer geben meist<br />
alles vor, und Schüler bekommen<br />
mehr fertige Antworten statt Fragen<br />
mit nach Hause. Dadurch verlieren<br />
sie das Gefühl, selbst wirksam<br />
zu sein, wirklich gebraucht zu<br />
werden. Dies ist aber neben der<br />
Selbstachtung ein zentraler Faktor<br />
für die Persönlichkeitsbildung<br />
und für Glück und Wohlbefinden.<br />
Aber Kinder kommen doch in der<br />
Regel glücklich zur Welt.<br />
Das stimmt, und die meisten<br />
Eltern strengen sich an, dass aus<br />
ihnen glückliche Erwachsene werden.<br />
Aber nicht immer gelingt es.<br />
«Gut meinen» ist noch lange nicht<br />
«gut machen». Alle Kinder haben<br />
ungeahnte Ressourcen, und die<br />
gilt es gemeinsam mit ihnen zu<br />
entdecken, das ist eine der wichtigsten<br />
Aufgaben von Eltern und<br />
Pädagogen.<br />
Alle Eltern möchten, dass ihre Kinder<br />
stark werden.<br />
Ja, das steht auch nicht im Widerspruch<br />
zur gesellschaftlich er <br />
wünschten Vermittlung von Werten<br />
wie Freiheit, Gleichheit und<br />
Solidarität, sondern beschreibt<br />
lediglich einen anderen Weg zum<br />
selben Ziel.<br />
Wie meinen Sie das?<br />
Lust und Leistung sind keineswegs<br />
Gegensätze. Das Leben zu meistern,<br />
heisst nicht nur, dass man<br />
sich die nötigen Fähigkeiten aneigmich<br />
als Fünfjähriger mit der<br />
Zuckertüte angetrieben hatten,<br />
verwandelten sich schnell in Ratlosigkeit,<br />
Zweifel und Furcht. Ich<br />
wurde jünger eingeschult als die<br />
anderen und erbrachte nicht die<br />
gleiche Leistung. «Mehr anstrengen!»<br />
– diesen Satz bekam ich<br />
immer wieder zu hören. Aber kein<br />
Lob dafür, wie gut ich doch zu <br />
rechtkam.<br />
Sie sagen, Sie hätten sich lieber<br />
herumgetrieben, als den Kopf in<br />
Bücher zu stecken.<br />
Weil ich eher schmächtig war, kam<br />
für meine Mutter und meine Lehrer<br />
nur eine Ausbildung in einem<br />
Büro in Frage. So landete ich in<br />
einem Steuerbüro und langweilte<br />
mich zu Tode. Als Ausgleich kaufte<br />
ich teure Autos und päppelte so<br />
mein Selbstwertgefühl auf. Die<br />
Wende kam bei einer allgemeinbildenden<br />
Schulung während des<br />
«Die Schule ist<br />
eine künstliche<br />
Veranstaltung.»<br />
Militärdienstes. Ein Deutschlehrer<br />
ermutigte mich, das Abitur nachzuholen<br />
und Volkswirtschaft zu<br />
studieren. Das änderte alles.<br />
Haben Sie deshalb das Schulfach<br />
Glück erfunden?<br />
Ich hatte es einfach satt, dass Schule<br />
in der Beliebtheitsskala der<br />
Schüler gleich nach dem Zahnarztbesuch<br />
rangiert. Neun- bis<br />
Dreizehnjährige gaben an, sich<br />
besonders in den Ferien wohlzufühlen,<br />
an Weihnachten, überhaupt<br />
bei den Eltern. Am wenigsten<br />
glücklich sind sie beim<br />
Zahnarzt. Und in der Schule. Also<br />
tat ich mich mit ein paar Kollegen<br />
zusammen. Wir entwarfen ein<br />
Konzept für ein Fach, das in der<br />
6 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
net, um zu überleben, sondern es<br />
gehört auch Lebensfreude dazu,<br />
die Fähigkeit, zu geniessen und<br />
auch einmal über sich selbst zu<br />
lachen, wenn der gewünschte<br />
Erfolg ausbleibt. Es hilft unseren<br />
Kindern jedenfalls nicht, wenn wir<br />
sie mit erhobenem Zeigefinger<br />
erziehen oder ihnen alle Hindernisse<br />
aus dem Weg räumen.<br />
Niederlagen können auch Erfolge<br />
sein.<br />
Genau. Aber nur dann, wenn die<br />
notwendige Energie für einen neuen<br />
Anlauf aufgebracht wird. Dazu<br />
benötigt man vor allem positive<br />
Emotionen. Kinder, die nach einer<br />
schlechten Note oder einem Streit<br />
nach Hause kommen, können<br />
nicht direkt zur Tagesordnung<br />
übergehen, sondern wollen getröstet<br />
werden und in der Geborgenheit<br />
der Familie neue Kräfte sammeln.<br />
«Schlechte Noten<br />
sollen die<br />
elterliche Liebe<br />
nicht mindern.»<br />
Haben Kinder Angst, dass schlechte<br />
Noten ihren Eltern missfallen?<br />
Alle Kinder wollen ihren Eltern<br />
gefallen. Umso wichtiger ist es, den<br />
Kindern zu vermitteln, dass<br />
schlechte Noten die elterliche Liebe<br />
und Wertschätzung nicht mindern.<br />
Sie möchten, dass Kinder sich in der<br />
Schule positiv entwickeln?<br />
Kinder und Jugendliche brauchen<br />
ganzheitliche Erlebnisse, um körperlich<br />
und seelisch gesund zu<br />
bleiben und sich in der Gemeinschaft<br />
wirklich wohlzufühlen. Diese<br />
Erfahrungen können sie aber<br />
heute kaum noch machen. Wie oft<br />
klettern sie noch auf Bäume, werfen<br />
sie sich in einen Heuhaufen<br />
oder pflücken sie einen Feldblumenstrauss,<br />
um ihn der Mutter<br />
nach Hause zu bringen? Deshalb<br />
haben wir 2007 in Heidelberg<br />
begonnen, unser schulisches Leitziel<br />
«physische und psychische<br />
<strong>Gesundheit</strong> für Schüler und Lehrer»<br />
durch die Einführung des<br />
neuen Unterrichtsfaches «Glück»<br />
umzusetzen. >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>7
Geist<br />
>>> Gab es einen besonderen<br />
Moment für diese Idee?<br />
Als mir ein Schüler sagte, ich sei<br />
der erste Mensch, der ihm etwas<br />
zugetraut hätte. Dieses Zutrauen<br />
und Vertrauen ist ja sozusagen die<br />
Fortsetzung des Urvertrauens und<br />
dafür verantwortlich, wie wertvoll<br />
wir uns als Mensch fühlen.<br />
Was soll das Fach Glück den Kindern<br />
vermitteln?<br />
Wir wollen die Schüler stärken,<br />
indem wir ihnen vor allem die<br />
Voraussetzungen für ein gelingendes<br />
Leben aufzeigen. Das Fach<br />
dient nicht der Leistungsmaximierung,<br />
sondern es geht darum, dass<br />
sie sich in ihrer Persönlichkeit<br />
entwickeln, indem sie zum Beispiel<br />
früh lernen, mit Herausforderungen<br />
umzugehen, Stress zu<br />
vermeiden oder Phasen extremer<br />
Belastung gelassen zu meistern.<br />
«Die inneren<br />
Bedürfnisse der<br />
Kinder werden<br />
oft nicht erkannt.»<br />
Erfolgt Persönlichkeitsbildung nicht<br />
daheim?<br />
Elternhäuser legen sozusagen das<br />
Standbein fest und schaffen die<br />
Voraussetzungen. Die Schule entwickelt<br />
das Spielbein und eröffnet<br />
neue Möglichkeiten. Ist das Standbein<br />
nicht fest entwickelt – etwa<br />
durch Vereinzelung, die Medien,<br />
unsere Multioptionsgesellschaft –,<br />
werden die Kinder äusserlich zwar<br />
schnell selbständig, ihre inneren<br />
psychischen Bedürfnisse aber werden<br />
nicht erkannt oder nicht be <br />
friedigt. Dann sind sie unsicher<br />
und suchen anderswo Bestätigung<br />
– durch viele Freunde oder durch<br />
materielle Dinge, die gegen aussen<br />
einen Selbstwert repräsentieren.<br />
Wie werden Kinder glücklich?<br />
Wenn man ihnen hilft, ihre eigenen<br />
Potenziale zu entdecken und<br />
an sich selbst zu glauben.<br />
8 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Acht Glücksfragen, die sich<br />
Kinder (und ihre Eltern)<br />
stellen können<br />
• Was will ich eigentlich?<br />
• Welche Stärken habe ich?<br />
• Wenn ich diese und jene<br />
Stärken habe: Was mache ich<br />
damit?<br />
• Lebe ich sie?<br />
• Habe ich eine Vision damit?<br />
• Welchen Weg will ich gehen?<br />
• Bin ich bereit, auch Herausforderungen<br />
anzunehmen?<br />
• Wie schaffe ich es, mich bei<br />
Was können Eltern dafür tun?<br />
Das ist die Gretchenfrage. Was<br />
wünschen wir uns für unsere Kinder?<br />
Dass sie diszipliniert sind und<br />
gut funktionieren? Oder dass sie<br />
ein glückliches Leben führen?<br />
Noch nie gab es so viele sogenannte<br />
Problemkinder. Sie sind hyperaktiv,<br />
verwöhnt, aggressiv, möchten<br />
Topmodel werden oder<br />
Superstar und verstecken sich im<br />
Hotel Mama. Aber sind wir wirklich<br />
von kleinen Tyrannen oder<br />
Nesthockern umgeben? Nein! Aus<br />
Angst, dass unsere Kinder in der<br />
Leistungsgesellschaft versagen,<br />
konzentrieren wir uns zu sehr auf<br />
ihre Probleme. Doch wenn man<br />
Kindern nur ihre Schwächen vorhält,<br />
werden sie unglücklich und<br />
mutlos.<br />
«Wir<br />
konzentrieren<br />
uns zu sehr auf<br />
die Schwächen<br />
unserer Kinder.»<br />
Sie sprechen von einem überalterten<br />
Schulsystem. Können Sie das<br />
kurz erklären?<br />
Wir haben eine Pädagogik, die 200<br />
Jahre alt ist und auf einem anderen<br />
Gesellschaftssystem fusst: einer<br />
Oberschicht, in der reflektiert<br />
wird; einer Mittelschicht, aus der<br />
Handwerker hervorgehen; sowie<br />
einer Unterschicht, aus der Knechte<br />
und Mägde entstehen sollen.<br />
Dabei haben wir eine emanzipative<br />
Gesellschaft, in der die soziale<br />
Herkunft weder ein Vorteil noch<br />
ein Hindernis sein soll. Schule<br />
wird also allzu oft dazu benutzt,<br />
Menschen an wirtschaftliche und<br />
gesellschaftliche Gegebenheiten<br />
anzupassen, die es so gar nicht<br />
mehr gibt. Schule lehrt etwas<br />
anderes als das, was jetzt gebraucht<br />
wird.<br />
Was schlagen Sie vor?<br />
Uns endlich von diesem antiquierten<br />
Konstrukt zu lösen. Jedes Kind<br />
hat ein Potenzial, auch wenn es aus<br />
einer Schicht kommt, die für ein<br />
Akademikerleben nicht vorgesehen<br />
ist. Wir sollten uns doch fragen:<br />
Will ich all die Potenziale<br />
ver geuden?<br />
Was sagen Sie zur herrschenden<br />
Fehlerkultur in der Schule?<br />
Ich habe nichts gegen Fehlersuche.<br />
Ich frage mich aber, ob es das<br />
Schwergewicht sein sollte. Eine<br />
Fehlerkultur richtig zu verstehen,<br />
setzt voraus, aus den Fehlern zu<br />
lernen. Wirkliche Fehlerkultur<br />
heisst für mich, dass der Lehrer<br />
zum Begleiter wird und alternative<br />
Möglichkeiten bietet. Also den<br />
Kindern alternative Lösungswege<br />
aufzeigt, statt sie negativ kommentiert.<br />
Die heutige übertriebene<br />
«Fehlerfahndung» erzeugt nur<br />
negative Emotionen. Jeder Mensch<br />
zieht sich zurück, wenn er hört,<br />
dass er etwas Falsches gesagt hat.<br />
Evolutionsgeschichtlich sollten<br />
Angst, Wut, Ekel usw. nämlich<br />
dafür sorgen, uns vor etwas zu<br />
bewahren. Bekomme ich aber<br />
Zuspruch und positive Emotionen,<br />
führt das zu einer Öffnung.<br />
Das nenne ich Potenzialentwicklung.<br />
Erinnern Sie sich an ein Beispiel aus<br />
Ihrer Schulzeit?<br />
Der Lehrer fragte mich in der ersten<br />
Klasse: Wie entstehen Wolken?<br />
Ich habe gesagt: durch die Lokomotive.<br />
Er antwortete einfach nur:<br />
«Das ist Quatsch.» Für mich war<br />
meine Antwort aber logisch, denn<br />
wir haben an einer Eisenbahnlinie<br />
gewohnt und ich sah jeden Tag<br />
Lokomotiven, die Dampfwolken<br />
ausstiessen. Doch mein damaliger<br />
Lehrer hat diese Erkenntnis komplett<br />
ignoriert. Die Lösung wäre<br />
gewesen, zu sagen: Ja, das<br />
Lustlosigkeit zu motivieren? >>><br />
9
Geist<br />
>>> ist interessant, wie arbeitet<br />
denn eine Lokomotive?<br />
Wurde Ihr Potenzial in der Schule<br />
entdeckt?<br />
Nein. Nachdem mein Vater mir<br />
erklärte, dass das Gymnasium für<br />
mich nicht in Frage komme, blieb<br />
ich zunächst in der Volksschule<br />
und kam dann in eine Handelsschule,<br />
weil man mir prognostiziert<br />
hat, dass ich im Kaufmännischen<br />
meine Heimat finden würde.<br />
Die Eltern und die Schule schrieben<br />
mir das als «meinen» Weg vor.<br />
Ich war in diesem nach Schichten<br />
gegliederten Schulsystem für<br />
nichts anderes vorgesehen. Heute<br />
ist das sicherlich anders, da glauben<br />
viele Eltern, dass ihre Kinder<br />
unbedingt studieren müssten.<br />
Ist das falsch?<br />
Prinzipiell nicht, aber überhöhte<br />
Erwartungshaltungen können<br />
Kinder unglücklich machen. Solche<br />
Kinder fühlen sich abgehängt<br />
und machen die Schule einfach,<br />
um die Erwartungen der Eltern zu<br />
erfüllen und der Beziehung zu<br />
ihnen nicht verlustig zu werden.<br />
Es führt zu einer grossen Abhängigkeit,<br />
wenn der Selbstwert nur<br />
an Noten und Leistung geknüpft<br />
ist. Es erstaunt mich nicht, dass<br />
«Der Selbstwert<br />
eines Kindes darf<br />
nicht nur an Noten<br />
und Leistung<br />
geknüpft sein.»<br />
viele junge Leute freie Zeit ausufernd<br />
leben, feiern und trinken,<br />
bis es kracht. Diesen Druck, den<br />
Erwartungen zu genügen, hält auf<br />
die Dauer kein Mensch aus.<br />
Was sollten Eltern also tun?<br />
Auf ihre Intuition hören und dieser<br />
folgen. Sich gewahr werden,<br />
dass Kinder viel können. Dass sie<br />
sie nicht nur nach der schulischen<br />
Leistung bewerten. Nicht sagen:<br />
gute Noten, gutes Kind. Diese Kausalitätskette<br />
kann einfach nicht<br />
erfolgreich sein.<br />
«Gute Noten, gutes<br />
Kind: Diese<br />
Kausalitätskette<br />
kann nicht<br />
funktionieren.»<br />
Was macht ein Kind erfolgreich?<br />
Dass man an es glaubt, realisiert,<br />
dass es das Beste macht, das es<br />
kann. Eltern sollen sich vom System<br />
Schule lösen, statt es zu verstärken.<br />
Das Kind darf nicht denken:<br />
Hab ich eine 6, bin ich super,<br />
hab ich eine 4, bin ich knapp, aber<br />
okay, und mit einer 3 bin ich nichts<br />
wert. Dieses Nichtswertsein bedeutet<br />
Einschränkung, negative<br />
Gefühle. Man kommt dann schnell<br />
in so ein Raster rein. Ich hab das<br />
bei meiner Tochter beobachtet.<br />
Inwiefern?<br />
Ihre Grundschullehrerin empfahl<br />
sie für das Gymnasium und gab<br />
ihr auf den Weg mit: «Du schaffst<br />
das schon irgendwie, du bist ja gut<br />
in den Sprachen, aber weniger in<br />
der Mathe.» Sie glaubte das wirklich.<br />
Aber in der zehnten Klasse<br />
veränderte sich das. Sie lernte ab<br />
und zu mit einem Neffen von mir,<br />
der Physik studierte. Sie dachte,<br />
wenn ich verstehe, was er lernt, bin<br />
ich okay. Und sie verstand immer<br />
mehr. Im Abitur erreichte sie in<br />
Mathematik die Höchstnote, begann<br />
dann ein naturwissenschaftliches<br />
Studium und schloss mit der<br />
Promotion ab.<br />
Und Ihre zweite Tochter?<br />
Die hatte in der ersten Klasse<br />
Schwierigkeiten, vom freien Ler<br />
10 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
nen auf strukturiertes Lernen umzustellen.<br />
Damit sie nicht sitzen<br />
blieb, wurde sie durch meine<br />
damalige Frau regelrecht durch die<br />
Schule gepowert, es war grauenhaft.<br />
Genutzt hat dieser Drill<br />
wenig. Die Wende kam erst, als<br />
meine Tochter ein Austauschjahr<br />
in den USA machte. Dort hat sie<br />
lauter Kurse belegt, die nur geringe<br />
Anforderungen an sie stellten,<br />
Babysitting zum Beispiel und<br />
Deutschkurse und all sowas. Sie<br />
kam zurück und wollte zuerst mit<br />
der Schule aufhören und etwas<br />
Praktisches machen. Wir überredeten<br />
zum Abitur auszuhalten. Sie willigte<br />
ein, allerdings unter der<br />
Bedingung, dass sie nie mehr diesem<br />
Hausaufgaben- und Lerndrill<br />
mit der Mutter ausgesetzt sein<br />
würde. Und was geschah? Sie<br />
machte Abitur und wurde Sonderschullehrerin.<br />
Ihre Erkenntnis daraus?<br />
Beide Töchter haben einen Weg<br />
beschritten, den die Schule und<br />
teilweise auch das Elternhaus mehr<br />
oder weniger nur behindert haben.<br />
Mein Fazit: Man soll seinen Kindern<br />
etwas zutrauen und dem, was<br />
einem in der Schule gesagt wird,<br />
Viele Eltern haben zur Schule ein<br />
zwiespältiges Verhältnis.<br />
Genau. Wie absurd ist das denn:<br />
Sie halten nicht so viel von der<br />
Schule, aber das Ergebnis bewerten<br />
sie ganz hoch. Dann muss sich<br />
das Kind doch sagen: Wie doof ist<br />
das denn?<br />
Dachten das auch Ihre Schüler?<br />
Ja, klar. Ich erinnere mich an einen<br />
Jungen. Er war ein Migrantenkind,<br />
konnte die Sprache nicht so gut,<br />
und er war gross und korpu lent, so<br />
der Typ dumpfer Bär. Beides<br />
erweckte nicht den Eindruck,<br />
besonders helle zu sein. Also sagte<br />
sie, noch die zwei Jahre bis nicht so viel Wert beimessen. er sich, ich hole mir meinen<br />
>>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>11
12 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Geist<br />
>>> Selbstwert mit meiner Kraft,<br />
haue rein und kriege so den Re <br />
spekt. Erst durch den von uns im<br />
Schulfach Glück angeregten Perspektivenwechsel<br />
kam er zu einer<br />
anderen Haltung. Die Sprache<br />
nicht zu können, ist zwar hinderlich,<br />
aber das kann man ändern. Es<br />
ging deshalb zunächst darum, ihm<br />
bei der Suche nach seinen charakterlichen<br />
Stärken zu helfen, Ausdauer,<br />
Kreativität und vielleicht<br />
auch die Fähigkeit, sich zu mässigen.<br />
Als er endlich wusste, was er<br />
kann und was er will, hat sich das<br />
Sprachproblem sehr schnell gelöst.<br />
Wie hat der Glücksunterricht das<br />
erreicht?<br />
Wir schaffen Schlüsselerlebnisse,<br />
die zu guten Erfahrungen werden.<br />
Unsere wissenschaftlichen Untersuchungen<br />
haben eindeutig er geben,<br />
dass die Schüler des Glücksunterrichts<br />
im Vergleich zu anderen<br />
Vierzehn- bis Siebzehnjährigen im<br />
Leben mehr Sinn sehen, sich mehr<br />
zutrauen, Familie und Schule<br />
mehr schätzen und deutlich besser<br />
wissen, was sie wollen oder nicht.<br />
Sie sind ein Verfechter humanitärer<br />
Bildung.<br />
Ja, wir müssen die Schüler fähig<br />
machen, mit allen Dingen, die in<br />
ihrer Welt geschehen, auch umzugehen.<br />
Intelligenz zeigt sich eben<br />
nicht nur in guten Noten. Um das<br />
Leben zu meistern, benötigt man<br />
Kreativität, um neue Ideen zu entwickeln,<br />
die analytische Fähigkeit,<br />
diese Ideen richtig einzuschätzen,<br />
soziale Kompetenzen, die Gedanken<br />
auch umzusetzen, und letztlich<br />
auch die Erkenntnis, ob sie der<br />
Gemeinschaft wirklich zuträglich<br />
sind. Wir müssen uns endlich klarmachen,<br />
dass das Leben weit mehr<br />
als eine akademische Veranstaltung<br />
ist.<br />
«Glück ist ein<br />
Idealzustand,<br />
der nach<br />
Wiederholung oder<br />
Fortdauer strebt.»<br />
Wissen ohne Erkenntnis ist unnütz?<br />
Man kann damit vielleicht im<br />
Fernsehen Millionär werden. Aber<br />
sonst nützt es wenig. Auch müssen<br />
Schüler lernen, das Wichtige vom<br />
Dringlichen zu unterscheiden.<br />
Nicht alles, was dringlich er <br />
scheint, ist auch wichtig. Das wichtige<br />
WhatsApp, der wichtige Termin,<br />
die Verabredung: Kinder<br />
hetzen durchs Leben. Leider bleiben<br />
dadurch auch die wirklich<br />
wichtigen Dinge auf der Strecke.<br />
Was ist denn nun Glück?<br />
Glück ist ein Idealzustand, der<br />
nach Wieder holung oder Fortdauer<br />
strebt. Manchmal fällt er ohne<br />
unser Zutun vom Himmel. Er<br />
erstreckt sich vom kleinen Moment<br />
des Hochgefühls bis hin zum<br />
sinnvollen, gelingenden Leben.<br />
Das sinnvolle Leben muss von<br />
jedem selbst erspürt werden. Ich<br />
finde, dass man es besonders gut<br />
spürt, wenn man etwas bewirkt,<br />
wenn man achtsam ist mit den<br />
Dingen, die einem begegnen, mit<br />
den Menschen und mit der Natur.<br />
Zum Erspüren gehört auch, dass<br />
man sich selbst nicht so wichtig<br />
nimmt, in Selbstvergessenheit<br />
gerät. Und dass man geniessen<br />
und sich entspannen kann. Zu<br />
guter Letzt gehört für mich auch<br />
die Erkenntnis dazu, dass man<br />
auch an Leid, an Niederlagen<br />
wachsen kann.<br />
Sind Sie glücklich?<br />
Wenn ich zurückblicke, gibt es<br />
viele glückliche Momente und<br />
Gründe, zufrieden und dankbar<br />
zu sein. Glück ist für mich aber<br />
auch die freudige Erwartung der<br />
Zukunft, auf das, was noch kommt<br />
und mich herausfordert.<br />
>>><br />
Zur Person<br />
Bild: Michael Hudler<br />
Dr. phil. Ernst Fritz-Schubert ist Dozent an der<br />
Universität Kassel und an der SRH Hochschule in<br />
Heidelberg. Als ehrenamtlicher Direktor leitet er das nach<br />
ihm benannte Fritz-Schubert-Institut, das Methoden zur<br />
Persönlichkeitsstärkung erforscht und entwickelt. Zuvor<br />
war der Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Thema<br />
Glück und Wohlbefinden viele Jahre Schulleiter der Willy-<br />
Hellpach-Schule, an der er im Jahre 2007 das Schulfach<br />
Glück einführte. Er ist Vater zweier erwachsener Töchter<br />
und zweifacher Grossvater. www.fritz-schubert-institut.de<br />
13
Achtsamkeit mit Kindern –<br />
wie funktioniert das?<br />
Durch Innehalten, Achtsamkeit und Meditation lernen wir, uns nicht vom Aussen abzulenken<br />
und das Gedankenkarussell abzuschalten. Auch Kinder profitieren davon. Text: Claudia Füssler<br />
Bild: Alain Laboile<br />
14 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Geist<br />
Die erste Aufgabe<br />
klingt lösbar: sich<br />
einfach mal hinstellen.<br />
Ohne sich<br />
irgendwo anzulehnen.<br />
Die Hände aus den Hosentaschen,<br />
die Arme an den Seiten<br />
baumeln lassen. Beide Füsse stehen<br />
auf dem Boden, das Gewicht<br />
ist gleichmässig verteilt. «Für viele<br />
Kinder ist das extrem schwierig»,<br />
sagt Vera Kaltwasser. «Einfach<br />
zu stehen, das kann der<br />
Anfang für eine Verfeinerung der<br />
Selbstwahrnehmung sein, spielerisch<br />
können die Kinder mal in<br />
die rechte Fusssohle spüren, dann<br />
in die linke und so Kontakt mit<br />
dem Körper aufnehmen.»<br />
Vera Kaltwasser ist Lehrerin an<br />
einer Frankfurter Schule und<br />
Autorin mehrerer Bücher zum<br />
Thema Achtsamkeit. Sie hat die<br />
sogenannte Achtsamkeitsbasierte<br />
Stressreduktion (MBSR, Mindfulness-Based<br />
Stress Reduction) bei<br />
Jon Kabat-Zinn, dem Erfinder dieses<br />
Programms, gelernt – eigentlich<br />
für sich selbst. Das hat ihr so<br />
gut getan, dass sie irgendwann auf<br />
die Idee kam, einen Teil dieser<br />
Methode bei ihren Schülern auszuprobieren.<br />
Das bewusste Stehen gehört zu<br />
den Stillephasen, die Kaltwasser<br />
immer wieder in den Unterricht<br />
einflicht – schon bei den Jüngsten.<br />
«Aischu» heisst das von ihr entwickelte<br />
Konzept, das Kinder und<br />
Jugendliche kontinuierlich in kleinen<br />
Schritten dafür begeistern<br />
soll, ihre Innenwelt zu erkunden<br />
und sich selbst besser spüren zu<br />
lernen. «Ich bitte die Kinder zum<br />
Beispiel, sich eine Zitrone vorzustellen.<br />
Dann nehmen sie erstaunt<br />
wahr, dass ihnen das Wasser im<br />
Mund zusammenläuft. Eine Vorstellung<br />
bewirkt also eine körperliche<br />
Reaktion», erklärt Kaltwasser.<br />
«So verstehen die Kinder, dass<br />
sie sich mit Befürchtungen und<br />
Sorgen, obwohl es nur Gedanken<br />
sind, in Stress versetzen. Der<br />
nächste Schritt ist dann, dass Kinder<br />
und Jugendliche lernen, selbsttätig<br />
ihre Stressreaktion zu entschärfen,<br />
indem sie zum Beispiel<br />
bewusst auf den Atem achten.»<br />
Meditieren ist ein Prozess<br />
Auch wenn es von aussen nicht so<br />
aussieht: Achtsamsein, Meditieren<br />
ist ein hochaktiver Prozess. Der<br />
Geist wird geschult. So ist der<br />
Fokus zum Beispiel der Atem.<br />
Immer, wenn die Gedanken abschweifen,<br />
wird die Wahrnehmung<br />
wieder zum Atem zurückgeholt.<br />
Wissenschaftliche Studien<br />
haben gezeigt, dass aufmerksamer<br />
wird, wer regelmässig seine Achtsamkeit<br />
schult. Indirekt wirkt sich<br />
das auch auf die Leistungen der<br />
Schüler aus. Denn wer unter Stress<br />
steht, sieht oft die einfachsten<br />
Lösungen nicht, auch Höchstleistungen<br />
erbringt niemand in angespanntem<br />
Zustand.<br />
Auf die besten Ideen kommt<br />
man, wenn man entspannt ist. Das<br />
haben zahlreiche Studien gezeigt,<br />
und genau diese Erfahrung macht<br />
Vera Kaltwasser mit ihren Schülern.<br />
«Wichtig ist, dass wir Achtsamkeit<br />
nicht als Werkzeug zur<br />
Selbstoptimierung entwerten,<br />
sondern das ethische Potenzial<br />
erkennen, das sich entfaltet, wenn<br />
wir lernen, bewusst mit uns und<br />
dem anderen umzugehen», betont<br />
die Frankfurter Lehrerin.<br />
Regelmässige Übung ist wichtig<br />
Der Schlüssel zur erfolgreichen<br />
Achtsamkeit ist die Konti- >>><br />
Wer unter Stress steht,<br />
sieht oft die einfachsten<br />
Lösungen nicht.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>15
Kinder sammeln beim<br />
In-sich-selbst-Hineinhorchen<br />
neue Erfahrungen.<br />
>>> nuität. Viel wichtiger als<br />
eine lange Übungsdauer ist es, re <br />
gelmässig zu üben, und wenn es<br />
nur wenige Minuten sind. «Deshalb<br />
ist es grossartig, wenn Kinder<br />
nicht nur in der Schule meditieren,<br />
sondern auch die Eltern sich damit<br />
ein bisschen auskennen und gemeinsam<br />
mit ihren Kindern auf<br />
mehr Achtsamkeit im Alltag achten»,<br />
sagt Vera Kaltwasser. Sie rät<br />
davon ab, das Meditieren zu einem<br />
festen Programmpunkt im oft<br />
sowieso schon zu vollen Tagesplan<br />
eines Kindes zu machen.<br />
Stattdessen sollten Eltern aufmerksam<br />
registrieren, wann sich<br />
ein guter Zeitpunkt ergibt, um in<br />
konkreten Situationen mit den<br />
Kindern ins Gespräch zu kommen.<br />
Wenn zum Beispiel ein Kind<br />
frustriert nach Hause kommt und<br />
Meditation hinterlässt Spuren im Gehirn<br />
Dass Meditation Spuren im Gehirn hinterlässt, ist mittlerweile<br />
gut belegt. Der Psychologe Richard Davidson von der University<br />
of Wisconsin-Madison konnte schon 2007 demonstrieren, dass<br />
ein dreimonatiges Meditationstraining die Aufmerksamkeit<br />
schärft. Die Teilnehmer erkannten Zahlen, die auf einem<br />
Bildschirm zwischen zahlreichen Buchstaben versteckt<br />
sind, schneller als vor dem Training. Und Sara Lazar vom<br />
Massachusetts General Hospital in Boston berichtete, dass<br />
sich das Training sogar in der Morphologie des Gehirns<br />
niederschlägt. Der Hirnscanner zeigte, dass es den Mandelkern<br />
schrumpfen lässt, eine Struktur im Gehirn, die unter anderem<br />
an der Steuerung von Angst beteiligt ist. Zugleich hatte die<br />
graue Substanz in Bereichen des Gehirns zugenommen, die<br />
zum Beispiel mit Mitgefühl assoziiert sind. «Das Gehirn ist in<br />
der Lage, sich zu verändern, und so, wie wir eine neue Sportart<br />
lernen, können wir auch Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit oder<br />
Mitgefühl trainieren», sagt Richard Davidson.<br />
sagt, der Lehrer könne es nicht<br />
leiden. Dann bietet es sich an, dem<br />
Ärger oder der Enttäuschung zwar<br />
Raum zu geben, aber auch Einflussmöglichkeiten<br />
zu zeigen, wie<br />
der Stress, den so eine Zurückweisung<br />
auslöst, entschärft werden<br />
kann. Das heisst nicht, dass man<br />
das Problem kleinredet, aber man<br />
kann so schon früh Bewältigungsstrategien<br />
erlernen.<br />
In Zeiten der ständigen Reizüberflutung<br />
durch Medien und<br />
digitale Geräte ist Achtsamkeit ein<br />
Weg, der Kindern und Jugendlichen<br />
helfen kann, ihre Selbstwahrnehmung<br />
zu verfeinern. «Mir hat<br />
mal ein kleiner Junge nach den<br />
ersten Übungen gesagt: ‹Ich bin<br />
jetzt ein Freund mit mir.› Das trifft<br />
es ziemlich gut, finde ich», sagt<br />
Vera Kaltwasser. «Über den Atem<br />
machen sich die Kinder mit sich<br />
selbst vertraut, sie lernen, freundlich<br />
und liebevoll mit sich selbst<br />
umzugehen. Sie lernen auch, frühzeitig<br />
zu merken, wann sie sich mit<br />
Gedanken mal wieder die Hölle<br />
heiss machen. Und sie lernen,<br />
auch mit den anderen freundlich<br />
und wertschätzend umzugehen.»<br />
Während Kinder im Aussen oft an<br />
Grenzen stossen, anecken, reguliert<br />
werden, können sie beim Insich-selbst-Hineinhorchen<br />
ganz<br />
neue Erfahrungen machen. Sie<br />
merken, dass sie sich die Welt oft<br />
selber machen, dass es etwas<br />
ändert, wenn man die Dinge so<br />
oder anders sieht.<br />
Achtsamer Medienkonsum<br />
Achtsam sein kann auch im Umgang<br />
mit Medien helfen. Kaltwasser<br />
rät Eltern, nicht einfach ein<br />
Verbot – «Du darfst nicht mehr an<br />
das Tablet» – auszusprechen, sondern<br />
sich achtsam mit dem Nichtstun<br />
auseinanderzusetzen und dem<br />
Nachwuchs vorzuschlagen: Spüre<br />
mal nach, was das mit dir macht,<br />
wenn du jetzt nicht auf dem<br />
16 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Geist<br />
Smartphone oder am Computer<br />
spielst, sondern einfach so dasitzt.<br />
Das ist im Grunde genommen die<br />
gute alte Langeweile – und die<br />
führt bekanntlich zu kreativen<br />
Höhenflügen.<br />
Wie schwierig es für Kinder ist,<br />
eine Vorstellung von Zeit und dem<br />
Nichtstun zu haben, zeigt sich oft<br />
ganz am Anfang der Achtsamkeitspraxis.<br />
Vera Kaltwasser fragt dabei<br />
gern, ob sie es schaffen, 30 Sekunden<br />
lang die Augen zu schliessen.<br />
Na logo, lachen die Jungen und<br />
Mädchen, das ist doch einfach!<br />
Und staunen nach fünf Sekunden,<br />
wie lange das doch dauert.<br />
«Nach etwa sechs Wochen»,<br />
sagt Vera Kaltwasser, «können<br />
meist alle Kinder still stehen oder<br />
die Augen eine halbe Minute lang<br />
schlies sen.» Bei denjenigen, die<br />
dann immer noch stören, weil sie<br />
nicht innehalten können, sollten<br />
Lehrer und Eltern genauer hinschauen:<br />
«Das ist eine Art Hilferuf,<br />
denn diese Kinder merken in den<br />
Stillephasen zum ersten Mal, was<br />
eigentlich in ihnen vorgeht, und<br />
das können sie mitunter nicht aushalten.»<br />
«Aischu» und die Wissenschaft<br />
Das Interventionsprogramm<br />
«Aischu» war inzwischen auch auf<br />
dem wissenschaftlichen Prüfstand.<br />
Niko Kohls und Sebastian Sauer,<br />
Forscher an der Ludwig-Maximilian-Universität<br />
München, haben<br />
in einer kleinen Pilotstudie untersucht,<br />
welchen Einfluss die Achtsamkeit<br />
auf Aufmerksamkeitsleistung,<br />
Lebensqualität, Wohlbefinden<br />
und Stress von Fünftklässlern hat.<br />
Die Ergebnisse zeigen, dass sich<br />
Achtsamkeit in allen Punkten positiv<br />
auswirkt. Besonders auffällig<br />
war die verbesserte Aufmerksamkeitsleistung.<br />
Die Wissenschaftler<br />
betonen, dass die Studie Pilotcharakter<br />
hat und die Ergebnisse nur<br />
als erste Anhaltspunkte dienen<br />
könnten, die weiter abgesichert<br />
werden müssten.<br />
Professor Gunther Meinlschmidt<br />
von der Psychologischen<br />
Fakultät der Universität Basel und<br />
der Ruhr-Universität Bochum findet<br />
«das Thema so spannend, dass<br />
derzeit einige Studien und Untersuchungen<br />
laufen und man in<br />
einigen Jahren mehr wissen<br />
wird». Was man aber jetzt schon<br />
weiss: Stress kann zu sogenannten<br />
epigenetischen Veränderungen<br />
führen. Damit sind Veränderungen<br />
an den Genen gemeint, die<br />
nicht vererbt sind, sondern von<br />
äusseren Faktoren herrühren.<br />
Stress ist ein solcher Faktor.<br />
«Als Eltern gemeinsam mit<br />
dem Kind das Innehalten und<br />
Wahrnehmen zu üben, davon<br />
können alle profitieren», sagt<br />
Meinlschmidt. Zum Beispiel bei<br />
einem Waldspaziergang: Tief einatmen<br />
und die einzelnen Düfte<br />
schnuppern, die Ohren spitzen<br />
und den Geräuschen der Tiere<br />
und Pflanzen lauschen, einen<br />
Baum anfassen und mit den Fingerspitzen<br />
die Rinde erfühlen – all<br />
das kann die Achtsamkeit fördern.<br />
>>><br />
Achtsamkeit im Alltag<br />
Achtsamkeit ist eine besondere Form der<br />
Aufmerksamkeit. Dabei werden innere<br />
und äussere Erfahrungen registriert und<br />
zugelassen, ohne diese zu bewerten.<br />
Ein guter Start ist es, sich einfach mal<br />
hinzusetzen und eine halbe Minute lang<br />
nichts zu tun, als seinen Atem zu beobachten.<br />
Manchen hilf es, eine Hand auf den Bauch<br />
zu legen und den Atem so besser zu spüren.<br />
Nach und nach können Sie diese kleine<br />
Meditation etwas verlängern. Auch in den<br />
Alltag lässt sich Achtsamkeit integrieren.<br />
Schärfen Sie Ihre und die Sinne Ihres<br />
Kindes: Wie fühlt es sich an, auf dem Weg<br />
zur Schule über die Betonplatten zu laufen?<br />
Was hört man abends auf dem Balkon, wenn<br />
es draussen schon still ist? Wie fühlen sich<br />
Gegenstände an, die man täglich in die Hand<br />
nimmt – die Zahnbürste, die Seite eines<br />
Buches? Wie riecht es zu Hause? Und was<br />
schmeckt man eigentlich beim Eis zuerst?<br />
Das Süsse? Die Kälte? Oder die Frucht?<br />
Trainieren Sie das regelmässig, nimmt die<br />
Achtsamkeit bald ganz selbstverständlich<br />
einen wichtigen Platz im Leben ein.<br />
Was schmeckt man eigentlich<br />
am Eis zuerst? Das Süsse?<br />
Die Kälte? Oder die Frucht?<br />
Claudia Füssler<br />
freie Journalistin in Freiburg, ist am liebsten<br />
beim Essen achtsam und zelebriert das<br />
Zutaten-Herausschmecken. Allerdings ist die<br />
Familie meist schon beim letzten Bissen, wenn<br />
endlich die letzte Nuance analysiert ist.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>17
18 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Geist<br />
Was Kinder stark macht<br />
6 Tipps für Eltern, die wirklich helfen<br />
Text: Fabian Grolimund<br />
Bild: Alain Laboile<br />
Es ist wichtig, dass Kinder ein<br />
gesundes Selbstvertrauen<br />
entwickeln. Es gilt aber nicht:<br />
je selbstsicherer, desto besser.<br />
Tipp 1: Nutzen Sie Probleme,<br />
um Ihr Kind zu stärken<br />
Kinder stossen im Verlauf ihres<br />
Lebens immer wieder auf Probleme.<br />
Als Eltern fühlen wir uns oft<br />
dazu gedrängt, für unser Kind<br />
sofort eine Lösung bereitzustellen.<br />
Dabei übersehen wir, dass jedes<br />
Problem auch eine Gelegenheit für<br />
das Kind darstellt, zu wachsen und<br />
wichtige Problemlösefertigkeiten<br />
zu entwickeln.<br />
Indem wir nur so viel helfen<br />
wie nötig und das Kind mehr und<br />
mehr in die Entwicklung einer<br />
Lösung einbeziehen, leiten wir es<br />
an, Probleme selbst zu lösen. Ein<br />
Kind, das sich auf seine Fähigkeiten<br />
und seine Problemlösekompetenzen<br />
verlassen sowie mit<br />
Rückschlägen und Misserfolgen<br />
umgehen kann, ist auch zuversichtlich,<br />
wenn es mit Herausforderungen<br />
konfrontiert wird.<br />
Wichtig ist, dass die Kinder ein<br />
gesundes Selbstvertrauen entwickeln.<br />
Es gilt aber nicht: je selbstsicherer,<br />
desto besser. Hilfreich ist<br />
ein positives, aber realistisches<br />
Bild von sich selbst. Damit wir uns<br />
entwickeln können, uns angemessenen<br />
Herausforderungen stellen<br />
und uns über kleine Fortschritte<br />
freuen können. Wir müssen auch<br />
in der Lage sein, unsere Schwächen<br />
und Schwierigkeiten wahrzunehmen<br />
und uns richtig einzuschätzen.<br />
Dazu benötigen Kinder<br />
wohlwollende, aber akkurate<br />
Rück meldungen.<br />
Tipp 2: Zeigen Sie Ihrem Kind,<br />
dass sich Anstrengungen lohnen<br />
Wie reagiert Ihr Kind, wenn es<br />
einen Misserfolg erlebt? Gibt es<br />
gleich auf oder übt es weiter?<br />
Kinder lernen auch indirekt<br />
von Ihnen als Eltern oder Lehrperson,<br />
ob es sich lohnt, sich trotz<br />
Misserfolgen weiter zu bemühen.<br />
Wie effektiv schon ein kurzer Kontakt<br />
mit einem positiven Modell<br />
sein kann, zeigten die Psychologen<br />
Perry und Penner. Sie führten Psychologiestudenten<br />
ein Video eines<br />
Psychologieprofessors vor. Dieser<br />
erzählte von seinen Studienzeiten<br />
und schilderte ein Ereignis, bei<br />
dem er wiederholt Misserfolge<br />
einstecken musste und nur durch<br />
gutes Zureden eines Freundes<br />
nicht aufgab. Danach habe er die<br />
Uni erfolgreich abgeschlossen. Er<br />
betonte, dass die Leistung vor<br />
allem von der eigenen Anstrengung<br />
abhänge und sich Fähigkei<br />
ten durch Übung trainieren liessen.<br />
Jene Studierenden, die das<br />
Video gesehen hatten, zeigten am<br />
Semesterende bessere Leistungen.<br />
Die Forschung zeigt, dass Kinder<br />
gut mit Misserfolgen umgehen<br />
können, wenn sie glauben, dass sie<br />
sich durch Anstrengung verbessern<br />
können. Sie geben hingegen<br />
rasch auf, wenn sie den Eindruck<br />
haben, eine Leistung hinge von<br />
Intelligenz oder Begabung ab. Kinder<br />
brauchen Eltern, die ihnen<br />
vermitteln: Du kannst dich durch<br />
Übung verbessern; ich sehe (auch<br />
kleine!) Fortschritte und freue<br />
mich darüber.<br />
Tipp 3: Fangen Sie Ihr Kind auf,<br />
wenn es Misserfolge einstecken<br />
muss<br />
Wie würden Sie sich fühlen und<br />
wie würden Sie reagieren, wenn<br />
Sie in Ihrem Beruf trotz vollem<br />
Einsatz Woche für Woche hören<br />
müssten: «Du bist nicht gut genug!<br />
Deine Leistung reicht nicht!»? Viele<br />
Kinder machen diese Erfahrung<br />
tagtäglich – über Jahre hinweg.<br />
Wie können wir als Eltern oder<br />
Lehrperson Kinder in dieser Situation<br />
stärken? Vielleicht gibt Ihnen<br />
der folgende Dialog zwischen der<br />
Mutter eines rechenschwachen<br />
Kindes und mir einen Hinweis:<br />
G.: «Wie schaffen Sie es, dass<br />
Ihre Tochter sich immer >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>19
wieder auf das Rechnen<br />
einlässt, obwohl sie ständig Misserfolge<br />
erlebt?»<br />
Mutter: «Wissen Sie, ich erwarte<br />
von meiner Tochter, dass Sie<br />
täglich zehn Minuten mit mir übt.<br />
Da bin ich eisern. Ich habe aber<br />
gelernt, mich mit ihr zusammen<br />
über kleine Fortschritte zu freuen.<br />
Wenn sie mit einer Prüfung nach<br />
Hause kommt und eine 4 geschafft<br />
hat, gehen wir zusammen ein Siegerglace<br />
essen.»<br />
G.: «Und was, wenn sie mit<br />
einer ungenügenden Note nach<br />
Hause kommt?»<br />
Mutter: «Dann gehen wir ein<br />
Trostglace essen! Ich will, dass sie<br />
weiss: Wenn es gut lief, freuen wir<br />
uns mit dir. Wenn es schlecht lief,<br />
fangen wir dich auf.»<br />
Tipp 4: Geniessen Sie Momente<br />
zu zweit<br />
Wenn Kinder zu Jugendlichen heranreifen,<br />
entwickeln sie andere<br />
Bedürfnisse. Sie möchten von<br />
ihren Eltern nach wie vor ernst<br />
genommen werden. In Gesprächen<br />
erwarten sie, eigene Meinungen<br />
äussern zu dürfen. Sie suchen<br />
die Auseinandersetzung, aber auch<br />
Verständnis und Geborgenheit.<br />
Für Eltern werden die Gespräche<br />
anspruchsvoller.<br />
Es gibt einen einfachen Weg,<br />
um wieder mehr Nähe herzustellen:<br />
Sorgen Sie dafür, dass Sie auch<br />
Zeit mit Ihrem Kind alleine verbringen.<br />
Viele Themen, die<br />
Jugendliche umtreiben, lassen sich<br />
nicht am Esstisch in der Familie<br />
besprechen.<br />
Statt einen Ausflug zu viert zu<br />
machen, könnte die Mutter mit<br />
Nehmen Sie sich ganz<br />
bewusst Zeit für Ihr Kind:<br />
nur zu zweit und ohne<br />
To-do-Liste im Kopf.<br />
dem Sohn, der Vater mit der Tochter<br />
etwas unternehmen. Vielleicht<br />
liegt sogar ein kurzer getrennter<br />
Urlaub drin oder eine Städtereise<br />
zu zweit.<br />
Eltern sind regelmässig er <br />
staunt, wie viel besser sie ihre Kinder<br />
kennenlernen und wie viel<br />
Nähe plötzlich wieder da ist, wenn<br />
sie sich ganz bewusst für ein Kind<br />
Zeit nehmen: nur zu zweit und<br />
ohne To-do-Liste im Kopf.<br />
Gleichzeitig wächst unser<br />
Selbstwertgefühl, wenn es uns<br />
gelingt, uns für unsere Werte und<br />
Ideale einzusetzen und an etwas<br />
mitzuwirken, das grösser ist als<br />
wir selbst. Dies geschieht, wenn<br />
Kinder die Erfahrung machen:<br />
• Durch mich und meinen Beitrag<br />
wird meine Familie, meine Klasse,<br />
ja vielleicht sogar die Welt ein<br />
wenig besser.<br />
• Andere können auf mich zählen<br />
und finden bei mir Halt und<br />
Unterstützung.<br />
In unserer Kultur steht der Erfolg<br />
des Einzelnen im Vordergrund. Es<br />
geht darum, besser zu sein, zu<br />
gewinnen, sich abzugrenzen,<br />
andere zu übertrumpfen und sich<br />
hervorzutun. Diese Kultur spornt<br />
uns an, unser Bestes zu geben. Sie<br />
hat aber auch ihre Schattenseiten:<br />
Stress, Burnout, Neid und Gefühle<br />
des Versagens und der Wertlosigkeit,<br />
wenn es uns nicht gelingt,<br />
vorne mitzuschwimmen.<br />
Wir können Glück erlangen<br />
und uns selbst verwirklichen,<br />
wenn wir uns auf etwas anderes<br />
als uns selbst konzentrieren. Wir<br />
können uns Zeit nehmen für<br />
unsere Kinder, uns auf unseren<br />
Partner einlassen.<br />
Tipp 5: Geben Sie Ihrem Kind die<br />
Möglichkeit, sich zu engagieren<br />
Menschen, die sich freiwillig für<br />
andere, die Umwelt oder eine gute<br />
Sache engagieren, empfinden ihr<br />
Leben als sinnvoller und haben ein<br />
höheres Selbstwertgefühl.<br />
Eltern können ihre Kinder dazu<br />
anregen, sich zu engagieren und<br />
Verantwortung zu übernehmen,<br />
indem sie selbst etwas Gutes tun,<br />
grosszügig und dankbar sind. Wir<br />
können unseren Kindern vorleben,<br />
dass es mehr gibt als Leistung,<br />
Wettbewerb, Sieg und Niederlage.<br />
So wie wir das Selbstwertgefühl<br />
eines Kindes fördern können, in <br />
dem wir es an einer guten Sache<br />
mitwirken lassen, können wir<br />
auch alle Kinder stärken: Wenn<br />
wir einen 3-Kilometer-Lauf veranstalten,<br />
können manche Kinder ihr<br />
Selbstvertrauen stärken. Sie können<br />
zeigen, wie sportlich sie sind.<br />
Auf der anderen Seite wird es Verlierer<br />
geben. Das übergewichtige<br />
Kind, das als letztes ins Ziel<br />
kommt, wird sich schämen und<br />
darin bestätigt werden, unsportlich<br />
zu sein. Bei einem Sponsorenlauf<br />
hingegen zählt jede gelaufene<br />
Runde für einen guten Zweck, und<br />
jedes Kind kann sich am Ende des<br />
Laufs darüber freuen, eine gute Tat<br />
für andere erbracht zu haben.<br />
Unser Selbstvertrauen hat auch<br />
damit zu tun, wo wir im Vergleich<br />
zu anderen stehen. Machen wir<br />
unser Glück davon abhängig, stehen<br />
wir auf wackligen Füssen.<br />
Wenn wir uns etwas mehr auf<br />
andere konzentrieren als auf uns<br />
selbst, wächst unser Selbstwertgefühl.<br />
Wir lesen an den Gesichtern<br />
anderer Menschen ab, dass unser<br />
Beitrag geschätzt wird. Wir sehen<br />
eine gute Sache wachsen, freuen<br />
uns darob, empfinden unser Leben<br />
als wert- und sinnvoll. Zugleich<br />
weitet sich der Blick. Wir sind<br />
nicht mehr so stark auf uns fixiert,<br />
denken weniger dar über nach, wie<br />
20 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Geist<br />
Wer sich für andere<br />
engagiert, hat ein<br />
höheres Selbstwertgefühl.<br />
andere uns sehen, wie wir wirken<br />
und wie bedeutsam wir sind.<br />
Tipp 6: Zeigen Sie Ihrem Kind<br />
den Wert guter Taten<br />
Der Forschungszweig der positiven<br />
Psychologie befasst sich mit<br />
der Frage, wie Menschen Wohlbefinden<br />
erreichen können. Professor<br />
Martin Seligmann, der Begründer<br />
dieser Forschungsrichtung,<br />
kommt zum Schluss, «dass eine<br />
freundliche Handlung mehr zur<br />
Steigerung des eigenen Wohlbefindens<br />
beiträgt als jede andere<br />
Übung, die wir getestet haben».<br />
Überlegen Sie zusammen mit<br />
Ihrem Kind, zu wem es freundlich<br />
sein könnte. Die folgenden Fragen<br />
können Ihnen dabei helfen:<br />
• Wann und wie hast du letztmals<br />
je mandem eine Freude gemacht?<br />
Wie hast du dich danach gefühlt?<br />
• Wie kann man andern eine Freude<br />
bereiten (je manden besuchen,<br />
jemandem helfen, etwas teilen,<br />
ein Kompliment machen, ein<br />
Kind, das am Rand steht, zum<br />
Spielen einladen usw.)?<br />
• Was davon würdest du nun gerne<br />
tun?<br />
Tauschen Sie sich danach mit<br />
Ihrem Kind darüber aus, wie es<br />
sich gefühlt hat.<br />
• mit anderen sprechen, wenn<br />
mich Sorgen quälen,<br />
• mir Hilfe und Unterstützung<br />
holen, wenn ich sie benötige.<br />
Ich bin<br />
• als Mensch liebenswert,<br />
• verantwortlich für das, was ich<br />
tue,<br />
• zuversichtlich, dass ich mit Problemen<br />
und schwierigen Gefühlen<br />
umgehen kann,<br />
• mir bewusst, dass mein Wert als<br />
Mensch nicht von meinen Leistungen<br />
abhängt.<br />
Ich habe<br />
• Eltern, die mir zuhören und sich<br />
Zeit für mich nehmen,<br />
• Menschen in meinem Leben, die<br />
mich so annehmen und lieben,<br />
wie ich bin,<br />
Anzeige<br />
• Menschen, die mir helfen, wenn<br />
ich Hilfe brauche, und mich<br />
gleichzeitig darin bestärken,<br />
selbstbestimmt zu handeln,<br />
• Werte, die mir wichtig sind<br />
und für die ich mich einsetzen<br />
kann.<br />
>>><br />
Dieser Text ist in Fritz+Fränzi,<br />
Ausgabe 2 / März 2015 erschienen.<br />
Fabian Grolimund<br />
ist Psychologe und Autor («Mit Kindern<br />
lernen»). Der 38-Jährige ist verheiratet,<br />
Vater eines Sohnes, 4, und einer Tochter, 1.<br />
Er lebt mit seiner Familie in Freiburg.<br />
Stehen Sie<br />
unter Strom ?<br />
3000 Therapeutinnen<br />
und Therapeuten regulieren<br />
Ihre Spannung.<br />
Ein starkes Kind sagt von sich:<br />
Ich kann<br />
• mich über Erfolge freuen,<br />
• aus Misserfolgen und Fehlern<br />
lernen,<br />
• mich durch Anstrengung und<br />
Übung verbessern,<br />
• Probleme lösen und Schwierigkeiten<br />
überwinden,<br />
www.naturaerzte.ch<br />
Naturärzte Vereinigung Schweiz
Körper<br />
«Gefühle der Eltern beeinflussen<br />
den Selbstwert des Kindes»<br />
Seit drei Jahrzehnten praktiziert Cyril Lüdin als Kinderarzt bei Basel. Einer seiner Schwerpunkte<br />
ist die Eltern-Kind-Bindung. Dabei spricht er aus eigener Erfahrung. Interview: Claudia Landolt<br />
Herr Lüdin, was brauchen Kinder,<br />
um stark zu sein?<br />
Kinder brauchen eine verlässliche<br />
Bindung an primäre Bezugspersonen,<br />
in der Regel Mutter und Vater.<br />
Werden sie zudem im Umfeld von<br />
verlässlichen Personen umsorgt,<br />
erlangen sie eine gute soziale Kompetenz,<br />
zeigen eine adäquate<br />
Stress resistenz und neigen weniger<br />
zu psychischen Erkrankungen.<br />
Sie haben den Zusammenhang<br />
zwischen früher Bindung und dem<br />
Einfluss auf die Hirnstruktur des<br />
Kindes erkundet. Welches sind Ihre<br />
wichtigsten Erkenntnisse?<br />
Wir wissen aus den Erkenntnissen<br />
der pränatalen Psychologie und<br />
aus der Hirnforschung, dass ein<br />
ungeborenes Kind mit seinen Sinnen<br />
alles aufnimmt und speichert.<br />
Es spürt, wenn die Eltern in Verbindung<br />
mit ihm stehen. Gefühlserfahrungen<br />
während der Schwangerschaft,<br />
sowohl positive wie auch<br />
negative, werden im Gehirn als<br />
emotionale Muster abgelegt. Das<br />
Kinder spüren jede Stimmung<br />
von uns Erwachsenen –<br />
egal wie alt die Kinder sind.<br />
ungeborene Kind möchte anerkannt<br />
werden. Es ist hilflos, wenn<br />
sich die Mutter oder der Vater seelisch<br />
verschliessen.<br />
Auch wenn das Kind schon älter ist?<br />
Ja. Erinnern Erlebnisse in der frühen<br />
Kindheit an vorgeburtliche<br />
negative Muster, so können sie<br />
irrationale Ängste auslösen. Solche<br />
Ängste sind ein Risikofaktor für<br />
spätere Lernstörungen, Aggressionen<br />
und asoziales Verhalten.<br />
Wie muss ich mir ein solches Muster<br />
vorstellen?<br />
Ängste sind in unserer Zeit allgegenwärtig.<br />
Sie entstehen schon in<br />
der Schwangerschaft, indem die<br />
werdende Mutter durch die Hektik<br />
im Alltag und durch medizinische<br />
Interventionen kaum mehr zur<br />
Ruhe kommt. Eltern in freudiger<br />
Erwartung geben dem Kind<br />
Sicherheit. Alle Sinne des Embryos<br />
sind aktiv, er lebt bewusst! Das<br />
Ungeborene ist intrauterin in der<br />
gleichen Stimmung wie seine<br />
Umgebung und schüttet bei Un<br />
ruhe oder Angst ebenso das<br />
Stresshormon Kortisol als Abbauprodukt<br />
ins Fruchtwasser aus.<br />
Unterschätzt wird, dass der entsprechende<br />
Geschmack vom<br />
Embryo wahrgenommen und<br />
nach der Geburt am Körper der<br />
Eltern wiedererkannt wird. Auch<br />
in der Stillzeit riecht die Mutter<br />
unterschiedlich, je nachdem, ob<br />
sie in Ruhe oder in Anspannung<br />
ist. Neugeborene schmiegen sich<br />
an – oder sie schreien, quengeln<br />
und wenden sich ab. Egal, wie alt<br />
die Kinder sind, sie spüren jede<br />
Stimmung von uns Erwachsenen.<br />
Sie sagen, Berührung, Bewegung<br />
und Sprache seien die wichtigsten<br />
Elemente für ein gesundes Gedeihen<br />
der Kinder.<br />
Als soziale Wesen reagieren Kinder<br />
auf körperliche wie auf emotionale<br />
Einflüsse. Schon der direkte<br />
Körperkontakt in den Wochen<br />
nach der Geburt vermittelt Sicherheit<br />
und Geborgenheit. Berührung<br />
ist ganz essenziell für die<br />
Sicherheit und das Wohlbefinden<br />
in einer Eltern-Kind-Beziehung.<br />
Bewegung fördert die Entwicklung<br />
der motorischen, geistigen<br />
und sprachlichen Fähigkeiten.<br />
Schon in der Schwangerschaft<br />
setzt die Bewegung des Babys Reize<br />
für die Entwicklung des Gehirns<br />
Bild: Alain Laboile<br />
22 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
und der Muskulatur. Gefühle von<br />
Freude bewirken ein Strampeln,<br />
Angst und Furcht ein Erstarren des<br />
Babys. Kinderzimmer müssen<br />
früh zu Freiräumen werden, indem<br />
wir zum Beispiel eine Strickleiter,<br />
eine Schaukel oder Klettergriffe<br />
an die Wand montieren – oder<br />
mit dem Kind jonglieren üben. So<br />
fördern wir spielend die Geschicklichkeit.<br />
Auch Spielplätze gehören<br />
dementsprechend gestaltet, Wälder<br />
sollten zusammen mit den<br />
Eltern genutzt werden. Das freie<br />
Spiel in der Bewegung ist zentral<br />
für die Entwicklung.<br />
Und Sprache?<br />
Kommunikation ist das A und O.<br />
Sie bedeutet Wahrnehmung, Interaktion<br />
und Anregung. Sie funktioniert<br />
nur in der Beziehung. Im<br />
Kontakt zum Kind müssen wir<br />
emotional und gedanklich dabei<br />
sein. Hantieren wir am Smartphone,<br />
sind wird nicht wirklich<br />
verfügbar. So fehlt schon dem<br />
Kleinkind die sprachliche Auseinandersetzung<br />
und damit die<br />
kommunikative Kompetenz. Zum<br />
Lernen braucht es persönliche Be <br />
ziehungen. Geschichten vorlesen<br />
und erzählen hilft den Kindern,<br />
Ruhe zu finden und sich zu konzentrieren.<br />
Im Blick- oder Körperkontakt<br />
können wir uns gut rückversichern,<br />
ob das Kind noch<br />
emotional «dabei ist». Wir geben<br />
Fähigkeiten und Fertigkeiten weiter,<br />
ebenso Vorstellungen von<br />
Regeln, von Haltungen und Orientierungen.<br />
Ich wiederhole mich:<br />
Kinder brauchen uns als Vorbilder<br />
und als Gegenüber.<br />
Im Kontakt mit dem Kind<br />
müssen wir emotional und auch<br />
gedanklich dabei sein.<br />
Sie haben als einer der ersten Kinderärzte<br />
den Körperkontakt direkt<br />
nach der Geburt im Spital institutionalisiert.<br />
Ja, unsere Neugeborenen dürfen<br />
ab Geburt während der ganzen<br />
Spitalzeit am Körper der Mutter<br />
bleiben. Wärme und Geborgenheit<br />
erzeugen bei Mutter und Kind ein<br />
Gefühl von Ruhe, Phasen der<br />
Unsicherheit können besser reguliert<br />
werden. Wo Bindung besteht,<br />
herrrscht Ruhe. Natürlich gelingt<br />
das nicht immer, aber die Gefühle<br />
der Eltern werden vom Kind «verstanden»<br />
und be einflussen seinen<br />
Selbstwert. Die Folgen von emotionaler<br />
Vernachlässigung >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>23
Körper<br />
>>> sind Unruhe, Aufmerksamkeitsprobleme,<br />
Hyperaktivität und<br />
Lernstörungen. So werden in der<br />
frühen Kindheit mit grossem Aufwand<br />
Frühförderungen angeordnet.<br />
Diese wiederum haben nur in<br />
einer wertschätzenden Beziehung<br />
Aussicht auf Erfolg, wenn die<br />
Gefühlszentren des Kindes angesprochen<br />
und aktiviert werden.<br />
Leider werden Kinder heute oft in<br />
spalierbaumartige Vorstellungen<br />
gezwängt. Andersartigkeit wird<br />
gebrandmarkt und einer Therapie<br />
zugeführt, Originalität, mangelnde<br />
Konformität kaum mehr ge <br />
würdigt und getragen.<br />
Sie fordern einen Mutterschaftsurlaub<br />
von sechs Monaten. Warum?<br />
Unsere Gesellschaft macht es Frauen<br />
und Männern schwer, das<br />
Aben teuer «Elternsein» ruhig und<br />
gelassen anzugehen. Wir leben in<br />
einer beschleunigten Welt, in der<br />
niemand Zeit hat. Dies steht im<br />
Gegensatz zum gemächlichen<br />
Tempo des kindlichen Empfindens,<br />
vor allem der frühen Kindheit.<br />
Frauen müssen, damit sie<br />
ihren Job nicht verlieren, nach vier<br />
Monaten wieder arbeiten gehen,<br />
das bedeutet einen grossen Stress.<br />
Sie sind häufiger gezwungen,<br />
abzustillen, während das Kind<br />
noch nie einen Schoppen getrunken<br />
hat. Die Fremdbetreuung<br />
muss schon früh organisiert werden,<br />
vor allem, wenn die Grosseltern<br />
weit weg wohnen, noch<br />
arbeiten oder an derweitig beschäftigt<br />
sind. Einen Vaterschaftsurlaub<br />
gibt es nicht. Das Kind muss also<br />
in die Krippe. In Tagesbetreuungsstätten<br />
ist die Kontinuität der Beziehung<br />
oft durch betriebliche<br />
Faktoren ge fährdet.<br />
Sie sagen, die Gesellschaft müsse<br />
sich ändern. In welche Richtung?<br />
Indem Elternschaft geschätzt und<br />
der Wert der Bindung zwischen<br />
Kind und Eltern anerkannt wird.<br />
Ich bin für ein Elterngeld, damit<br />
sie länger zu Hause bleiben können<br />
oder eine Institution be zahlen<br />
können, die eine sichere sekundäre<br />
Betreuung gewährleistet.<br />
Was passiert mit Kindern, die<br />
un sicher gebunden sind?<br />
Säuglinge und Kleinkinder, die zu<br />
Hause eine unsichere Bindung erfahren,<br />
sind besonders verwundbar,<br />
wenn sie tagsüber fremd betreut<br />
werden. Ihre Erfahrungen<br />
von dysfunktionalen Beziehungen<br />
zu Hause und unzulänglichen<br />
Zweitbindungen während der<br />
Tagesbetreuung setzen sie einem<br />
doppelten Risiko aus. Eine sichere<br />
und beständige Zweitbetreuung<br />
durch eine einfühlsame sekundäre<br />
Bindungsperson in einer Krippe<br />
wirkt sich aber auch positiv aus.<br />
Man darf also nicht verallgemeinern.<br />
Doch wir müssen hohe<br />
Anforderungen an die Qualität der<br />
Betreuungsperson stellen, aber<br />
auch über politische Arbeit viel<br />
Geld in die Ausbildung investieren.<br />
Das ist Familienförderung in<br />
der heutigen Zeit.<br />
Sie behandeln in Ihrer Praxis viele<br />
Eltern zusammen mit ihren Kindern.<br />
Berührung spielt da eine Rolle. Wie<br />
muss ich mir das vorstellen?<br />
Unter Berührtwerden verstehe ich<br />
die Anerkennung der Geschichte<br />
des Kindes mit seinen Eltern. Es<br />
gibt Kinder, die ihre Verzweiflung<br />
verbergen, indem sie ganz ruhig<br />
werden, sie täuschen Zuversicht<br />
vor. Als Säuglinge nuckeln sie entweder,<br />
klammern sich an Übergangsobjekte<br />
oder schaukeln. Später<br />
wiederum sind sie zwanghaft<br />
selbständig, Kontakt vermeidend<br />
oder distanzlos. All diese und noch<br />
viele andere Verhaltensweisen ge <br />
ben uns Hinweise auf Belastungen<br />
oder durchgemachte Traumata in<br />
der Schwangerschaft, nach der<br />
Geburt oder in der frühen Kindheit.<br />
Indem ich die Eltern in An <br />
wesenheit des Kindes ihre gemeinsame<br />
Geschichte erzählen lasse,<br />
erhält das Kind Einblick in die<br />
Ge schehnisse, Sorgen und Probleme<br />
der Eltern und wird dadurch<br />
einbezogen. Bestehen Tabuthemen<br />
innerhalb der Eltern-Kind-Beziehung,<br />
wird das Kind nicht<br />
ruhig. Um diese Themen dann<br />
therapeutisch zu bearbeiten, brauche<br />
ich einen Auftrag der Eltern.<br />
Schuld und Scham sind oft Ur <br />
sachen der Verschwiegenheit, An <br />
erkennung der Gegebenheiten<br />
unsererseits ist wichtig.<br />
Sie arbeiten auch mit Atmung.<br />
In der «Emotionellen Ersten Hilfe»<br />
(siehe Box Seite 25) ist die Bauchatmung<br />
ein Hilfsmittel, um das<br />
autonome Nervensystem zu regulieren<br />
und so die Entspannung zu<br />
fördern. In einem gesunden Organismus<br />
befindet sich das autonome<br />
Nervensystem in einem ständigen<br />
Schwingungsprozess. Beim Kind<br />
schön sichtbar in entspannten<br />
Phasen des Selbstkontaktes und in<br />
aktiven Zeiten der Interaktion und<br />
Umwelt erkundung. Die Übererregung<br />
äussert sich durch Quengeln,<br />
Schreien, Schlaf unruhe, Hypermotorik.<br />
Bei der besorgten Mutter<br />
verflacht sich der Atem, ihr Blickkontakt<br />
ist weniger zugewandt, der<br />
Körper fühlt sich weniger kuschlig<br />
an, und ihre Stimme hat nicht<br />
Eigene Erfahrungen weckten<br />
mein Interesse, die Ursachen von<br />
Verhaltensauffälligkeiten<br />
zu hinterfragen.<br />
24 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Bild: Basile Bornand / 13 Photo<br />
Viele Eltern fühlen sich mit ihren<br />
Fragen alleingelassen, beschämt<br />
und isoliert.<br />
mehr den weichen Klang. Sie leidet<br />
an Muskelverspannungen vor<br />
allem im Schulterbereich, auch an<br />
Schlaflosigkeit. Sie fühlt sich nicht<br />
mehr verstanden. Im Endeffekt<br />
fühlen sich viele Eltern mit ihren<br />
Fragen alleingelassen, beschämt<br />
und isoliert. Wichtig in meiner<br />
Praxis sind die Achtsamkeit, die<br />
Anerkennung der Situation, in der<br />
Eltern und Kind sich befinden.<br />
Jungen Müttern rate ich, authentisch<br />
zu sein und ihre Gefühle den<br />
Kindern offen mit zuteilen. Zu <br />
rückgehaltene und unterdrückte<br />
Gefühle bewirken beim Kind Irritationen<br />
und Ängste.<br />
Sie behandeln auch verhaltensoriginelle<br />
Kinder. Verschreiben Sie<br />
Ritalin?<br />
Ja. Ist das Kind richtig diagnostiziert<br />
und sind die Ressourcen in<br />
Familie, Schule und Umfeld aufgebraucht<br />
oder einfach nicht vorhanden,<br />
kann Ritalin für Eltern<br />
und Kind eine grosse Erleichterung<br />
sein. Die moralbehaftete<br />
öffentliche Diskussion um dieses<br />
Medikament miss achtet, häufig<br />
durch Unkenntnis, das Ausmass<br />
dieses Leidens der Betroffenen. Ich<br />
habe es selbst an meinem Adoptivsohn<br />
erlebt.<br />
Mögen Sie davon erzählen?<br />
Als er zu uns kam, in eine Familie<br />
mit drei eigenen Kindern, hatte er<br />
eine äusserst schwache Selbststeuerung,<br />
keine sprachlichen Kompetenzen<br />
und war sehr bedürftig.<br />
Seine Impulsivität war für alle<br />
belastend. Auch wir versuchten<br />
ihm mit verschiedenen Fördermassnahmen<br />
zu helfen – und<br />
mussten häufig die eigenen Frustrationen<br />
und die des Knaben aushalten.<br />
Das Kind spürt den täglichen<br />
Er wartungsdruck und kann<br />
ihm nie gerecht werden.<br />
Hat Ihre eigene Situation Ihren Forschungsschwerpunkt<br />
beeinflusst?<br />
Absolut. Vaterschaft ist eines meiner<br />
leidenschaftlichsten Anliegen.<br />
Gerne hätte ich damals mehr ge <br />
wusst. Die Erfahrungen mit meinem<br />
Sohn weckten mein Interesse,<br />
die Ursachen dieser Verhaltensauffälligkeiten<br />
zu hinterfragen. Wir<br />
müssen bei der Beurteilung der<br />
Kinder die Lebensweise und Lebensgeschichte<br />
der Eltern kennen<br />
und verstehen. Auf der Suche nach<br />
Möglichkeiten, Stressreaktionen<br />
rund um die Ge burt und während<br />
der frühen Kindheit re duzieren zu<br />
können, fand ich das enorme<br />
Potenzial des frühen kontinuierlichen<br />
Hautkontakts zur Bindungsförderung.<br />
Weiter faszinierte mich<br />
die Pränatalforschung, und in der<br />
Praxis legte ich meinen Schwerpunkt<br />
auf die Psychosomatik und<br />
Eltern-Baby-Therapie.
Körper<br />
Lernen im Schlaf – geht das?<br />
Genügend Schlaf ist wichtig für die Gedächtnisbildung und erfolgreiches Lernen. Neueste<br />
Forschungsergebnisse zeigen, dass insbesondere ungestörter Tiefschlaf von grosser<br />
Bedeutung ist – auch für Kinder in der Pubertät. Text: Claudia Landolt<br />
Nach der Schule<br />
lernt Luis Französischwörter<br />
und<br />
für den Geografietest.<br />
Der 14-Jährige<br />
geht um 21 Uhr ins Bett. Die<br />
darauffolgende Nacht entscheidet<br />
mit, ob er das Erlernte auch im<br />
Kopf behält. Genug Schlaf und vor<br />
allem ein erholsamer Tiefschlaf<br />
geben dabei den Ausschlag.<br />
Warum wir schlafen, ist eine<br />
Frage, die bis heute wissenschaftlich<br />
nicht geklärt ist – auch wenn<br />
sich die <strong>Spezial</strong>isten einig sind,<br />
dass der Schlaf sowohl für das<br />
Immunsystem, für den Stoffwechsel<br />
wie auch für die kognitiven<br />
Leistungen des Gehirns unabdingbar<br />
ist.<br />
Schlaf und Lernen sei in den<br />
letzten Jahrzehnten eines der<br />
Hauptforschungsgebiete in der<br />
Schlafforschung, erklärt Reto<br />
Huber, wissenschaftlicher Leiter<br />
des Zentrums für Schlaf medizin<br />
am Kinderspital Zürich. «Schlaf ist<br />
mehr als nur Er holungsphase, er<br />
trägt etwas Eigenständiges zum<br />
Lernen, zum Gedächtnis, zum<br />
Verarbeiten von Erlebtem bei», so<br />
Huber. Es sei wissenschaftlich<br />
unbestritten, dass Schlaf zum<br />
Lern erfolg beitrage: «Wenn man<br />
vor dem Schlafengehen noch<br />
etwas lernt, das am anderen Tag<br />
abgefragt wird, erzielt man eine<br />
Verbesserung von 10 bis 20 Prozent»,<br />
erklärt Huber – zumindest<br />
bei Erwachsenen.<br />
Bei Kindern und Jugendlichen ist<br />
das Bild unschärfer. Denn Schlaf<br />
ist eine komplizierte und von mehreren<br />
Faktoren bestimmte Sache.<br />
Erstens das individuelle Schlafbedürfnis<br />
von Kindern und Jugendlichen.<br />
Zweitens gibt es Kurzschläfer<br />
und Langschläfer. Und drittens<br />
gibt es sogenannte Chronotypen:<br />
die Eulen, die ungern vor 23 Uhr<br />
ins Bett gehen und dafür am Morgen<br />
nicht aus den Federn kommen,<br />
sowie die Lerchen, die gern früh<br />
ins Bett gehen und morgens um<br />
sieben Uhr schon sehr munter<br />
sind. Hinzu kommt: In der Pubertät<br />
nimmt die Fähigkeit, länger<br />
wach zu bleiben und später aufzustehen,<br />
generell zu.<br />
Wichtige Slow Waves<br />
Aber noch wichtiger als die Schlafdauer<br />
ist die Schlafintensität, also<br />
wie gut und tief der Schlaf ist. Entscheidend<br />
ist die erste Nachthälfte.<br />
Der Tiefschlaf ist durch sogenannte<br />
langsame Wellen gekennzeichnet,<br />
im Fachjargon Slow-Wave-<br />
Ströme (SWS) genannt. Sie sind<br />
das Mass für die Schlafqualität; je<br />
eindeutigere und je mehr Slow<br />
Waves, desto tiefer die Schlafphase.<br />
Entscheidend ist, dass die normalerweise<br />
kontinuierliche Aktivität<br />
der Neuronen für einige 100<br />
Millisekunden unterbrochen wird.<br />
Wenn das viele Neuronen tun,<br />
erzeugt das die langsamen Hirnstromwellen,<br />
die Slow-Wave-Ströme.<br />
«Aus einer Vielzahl von Unter-<br />
suchungen wissen wir, dass gerade<br />
diese Slow Waves wichtig für die<br />
Lernprozesse im Gehirn sind»,<br />
erklärt der Schlafexperte. Werden<br />
diese Ströme zum Beispiel durch<br />
Aussenreize gestört, weisen Versuchspersonen<br />
Lerndefizite auf.<br />
Im Vergleich zu ungestört Schlafenden<br />
können sie sich am nächsten<br />
Morgen schlechter an gelernte<br />
Wortpaare erinnern.<br />
Diese Slow Waves sind besonders<br />
interessant, weil sie im Zu -<br />
sammenhang mit der Hirnentwicklung<br />
stehen. Diese verändert<br />
sich während Kindheit und Jugend<br />
deutlich. Slow Waves sind interessanterweise<br />
immer in jener Hirnregion<br />
besonders aktiv, in der<br />
ge rade ein Reifungsprozess stattfindet.<br />
«Das sieht man beispielsweise<br />
am Schlaf von 6- bis 8-Jährigen;<br />
in diesem Alter schlafen<br />
Kinder so unglaublich tief, dass<br />
man sie fast nicht wecken kann»,<br />
erläutert Reto Huber. Die zunehmende<br />
Reifung des Stirnlappens<br />
bewirkt, dass sich das Kind zunehmend<br />
selbst beherrschen, seine<br />
Gefühle kontrollieren und seine<br />
Bedürfnisse herausschieben kann.<br />
Dadurch kann es sich besser konzentrieren<br />
und zielgerichtet lernen.<br />
Umbau zur Effizienz<br />
Bei Jugendlichen werden die vorderen<br />
Teile des Grosshirns, die für<br />
Entscheidungen und höhere ko -<br />
gni tive Leistungen benötigt wer-<br />
26 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Rubrik<br />
Slow-Wave-Ströme<br />
Slow-Wave-Ströme (SWS)<br />
bezeichnen eine Schlafphase,<br />
in der die Aktivitätsphase der<br />
Neuro nen extrem gering ist (mit<br />
einer Frequenz zwischen 0,5 und<br />
3 Hz). Diese SWS-Schlafphase gilt<br />
als der Schlaf mit der höchsten<br />
Weckschwel le und widerspiegelt<br />
die Qualität des Schlafes.<br />
Bild: Alain Laboile<br />
Schlafen – Lernen – Schlafen<br />
In einer aktuellen Studie mussten<br />
40 Probanden die Übersetzungen<br />
von 16 Swahili-Wörtern auswendig<br />
lernen. Dabei schritt die Gruppe,<br />
die um 9 Uhr abends sowie 12<br />
Stunden später lernte, deutlich<br />
besser ab als die Gruppe, die zuerst<br />
morgens und dann abends lernte.<br />
Das bedeutet, dass Schlaf das<br />
Erlernen und langfristige Behalten<br />
von Inhalten begünstigen kann.<br />
Effizient lernen heisst demnach:<br />
lernen, eine Nacht schlafen<br />
und am Morgen erneut lernen.<br />
den, umgebaut. «Es überleben nur<br />
die relevanten Verknüpfungen,<br />
welche für die Funktionalität des<br />
Hirns in der Adoleszenz wichtig<br />
sind», weiss Reto Huber. Teenager<br />
verfügen mit der Zeit dann über<br />
ein weniger dichtes, dafür umso<br />
effizienteres Netzwerk an Nervenzellen.<br />
Und ebenso, wie die Um <br />
bauwelle des Gehirns von hinten<br />
nach vorne geschehe, veränderten<br />
sich auch diese SWS-Muster. Das<br />
heisst: Teenager schlafen zwar<br />
weniger, weil die Fähigkeit, länger<br />
wach zu bleiben, zunimmt. Dafür<br />
schlafen sie relativ tief.<br />
Langsame Wellen sind also<br />
wichtig für die Gedächtnisleistung.<br />
Lerninhalte, die am Abend<br />
eingeprägt werden, werden am<br />
Morgen besser memoriert. Die<br />
grosse Frage aber lautet: Was passiert,<br />
wenn Jugendliche zu wenig<br />
schlafen? «Da gibt es natürlich<br />
Leistungseinbussen», erklärt Reto<br />
Huber.<br />
Genug Schlaf ist wichtig<br />
Allerdings ist die Grenze sehr individuell<br />
und abhängig von der einzelnen<br />
Leistung, denn nicht alle<br />
kognitiven Fähigkeiten geraten in<br />
Schieflage. Ob acht Stunden pro<br />
Tag wirklich notwendig sind,<br />
belegt die Wissenschaft nicht.»<br />
Man sehe aber, dass Teenager am<br />
Wochenende sehr viel mehr schlafen<br />
würden als unter der Woche.<br />
«Das zeigt, dass ein gewisses Be <br />
dürfnis unter der Woche zu kurz<br />
kommt.» Wie viel Schlaf das eigene<br />
Kind braucht, ist für Eltern<br />
manchmal schwierig zu eruieren.<br />
Laut Reto Huber kann man sich<br />
dabei an Ferienzeiten orientieren,<br />
wenn die Jugendlichen nach einem<br />
eigenen Rhythmus leben können.<br />
«Wenn jemand immer um 23 Uhr<br />
ins Bett geht und nicht vor 11 Uhr<br />
aufsteht, ist klar, dass diese Person<br />
mehr als sieben Stunden Schlaf<br />
braucht.» Allerdings machen Jugendliche<br />
ihren Schlafmangel<br />
einerseits durch tieferen Schlaf<br />
wieder wett, sie füllen ein Schlafdefizit<br />
durch einige Nächte mit<br />
tiefem Schlaf wieder auf. Andererseits<br />
müssen sie eben gerade am<br />
Wochenende oder in den Ferien<br />
vermehrt Schlaf nachholen.<br />
Und Luis? Er hat in jener Nacht<br />
vor dem Test gut geschlafen. Im<br />
Geografietest bringt er eine 5,5<br />
nach Hause, die Französischwörtchen<br />
weiss er auch am anderen Tag<br />
noch. Einer guten Nacht folgte ein<br />
lerntechnisch erfolgreicher Tag.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>27
Körper<br />
Schlafstörungen:<br />
Ist das Handy schuld?<br />
Der zunehmende Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen hat Auswirkungen<br />
auf das Schlafverhalten. Schuld ist das blaue Licht. Es gaukelt dem Körper vor, dass<br />
Tag ist. Text: Claudia Landolt<br />
Bild: Alain Laboile<br />
Jugendliche, die nachts im<br />
Bett digitale Medien nutzen,<br />
haben ein erhöhtes<br />
Risiko, an Schlafproblemen<br />
und depressiven<br />
Symptomen zu leiden. Das<br />
fanden Forscher der Uni<br />
Basel heraus und publizieten 2005<br />
eine vielbeeachtete Studie. Um<br />
den digitalen Medienkonsum bei<br />
Teenagern mit Smart phones zu<br />
untersuchen, befragte das Forscherteam<br />
insgesamt 162 Schülerinnen<br />
und 200 Schüler aus der<br />
Nordwestschweiz im Alter von 12<br />
bis 17 Jahren.<br />
Die Resultate sprechen für sich.<br />
So verbrachten Jugendliche mit<br />
Smartphones an Wochentagen<br />
etwa doppelt so viel Zeit im Inter-<br />
net wie ihre Alterskollegen mit<br />
konventionellem Handy, nämlich<br />
durchschnittlich zwei Stunden<br />
gegenüber einer.<br />
Zudem ergab die Studie, dass<br />
nur 17 Prozent der Teenager ihr<br />
Smartphone über Nacht ausschalten<br />
oder lautlos stellen – im Vergleich<br />
zu 47 Prozent der Jugendlichen<br />
mit Handys ohne Internet.<br />
28 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Viele der Befragten gaben an, bis<br />
spät in die Nacht noch Videos<br />
anzusehen, online zu sein oder<br />
mit Freunden zu chatten.<br />
Eine Umfrage der amerikanischen<br />
Schlafstiftung (National<br />
Sleep Foundation) ergab 2014 ein<br />
ähnliches Bild. So schlafen Kinder<br />
schlechter, wenn sie Handy, Computer<br />
oder Fernseher in ihrem<br />
Zimmer haben. Fast drei Viertel<br />
der befragten Kinder zwischen 6<br />
und 17 Jahren besassen mindestens<br />
ein elektronisches Gerät,<br />
wobei die Spanne von Fernseher,<br />
Computer und Spielkonsolen bis<br />
hin zu Tablets und Smartphones<br />
reicht. Die Untersuchung ergab,<br />
dass diese Schulkinder schlechter<br />
schliefen als jene, die kein Gadget<br />
in ihren Zimmern hatten.<br />
Eine andere Untersuchung der<br />
Stony Brook University New York<br />
um Dr. Jill Creighton ergab, dass<br />
Kinder und Jugendliche, die ein<br />
Smartphone besitzen, bis zu einer<br />
Stunde weniger schliefen als ihre<br />
Altersgenossen. Besonders Jugendliche<br />
überprüfen auf iPhone und<br />
Co. die Uhrzeit, wenn sie nachts<br />
wach werden. Das Licht des Displays<br />
unterbricht jedoch den<br />
Schlafzyklus und man schläft<br />
wesentlich schlechter ein. Schuld<br />
daran ist das blaue LED-Licht des<br />
Displays. Dieses Kunstlicht ist ein<br />
kurzwelliges Licht mit erhöhtem<br />
Blauanteil im Lichtspektrum, wie<br />
es sich in Beleuchtungen mit LED<br />
findet. Die Spektralfarbe Blau wiederum<br />
senkt den Melatoninspiegel<br />
und hält das Gehirn wach – ein<br />
Effekt, der am Abend vor allem bei<br />
Schulkindern wohl eher unerwünscht<br />
ist.<br />
Die innere Uhr in Schieflage<br />
«Wer um Mitternacht noch seine<br />
E-Mails oder SMS checkt, bringt<br />
seine innere Uhr durcheinander»,<br />
sagt Christian Cajochen, der Leiter<br />
des Zentrums für Chronobiologie<br />
an den Psychiatrischen Universitären<br />
Kliniken Basel. In jüngster<br />
Zeit habe es sich gezeigt, dass die<br />
Menschen spezielle Sinneszellen<br />
im Auge haben, die auf blaues<br />
Licht reagieren und dem Hirn mitteilen,<br />
ob es den Körper wach oder<br />
schlafbereit halten soll. Bisher gab<br />
es aber nur wenige gültige Daten,<br />
die der Frage nachgingen, ob das<br />
Licht der LED-Monitore tatsächlich<br />
ausreicht, um den Tag-Wach-<br />
Rhythmus zu stören und den<br />
Schlaf zu verzögern.<br />
In einem weiteren Experiment<br />
wählten die Forscher einen anderen<br />
Ansatz. Sie testeten die Auswirkungen<br />
auf den Schlaf direkt<br />
bei Jugendlichen. Laut Umfrageergebnissen<br />
verbringen diese<br />
knapp viereinhalb Stunden am<br />
Tag vor dem Fernseher, am Computer<br />
oder Smartphone. 95 Prozent<br />
checken noch regelmässig vor<br />
dem Schlafengehen ihre Social-<br />
Media-Seite oder ihre Chats.<br />
Mit einer Blaulicht-Dusche<br />
ins Bett<br />
«Viele gehen mit einer richtigen<br />
Blaulicht-Dusche ins Bett», sagt<br />
Cajochen. Die Forscher gaben nun<br />
Jugendlichen Brillen mit oder<br />
ohne Blaulichtfilter und untersuchten<br />
den Schlaf am Freitagabend<br />
nach einer Schulwoche.<br />
Nach einer Woche fanden die Forscher<br />
bei den Teilnehmenden mit<br />
Brillen mit Filter deutlich höhere<br />
Melatoninwerte als bei den Probanden<br />
mit Brillen ohne Filter. «Je<br />
länger man abends am Licht ist,<br />
auch am Computerbildschirm,<br />
desto länger meint die innere Uhr,<br />
es sei Tag», so Cajochen.<br />
Experten empfehlen für Schulkinder<br />
genügend Schlaf. Weniger<br />
kann manchmal zu Konzentrationsschwächen<br />
führen. Bereits<br />
die letzte Stunde vor dem Schlafengehen<br />
– so die Wissenschaftler<br />
– sollten Kinder grundsätzlich<br />
ohne Computer, Handy und Co.<br />
verbringen. Eltern wird empfohlen,<br />
mit den Kindern eine Zubettgeh-Routine<br />
zu entwickeln. Diese<br />
funktioniert auch bei grös seren<br />
Kindern – etwa Zähneputzen,<br />
Duschen, Lesen. Spätestens um 21<br />
Uhr sollte aber auch für grössere<br />
Kinder Schluss sein mit lustig.<br />
Go offline – und fünf weitere Tipps<br />
von Jill Creighton für Eltern<br />
• Entwickeln Sie eine Zubettgeh-Routine,<br />
egal, wie alt ihr Kind ist. Das kann ein Bad<br />
sein, ein Buch lesen oder ruhige (!) Musik<br />
hören.<br />
• Go offline! Die Stunde vor dem Schlafengehen<br />
ist elektronikfreie Zone. Die Kinder<br />
sollten an einem definierten Ort in der<br />
Wohnung – beispielsweise in der Küche<br />
oder im Wohnzimmer – ihre Gadgets<br />
einste cken und über Nacht dort lassen.<br />
• Das Bett ist handyfreie Zone. Ein normaler<br />
Wecker tut es auch.<br />
• Falls das Kind sein Smartphone nicht<br />
ausschal tet, sollte man die Screening-Zeit<br />
herunterhandeln. 30 Minuten pro Woche<br />
weniger online sind ein guter Anfang.<br />
Idealer weise limitieren Eltern die Online-<br />
Zeit auf 60 Minuten pro Tag. So viele<br />
Minuten, wie das Kind am Handy hängt,<br />
sollte es sich auch bewegen.<br />
• Das pubertierende Kind vom Sofa oder aus<br />
dem Zimmer zu kriegen, kann zur elterlichen<br />
Herausforderung werden. Sport<br />
oder Bewegung wird gerne als langweilige<br />
Pflichtübung empfunden. Creighton rät zur<br />
Kreativität. Ein 20-minütiger Spazier gang,<br />
30 Minuten Basketball, aber auch Ämtli<br />
und Hausarbeit wie Staubsaugen,<br />
Schneeschau feln oder Rasenmähen<br />
zählen zu entsprechenden Aktivitäten, die<br />
je nachdem monetär entschädigt werden.<br />
• Gute Gewohnheiten etablieren. Am<br />
Ess tisch vom Smartphone oder Fernsehen<br />
abgelenkt zu sein, führt zu eigenartigen<br />
Tischmanieren. Die Eltern müssen<br />
hier mit gutem Beispiel vorangehen.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>29
Körper<br />
Kinder und Zähne:<br />
Brot ist besser als Banane<br />
Wussten Sie, dass Milchzähne schneller kariös werden, zu früher Zahnwechsel zu Lispeln führen<br />
kann und elterliche Zahnputzkontrolle bis ins Teenageralter wichtig ist? Antworten auf Fragen,<br />
die Eltern zu den Zähnen ihrer Kinder haben. Text: Claudia Füssler<br />
Die Milchzähne<br />
gründlich pflegen?<br />
Wozu denn? Die<br />
fallen doch sowieso<br />
wieder heraus.<br />
Diese Einstellung ist bei Eltern<br />
auch heute noch weit verbreitet.<br />
Und sehr falsch. Denn die ersten<br />
Zähne im Leben sind wertvoll: Sie<br />
bilden das Fundament für ein<br />
lebenslang gesundes und solides<br />
Gebiss.<br />
«Deshalb ist einmal täglich<br />
Zähneputzen ab dem ersten Zahn<br />
Pflicht», sagt Priska Fischer von<br />
der Klinik für Zahnerhaltungskunde<br />
und Parodontologie am<br />
Universitätsklinikum Freiburg im<br />
Breisgau. Spätestens wenn sich die<br />
ersten Backenzähne im zweiten<br />
Lebensjahr zeigen, sollte morgens<br />
und abends geputzt werden: mit<br />
einer Bürste, deren Kopf klein und<br />
mit weichen Borsten ausgestattet<br />
ist. Ihr Griff sollte dicker sein als<br />
bei Bürsten für Erwachsene; sie ist<br />
dadurch für Kinder leichter zu<br />
handhaben.<br />
gramm pro Gramm Zahnpasta. Da<br />
Kinder bis zum Schulalter noch<br />
eher viel Zahnpasta verschlucken,<br />
statt sie auszuspucken, dürfen Kinderzahncremes<br />
maximal 500 ppm<br />
Fluorid enthalten, also 0,5 Milligramm<br />
pro Gramm Zahnpasta.<br />
Die Zwischenstufe sind sogenannte<br />
Juniorzahnpasten, die<br />
zwar wie eine Zahncreme fluoridiert,<br />
aber vom Geschmack her<br />
sanfter und vielleicht sogar mit<br />
Fruchtaromen versehen sind.<br />
Empfohlen werden diese Zahncremes<br />
meist ab dem sechsten<br />
oder siebten Lebensjahr. «Mitunter<br />
ist es allerdings sinnvoll, früher<br />
damit zu beginnen», sagt Priska<br />
Fischer. «Ausschlaggebend sollte<br />
sein, wann die ersten bleibenden<br />
Zähne kommen. Bei manchen<br />
Kindern ist das bereits mit vier,<br />
fünf Jahren der Fall. Dann ist eine<br />
stärkere Fluoridierung wichtig.»<br />
Wir brauchen ein gut funktionierendes<br />
Milchzahngebiss für die<br />
Nahrungsaufnahme. Um von<br />
einem Brot oder einer Karotte<br />
abbeissen zu können, müssen die<br />
Zähne richtig zueinander stehen.<br />
Zudem haben die ersten Zähne<br />
eine sogenannte Platzhalterfunktion.<br />
Die ersten bleibenden<br />
Backenzähne nutzen die hintersten<br />
Milchbackenzähne als eine Art<br />
Gerüst, an dem sie sich hochhangeln.<br />
Fehlt diese Orientierung,<br />
Die richtige Dosis Fluorid<br />
Für die Jüngsten empfiehlt sich<br />
eine gering fluoridierte Zahncreme.<br />
Zahnpasta für Erwachsene<br />
enthält meist zwischen 1000 und<br />
1500 ppm (parts per million) des<br />
Karies vorbeugenden Fluo rids.<br />
Das entspricht 1 bis 1,5 Millistossen<br />
die bleibenden Backenzähne<br />
oft zu weit vorne durch den<br />
Kiefer – nicht selten muss hier<br />
später der Kieferorthopäde für die<br />
richtige Zahnstellung sorgen.<br />
Milchzähne sind auch essenziell<br />
für den Prozess des Sprechenlernens:<br />
Fallen die Schneidezähne<br />
im Oberkiefer zu früh aus, hat das<br />
negative Folgen für die Sprachentwicklung.<br />
Die Zunge hat plötzlich<br />
vorne mehr Platz, als sie braucht,<br />
dadurch klingen S- und Z-Laute<br />
merkwürdig, das Kind beginnt zu<br />
lispeln. Schlimmstenfalls führen<br />
die ständigen Zungenbewegungen<br />
nach dem Zahnwechsel zu einem<br />
offenen Biss.<br />
Ein Putzsystem fürs ganze Leben<br />
Deshalb versucht die moderne<br />
Zahnmedizin alles, um auch<br />
schwer geschädigte Milchzähne so<br />
lange wie möglich zu erhalten. Es<br />
gibt Kronen für Milchzähne und<br />
Zahnprothesen für Kinder, auch<br />
Wurzelbehandlungen an den ersten<br />
Zähnen werden durchgeführt.<br />
So weit sollte es allerdings nur in<br />
Die Milchzähne sollten<br />
genauso gut gepflegt werden<br />
wie die bleibenden Zähne.<br />
30 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Bild: Alain Laboile<br />
Ausnahmefällen kommen. Die<br />
Prophylaxe heisst also: Pflege, Pflege,<br />
Pflege.<br />
Die Milchzähne sollten unbedingt<br />
genauso gut gepflegt werden<br />
wie die bleibenden. Sie sind nämlich<br />
schwächer mineralisiert als<br />
das dauerhafte Gebiss und werden<br />
dadurch schneller kariös. Dem<br />
Keim Streptococcus mutans und<br />
den Laktobazillen – den beiden<br />
grössten Kariesverursachern – ist<br />
völlig egal, ob es sich um einen<br />
Milch- oder einen bleibenden<br />
Zahn handelt. Eine einmal auftretende<br />
Karies an Kinderzähnen<br />
kann schlimme Folgen haben,<br />
denn die Nervhöhle des Zahns ist<br />
im Verhältnis zur Hartsubstanz<br />
grösser als bei einem bleibenden<br />
Zahn. Das heisst, die Karies kann<br />
den Nerv schneller erreichen. «Ist<br />
der Nerv einmal entzündet, können<br />
die Bakterien auch den ge -<br />
schützt darunterliegenden bleibenden<br />
Zahn angreifen», erklärt<br />
Priska Fischer.<br />
Bis in das Grundschulalter hinein<br />
sollten die Eltern nachputzen,<br />
rät Fischer. Erst in diesem Alter<br />
sehe man, ob es den Kindern<br />
gelungen sei, sich ihr eigenes<br />
Putzsystem zu erarbeiten. Das ist<br />
wichtig, denn solche Muster bleiben<br />
meist ein Leben lang erhalten.<br />
Ab dem Kindergartenalter – die<br />
Kleinen müssen ausspucken können<br />
– können Eltern mit Färbetabletten<br />
aus der Apotheke das<br />
Bewusstsein für die Sauberkeit der<br />
Zähne schärfen: Rote Verfärbungen<br />
zeigen an, wo noch Belag haften<br />
geblieben ist und gründlicher<br />
geputzt werden muss.<br />
Während eine Mundspülung<br />
für die Zahnpflege bei Kin- >>><br />
Die Milchzähne<br />
Milchzähne haben wichtige Aufgaben.<br />
Angelegt werden sie in der sechsten<br />
Schwangerschaftswoche, und bei der<br />
Geburt liegen sie voll entwickelt im<br />
Kiefer des Kindes – man sieht jedoch<br />
noch nichts von ihnen. Ab dem vierten<br />
Lebensmonat brechen die Zähne durch,<br />
und zum ersten Geburtstag sind meist<br />
alle oberen und unteren Schneidezähne<br />
sichtbar. Bis zum 16. Monat folgen<br />
die ersten Backenzähne, die Eckzähne<br />
zeigen sich bis zum 20. Monat. Ein<br />
dreijähriges Kind hat mit 20 Zähnen<br />
ein vollständiges Milchzahngebiss.<br />
Die neuen, bleibenden Zähne entwickeln<br />
sich unter dem Milchgebiss. Zwischen<br />
dem 6. und dem 12. Lebensjahr werden<br />
die Milchzähne durch die bleibenden<br />
Zähne ersetzt – wann genau, das ist von<br />
Kind zu Kind verschieden. In der Regel<br />
ist der Zahnwechsel abgeschlossen, bis<br />
die Kinder 12 Jahre alt sind.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>31
Körper<br />
>>> dern eher lässlich ist, ist die<br />
Zahnseide ein wichtiges Hilfsmittel.<br />
Sie sollte konsequent ab dem<br />
Moment angewandt werden, ab<br />
dem man zwischen zwei Zähnen<br />
keinen Zwischenraum mehr sieht.<br />
«Das sollten die Eltern übernehmen,<br />
motorisch ist Zahnseide für<br />
Kinder noch schwierig zu handhaben»,<br />
sagt Priska Fischer.<br />
Die fehlende Feinmotorik sollte<br />
jedoch kein Grund dafür sein,<br />
dass Eltern sich dazu verführen<br />
lassen, eine elektrische Zahnbürste<br />
für die Kinder zu kaufen –<br />
zumindest nicht am Anfang.<br />
Denn jedes Kind sollte zunächst<br />
Jedes Kind sollte zuerst die<br />
grundlegende Putztechnik mit<br />
einer Handzahnbürste lernen.<br />
die grundlegende Putztechnik mit<br />
einer Handzahnbürste aus dem<br />
Effeff beherrschen, um darauf<br />
zurückgreifen zu können, wenn<br />
die elektrische Zahnbürste nicht<br />
dabei ist. «Ich vergleiche das<br />
immer mit Tennis und Tischtennis»,<br />
sagt Priska Fischer, «das eine<br />
spielt man aus dem Handgelenk,<br />
das andere aus dem Arm heraus<br />
– so verhält es sich auch mit der<br />
Handzahnbürste und der elektrischen.»<br />
Sind die Kinder sicher im<br />
Umgang mit der Handzahnbürste,<br />
kann eine elektrische eine sinnvolle<br />
Anschaffung sein, denn sie entfernt<br />
mehr Beläge als eine Handzahnbürste<br />
– allerdings nur bei<br />
richtiger Handhabung. «Man<br />
kann auch mit einer elektrischen<br />
Zahnbürste schlecht putzen», sagt<br />
Priska Fischer. Die ideale Kombination,<br />
so die Zahnärztin, sei,<br />
morgens von Hand und abends<br />
elektrisch zu putzen.<br />
Zahnfreundliches Essen und<br />
Trinken<br />
Neben dem Putzen trägt auch die<br />
Ernährung zu einem gesunden<br />
Gebiss bei. Es gilt die Faustregel:<br />
generell so wenig industriell hergestellte<br />
Lebensmittel und Fertigprodukte<br />
wie möglich. Die enthalten<br />
meist viele versteckte Zucker,<br />
die die schädlichen Säureangriffe<br />
der Bakterien auf die Zähne auslösen.<br />
Hierunter fallen auch viele<br />
Früchtetees für Kinder sowie Eistees<br />
und Softdrinks für Jugendliche.<br />
Karotte und Apfel sorgen<br />
durch ihre Konsistenz ebenso wie<br />
Vollkornbrot für eine leichte,<br />
natürliche Reinigung der Zähne,<br />
während eine Banane lange an den<br />
Zähnen kleben bleibt. Bei Süssigkeiten<br />
kommt es auf die richtige<br />
«Wir befinden uns<br />
auf gutem Weg»<br />
Der Präventivzahnmediziner<br />
Giorgio Menghini über die<br />
Mundgesundheit in der Schweiz.<br />
Interview: Claudia Füssler<br />
Herr Menghini, wie steht es um die<br />
<strong>Gesundheit</strong> von Kinderzähnen in<br />
der Schweiz?<br />
Insgesamt sehr gut. Das liegt auch daran,<br />
dass wir in der Schweiz ein System<br />
haben, bei dem bereits im Vorschulalter,<br />
vor allem durch Mütterberaterinnen,<br />
und ab dem Kindergartenalter<br />
durch Schulzahnpflege-Instruktorinnen<br />
regelmässig auf die Zahnpflege<br />
der Kinder geachtet wird. Diese umfassende<br />
Aufklärung von Eltern und Kindern<br />
und die Zahnbürstübungen in der<br />
Schule haben einen wichtigen Beitrag<br />
an die Karies reduktion von 90 Prozent<br />
geleistet, die in den letzten 40 Jahren bei<br />
den Volksschülern beobachtet wurde.<br />
Gibt es gar nichts mehr, was Ihnen<br />
Sorgen macht?<br />
Es gibt immer noch Risikogruppen, bei<br />
welchen auch die einfachen Botschaften<br />
der Kariesvorbeugung schwer<br />
ankommen. Wir achten also darauf,<br />
dass die bewährten Vorbeugemassnahmen<br />
möglichst alle Bevölkerungsschichten<br />
erreichen. Doch wir befinden<br />
uns auf einem guten Weg. Dank der<br />
verbesserten Mundhygiene sind auch<br />
schwere Fälle von Gingivitis – also der<br />
Zahnfleischentzündung – aus der<br />
Schule praktisch verschwunden.<br />
Was sind die wichtigsten Faktoren<br />
für die Mundgesundheit?<br />
Als erster das Zähnebürsten, ab dem<br />
Durchbruch des ersten Milchzahns<br />
einmal täglich, spätestens mit zwei<br />
Jahren zweimal täglich. Wir empfehlen<br />
dazu eine fluoridhaltige Kinderzahnpaste,<br />
mit der die Frontzähne zuerst<br />
aussen, dann innen gebürstet werden.<br />
Wichtig sind die Bewegungen: Sie sollten<br />
vertikal sein, also auf und ab. Horizontale,<br />
schrubbende Bewegungen<br />
schaden Zähnen und Zahnfleisch auf<br />
Dauer. Sobald die ersten Milchmolaren<br />
da sind, müssen auch deren Kauflächen<br />
gründlich gebürstet werden.<br />
Ausführliche Zahnpflege-Informationen<br />
auf: www.generation-kariesfrei.ch.<br />
Giorgio Menghini<br />
ist Zahnarzt an der Klinik für<br />
Präventivzahnmedizin, Parodontologie<br />
und Kariologie der Universität Zürich.<br />
32 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Lieber zehn Gummibärchen<br />
auf einmal essen als<br />
unkontrolliert den ganzen<br />
Nachmittag welche naschen.<br />
Dosierung an: «Lieber zehn Gummibärchen<br />
auf einmal als unkontrolliert<br />
den ganzen Nachmittag<br />
über welche essen und den Bakterien<br />
damit immer wieder Substrat<br />
zuführen», sagt Priska Fischer.<br />
Die Zahnärztin empfiehlt für<br />
Kinder, die ein erhöhtes Kariesrisiko<br />
haben, den natürlichen<br />
Zuckerersatzstoff Xylith. Der<br />
schmeckt süss und eignet sich<br />
sowohl als Mundspülung als auch<br />
zum Backen. Da Xylith in zu<br />
hohen Dosen abführend wirken<br />
kann, sollten sich Anwender langsam<br />
an grössere Mengen herantasten.<br />
«Als Spüllösung verwendet,<br />
blockiert Xylith den Bakterienstoffwechsel<br />
und kann so Karies<br />
verhindern», sagt Fischer. Auch<br />
eine Versiegelung kann sinnvoll<br />
sein, so haben Bakterien weniger<br />
Angriffsmöglichkeiten auf der<br />
Kaufläche eines Backenzahns.<br />
Die Strategie mit dem Nachputzen<br />
und den Färbetabletten<br />
sollten Eltern auch bei älteren<br />
Kindern beibehalten – wenn auch<br />
nicht täglich. So können die Kinder<br />
lernen, worauf es beim Zähneputzen<br />
wirklich ankommt. Vor<br />
allem, wenn mit sechs, sieben Jahren<br />
die ersten bleibenden Backenzähne<br />
kommen, stellen Zahnärzte<br />
häufig fest, dass die schnell Karies<br />
bekommen – weil dies in einem<br />
Alter geschieht, in dem die elterliche<br />
Zahnputzkontrolle meist<br />
schon an Strenge verloren hat.<br />
Dabei ist die weit bis ins Teenageralter<br />
hinein gefragt: Jugendliche<br />
sind eine Klientel, die Zahnärzte<br />
mit ihren Appellen kaum<br />
erreichen.<br />
>>><br />
Karies vorbeugen<br />
So schützen Sie die Milchzähne Ihres Kindes vor Karies:<br />
• Regelmässige und sorgfältige Zahn- und Mundhygiene:<br />
zweimal täglich mit fluoridhaltiger Kinderzahnpasta.<br />
• Regelmässige Kontrolluntersuchungen beim Zahnarzt<br />
zweimal im Jahr.<br />
• Zahnfreundliches Essen und Trinken: Produkte, die wenig<br />
Zucker und wenig Säure enthalten. Schlecht für die Zähne<br />
sind Nahrungsmittel, die an den Zähnen kleben – zum<br />
Beispiel Chips, Honig, Bananen oder Trockenfrüchte.<br />
• Zahnfreundliche Süssigkeiten: Ein weisses Zahnmännchen<br />
mit Schirm auf rotem Grund – mit diesem Logo sind<br />
Süsswaren gekennzeichnet, die während und bis 30 Minuten<br />
nach dem Verzehr keinen Säure auslösenden Kariesschub<br />
verursachen.<br />
• Fluoridierung: Fluoride wirken doppelt. Sie hemmen den<br />
Stoffwechsel der Karies auslösenden Bakterien und sie<br />
härten den Zahnschmelz und machen ihn so<br />
widerstands fähiger. Achten Sie auf eine fluoridhaltige<br />
Zahncreme. Vorbeugend kann zudem fluoridiertes<br />
Speisesalz zum Kochen verwendet werden.<br />
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Körper<br />
Kinderaugen,<br />
die alles sehen<br />
Schielen, Schwach- und Kurzsichtigkeit treten bei<br />
Kindern und Jugendlichen jeden Alters auf. Viele<br />
Augenprobleme können mit einer frühen Diagnose und<br />
Therapie erfolgreich behandelt werden. Text: Petra Seeburger<br />
Die orthoptische<br />
Sprechstunde der<br />
Zürcher Augenklinik<br />
ist voll. Die<br />
dreijährige Anna<br />
ist zum Sehtest hier. Ihre Hausärztin<br />
hat bei der Jahreskontrolle festgestellt,<br />
dass sie auf einem Auge<br />
schlechter sieht. In einer Art Kasperlitheater<br />
werden dem Mädchen<br />
Bilder von Äpfeln, Sternen<br />
und Blumen gezeigt. Die Orthoptistin<br />
kontrolliert so die Sehfähigkeit<br />
der Kleinen. Nach ihr kommt<br />
der sechsjährige Max mit der<br />
Augenklappe. Seit etwa einem<br />
Monat trainiert der kleine Pirat<br />
damit sein schielendes Auge.<br />
Dann sitzt noch Frank im Wartezimmer.<br />
Er ist in der zweiten Klasse.<br />
Bei ihm wurde eine Lese-<br />
Schreib-Schwäche festgestellt. In<br />
der Augenklinik wird nun abgeklärt,<br />
ob ein Augenproblem dabei<br />
eine Rolle spielen könnte. Zum<br />
Schluss kommt noch die zehnjährige<br />
Jana, die neu eine Brille hat,<br />
weil sie kurzsichtig ist.<br />
Sehen lernen in der Kindheit<br />
Augenprobleme bei Kindern und<br />
Jugendlichen können vielschichtig<br />
sein und jedes Alter betreffen.<br />
«Stets geht es bei der Behandlung<br />
von Augenerkrankungen in dieser<br />
Altersgruppe darum, das bestmögliche<br />
Sehvermögen zu erhalten<br />
oder wiederzuerlangen», sagt<br />
Professorin Klara Landau, Direktorin<br />
der Augenklinik am Zürcher<br />
Unispital. Schliesslich sei das<br />
Sehen einer unserer wichtigsten<br />
Sinne. Das Sehvermögen entwick-<br />
Bild: Alain Laboile<br />
34 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
le sich aber erst nach der Geburt.<br />
«Zwar sind die Sehnerven und die<br />
Augen schon angelegt, die komplexen<br />
Verbindungen zwischen<br />
den Nervenzellen in der gesamten<br />
Sehbahn vom Auge bis zum Ge <br />
hirn müssen sich jedoch erst ausbilden<br />
und reifen», erklärt Landau.<br />
Sehvermögen beobachten<br />
Ein Sehproblem bei Kindern zu<br />
erkennen, ist aber nicht immer<br />
leicht: «Kinder sind keine kleinen<br />
Erwachsenen. Sie melden nicht<br />
von sich aus, wenn sie nicht gut<br />
sehen», sagt Renata Gulik Landolt,<br />
Cheforthoptistin der Zürcher Klinik.<br />
Es sei daher die Aufgabe der<br />
Eltern oder des Umfelds, das Sehvermögen<br />
zu beobachten. Wenn<br />
allerdings nur ein Auge schlechter<br />
sehe, merke das keiner. «Für die<br />
Kinder ist das dann die Norm»,<br />
sagt Renata Gulik Landolt. Sehtests<br />
seien deshalb auch Teil der<br />
regelmässigen Kindervorsorgeuntersuchungen.<br />
«Im Kanton<br />
Zürich gehören sie sogar zu den<br />
schulärztlichen Untersuchungen.»<br />
Wenn Eltern bei ihrem Kind<br />
eine Sehschwäche vermuten, sollte<br />
das umgehend spezialärztlich<br />
untersucht werden. «Viele Augenprobleme<br />
können mit einer frühen<br />
Diagnose und Therapie er <br />
folgreich behandelt werden»,<br />
be tont Landau. Sei man hingegen<br />
zu spät, könne dies lebenslange<br />
Auswirkungen haben.<br />
«Faule» Augen<br />
Wird bei einem Kind ein Auge<br />
durch einseitiges Schielen oder<br />
eine ungleiche Brechkraft der<br />
Augen benachteiligt, kann es zu<br />
einer Schwachsichtigkeit kommen.<br />
Bei dieser sogenannten<br />
Amblyopie sieht dieses zurückgesetzte<br />
Auge beschränkt, obwohl es<br />
«organisch» gesund ist. Die Expertinnen<br />
reden auch von einem «lazy<br />
eye».<br />
Die Schwachsichtigkeit entstehe in<br />
der kindlichen Entwicklungsphase<br />
zwischen der Geburt und dem<br />
Primarschulalter und könne auch<br />
in dieser Zeitspanne erfolgreich<br />
behandelt werden, erklärt Klara<br />
Landau. Behandelt wird mit der<br />
sogenannten Okklusionstherapie:<br />
Für eine bestimmte Zeit am Tag<br />
wird das führende Auge mit einem<br />
Augenpflaster abgeklebt. Das Kind<br />
wird so quasi gezwungen, das<br />
schwächere Auge zu benutzen.<br />
Dies sei übrigens eine Behandlung,<br />
deren Wirksamkeit wissenschaftlich<br />
nachgewiesen sei, be <br />
tont Landau. David H. Hubel und<br />
Torsten N. Wiesel haben 1981«für<br />
ihre Entdeckungen über die Sehwahrnehmung»<br />
den Medizinnobelpreis<br />
erhalten. Zur Okklusionstherapie<br />
braucht es aber oft<br />
noch eine Brille. Bei richtiger Therapie<br />
erholt sich die Sehkraft wieder.<br />
Nicht auf Achse stehen<br />
Schielen ist ein weiteres und häufiges<br />
Augenproblem von Kindern.<br />
Etwa fünf Prozent aller Kinder<br />
sind betroffen, betont Orthoptistin<br />
Renata Gulik Landolt. Beim Schielen<br />
liege eine Fehlstellung der<br />
Augen vor. «Die zentrale Steuerung<br />
zwischen Augenmuskeln und<br />
Gehirn ist gestört», ergänzt sie. Es<br />
gibt unterschiedliche Formen von<br />
Schielen. So kann ein Kind dauernd<br />
schielen oder nur manchmal,<br />
wenn es müde ist. Wenn das räumliche<br />
Sehen eingeschränkt >>><br />
Welche Symptome können auf<br />
Augenprobleme hinweisen?<br />
• Fehlstellung der Augen (Schielen)<br />
• Schiefhalten des Kopfes<br />
• Häufiges Blinzeln und Zwinkern oder<br />
Augenzittern (Nystagmus)<br />
• Lichtüberempfindlichkeit<br />
• Kopfschmerzen und Brennen der Augen<br />
• Konzentrationsprobleme, Leseschwäche<br />
• Ungeschicklichkeit wie Vorbeigreifen<br />
an Gegenständen oder Schwierigkeiten<br />
mit Zielen und Fangen<br />
Wie entwickelt sich das Sehen?<br />
• Geburt: Neugeborene sehen etwa<br />
20 Zentimeter weit.<br />
• 3. Monat: Kontraste werden<br />
wahrgenommen, Säuglinge können<br />
Menschen und Gegenstände anschauen<br />
und fixieren.<br />
• 4. Monat: Dinge in der Ferne sowie<br />
in der Nähe werden zunehmend<br />
scharf gesehen.<br />
• 6. Monat: Das räumliche und<br />
dreidimensionale Sehen entwickelt sich.<br />
• Erste Lebensjahre: Die Kleinkinder<br />
sehen in Farben.<br />
• 7. Lebensjahr: Sehvermögen<br />
ist komplett ausgebildet.<br />
• 8. bis 9. Lebensjahr: Gesichtsfeld<br />
ist vollständig entwickelt.<br />
Was macht eine Orthoptistin?<br />
Orthoptistinnen und Orthoptisten HF sind<br />
medizinische Fachkräfte und arbeiten im<br />
Auftrag von Augenärzten. Sie untersuchen<br />
oder behandeln Sehstörungen oder<br />
Funktionsstörungen der Augenmuskeln.<br />
Kinder, die meistens drinnen mit<br />
Handy und Computer beschäftigt<br />
sind, werden häufiger kurzsichtig.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>35
Körper<br />
Kontaktlinsen sind für<br />
Jugendliche erst ab dem<br />
14. Lebensjahr zu empfehlen.<br />
>>> ist oder bei einem grossen<br />
und störenden Schielwinkel kann<br />
eine Operation an den Augenmuskeln<br />
durchgeführt werden. Dabei<br />
wird die Schielstellung verbessert<br />
und die Sehachse gestellt. Den Eingriff<br />
übernimmt die obligatorische<br />
Krankenversicherung.<br />
Bei der Lese-Rechtschreib-<br />
Störung – auch Legasthenie ge -<br />
nannt – besteht eine fehlerhafte<br />
Verarbeitung von sprachlichen<br />
Informationen im Gehirn. «Bei<br />
Verdacht auf eine Legasthenie soll<br />
trotzdem immer eine augenärztliche<br />
Untersuchung gemacht werden,<br />
um gute Voraussetzungen für<br />
die visuelle Wahrnehmung von<br />
Texten zu schaffen», erklärt Gulik<br />
Landolt.<br />
Für das Lesenlernen muss ein<br />
Kind Wortbilder korrekt sehen<br />
können. Ist die Diagnose der Legasthenie<br />
gesichert, so empfiehlt<br />
Frau Gulik, dass die weitere Be -<br />
treuung durch geschulte Logopädinnen<br />
und Logopäden erfolgt.<br />
Alternative Massnahmen wie<br />
Prismengläser seien allerdings<br />
wissenschaftlich nicht belegt und<br />
unter Umständen sogar schädlich.<br />
erklärt sie. Kinder, die meistens<br />
drinnen mit Handys und Computern<br />
beschäftigt sind, werden häufiger<br />
kurzsichtig, bedingt durch die<br />
ständige Akkommodation, also<br />
das Zoomen in die Nähe.<br />
Bei Kurzsichtigkeit – auch<br />
Myopie genannt – wächst auch der<br />
Augapfel in die Länge. Betroffene<br />
brauchten dann eine Brille, was<br />
seit den Harry-Potter-Filmen viel<br />
besser akzeptiert sei. Bei Kontaktlinsen<br />
sind beide Expertinnen zu -<br />
rückhaltend: Diese seien wegen<br />
des Hygieneproblems nur bei<br />
wenigen Erkrankungen oder für<br />
<strong>Spezial</strong>fälle etwa ab dem 14. Le -<br />
bensjahr zu empfehlen.<br />
Sonnenbrille nicht vergessen<br />
Gemäss Klara Landau ist in den<br />
Industriestaaten Blindheit bei Kindern<br />
heute sehr selten. «Schwere<br />
Schädigungen der Netzhaut sehen<br />
wir selbst bei sehr kleinen Frühgeborenen<br />
kaum noch», sagt sie.<br />
Allerdings können Infektionskrankheiten<br />
von schwangeren<br />
Müttern bei Kindern Augenprobleme<br />
verursachen, wie beispielsweise<br />
die Toxoplasmose oder neu<br />
das Zika-Virus. Klara Landau<br />
warnt besonders vor Röteln in der<br />
Schwangerschaft: «Diese Erkrankung<br />
kann zu schwersten Augenmissbildungen<br />
beim ungeborenen<br />
Kind führen.» Deshalb sei die<br />
Rötelnimpfung aller jungen Mädchen<br />
dringend empfohlen.<br />
Auf die Frage, ob Augengymnastik<br />
oder eine Extraportion<br />
Rüebli den Augenproblemen vorbeugten,<br />
winkt Renata Gulik Landolt<br />
ab: «Eine spezielle Augengymnastik<br />
ist nicht nötig, denn<br />
die Augen sind ständig in Bewegung<br />
– sogar im Schlaf.» Auch ein<br />
Vitamin-A- Mangel sei in unseren<br />
Breitengraden kein Thema.<br />
Für gesunde Kinderaugen seien<br />
die folgenden Faktoren ausreichend:<br />
abwechslungsreiche Er -<br />
nährung, viel Zeit im Freien verbringen<br />
und die Augen mit einer<br />
Sonnenbrille vor UV-Strahlen<br />
schützen. Die beiden Expertinnen<br />
empfehlen aber, «Sehprobleme<br />
immer ernst zu nehmen und rasch<br />
abklären zu lassen».<br />
>>><br />
Petra Seeburger<br />
ist Intensivpflegefachfrau, Journalistin und<br />
Kommunikationsspezialistin. Sie arbeitet<br />
seit über 30 Jahren im <strong>Gesundheit</strong>swesen.<br />
Kurzsichtigkeit nimmt zu<br />
Immer mehr Kinder und Jugendliche<br />
sind kurzsichtig. «Die Zunahme<br />
ist vor allem im asiatischen<br />
Raum dramatisch», sagt Klara<br />
Landau. Zum einen seien dafür<br />
genetische und zum anderen<br />
Umweltfaktoren verantwortlich.<br />
«Massgeblichen Einfluss hat die<br />
Lichtexposition – also der Aufenthalt<br />
im normalen Tageslicht»,<br />
Ausgewogene Ernährung<br />
und viel Zeit im Freien sorgen<br />
für gesunde Kinderaugen.<br />
36 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
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März <strong>2017</strong>37<br />
Allgemeinen Vertragsbedingungen der Krankenkasse.
Zen in der Kunst<br />
der Kinderernährung<br />
Bei allen guten Ratschlägen und sachlichen Empfehlungen rund um das Thema<br />
Ernährung geht beinahe vergessen, dass Essen auch Genuss und Geborgenheit<br />
bedeutet. Text: Ruth Hoffmann<br />
ten täglich, Tomaten akzeptiert es<br />
allenfalls im Ketchup, kräht nach<br />
Pommes frites, Pizza, Hamburger<br />
und schwört, sterben zu müssen,<br />
wenn es in die Nähe von Brokkoli<br />
käme. So uneins sich Eltern in<br />
vielen Fragen sind, ins grosse Klagelied<br />
über das Essverhalten ihres<br />
Nachwuchses stimmen alle mit<br />
ein. Fast gilt es schon als Tatsache,<br />
dass Kinder beim Essen rundweg<br />
ablehnen, was gut für sie ist.<br />
Und es ist auch oft nicht einfach.<br />
Das Thema birgt durchaus<br />
Konfliktpotenzial und sorgt in<br />
Gemüse, klar, Obst<br />
und Vollkornbrot<br />
sowieso, selbstverständlich<br />
Hülsenfrüchte<br />
und Milchprodukte,<br />
Schokolade nur ab und<br />
zu – wie gesunde Ernährung für<br />
Kinder aussieht, wissen wir ganz<br />
gut. An Empfehlungen mangelt es<br />
ohnehin nicht, und auch nicht am<br />
guten Willen, sie umzusetzen.<br />
Zumindest nicht bei uns. Es könnte<br />
so einfach sein, wäre da nicht<br />
dieser kleine Haken: das Kind.<br />
Partout will es Nudeln, am liebsvielen<br />
Familien regelmässig für<br />
Frust auf beiden Seiten: beim<br />
Kind, weil es sich unverstanden<br />
fühlt, bei den Eltern, weil ihre Versuche,<br />
ihm Gesundes schmackhaft<br />
zu machen, nicht fruchten wollen.<br />
So wird der Esstisch immer wieder<br />
zum Schauplatz grösserer und<br />
Die Inhaltsstoffe eines<br />
Lebensmittels sind Kindern egal.<br />
Hauptsache, es schmeckt.<br />
38 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Körper<br />
kleinerer Scharmützel. Jammerschade<br />
ist das. Und völlig unnötig:<br />
Kein noch so vorbildliches Ernährungskonzept<br />
ist es wert, dass darüber<br />
die Freude am Essen verloren<br />
geht, denn ohne sie wird es sowieso<br />
nichts damit.<br />
Wer möchte, dass der Nachwuchs<br />
freiwillig zu Vollkorn, Früchten<br />
und Gemüse greift, muss selbst<br />
mit gutem Beispiel vorangehen.<br />
Genuss oder Qual der Mahlzeit<br />
Bild: Alain Laboile<br />
«Wir starren viel zu sehr auf Er <br />
nährungsempfehlungen und verlieren<br />
dabei den Blick für die Esssituationen.<br />
In denen entscheidet<br />
sich aber, ob eine Mahlzeit als<br />
Genuss oder als Qual empfunden<br />
wird», sagt Ines Heindl. Sie ist Professorin<br />
für Ernährungswissenschaft<br />
und Verbraucherbildung an<br />
der Europa-Universität in Flensburg,<br />
Deutschland, und beschäftigt<br />
sich seit vielen Jahren mit dem<br />
Zusammenhang zwischen Essen<br />
und Kommunikation. Dieser sei<br />
von der Wissenschaft vernachlässigt<br />
worden, kritisiert sie die eigene<br />
Zunft. So befassten sich auch<br />
viele Verbraucher eher mit Nährstoffgehalten<br />
und Lebensmittelpyramiden<br />
als mit Genuss und<br />
Freude am Essen (siehe Interview<br />
auf Seite 40).<br />
Eine angespannte Atmosphäre<br />
bei Tisch, in der gereizt verhandelt<br />
wird, was gegessen werden muss,<br />
ist nicht dazu angetan, das, was<br />
auf dem Teller liegt, mit guten<br />
Gefühlen zu verbinden. Wer mit<br />
sechs Jahren vor einer Portion Spinat<br />
sitzen musste, bis sie aufgegessen<br />
war, wird Spinat höchstwahrscheinlich<br />
auch als Erwachsener<br />
noch meiden. Die Inhaltsstoffe<br />
eines Lebensmittels sind Kindern<br />
ohnehin egal. Hauptsache, es<br />
schmeckt! Ist das nicht auch ein<br />
verständlicher Ansatz?<br />
Mit Appellen ans <strong>Gesundheit</strong>sbewusstsein<br />
kommt man also<br />
nicht weit – sie funktionieren<br />
schon bei Erwachsenen nicht sonderlich<br />
gut. Druck und Zwang<br />
aber sind sogar absolut kontraproduktiv.<br />
Denn Essen ist nun einmal<br />
viel mehr als nur Nahrungsaufnahme.<br />
Es kann trösten und beruhigen;<br />
es verbindet, trennt und<br />
schafft Identität. Mal ist es Heimat,<br />
mal Fremde, mal eklig, mal<br />
köstlich. Es weckt Erinnerungen<br />
und Assoziationen, im Guten wie<br />
im Bösen. Kurz: Es ist emotional.<br />
Natürliche Vorliebe für Süsses<br />
Von Anfang an ist das so. Schon<br />
ein Säugling erlebt das Gestilltwerden<br />
als wärmende Zuwendung.<br />
Die Entspannung durch die langsam<br />
einsetzende Sättigung, die<br />
Nähe zur Mutter, ihre Stimme und<br />
ihr Herzschlag verschmelzen zu<br />
einem Gefühl von Geborgenheit,<br />
das sich untrennbar mit der Süsse<br />
der Muttermilch verbindet. Die<br />
Vorliebe für Süsses ist uns also<br />
angeboren und kein Trick der<br />
Lebensmittelindustrie. Jedes Kind<br />
kommt mit ihr auf die Welt, unabhängig<br />
vom Kulturkreis. Auch in<br />
der Ablehnung bitterer Geschmäcker<br />
sind sich alle Menschenkinder<br />
gleich: ein Schutz der Evolution<br />
vor Giftigem.<br />
Erst mit der Zeit lernt ein Kind,<br />
auch Saures, Salziges und Bitteres<br />
zu mögen. Vorausgesetzt, es be <br />
kommt die Chance dazu. Und hier<br />
sind die Eltern gefragt: Kurzfristig<br />
mag es einfacher sein, Kindern<br />
jeden Essenswunsch zu erfüllen.<br />
Auf Dauer tut man ihnen damit<br />
aber keinen Gefallen, da man sie<br />
so der Möglichkeit beraubt, ihre<br />
Sinne zu entwickeln und unterschiedliche<br />
Geschmackserfahrungen<br />
zu machen. Ein Versäumnis,<br />
das später nur schwer nachzuholen<br />
ist. Je breiter und bunter das<br />
Angebot an Nahrungsmitteln ist,<br />
das Kinder und Jugendliche zu<br />
Hause kennenlernen, desto breiter<br />
ist auch das kulinarische Fundament,<br />
auf dem sie stehen, und desto<br />
besser sind sie gegen Mängel<br />
oder Essstörungen gefeit.<br />
Die ersten Weichen werden<br />
schon vor der Geburt gestellt: Forschungen<br />
haben gezeigt, dass Kinder<br />
von Frauen, die sich während<br />
der Schwangerschaft abwechslungsreich<br />
ernährt haben, später<br />
eher bereit sind, sich beim Essen<br />
auf Neues einzulassen, weil sie<br />
über das Fruchtwasser bereits vieles<br />
in Nuancen zu schmecken be <br />
kommen haben. Auch Muttermilch<br />
schmeckt jeden Tag ein<br />
wenig anders und trägt so zur Ge <br />
schmacksprägung des Babys bei.<br />
Als Kleinkind erforscht es dann<br />
das Universum des Essens mit<br />
derselben Neugier wie den Rest<br />
der Welt.<br />
«Kinder interessieren sich ir <br />
gendwann ganz von selbst für das,<br />
was sich Vater und Mutter in den<br />
Mund stecken und ihnen offensichtlich<br />
schmeckt. Man sollte<br />
darum schon früh versuchen, es in<br />
altersgemässer Weise an den ge <br />
meinsamen Mahlzeiten teilhaben<br />
zu lassen», rät Ines Heindl. «Kinder<br />
wollen nicht gefüttert werden,<br />
sondern dabei sein und mittun.»<br />
Warum also nicht die Anderthalbjährige<br />
von den Pellkartoffeln mit<br />
Quark und den gekochten >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>39
Körper<br />
Der Geschmack eines<br />
Menschen entwickelt sich<br />
allmählich und in Schüben.<br />
>>> Rüben probieren lassen<br />
oder beim Frühstück von einem<br />
Stück des Käsebrots?<br />
Kinder durchschauen unehrliches<br />
Werben<br />
Wer möchte, dass der Nachwuchs<br />
freiwillig zu Vollkorn, Früchten<br />
und Gemüse greift, muss selbst<br />
mit gutem Beispiel vorangehen.<br />
Je echter und selbstverständlicher,<br />
desto besser. Denn Kinder haben<br />
feine Antennen für Zwischentöne<br />
und doppelte Böden: Wenn der<br />
Vater das Müesli als «gesund und<br />
gut» preist, es aber insgeheim<br />
selbst nicht mag, wird seine Werbung<br />
wenig Erfolg haben.<br />
Wenn Kinder ihre Eltern aber<br />
mit Vergnügen essen sehen, in der<br />
Familie eine undogmatische Vielfalt<br />
auf den Tisch kommt und ge <br />
meinsam in entspannter Atmosphäre<br />
gegessen wird, stehen die<br />
Chancen sehr gut, dass sie sich<br />
eines Tages davon anstecken lassen<br />
und ebenfalls zu Paprika, Gurke<br />
und Birne greifen. «Das Vorbild<br />
der Eltern hat eine starke Wirkung,<br />
auf die man sich getrost<br />
verlassen kann», sagt Ines Heindl.<br />
«Entscheidend ist, dass der ‹soziale<br />
Raum des Essens› von allen als<br />
etwas Schönes empfunden wird<br />
und sich mit positiven Erlebnissen<br />
anreichern kann.»<br />
Was aber, wenn sich das Töchterchen<br />
strikt weigert, Neues zu<br />
probieren? Tatsächlich sind Kinder<br />
dickfellige Gewohnheitstiere<br />
und haben meist kein Problem<br />
damit, jeden Tag dasselbe zu<br />
essen. Das heisst aber nicht, dass<br />
Eltern sich dem dauerhaft ergeben<br />
müssen. Der Geschmack eines<br />
Menschen entwickelt sich allmählich<br />
und in Schüben: Phasen einseitiger<br />
Vorlieben und vermeintlicher<br />
Rückschritte sind normal<br />
und kein Grund zur Sorge. «Wenn<br />
die Eltern kein Problem daraus<br />
machen, gelassen weiterhin Un <br />
terschiedliches anbieten und das<br />
Kind wählen lassen, wird sich sein<br />
Spektrum früher oder später wieder<br />
erweitern», beruhigt Heindl.<br />
Dranbleiben und sich nicht<br />
verunsichern lassen, lautet also<br />
die Zauberformel. Und im Kopf<br />
be halten, dass es meist mehrere<br />
An läufe braucht, bis ein unbekanntes<br />
Lebensmittel akzeptiert<br />
wird, die erste Reaktion also nicht<br />
das letzte Wort sein muss. Zwei<br />
Wochen später, in neuem Kontext<br />
oder anders zubereitet, kann das<br />
Urteil ganz anders ausfallen.<br />
Will man also Kindern beibringen,<br />
sich gesund und ab <br />
wechslungsreich zu ernähren, tut<br />
man gut daran, sich in Vertrauen<br />
und Gelassenheit zu üben, Haltungen,<br />
die ohnehin – auch für<br />
einen selbst – ausgesprochen<br />
nützlich und heilsam sind.<br />
Ruth Hoffmann<br />
>>><br />
kocht leidenschaftlich gerne und schreibt<br />
seit vielen Jahren über Ernährung. Die<br />
Mutter zweier Kinder weiss, wie schwierig<br />
Gelassenheit in gewissen Esssituationen<br />
ist. Ruth Hoffmann lebt in Hamburg.<br />
«Bei Kindern siegt<br />
immer die Neugier»<br />
Die Ernährungswissenschaftlerin<br />
Ines Heindl über die Botschaften,<br />
die sich hinter dem Essen<br />
verstecken. Interview: Ruth Hoffmann<br />
Frau Heindl, warum empfinden es<br />
viele Eltern als so schwierig, ihre Kinder<br />
zu gesundem Essen zu erziehen?<br />
Nach meiner Erfahrung in der Beratung<br />
und aus Befragungen stehen zu oft Ge -<br />
sundheitsbotschaften im Vordergrund. Je<br />
jünger die Leute sind, desto mehr. Genuss,<br />
Freude und die Lust am Ausprobieren verschwinden<br />
dahinter regelrecht. Daran ist<br />
die Ernährungswissenschaft nicht un -<br />
schuldig. Sie konzentriert sich in der Vermittlung<br />
zu sehr auf Empfehlungen zur<br />
Nährstoffzufuhr und hat den Zusammenhang<br />
zwischen Essen und Kommunikation<br />
aus dem Blick verloren. Aber Essen<br />
ist immer auch Kommunikation!<br />
Das müssen Sie erklären.<br />
Meistens liegt der Fokus auf dem, was<br />
gegessen wird oder gegessen werden sollte,<br />
aber nicht darauf, wie es gegessen wird:<br />
Wie sieht die konkrete Esssituation aus?<br />
In welcher Atmosphäre wird gegessen?<br />
Welche Personen sind dabei und wie verhalten<br />
sie sich? Der Esstisch kann ein Ort<br />
der Entspannung sein, an dem sich alle<br />
gern versammeln, oder ein Schauplatz<br />
von Pflichtveranstaltungen, die man so<br />
schnell wie möglich hinter sich bringen<br />
möchte. Mit dem, was und wie wir essen,<br />
senden wir Botschaften aus über uns<br />
selbst und unser Verhältnis zu den anderen,<br />
auch wenn uns das nicht bewusst ist.<br />
Wenn sich ein Kind weigert, etwas anderes<br />
zu essen als Nudeln mit Zucker, ist darum<br />
auch das ein Mittel der Kommunikation.<br />
Aber wie soll man als Eltern damit<br />
umgehen?<br />
Man sollte sich fragen, wer hier eigentlich<br />
wen erzieht. In anderen Zusammenhän-<br />
40 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
gen, im Kindergarten etwa oder wenn sie<br />
bei Freunden zu Besuch sind, verhalten<br />
sich Kinder meistens ganz anders und<br />
essen anstandslos, was dort auf den Tisch<br />
kommt. Einfach weil sie wissen, dass es<br />
da nicht verhandelbar ist.<br />
Also geht es gar nicht unbedingt um<br />
eine Vorliebe oder Abneigung.<br />
Genau. Das jeweilige Essen ist oft nur ein<br />
Vehikel, über das ganz andere Dinge verhandelt<br />
werden. Ein anderes gutes Beispiel<br />
ist die «Quengelmeile» mit Süssigkeiten<br />
vor der Supermarktkasse, die ganz<br />
bewusst dort platziert werden, weil viele<br />
Eltern die Wut ihrer Kinder nicht aushalten<br />
und dann lieber nachgeben. Vordergründig<br />
geht es um Süssigkeiten, die jedes<br />
Kind gern isst. Darunter läuft aber noch<br />
ein anderes Thema, nämlich: Wer hat hier<br />
das Sagen? Eltern müssen sich erst einmal<br />
selbst darüber klar werden, welche<br />
Linie sie fahren wollen. Wenn sie diese in<br />
aller Ruhe und konsequent vertreten,<br />
akzeptieren die Kinder sie auch irgendwann.<br />
Von strikten Verboten rate ich allerdings<br />
ab, egal ob es um Bonbons, Chips<br />
oder Hamburger geht – sie machen das<br />
Begehrte nur noch attraktiver.<br />
Fastfood und andere Dickmacher zu<br />
begrenzen, ist das eine. Wie schaffe<br />
ich es aber, mein Kind von Obst und<br />
Gemüse zu überzeugen?<br />
Indem Sie es selbst gern essen und zubereiten,<br />
und zwar ganz normal und selbstverständlich,<br />
ohne mahnende Appelle und<br />
<strong>Gesundheit</strong>sbotschaften. Mit das Erste,<br />
was ein Kind lernt, ist ja das Essen. Es<br />
kommt zwar mit einer Vorliebe für Süsses<br />
auf die Welt, lernt dann aber in der sozialen<br />
Gemeinschaft auch andere Geschmäcker<br />
kennen und erweitert so allmählich<br />
seinen kulinarischen Horizont, wobei es<br />
sich das meiste von seiner unmittelbaren<br />
Umgebung abguckt. Früher oder später<br />
will es darum ganz von selbst auch das<br />
probieren, was Vater, Mutter oder ältere<br />
Geschwister sichtlich mögen. Vorbilder<br />
haben eine starke Wirkung. Bei Kindern<br />
siegt immer die Neugier.<br />
Und wenn es trotzdem nicht so recht<br />
funktioniert?<br />
Gelassen bleiben, sich nicht verunsichern<br />
lassen und sich in Geduld üben. Solange<br />
man selbst kein Problem daraus macht,<br />
weiterhin die Vielfalt anbietet und das<br />
Kind wählen lässt, wird sich sein Spektrum<br />
mit der Zeit schon erweitern. Das<br />
Wichtigste ist die entspannte Atmosphäre<br />
bei Tisch. Essen sollte etwas rundum<br />
Erfreuliches sein, das sich mit schönen<br />
Erlebnissen in der Gemeinschaft verbindet<br />
und so positiv aufgeladen wird. Wenn<br />
das gelingt, bekommt man die Kinder<br />
schon. Man darf nur nicht den Fehler<br />
machen, zu erwarten, dass sie sich gleich<br />
beim ersten Mal für ein neues Lebensmittel<br />
begeistern. An unbekannte Geschmäcker<br />
und Konsistenzen muss man sich<br />
erst gewöhnen. Das ist normal und geht<br />
Erwachsenen auch so. Was bekannt ist<br />
und regelmässig auf den Tisch kommt,<br />
wird hingegen gern gegessen. Es ist eine<br />
Art Training. Tischregeln können dabei<br />
helfen, etwa die, dass alles probiert werden<br />
muss. Oder gemeinsame Familienrituale<br />
– Pizza oder Pfannkuchen am<br />
Wochenende zum Beispiel, für die sich<br />
jeder seinen Lieblingsbelag bzw. seine<br />
Lieblingsfüllung wünschen kann.<br />
Wie geht man mit Teenagern um, die<br />
ständig ihr Gewicht im Auge behalten<br />
oder bestimmte Nahrungsmittel aus<br />
ideologischen Gründen ablehnen?<br />
Das ist nicht leicht. Leider machen heute<br />
viele Jugendliche beim Essen eine Gratwanderung,<br />
besonders Mädchen. Nach<br />
meiner Erfahrung finden die meisten aber<br />
wieder zurück zum normalen Essen. Vor<br />
allem muss man versuchen, mit ihnen im<br />
Gespräch zu bleiben. Zeigen Sie Interesse<br />
an dem, was sie beschäftigt, und erkundigen<br />
Sie sich nach ihren Beweggründen,<br />
statt ihr Verhalten als unsinnig abzutun.<br />
Wenn Mädchen Angst haben, zu dick zu<br />
werden, nützt es wenig, ihnen das ausreden<br />
zu wollen. Besser ist, mit Verständnis<br />
zu reagieren und bis zu einem gewissen<br />
Grad darauf einzugehen, indem man etwa<br />
Gemüsetage für die ganze Familie anbietet.<br />
Man darf den Draht nicht verlieren.<br />
Wann ist wirklich Grund zur Sorge?<br />
Wenn das Essverhalten pathogene Züge<br />
annimmt und sich zur psychogenen Störung<br />
entwickelt. Erste Anzeichen für eine<br />
Essstörung könnten sein, wenn Jugendliche<br />
beispielsweise nach einer zunächst<br />
durchaus sinnvollen Gewichtsreduktion<br />
immer noch weiter abnehmen wollen und<br />
sich bei ihnen keine Zufriedenheit mit<br />
dem neuen Körperbild und dem neuen<br />
Essverhalten einstellt. Man sollte ausserdem<br />
darauf achten, was sie von Gleichaltrigen<br />
erzählen und – ganz wichtig – in<br />
welchen Internetforen sie unterwegs sind.<br />
Andererseits zeichnet sich bei jungen<br />
Leuten im positiven Sinne ein zunehmendes<br />
Bewusstsein fürs Essen und<br />
die Herkunft von Lebensmitteln ab.<br />
Ja, angesichts von Trends wie Clean<br />
Eating, veganer Küche oder dem Hype um<br />
sogenannte Superfoods zeigen viele junge<br />
Leute Interesse an gesunder Ernährung<br />
und lassen sich für Fragen der Nahrungsqualität<br />
gewinnen. Verbindet sich das im<br />
sozialen Raum der Familie oder im Freundeskreis<br />
mit einem Gefühl der Zusammengehörigkeit,<br />
indem man neue Rezepte<br />
oder Zubereitungsarten ausprobiert<br />
und sich darüber austauscht, wird Essen<br />
wieder zum genüsslichen und Gemeinschaft<br />
stiftenden Erlebnis – und das «Problemthema<br />
Ernährung» verliert seine<br />
Macht im Alltag.<br />
Ines Heindl<br />
Professorin, ist Ernährungswissenschaftlerin<br />
an der Europa-Universität Flensburg, Abteilung<br />
Ernährung und Verbraucherbildung.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>41
Interesse zeigen statt mahnen<br />
Burger, Pizza und Eistee: Viele Kinder und Jugendliche mögen das, was Erwachsene zur<br />
Verzweiflung bringt. Die Ernährungsexpertin Marianne Botta kennt Tipps und Tricks, wie<br />
man Fastfood ein bisschen unattraktiver machen kann. Text: Claudia Landolt<br />
Frau Botta, Teenager lieben Fastfood.<br />
Kann man ihnen das abgewöhnen?<br />
Die Frage lautet: Haben sie Junkfood<br />
wirklich gern oder gehen sie<br />
nur zum Schnellimbiss, weil ihre<br />
Kollegen das auch tun? Meiner Er <br />
fahrung nach möchten viele<br />
Jugendliche gesund essen, aber das<br />
Geld dazu nicht ausgeben – weil<br />
sie lieber für eine neue Jeans oder<br />
ein Game sparen. Denn ein Salat<br />
kostet selbst beim Fastfood-Marktführer<br />
mehr als ein Burger. Wenn<br />
es am Geld liegt, gibt es eine Möglichkeit,<br />
die bei meinen Kindern<br />
gut funktioniert: Ich gebe ihnen<br />
Essensgeld, damit sie sich gesund<br />
verpflegen – gegen eine Quittung.<br />
So sehe ich, was sie ge gessen<br />
haben. Liegt es eher an der Peergroup,<br />
dann sollte man versuchen,<br />
mit den Kids ins Gespräch zu kommen.<br />
Was bedeutet es dir, mittags<br />
ins Schnellrestaurant zu gehen?<br />
Warum findest du es fein? Können<br />
wir etwas zu Hause tun, um unser<br />
Essen aufzuwerten? Ge rade in der<br />
Pubertät ist es sinnlos, sich wegen<br />
gesundem Essen in die Haare zu<br />
In der Pubertät ist es sinnlos,<br />
sich wegen gesundem Essen<br />
in die Haare zu geraten.<br />
geraten. Gegen Kollegen hat man<br />
keinen Stich. Besser, man holt die<br />
Kinder ins Boot und bezieht sie mit<br />
ein. Was auch funktioniert, ist die<br />
Wissensschiene. Ihnen zu erklären,<br />
was Hamburger, Hotdogs und<br />
Donuts mit ihrem Körper machen<br />
– selbst wenn es «nur» Pickel, Fettröllchen<br />
oder Cellulitis sind. Glauben<br />
Sie mir, kein Teenager möchte<br />
dick sein oder Cellulite haben.<br />
Nach der Schule haben viele Kinder<br />
Hunger. Wie verhindere ich, dass sie<br />
zu Chips und Co. greifen?<br />
Grössere Kinder mögen es, wenn<br />
man ihnen Verantwortung übergibt<br />
und Zusammenhänge aufzeigt,<br />
zum Beispiel indem man<br />
sagt: «Probier doch das mal aus<br />
und schau, wie es dir geht.» Oder<br />
wenn man ihnen erklärt, dass nach<br />
einem Schoggistengeli der Blutzuckerspiegel<br />
sofort wieder absinkt<br />
und sich ein Hungergefühl einstellt.<br />
Sind Kinder allein zu Hause,<br />
essen sie gerne vor dem TV oder<br />
am Handy. Das verhindert aber,<br />
dass sich ein Sättigungsgefühl einstellt.<br />
Am besten ist, man stellt ein<br />
vorbereitetes Znüni oder Zvieri<br />
hin oder in den Kühlschrank. Das<br />
kann auch mit dem Namen des<br />
Kindes angeschrieben sein.<br />
Sie schlagen vor, dass jedes Familienmitglied<br />
drei bis fünf Lebensmittel<br />
abwählen darf, die es nicht<br />
probieren oder essen muss.<br />
Schreiben Sie auch für sich selbst<br />
eine Liste. Sie haben auch das<br />
Recht, nichts zu probieren. Das<br />
ergibt lustige Situationen, wenn<br />
Ihre Kinder Sie dann doch davon<br />
überzeugen möchten, etwas zu<br />
probieren. Dieses Listensystem<br />
funktioniert aber nur, bis Kinder<br />
in die Pubertät kommen. Der Geschmackssinn<br />
wird in den ersten<br />
zehn bis zwölf Lebensjahren trainiert,<br />
danach ist alles spannend,<br />
was die Eltern auf die Palme bringt<br />
– also zickiges Essverhalten. In der<br />
Regel normalisiert sich das später<br />
wieder. Problematisch wird es,<br />
wenn der Teenager jüngere Geschwister<br />
hat. Dessen Verhalten<br />
am Tisch färbt auf die Jüngeren ab:<br />
Macht der grosse Bruder Theater<br />
ums Gemüse, werden es seine Geschwister<br />
auch tun. Bei uns gibt es<br />
folgende Regel: Wenn das grosse<br />
Kind etwas nicht mag oder nicht<br />
essen will, soll das diskret geschehen,<br />
denn es hat eine Vorbildfunktion.<br />
Das klappt gut.<br />
Was, wenn Kinder heimlich naschen?<br />
Sackgeld gibt Kindern die Möglichkeit,<br />
ungeliebtes Essen zu umgehen,<br />
indem sie sich am Kiosk<br />
etwas zum Naschen kaufen und es<br />
dann im Zimmer verstecken.<br />
Dann sollte man darauf bestehen,<br />
dass nur am Tisch gegessen wird.<br />
Grössere Kinder können beispielsweise<br />
Lebensmittel, die sie gern<br />
essen und die man mit ihnen ausgehandelt<br />
hat, in einer Box in der<br />
Küche aufbewahren. So stellt man<br />
sicher, dass sie nicht wahllos<br />
42 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Körper<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
irgendetwas essen. Oder man geht<br />
die Sache offensiv an: Wenn die<br />
Kinder wirklich ganz grosse Lust<br />
auf etwas haben, kann man es<br />
zusammen kaufen und gemeinsam<br />
essen. Selbst wenn es drei<br />
Pack Fasnachtschüechli sind.<br />
Soll man Süsses verbieten?<br />
Verschiedene Studien zeigen, dass<br />
Kinder Lebensmittel, die ihnen<br />
verboten oder vorenthalten wurden,<br />
besonders interessant finden.<br />
Kinder, denen Süssigkeiten verboten<br />
wurden, greifen später lieber,<br />
häufiger und am meisten zu Süssigkeiten.<br />
Besser ist es, man handelt<br />
etwas aus. Etwa: Eine Süssigkeit<br />
pro Tag ist in Ordnung, ein<br />
Mal pro Monat Fastfood auch.<br />
Was, wenn es am Tisch heisst:<br />
«Wäh! Hani nöd gern!»<br />
Dann schöpft man dem Kind<br />
trotzdem von allem, was man gekocht<br />
hat, auf den Teller und lässt<br />
sich auf keinen Machtkampf ein.<br />
Grösseren Kindern kann man erklären,<br />
warum eine solche Aussage<br />
verletzend ist.<br />
Viele Eltern kochen nur noch das,<br />
was ihren Kindern sicher schmeckt.<br />
Ist das falsch?<br />
Damit Kinder nicht zu mäkligen<br />
Essern werden, müssen sie von<br />
Anfang an möglichst vielseitig<br />
essen. Und die Geschmacksnerven<br />
trainieren. Ein Kind muss 10<br />
bis 15 Mal ein neues Lebensmittel<br />
probieren, bis es sich an den neuen<br />
Geschmack gewöhnt hat. Besser<br />
funktioniert die Regel: Wer<br />
kocht, bestimmt, was auf den<br />
Tisch kommt. Bringen Eltern ein<br />
neues Gericht mit Begeisterung<br />
auf den Tisch, wird es eher akzeptiert.<br />
Ausserdem dürfen Kinder<br />
bestimmen, wovon sie wie viel<br />
essen möchten.<br />
Auch ein Thema: Am Tisch sitzen<br />
bleiben, bis alle fertig sind.<br />
Im Restaurant kann es einem Kind<br />
tatsächlich mal langweilig werden.<br />
Da hilft, eine Schachtel mit spannenden<br />
Dingen mitzunehmen, die<br />
das Kind erforschen kann und<br />
womit es wirklich beschäftigt ist.<br />
Diese Schachtel gibt es dann aber<br />
immer nur bei Restaurantbesuchen.<br />
Zu Hause ist es eine Definitionsfrage,<br />
es gibt nicht eine Regel,<br />
die stimmt. Die Erwachsenen sollten<br />
selbst bestimmen, was sie sich<br />
wünschen, und eine Regel festsetzen.<br />
Sicher optimaler ist, zu fragen,<br />
ob man aufstehen darf, statt einfach<br />
den Tisch zu verlassen.<br />
Salz, Fett oder Zucker: Was ist<br />
eigentlich schlimmer?<br />
Bei Jugendlichen sind Fett und<br />
Salz weniger ein Problem, weil sie<br />
in der Regel genügend Sport treiben,<br />
dabei schwitzen und Salz verlieren.<br />
Zudem essen wir heute<br />
generell viel weniger Salz als früher.<br />
Auch Fett ist nicht so schlimm,<br />
da wir weniger Transfettsäuren zu<br />
uns nehmen und Olivenöl und<br />
Rapsöl die ungesunderen Öle wie<br />
Sonnenblumenöl verdrängt haben.<br />
Zucker aber ist ein Pro blem, vor<br />
allem in Kombination mit Weissmehl<br />
oder schnell verwertbaren<br />
Kohlenhydraten – gerade für Kinder<br />
mit wenig Bewegung.<br />
Die Tochter isst plötzlich vegan.<br />
Muss ich mir Sorgen machen?<br />
Fragen wie «Wer bin ich und wie<br />
wirke ich auf andere?» sind bei<br />
Teenagern zentral. Dazu gehört<br />
auch, neue Ernährungstrends auszuprobieren.<br />
Ich empfehle, daraus<br />
keine grosse Sache zu machen.<br />
Wichtig ist: Fehlen Fleisch und<br />
Milchprodukte, mangelt es an Protein<br />
und Eisen – Letzteres ist vor<br />
allem bei Mädchen ein Thema.<br />
Eine Studie mit 16-jährigen Mädchen<br />
hat gezeigt, dass bei Eisenmangel<br />
die Noten um 1 bis 1,5<br />
schlechter sind. Mängel können<br />
sich also negativ auswirken. Das<br />
sollte man thematisieren und gegebenenfalls<br />
mit Vitamin-B 12-<br />
Nahrungsergänzungsmitteln supplementieren.<br />
März <strong>2017</strong><br />
Ernähren sich Kinder von<br />
Anfang an vielseitig, werden<br />
sie nicht zu mäkligen Essern.<br />
Diese Lebensmittel machen schön,<br />
schlau und gute Laune<br />
• Für bessere Konzentration: Walnüsse,<br />
Cashewnüsse, Mandeln, Avocado,<br />
Hülsenfrüchte – und viel Wasser<br />
trinken!<br />
• Für bessere Laune: Vanille, Safran,<br />
Chili, Ingwer, Lachs, Hering, Datteln,<br />
Feigen, Beeren<br />
• Für schöne Haut und Haare: Dinkel,<br />
Roggen, Rüebli, Weizenkeime, Linsen<br />
oder Fleisch, Buttermilch, Kiwi,<br />
Meerrettich<br />
Zur Person<br />
Marianne Botta ist Lebensmittelwissenschaftlerin<br />
und Fachlehrerin. Sie<br />
hat sich auf Ernährungswissenschaften<br />
spezialisiert, arbeitet als Fach journalistin<br />
für verschiedene Publikationen und hat<br />
mehrere Bücher geschrieben, unter<br />
anderem über Kinderernährung (www.<br />
mbfit.ch). Sie ist Mutter von 8 Kindern<br />
zwischen 7 und 21 Jahren und kocht und<br />
isst täglich mit ihrer Familie<br />
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Seele<br />
Lasst<br />
die Kinder<br />
spielen!<br />
Experten empfehlen Mädchen und Jungen<br />
die Rückkehr zum freien, unbeobachteten<br />
Spiel in der Natur. Denn Kinder, die viel Zeit<br />
mit Spielen verbringen, lernen später<br />
leichter – und oft auch mehr.<br />
Text: Claudia Landolt Bilder: Alain Laboile<br />
44 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong> März <strong>2017</strong>45
Seele<br />
Unsere Grosseltern verbrachten<br />
75 Prozent ihrer Freizeit<br />
draussen. Bei unseren Kindern<br />
sind es noch 25 Prozent.<br />
Die Maxime des<br />
deutschen Neurobiologen<br />
Gerald<br />
Hüther ist ein<br />
Drei wortsatz im<br />
Imperativ: «Rettet das Spiel!» So<br />
lautet dieser, und es ist auch der<br />
Titel eines Buches, das Hüther<br />
verfasst hat. Ein programmatischer<br />
Titel.<br />
«Spiel ist die Erkundung des<br />
Möglichen, der ganzen Grossartigkeit»,<br />
erklärt Hüther in einem<br />
Interview mit der Sendung<br />
«aspekte» zu seinem Buch. Die<br />
Crux dabei ist: Wir tun es immer<br />
weniger. Erwachsene fast gar<br />
nicht, und Kinder leider auch<br />
nicht.<br />
Natur ist für viele Kinder zu<br />
einer Art Kulisse geworden, die<br />
vom Auto, vom Fahrrad oder vom<br />
Weg aus betrachtet wird. Hüther,<br />
der zusammen mit Co-Autor und<br />
Kinderarzt Herbert Renz-Polster<br />
das Buch «Wie Kinder heute<br />
wachsen» geschrieben hat, beklagt<br />
dies bitterlich. Der Aktionsradius<br />
der Kinder – also der Raum, in<br />
dem sie auf eigene Faust spielen<br />
und entdecken dürfen – ist laut<br />
ihm zwischen 1970 und 1990 auf<br />
ein Neuntel zurückgegangen. «Es<br />
ist anzunehmen, dass inzwischen<br />
weitere Einbussen dazugekommen<br />
sind. Und für viele Kinder<br />
kommt inzwischen auch noch<br />
eine elektronische Leine dazu –<br />
welches Kind ist nicht jederzeit<br />
per Handy für seine Eltern er <br />
reichbar?», fragen die Autoren.<br />
Eine fatale Entwicklung, diagnostizieren<br />
sie, denn: «Die Natur<br />
stellt für Kinder einen massgeschneiderten<br />
Entwicklungsraum<br />
dar.» Sie biete den Kindern Reichtum<br />
für ihre Entwicklung, stecke<br />
voller Anreize, die zu den Herausforderungen<br />
des Grosswerdens<br />
passten wie der Schlüssel zum<br />
Schloss. «Spiel ist der Zustand, in<br />
dem der Mensch wirklich frei ist<br />
und jegliche Angst verloren hat.»<br />
Spielen ist Arbeit<br />
Spielen ist eben nicht nur Bildung,<br />
wie es im pädagogischen >>><br />
Das Spiel ist der Zustand,<br />
in dem der Mensch frei ist.<br />
46
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong> März <strong>2017</strong>47
«Kinder wollen in<br />
die Natur, nicht auf<br />
den Spielplatz»<br />
Die Erziehungswissenschaftlerin<br />
Margrit Stamm erklärt, warum<br />
Kindern eine getaktete<br />
Freizeitgestaltung nicht<br />
zugutekommt.<br />
Interview: Claudia Landolt<br />
Frau Stamm, warum spielen Kinder<br />
immer weniger?<br />
Weil es nicht in unsere Erwachsenenwelt<br />
passt. Das kindliche Spiel ist nicht zielorientiert.<br />
Ausserdem erzeugt das freie<br />
Spiel bei vielen Eltern Angst.<br />
Warum?<br />
Bewegt sich das Kind draussen, befürchten<br />
viele Eltern, dass es sich verletzen<br />
könnte. Oder dreckig wird.<br />
Sie kritisieren Förderkurse. Warum?<br />
Kurse sind nicht grundsätzlich schlecht.<br />
Aber wenn ein Kind nur noch in Kurse<br />
geht, statt draussen zu spielen, ist das<br />
ungünstig.<br />
Sie plädieren fürs Nichtstun?<br />
Langeweile ist ein wichtiges Erziehungsprinzip.<br />
Aber wenn Eltern am Weekend<br />
ihre Kinder plötzlich machen lassen,<br />
steigen noch mehr Gewissensbisse auf.<br />
Nach dem Motto: Mann, bin ich ein Faulpelz,<br />
jetzt einfach auf dem Sofa zu liegen.<br />
Dabei wäre Langeweile etwas, das man<br />
wiederentdecken müsste.<br />
Was ist denn die Zentralkompetenz<br />
eines Kindes?<br />
Es braucht drei Punkte, damit ein Kind<br />
längerfristig erfolgreich ist. Erstens ein<br />
gutes Selbstkonzept. Das heisst, das<br />
Kind empfindet sich selbst als guten<br />
Menschen und hat Vertrauen in sich und<br />
seine Fähigkeiten. Zweitens muss es eine<br />
gewisse Frustrationstoleranz haben, also<br />
in der Lage sein, eine Hürde zu meistern,<br />
ohne aufzugeben oder ohne dass Mami<br />
und Papi zeigen, wie es geht. Drittens:<br />
Neugier. Das ist etwas, das ein Mensch<br />
braucht, um in der Schule erfolgreich,<br />
leistungsbereit und lernmotiviert zu sein.<br />
Warum spielt die Natur eine so<br />
wichtige Rolle?<br />
Die beste frühkindliche Bildung ist die<br />
ganzheitliche Förderung aller Sinne. Da<br />
bietet sich der Wald doch an. Aber das ist<br />
für Eltern anspruchsvoll: Man muss in<br />
den Wald gehen, das Kind wird dreckig,<br />
man muss Angst haben, das Kind esse<br />
etwas Unkontrolliertes. Dabei wissen wir<br />
aus der Forschung, dass Kinder, die viel<br />
mit Dreck in Kontakt kommen, weniger<br />
Ekzeme, Allergien und ADHS haben. Der<br />
Wald als Spielraum passt nicht zu unserer<br />
modernen Lebenskultur.<br />
Wie könnte man das ändern?<br />
In der Schweiz ist man relativ schnell in<br />
einer Gegend, in der sich ein Kind frei<br />
48 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Seele<br />
Das kindliche Spiel gilt<br />
in den Augen vieler<br />
Erwachsener als trivial.<br />
bewegen kann. Man müsste ganz<br />
bewusst solche Inseln suchen und etwa<br />
einmal in der Woche dorthin gehen. Ohne<br />
Ziel! Es gibt eine Studie, in der Kinder<br />
nach ihrem Lieblingsort zum Spielen<br />
befragt wurden. Die Antwort lautete:<br />
Natur! Kinder ziehen sie dem Spielplatz<br />
oder anderen künstlichen Anlagen vor.<br />
Also sollen wir unseren Kindern<br />
sagen: Geht raus?<br />
Ja, genau. Vertrauen entwickeln in sich<br />
selber und in die Welt, das ist zentral.<br />
Margrit Stamm<br />
ist emeritierte Professorin und Direktorin des<br />
Forschungsinstituts Swiss Education in Bern.<br />
Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der<br />
Begabung, der Qualität in der Berufsbildung<br />
und der Förderung von Migrantenkindern.<br />
>>> Standardwerk «Entwicklungspsychologie»<br />
heisst. Spielen<br />
ist viel mehr. «Spielen ist die Arbeit<br />
des Kindes und seine wichtigste<br />
Tätigkeit», sagt Professor André<br />
Frank Zimpel. Der Pädagoge ist<br />
europaweit der Forscher, der die<br />
frühkindliche Entwicklung und<br />
insbesondere das Spiel untersucht<br />
hat.<br />
Für Zimpel ist deshalb klar: Spielen<br />
ist das Beste, was ein Kind tun<br />
kann. «Wenn Kinder einen Stein<br />
wie ein U-Boot auf dem Boden<br />
oder im Wasser fahren oder sich<br />
Blumen wie die Krone einer Prinzessin<br />
aufsetzen, dann bewegen sie<br />
sich in einer Fantasiewelt», so<br />
Zimpel. Diese sei von einer nicht<br />
zu unterschätzenden Wichtigkeit,<br />
so der Experte.<br />
Denn gerade in der Fantasie<br />
lerne ein Kind, seine Einbildungskraft<br />
einzusetzen und zu abstrahieren.<br />
Kinder sähen im Fantasiespiel<br />
von einigen Eigenschaften<br />
ab und höben andere hervor, so<br />
Zimpel.<br />
Genau diese Art der Gehirntätigkeit<br />
ist später die Grundlage<br />
für natur- und geisteswissenschaftliches<br />
Denken. Zimpel<br />
erklärt, dass Kinder sich im Spiel<br />
intuitiv selbst Herausforderungen<br />
suchten, die ihre intellektuelle<br />
Entwicklung vorantrieben, und<br />
dass sie so nahezu alles durch das<br />
Spiel lernten.<br />
Doch heute hat das kindliche<br />
Spiel massiv an Bedeutung verloren.<br />
Es kontrastiert mit Lernen<br />
oder «wird lediglich als Vorstadium<br />
für das eigentliche Arbeiten<br />
bezeichnet», wie die Schweizer<br />
Professorin Margrit Stamm aus<br />
ihren Studien FRANZ («Früher an<br />
die Bildung – erfolgreicher in die<br />
Zukunft?») und PRINZ («Best<br />
Practice in Kitas und Kindergärten»)<br />
weiss. Das Ergebnis der beiden<br />
Studien: Das kindliche >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>49
Seele<br />
Spielen ist die beste<br />
Fördermassnahme, weil<br />
Kinder fast immer<br />
Spass dabei empfinden.<br />
>>> Spiel gilt in den Augen vieler<br />
milien mit Kindern im Kindergartenalter<br />
men laut «Spiegel» allein zum<br />
Erwachsener als «trivial oder<br />
reine Zeitverschwendung». in der Stadt Zürich hat<br />
laut Wohn experte und Pädagoge<br />
Unterricht. 1971 waren es noch 80<br />
Prozent. Der Schulweg, Inbegriff<br />
Marco Hüttenmoser Folgendes des anarchischen Freiraums, auf<br />
Zwei Gründe für den starken gezeigt: Wer in einem Wohnumfeld<br />
aufwächst, das kein unbeglei-<br />
Hausaufgaben abgeschrieben und<br />
dem geträumt wurde, gerauft, die<br />
Rückgang des freien Spiels<br />
Verantwortlich für diese Einschätzung<br />
sind, so Margrit Stamm, zwei<br />
Faktoren. Einerseits die gesellschaftspolitische<br />
Debatte um<br />
Frühförderung: Kindertagesstätten<br />
und Kindergärten werden als<br />
Orte zum Lernen angesehen. Die<br />
Resultate der Pisa-Studie und der<br />
Druck, in einer globalisierten, wissensorientierten<br />
Arbeitswelt er -<br />
folgreich sein zu müssen, haben<br />
bei manchen Eltern einen regelrechten<br />
Förderwahn hervorgebracht.<br />
Laut Margrit Stamm sind viele<br />
tetes Spiel im Freien zulässt, zeigt<br />
im Alter von fünf Jahren deutliche<br />
Defizite in der motorischen und<br />
sozialen Entwicklung.<br />
Eine anschliessend in der Stadt<br />
Zürich durchgeführte repräsentative<br />
Studie und eine Kontrollerhebung<br />
in sieben Landgemeinden<br />
zeigte auf, dass in der Stadt wie auf<br />
dem Land ein Viertel bis ein Drittel<br />
der Kinder bis im Alter von<br />
fünf Jahren die Wohnung und das<br />
Haus nicht unbegleitet verlassen<br />
dürfen.<br />
Der Verlust an Spielkameraden<br />
mit dem ersten Schwarm zögerliche<br />
Kontakte geknüpft wurden, ist<br />
für ganz viele Kinder heute<br />
Geschichte.<br />
Hüther benutzt für diese Entwicklung<br />
drastische Worte: «Es ist<br />
gefährlich, wenn eine ganze Ge -<br />
sellschaft einen Weg geht, auf dem<br />
das Spiel kaum vorkommt oder<br />
verzweckt wird.» Eine vielfältige<br />
und kreative Gesellschaft benötige<br />
genau dieses Spielen: «Erst das<br />
Spiel ermöglich Kreativität, Ideen<br />
und Visionen», sagt Gerald Hüther.<br />
Angebote auf den Markt gekommen,<br />
welche den Eltern weisma-<br />
Zwang, die Kinder dauernd zu für diese Kinder ist gross, und der<br />
Drogenrausch im Hirn<br />
chen wollen, dass man nie früh<br />
genug beginnen könne, dem Kind<br />
«spielerisch» erste Lese-, Mathematik-<br />
und Fremdsprachenkenntnisse<br />
beizubringen. Das habe zur<br />
Folge, dass die Eltern die Wochenprogramme<br />
ihrer Kinder durchtakten<br />
– im Glauben, sie würden<br />
ihrem Kind durch diese «Förderitis»<br />
Gutes tun.<br />
Doch nicht nur die Eltern sind<br />
verantwortlich dafür, dass ihre<br />
Kinder immer weniger spielen.<br />
Auch städtebauliche und architektonische<br />
Situationen sind – als<br />
zweiter Faktor – massgeblich daran<br />
beteiligt. Ein Beispiel: Eine<br />
Intensivuntersuchung bei 20 Fa -<br />
begleiten, führt zu einem massiven<br />
Verlust an Bewegungszeit. Als<br />
wichtigste Ursache bezeichnen<br />
76 Prozent von 1729 Eltern der<br />
Stadt Zürich den Strassenverkehr.<br />
Von 142 Eltern auf dem Land sind<br />
87 Prozent dieser Meinung. «Kinder,<br />
die ohne rechte Bodenhaftung<br />
aufwachsen – Hors-sol-Kinder<br />
sozusagen –, sind das Produkt der<br />
modernen, vom privaten Motorfahrzeugverkehr<br />
dominierten Ge -<br />
sellschaft», sagt Marco Hüttenmoser.<br />
Dieser Verkehr dominiert auch<br />
die letzte erwachsenenfreie Zone:<br />
den Schulweg. Nicht einmal 10<br />
Prozent der Achtjährigen kom-<br />
Wir wären genau dies doch unseren<br />
Kindern schuldig. Denn sie, so<br />
belegen Neurowissenschaftler, blühen<br />
kognitiv auf, wenn sie – ohne<br />
Helm, Matschhose und Rückenpanzer<br />
– unbeaufsichtigt draussen<br />
Der Zwang, Kinder dauernd<br />
zu begleiten, führt zu<br />
einem massiven Verlust an<br />
Bewegunszeit.<br />
50 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
spielen, sie werden umsichtiger<br />
und ihr Mitgefühl steigt, ebenso<br />
wie die Schulleistungen.<br />
Auch sind Wissenschaftler<br />
überzeugt, dass bei Kindern, die<br />
in einem freien Raum spielen, der<br />
von keinem Architekten designt<br />
und von keinem Elternteil aufgeräumt<br />
wurde, die Synapsen im<br />
kindlichen Hirn ins Kraut schiessen<br />
würden. Hüther nennt es den<br />
«Drogenrausch im Hirn».<br />
Erst in der Freiheit gedeihen<br />
die Verknüpfungen im Denkapparat<br />
und vernetzen sich ebenso<br />
vielfältig wie die Bezüge im Ökosystem<br />
der Natur. Und die Kinder<br />
haben Spass dabei. Denn Spass ist<br />
der Schlüssel zum erfolgreichen<br />
und nachhaltigen Lernen. Beides<br />
versorgt das Nervensystem mit<br />
Dopamin, dem Glücksbotenstoff<br />
im Gehirn.<br />
Wer sich an Gelerntes erinnert,<br />
erinnert sich auch immer an die<br />
Emotion beim Lernen. Wurde das<br />
Lernen als lustvoll empfunden,<br />
erinnern wir uns gerne an das<br />
Gelernte. Haben wir unter Angst<br />
einen Stoff auswendig gelernt,<br />
werden wir uns nicht gerne daran<br />
erinnern. Insofern ist Spielen die<br />
beste Fördermassnahme, weil Kinder<br />
fast immer Spass dabei empfinden.<br />
Robert Schmuki, früherer Di <br />
rektor von Pro Juventute, sieht es<br />
so: «Kinder der offenen Welt nicht<br />
auszusetzen, stiehlt ihnen körperlich<br />
wie geistig wichtigste Erfahrungen.<br />
Auf Bäume klettern muss<br />
man selbst.»<br />
>>><br />
Dieser Text ist in Fritz+Fränzi,<br />
Ausgabe 8 / August 2016 erschienen.<br />
unikat<br />
«Wenn es um eine natürliche und<br />
gesunde Ernährung geht …»<br />
«… schneiden Schweizer<br />
Äpfel sehr gut ab.»<br />
Anz_Apfel_178x115_de.indd 1 15.12.2016 14:<strong>03</strong>:10
Seele<br />
«Die herrschende Bildungsdoktrin<br />
macht unsere Kinder krank»<br />
In Brasilien ist Augusto Cury ein Superstar und gilt als der Paolo Coelho der Elternberaterzunft.<br />
Seine Bücher werden über 15 Millionen Mal verkauft. Nur hierzulande ist er kaum bekannt.<br />
Ein Porträt. Text: Claudia Landolt<br />
Augusto Cury ist ein<br />
glücklicher Mann.<br />
Der Psychiater und<br />
Schriftsteller lebt in<br />
São Paulo, der<br />
grössten Stadt Brasiliens. Eine Art<br />
New York der Südhalbkugel mit<br />
knapp 12 Millionen Einwohnern.<br />
Geboren in einem Ort, der von<br />
Pferdezucht und Pferdegestüten<br />
geprägt ist. Der heute 58-Jährige<br />
ist Vater von drei erwachsenen<br />
Töchtern, und er ist ein vielbeschäftigter<br />
Mann.<br />
In seinem Instituto Augusto<br />
Cury professionalisiert er die<br />
eigens von ihm entwickelte «Teoria<br />
da Inteligência multifocal»<br />
über die Funk tionalität der Psyche<br />
und der Ge danken und Programme.<br />
Dahinter steckt das Anliegen,<br />
Kinder, die in der wissensorientierten<br />
Multi optionsgesellschaft<br />
Kinder brauchen nicht<br />
nur physische Hygiene,<br />
sondern auch psychische.<br />
Von Spitzensportlern bewundert<br />
Dazu hat er Bücher verfasst. Zu<br />
seinen treuesten Bewunderern ge -<br />
hören Spitzensportler wie Luciana<br />
Diniz (olympische Springreiterin)<br />
oder Ricardo Kaká (ehemaliger<br />
Weltfussballer des Jahres). Sie fühlen<br />
sich von Curys Philosophie<br />
angesprochen, weil er wie kein<br />
anderer auf die Kraft der Emotionen,<br />
des Vertrauens und des Glaubens<br />
an sich selbst baut. Im<br />
Wissensbildung genügt nicht<br />
Und weiter: «Die Gesellschaft<br />
funktioniert nur nach den er -<br />
kenntnistheoretischen Prinzipien<br />
eines Descartes ausgerichtet»,<br />
erklärt er. Ein wichtiges Prinzip<br />
von Descartes ist die Dualität von<br />
Leib und Seele – die Antithese zu<br />
Curys Position. «Genau deshalb<br />
Dezember 2016 wurde der Film werden in den Schulen bril-<br />
>>><br />
aufwachsen, emotional zu stärken<br />
und aus ihnen Menschen mit<br />
einem gesunden Selbstwert werden<br />
zu lassen. Dafür hat er Module<br />
entwickelt, die in den Schulen<br />
Brasiliens seit vielen Jahren angewendet<br />
werden. Diese Theorie<br />
veranschaulicht Cury in seinen<br />
Büchern in literarischer Form.<br />
Damit treibt Cury das an, was<br />
man altmodisch als – wissenschaftlich<br />
erforschte – Herzensbildung<br />
bezeichnen kann. Im Mittelpunkt<br />
seiner Forschungen stehen<br />
die Entwicklung einer höheren<br />
Lebensqualität sowie die Ausprägung<br />
der menschlichen Intelligenz<br />
in Bezug auf die Natur, den Aufbau<br />
und die Dynamik von Emotionen<br />
und Gedanken.<br />
«O vendedor de sonhos» (dt.: Der<br />
Träumhändler) von Jaime Monjardin<br />
in Brasilien uraufgeführt,<br />
laut einem Facebook-Eintrag<br />
Kakás ein «äusserst bewegender<br />
Film», der nicht wenige Zuschauer<br />
zu Tränen gerührt habe.<br />
Augusto Cury ist ein dunkelhaariger<br />
Mann mit Brille, den<br />
man sich gut als Psychiater, versunken<br />
in einem tiefen Ohrensessel,<br />
vorstellen kann. Jemand, dem<br />
man seine Sorgen gern anvertrauen<br />
würde. Seine Stimme ist sonor<br />
und ruhig, er spricht, wie nur ein<br />
in sich selbst ruhender Mann es<br />
tun kann. Sie erhebt sich nur<br />
dann, wenn Kinder das Thema<br />
sind. «Die heutigen Schulen lehren<br />
Kinder alles, aber nicht das,<br />
was sie wirklich brauchen im<br />
Leben: wie sie mit ihren Emotionen<br />
umgehen können», sagt Cury.<br />
Bild: Alain Laboile<br />
52 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong> März <strong>2017</strong>53
Seele<br />
>>> lante Köpfe geformt, die<br />
Seele und ihre Emotionen aber<br />
gänzlich vernachlässigt.» Kinder<br />
wüssten am Ende ihrer Schulzeit<br />
sehr viel über Algebra, Chemie<br />
und Physik, aber nicht, wie sie den<br />
Umgang mit ihren Emotionen<br />
meistern könnten.<br />
«Ein vierjähriges Kind weiss<br />
mehr, als ein römischer Kaiser je<br />
wusste», sagt Cury im Interview,<br />
das wir via Skype führen und bei<br />
dem seine Tochter als Übersetzerin<br />
fungiert. «Kinder brauchen<br />
eine emotionale Impfung», erklärt<br />
er. Ohne ein emotionales Fundament<br />
kann ein Kind nicht kreativ<br />
sein. Nichtstun und Langeweile,<br />
freies Spielen, Musik, Zeichnen,<br />
eigene Sachen konstruieren und<br />
sich mit Hunden umgeben, das<br />
seien Dinge, die für junge Kinder<br />
essenziell seien und die im herrschenden<br />
Bildungs- und Förderwahn<br />
schlicht vergessen würden.<br />
Mentale Blockaden auflösen<br />
Cury will für Kinder eine «mentale<br />
Hygiene in Ergänzung zur körperlichen<br />
Sorgfalt gegenüber dem<br />
eigenen Körper». Eltern und Lehrpersonen<br />
diese mentale Hygiene<br />
zu vermitteln, ist es, was Cury<br />
antreibt. «Viele Eltern glauben,<br />
ihre Kinder hätten eine glückliche<br />
Kindheit, aber ein Aufwachsen<br />
ohne mentale Hygiene ist nicht<br />
möglich.»<br />
Wie sieht mentale Hygie ne aus?<br />
«Das Problem ist, dass Kinder<br />
negative Emotionen oder Gedanken<br />
speichern, schon in sehr jungen<br />
Jahren», führt Cury aus. «Und<br />
ein weiteres Problem ist, dass das<br />
Kinder speichern negative<br />
Erlebnisse in ihrem Gehirn.<br />
Das ist fatal.<br />
Gehirn alle Erlebnisse, die mit<br />
diesen negativen Gedanken verbunden<br />
sind, speichert – mit fatalen<br />
Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung.<br />
Um diese negativen<br />
Gedanken zu löschen, braucht es<br />
ein Management der Gefühle. Das<br />
müssten Eltern wie auch die Schule<br />
vermitteln, und zwar auf der<br />
ganzen Welt!» Gerade auch deshalb,<br />
weil mangelndes Selbstwertgefühl,<br />
Angst und De pressionen<br />
gerade in den Indus trieländern<br />
sehr häufig sind.<br />
«Wir handeln erst, wenn die<br />
Symptome schon akut sind», er -<br />
eifert sich Cury. «Dann schicken<br />
wir unsere Kinder zum Psychologen.<br />
Das ist absurd!» Die Schule<br />
sei ein Ort der Kritik, der Kindern<br />
sage, was sie nicht könnten oder<br />
falsch machten, erzählt Augusto<br />
Cury weiter. Solche Kritik sei<br />
schädlich und könne Kinder nicht<br />
stark machen.<br />
Das bedeute aber nicht, so<br />
Cury, dass man Kinder von allem<br />
Negativen fernhalten müsse. Cury<br />
fordert daher, dass man Kindern<br />
erkläre und vorlebe, wie man mit<br />
externer Kritik umgehen lerne<br />
und neue Perspektiven entwickle.<br />
Ein Ansatz ist: von seinen ureigenen<br />
Ängsten und Verletzungen zu<br />
erzählen – und wie man trotzdem<br />
nicht aufgegeben habe.<br />
Was Kinder zu starken<br />
Menschen macht<br />
Innere Stärke ist nicht in die Wiege gelegt,<br />
sondern kann erworben werden. Resilienz<br />
heisst die Fähigkeit, mit jeglichen<br />
Wider ständen im Leben gelassen umzugehen.<br />
Text: Anja Lang<br />
Widerstandskraft oder Resilienz geht auf das lateinische<br />
«resilire» zurück, was so viel bedeutet wie<br />
«zurückspringen» oder auch «abprallen». Ursprünglich<br />
in der Materialkunde verwendet, bezeichnet<br />
Re silienz die Elastizität oder Spannkraft eines Werkstoffes.<br />
«In der Psychologie spricht man von Resilienz,<br />
wenn sich Personen trotz gravierender Belastungen<br />
oder widriger Lebensumstände psychisch gesund<br />
entwickeln», erklärt Professor Klaus Fröhlich-Gildhoff,<br />
Leiter des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung<br />
(ZfKJ) an der Evangelischen Hochschule Freiburg.<br />
Resilienz gilt als eine Art Immunsystem der Psyche.<br />
Ähnlich wie das körperliche Immunsystem ist auch sie<br />
nicht angeboren. «Sie wird viel mehr durch Erfahrung<br />
und Interaktion mit der Umwelt erlernt und trainiert,<br />
aber auch erstickt oder vergessen», weiss Fröhlich-<br />
Gildhoff. Durch neue re Studien weiss man, dass es<br />
Faktoren gibt, die Resi lienz bei Kindern fördern.<br />
Ein besonders wichtiger Baustein für die Entwicklung<br />
von Resilienz ist die liebevolle und wertschätzen-<br />
54 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
«Erfahren Kinder, dass auch ihre<br />
Eltern Hindernisse kennen, die sie<br />
zweifeln liessen, lernen sie, dass<br />
diese überwunden werden können,<br />
denn sie sehen ihre Eltern ja<br />
als stark und unbesiegbar.» Unsere<br />
Kinder, so schliesst Cury ab,<br />
würden in ihrem weiteren Leben<br />
noch grossen Frustrationen begegnen.<br />
«Vielleicht finden sie keine<br />
Arbeit, hungern oder erleiden<br />
Schicksalsschläge. Wir müssen sie<br />
darauf vorbereiten, dass auch<br />
Wohlstand und <strong>Gesundheit</strong> nicht<br />
selbstverständlich sind, dass das<br />
Leben trotzdem immer lebenswert<br />
und schön ist.»<br />
>>><br />
Zur Person<br />
Augusto Jorge Cury, geboren 1958, ist<br />
ein brasilianischer Arzt, Physiotherapeut,<br />
Psychiater und Schriftsteller. Er ist der<br />
Begründer der «Teoria da Inteligência<br />
Multifocal» und Autor mehrerer Bücher<br />
über bessere Lebensqualität und Selbsthilfe.<br />
www.grupoaugustocury.com.br<br />
Kritik, wie wir sie in der<br />
Schule betreiben, ist schädlich<br />
und macht Kinder nicht stark.<br />
de Beziehung zu mindestens einem Menschen. «Diese<br />
Person muss nicht zwingend der eigene Vater oder<br />
die Mutter sein», betont Experte Fröhlich-Gildhoff.<br />
«Auch Geschwister, Grosseltern, Nachbarn oder Lehrer<br />
können diese Rolle einnehmen.»<br />
Pippi Langstrumpf ist ein Paradebeispiel<br />
für Resilienz<br />
Die zweite tragende Säule zur Entwicklung von Resilienz<br />
sind bestimmte Schutzfaktoren. Das Beispiel der<br />
Kinderbuchheldin Pippi Langstrumpf zeigt anschaulich,<br />
worauf es hier ankommt. Objektiv betrachtet,<br />
wächst Pippi ja unter denkbar ungünstigen Bedingungen<br />
auf: Die Mutter ist tot und der Vater ständig auf<br />
Reisen. Trotzdem meistert Pippi ihr Leben hervorragend.<br />
«Denn Pippi Langstrumpf verfügt über wichtige<br />
Resilienzfaktoren, wie eine positive Lebenseinstellung,<br />
soziale Kompetenzen und vor allem Selbstwirksamkeitsüberzeugung»,<br />
betont der Resilienzexperte. «Faktoren,<br />
die die Forschung als besonders schützend für<br />
die kindliche Psyche identifiziert hat.»<br />
So fördern Eltern die psychische<br />
Widerstandskraft ihres Kindes<br />
Eltern sind in den ersten Jahren meist die wichtigsten<br />
Bezugspersonen im Leben ihres Kindes. Deshalb können<br />
sie die psychische Widerstandskraft ihres Kindes<br />
besonders gut fördern. «Das tun Eltern am besten,<br />
indem sie präsent sind und ihrem Kind aktiv zuhören,<br />
indem sie die Bedürfnisse ihres Kindes ernst nehmen<br />
und soziale Kompetenzen im Alltag beispielhaft vorleben»,<br />
appelliert Fröhlich-Gildhoff. «Lassen Sie Ihr<br />
Kind so oft wie möglich altersgerechte Erfahrungen<br />
selbst machen, aber überfordern Sie es dabei auch<br />
nicht.» So lernen Kinder schon früh, ihren Fähigkeiten<br />
zu vertrauen und sich auch in schwierigen Lebensphasen<br />
erfolgreich zu behaupten.<br />
Diese 6 Resilienzfaktoren machen Kinder stark<br />
• Positive Selbstwahrnehmung<br />
• Gefühle allein steuern (Selbststeuerungsfähigkeit)<br />
• Selbstwirksamkeitsüberzeugung (eigene Stärken<br />
kennen sowie Erfolge auf ihr Handeln beziehen und<br />
Strategien daraus ableiten)<br />
• Soziale Kompetenzen (auf Menschen zugehen,<br />
Kontakt aufnehmen, einfühlsam sein, Konflikte<br />
lösen)<br />
• Angemessener Umgang mit Stress<br />
• Problemlösekompetenz<br />
Anja Lang<br />
ist langjährige Medizinjournalistin. Sie ist<br />
Mutter von drei Kindern und lebt in der<br />
Nähe von München.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>55
Seele<br />
Krank oder null Bock?<br />
Die Pubertät ist eine Zeit der Veränderung. Psychische Erkrankungen wie Depressionen<br />
treten gehäuft auf. Eltern sollten jetzt auf erste Anzeichen achten. Text: Constanze Löffler<br />
56 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Bild: Alain Laboile<br />
Ungefähr ein Kind pro<br />
Klasse leidet an einer<br />
behandlungsbedürftigen<br />
Depression.<br />
Leere und Trauer kennt<br />
der 16-jährige Jakob,<br />
seitdem er von der Primar-<br />
in die Sekundarstufe<br />
wechselte. Um sie<br />
zu vertreiben, fängt er an zu kiffen.<br />
Später erscheint der Junge<br />
wiederholt angetrunken zum<br />
Unterricht. Als ihn ein Vertrauenslehrer<br />
darauf anspricht, streitet<br />
Jakob die Trunkenheit erst ab und<br />
fängt dann an zu weinen. Sein<br />
Leben sei völlig verkorkst und<br />
hoffnungslos. Er wisse überhaupt<br />
nicht, wie es nach der Schule weitergehen<br />
solle. Und ja, er denke<br />
darüber nach, sich das Leben zu<br />
nehmen. Der Lehrer ruft umgehend<br />
Alain Di Gallo an. Der<br />
Direktor der Klinik für Kinderund<br />
Jugendpsychiatrie Basel ist<br />
alarmiert. «Ich bestellte Jakob und<br />
seine Mutter noch am gleichen<br />
Abend in die Klinik», erinnert er<br />
sich. Dort erzählt der Junge, dass<br />
seine Eltern seit fünf Jahren<br />
getrennt seien. Seine Mutter<br />
erklärt, sie habe unter dem unerwarteten<br />
Fortgang ihres Mannes<br />
sehr gelitten und sei kaum noch<br />
für ihren Sohn da gewesen. Jakob<br />
ist überzeugt, auch seine Freunde<br />
würden ihn nicht mehr mögen.<br />
Immer mehr hat er sich zurückgezogen<br />
und ins Comic-Zeichnen<br />
vertieft. Für den Psychiater deutet<br />
alles auf eine Depression hin.<br />
Geschichten wie die von Jakob<br />
gibt es viele. In der Schweizer<br />
SMASH-Studie aus dem Jahr 2002<br />
gaben 35 Prozent der Mädchen<br />
und knapp 20 Prozent der befragten<br />
Jungen an, sie seien häufiger<br />
traurig und deprimiert. «Eine<br />
behandlungsbedürftige Depression<br />
hat am Ende nur ein Bruchteil<br />
von ihnen», beruhigt Experte<br />
Di Gallo. Rund drei Prozent der<br />
Kinder und fünf Prozent der<br />
Jugendlichen, also etwa eine Person<br />
pro Klasse, leiden daran. Das<br />
Fatale: Häufig bleiben die Symptome<br />
unerkannt – insbesondere,<br />
wenn sie mit dem Eintritt in die<br />
Pubertät zusammentreffen. Eltern<br />
fällt es dann schwer, zu erkennen,<br />
ob der Sprössling die Zimmertür<br />
ab-schliesst, weil er sich – wie in<br />
diesem Alter völlig gesund – von<br />
ihnen abgrenzt oder weil er ernsthaft<br />
krank ist.<br />
Stimmungsschwankungen<br />
«Gelegentliche Nullbockstimmung<br />
und ein schwankendes<br />
Selbstwertgefühl während der<br />
Pubertät sind völlig normal»,<br />
meint auch Di Gallo. Gleichzeitig<br />
sei diese Lebensphase eine Zeit, in<br />
der sich gehäuft psychische Störungen<br />
entwickelten. «Negative<br />
Gedanken über die eigene Person»,<br />
so Di Gallo, «können ein<br />
Baustein für die Entstehung von<br />
Depressionen sein.» Eine Untersuchung<br />
der Universität Zürich hat<br />
gezeigt, dass Pubertierende besonders<br />
rasch auf negatives Feedback<br />
reagieren. Das könnte erklären,<br />
warum sich Jugendliche alles so<br />
sehr zu Herzen nehmen.<br />
Während der Pubertät fallen<br />
solche negativen Empfindungen<br />
auf besonders fruchtbaren Boden.<br />
Jetzt gleicht das Gehirn einer<br />
Grossbaustelle: Unwichtige Nervenverbindungen<br />
werden gekappt,<br />
wichtige ausgebaut. Nicht alle<br />
Hirnanteile entwickeln sich dabei<br />
gleich schnell. Das limbische System<br />
und die Amygdala – beides<br />
Hirnstrukturen, die Belohnung<br />
und Emotionen verschlüsseln –<br />
gedeihen schneller als das Stirnhirn.<br />
Das wiederum hat eine kontrollierende<br />
Funktion, mahnt also<br />
zur Ordnung und erinnert an<br />
Regeln.<br />
Die Suche nach dem Kick<br />
Dieses Ungleichgewicht macht<br />
Heranwachsende anfällig für riskantes<br />
Verhalten. Jugendliche<br />
rasen mit dem Mofa umher, probieren<br />
Drogen, betrinken sich und<br />
wechseln ihre Geschlechtspartner<br />
– immer auf der Suche nach dem<br />
ultimativen Kick. «Die Schwelle,<br />
bei der ein Reiz das Gefühl >>><br />
Wenn das Leben keinen Sinn mehr macht<br />
2014 nahmen sich laut Bundesamt für Statistik<br />
31 Jugendliche zwischen 10 und 19 Jahren das<br />
Leben. «Diese Zahl muss uns zu denken geben»,<br />
sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Alain<br />
Di Gallo. Nach Unfällen sind Selbsttötungen<br />
hierzulande die häufigste Todesursache bei<br />
Jugendlichen. Die Zahl der Suizidversuche<br />
schätzen Fachleute noch einmal 100-fach höher.<br />
Depressionen sind der stärkste Risikofaktor<br />
für einen Suizid: Betroffene Buben und Mädchen<br />
hegen oft Selbstmordgedanken. Als Gründe<br />
nennen sie Gefühle wie Einsamkeit und sich<br />
nicht geliebt fühlen, Wut, Ärger und<br />
Enttäuschungen. «Suizidalität muss mit<br />
depressiven Jugendlichen offen angesprochen<br />
werden. Falls notwendig, werden konkrete<br />
Hilfsmassnahmen verbindlich festgelegt», so<br />
Di Gallo. Dazu gehöre der Besuch bei einem<br />
<strong>Spezial</strong>isten und auch, zu Hause Waffen und<br />
Medikamente unzugänglich zu machen.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>57
Seele<br />
>>> von Belohnung verschafft,<br />
liegt in der Jugend höher als im<br />
Erwachsenenalter», führt der<br />
55-jährige Experte aus. «Die Adoleszenz<br />
ist wie ein Auto mit vielen<br />
PS, das die Jugendlichen zwar starten,<br />
aber noch nicht sicher lenken<br />
können.»<br />
Veranlagung spielt eine Rolle<br />
Für Jungen sind Entwicklungen<br />
wie die von Jakob typisch. Sie verstossen<br />
gegen Regeln in der Schule<br />
und Öffentlichkeit, riskieren<br />
mehr beim Sport oder im Strassenverkehr.<br />
Mädchen hingegen<br />
verletzen sich eher selbst und neigen<br />
zu Essstörungen. Psychiater<br />
und Psychologen haben die Kriterien<br />
für eine Depression klar<br />
umrissen. «Wenn Heranwachsende<br />
sich mindestens zwei Wochen<br />
am Stück von Freunden, Schule,<br />
Familie zurückziehen, ihre Freizeitaktivitäten<br />
vernachlässigen<br />
und ungewohnt bedrückt sind,<br />
muss man von einer depressiven<br />
Phase ausgehen», so Experte Di<br />
Gallo. Anders als Gleichaltrige<br />
kämen sie dann nicht mehr aus<br />
dem Bett, verweigerten die Schule<br />
und brächen den Kontakt mit<br />
Freunden ab.<br />
Dennoch ist die Diagnose nicht<br />
immer einfach: «Es gibt keine eindeutigen<br />
Laborwerte oder Anzeichen<br />
des Gehirns im Kernspin»,<br />
erklärt Klinikdirektor Di Gallo.<br />
Eine Depression wird in erster<br />
Linie anhand der Symptome diagnostiziert.<br />
Ausschlaggebend sei<br />
Experten zufolge können<br />
Erlebnisse im Kleinkindalter<br />
depressive Krisen in<br />
der Adoleszenz auslösen.<br />
neben der Schwere der Symptomatik<br />
vor allem der Zeitfaktor:<br />
Das Gefühl der Leere geht einfach<br />
nicht mehr weg.<br />
Doch warum erkranken manche<br />
Kinder und warum überstehen<br />
andere diese labile Phase völlig<br />
unbeschadet? Untersuchungen<br />
zeigen, dass Kinder, die in schwierigen<br />
sozialen Bedingungen aufwachsen,<br />
gefährdeter sind für psychische<br />
Krankheiten. Auch eine<br />
genetische Veranlagung spielt eine<br />
Rolle. Ist ein Elternteil depressiv,<br />
erhöht sich das Risiko des Kindes,<br />
zu erkranken, auf 20 Prozent, sind<br />
beide Eltern betroffen, auf 50 Prozent.<br />
«Die genetische Veranlagung<br />
ist aber nicht allein für die<br />
Entwicklung von Depressionen<br />
verantwortlich», stellt Di Gallo<br />
klar. Zu den inneren Faktoren<br />
müssen äussere kommen. Einer<br />
der häufigsten Gründe ist die<br />
Trennung der Eltern. In einer Zeit,<br />
in der die Gefühle Achterbahn<br />
fahren, sind stabile Beziehungen<br />
eben besonders wichtig. Auch<br />
Jakob hätte seinen Vater gebraucht<br />
– um sich mit ihm als Pubertierender<br />
auseinanderzusetzen und<br />
um sich mit ihm als Mann zu<br />
identifizieren.<br />
Mittlerweile verstehen Forscher<br />
auch immer besser, dass<br />
schon Erlebnisse im Säuglingsund<br />
Kleinkindesalter depressive<br />
Krisen in der Adoleszenz auslösen<br />
können. «Traumatische Trennungen<br />
oder Vernachlässigung in der<br />
frühen Kindheit können nachhal-<br />
tige Auswirkungen auf die Entwicklung<br />
haben», bestätigt Di<br />
Gallo. Mitunter reichen die Auslöser<br />
sogar noch weiter zurück.<br />
Schon während der Schwangerschaft<br />
stehen Föten über die Plazenta<br />
unter dem Einfluss mütterlicher<br />
Stresshormone wie Cortisol.<br />
Pränataler Stress hebt beim Ungeborenen<br />
den Stresshormonspiegel<br />
dauerhaft an und beschleunigt die<br />
Hirnreifung, fanden Neurologen<br />
der Uniklinik Jena heraus. Stress<br />
während der Schwangerschaft gilt<br />
deshalb als ein Risikofaktor für<br />
eine spätere Depression.<br />
Sind Jugendliche denn heute<br />
depressiver als noch vor zehn oder<br />
zwanzig Jahren? Experte Di Gallo<br />
«Eltern verkennen<br />
ihre Rolle»<br />
Wenn das Kind sich in der Pubertät<br />
in sich zurückzieht, dürfen Eltern<br />
nicht lockerlassen.<br />
Interview: Constanze Löffler<br />
Frau Walitza, wie deutet sich eine psychische<br />
Krise bei Pubertierenden an?<br />
Eltern sollten bei neu auftretenden Symptomen<br />
hellhörig werden. Vielleicht ist ihr<br />
Kind öfter schlecht gelaunt und gereizt<br />
oder ungewohnt ernsthaft und traurig.<br />
Vielleicht hört es auf, sich am Nachmittag<br />
oder Wochenende mit den Kollegen zu<br />
treffen. Oder es sackt in der Schule ab,<br />
bringt schlechte Noten heim oder verweigert<br />
die Schule ganz.<br />
Wie sollten Eltern reagieren?<br />
Solche Symptome treten auch im Laufe<br />
einer normalen pubertären Entwicklung<br />
auf. Eltern kennen ihre Kinder am besten.<br />
Wenn sie spüren, dass etwas nicht<br />
stimmt, sollten sie dem nachgehen und<br />
mit dem Nachwuchs reden. Ein offenes<br />
58 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
ist skeptisch. Heute stünden De <br />
pressionen mehr im Blickpunkt,<br />
seien gesellschaftsfähiger geworden<br />
und würden deshalb häufiger<br />
diagnostiziert, meint der Kinderpsychiater.<br />
«Die Zeiten sind nicht<br />
schlimmer als früher, aber die<br />
Herausforderungen an die Jugend<br />
haben sich verändert.» So seien<br />
die meisten Kinder und Jugendlichen<br />
zwar leistungswillig. Manche<br />
hätten jedoch Mühe, ihren<br />
eigenen Ansprüchen ge recht zu<br />
werden, und fühlten sich davon<br />
gestresst.<br />
Auch Mobbing ist ein<br />
Risikofaktor für eine Depression.<br />
Problem Smartphone<br />
Eine Mitschuld tragen auch die<br />
neuen Medien. Beispiel Cybermobbing:<br />
Früher wurde hinter<br />
vorgehaltener Hand getuschelt.<br />
Heute verbreiten sich Beleidigungen<br />
und Gerüchte anonym und<br />
rasend schnell im Netz. Rund fünf<br />
Prozent aller minderjährigen<br />
Schweizer machen die Erfahrung,<br />
schwer gemobbt zu werden – ein<br />
häufiger Risikofaktor für eine<br />
Depression.<br />
Auch das ständige Spielen am<br />
Handy verändert das So >>><br />
Gespräch klärt schnell, ob sie beruhigt<br />
sein können oder eingreifen müssen.<br />
Was, wenn es eine Krise ist?<br />
Eine Pubertät ohne Krisen gibt es nicht!<br />
Manche Krisen sind kleiner, andere grösser:<br />
Liebeskummer, Schule schwänzen,<br />
Erfahrungen mit illegalen Substanzen bis<br />
hin zu kleineren Verkehrsdelikten. Die<br />
meisten Krisen gehen vorüber. Wenn<br />
Eltern allein nicht mehr weiterkommen,<br />
gibt es Hilfe: bei der Elternberatung von<br />
Pro Juventute, bei kantonalen Familienund<br />
Erziehungsberatungen oder dem<br />
Notfalldienst der kinder- und jugendpsychiatrischen<br />
Kliniken.<br />
Wer sind die richtigen Ansprechpartner<br />
bei einer möglichen Depression?<br />
Wichtig ist vor allem, dass Eltern, Lehrer<br />
und Freunde rasch handeln. Haben Eltern<br />
den Verdacht, dass Sohn oder Tochter<br />
depressiv ist, sollten sie sich zunächst an<br />
den Kinderarzt wenden. Geht es dem<br />
Nachwuchs nicht bald besser, vereinbaren<br />
sie einen Termin bei einem Kinderund<br />
Jugendpsychiater oder bei einem auf<br />
diese Altersgruppe spezialisierten Psychologen.<br />
Reden die Kinder von Suizid,<br />
sollten sie mit ihrem Kind sofort einen<br />
Fachmann aufsuchen. Jugendliche,<br />
denen es schlecht geht, vertrauen sich<br />
übrigens häufig Gleichaltrigen an und<br />
bitten sie, das Erzählte für sich zu behalten.<br />
Das stürzt die Vertrauensperson in<br />
Konflikte. Auch hier helfen die Berater<br />
von anonymen Sorgentelefonen weiter.<br />
Eine Depression ist sehr ernst zu nehmen<br />
und darf nicht bagatellisiert werden.<br />
Wie beugen Eltern Krisen vor?<br />
Eltern sollten mit ihren Kindern im<br />
Gespräch bleiben, indem sie sich ein Thema<br />
suchen, mit dem sich das Kind identifiziert.<br />
Und auch wenn der Nachwuchs<br />
abweisend reagiert und meint, dass man<br />
davon nichts verstehe, dürfen Eltern<br />
nicht lockerlassen. Studien zeigen, dass<br />
Eltern ihre Rolle während der Pubertät<br />
ihrer Kinder unterschätzen. Sie haben<br />
einen grösseren Einfluss, als sie von sich<br />
glauben. Eltern sollten immer zeigen,<br />
dass sie für ihr Kind da sind und sich für<br />
es interessieren. Wenn Eltern beispielsweise<br />
nicht wissen, wo ihr Teenager die<br />
Nacht verbringt, finde ich das alarmierend.<br />
Wie können Eltern ihre Kinder stärken?<br />
Indem sie dafür sorgen, dass Heranwachsende<br />
ein Interesse oder eine Leidenschaft<br />
haben, mit der sie sich beschäftigen,<br />
wenn es ihnen nicht gut geht. Sie<br />
brauchen einen Ersatz, wenn der erste<br />
Liebeskummer ausbricht oder es Probleme<br />
mit den Schulkameraden gibt.<br />
Fühlt sich ein Kind beispielsweise<br />
gemobbt und ausgegrenzt, wird es sich<br />
vermutlich nach und nach zurückziehen.<br />
Ist das Kind jedoch in einer Sportmannschaft<br />
integriert und wird von den Kameraden<br />
dort geschätzt, wird es die Ablehnung<br />
durch die Mitschüler als weniger<br />
bedeutsam empfinden. Andere Kinder<br />
reiten, spielen ein Instrument oder zeichnen<br />
Mangas – Hauptsache, sie sind mit<br />
Leidenschaft bei der Sache.<br />
Susanne Walitza<br />
ist Direktorin der Klinik für Kinder- und<br />
Jugendpsychiatrie der Universität Zürich.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>59
Seele<br />
Malatavie: Wenn das<br />
Leben wehtut<br />
In Genf hat die Stiftung Children Action<br />
in Zusammenarbeit mit den Universitätsspitälern<br />
Genf ein einzig artiges Konzept<br />
zur Prävention von selbstmordgefährdeten<br />
Jugendlichen entwickelt.<br />
Text: Claudia Landolt<br />
1994 gründete der gebürtige Franzose Bernard<br />
Sabrier, ehemals Chef von Unigestion, einem<br />
Vermögensverwalter für Grosskunden wie Pensionskassen<br />
und Versicherer, die Stiftung Children<br />
Action mit dem Ziel, Kindern in Not zu helfen<br />
– in der Schweiz und auch im Ausland.<br />
1996 wurde in Genf in Zusammenarbeit mit<br />
den Universitätskliniken eine interdisziplinäre<br />
Kriseneinheit zur Prävention und Therapie von<br />
Teenies in Nöten, darunter auch selbstmordgefährdete<br />
Jugendliche, geschaffen. Die Malatavie<br />
(dt. Wenn das Leben wehtut) genannte<br />
Kriseneinheit besteht aus einer Präventionsund<br />
einer Pflegeabteilung. In der sogenannten<br />
Care Unit ist ein multidisziplinäres Team von<br />
Experten da, um betroffene Teenager und<br />
deren Eltern zu unterstützen, sei dies stationär<br />
oder ambulant. Das Ziel dabei ist, den Teenager<br />
zur Mitwirkung zu motivieren.<br />
Die Präventionsabteilung Preven tion Unit<br />
operiert auf drei Ebenen: jener, die sich ausschliesslich<br />
an Jugendliche richtet, einer zweiten,<br />
die sich an Risikopersonen adressiert, und<br />
schliesslich einer dritten, die sich mittels Aufklärung<br />
an die Gesamtbevölkerung wendet.<br />
Seit Beginn des in der Schweiz einzigartigen<br />
Präventionsprogrammes hat Malatavie Hilfe<br />
für 3731 Jugendliche geleistet. Im selben Zeitraum<br />
hat die Ados Line, der Telefondienst für<br />
Teenies in Not, 7514 Anrufe registriert, wovon<br />
6236 klinische Anliegen behandelt wurden.<br />
2014 wurde die Plattform www.airedados.ch<br />
geschaffen, die das Netzwerk rund um sensi ble<br />
Jugendliche stützen und erweitern soll.<br />
>>> zial verhalten. Statt mit drei,<br />
vier echten Freunden auf dem<br />
Sportplatz zu kicken oder sich<br />
zum Shoppen zu verabreden,<br />
haben Jugendliche mit ein paar<br />
hundert Freunden Kontakt – hinter<br />
zugezogener Tür. Das ständige<br />
Herumtippen am Smartphone<br />
oder Bildschirm verändert ihren<br />
Tag- und Nachtrhythmus. «Die<br />
ex zessive nächtliche Nutzung<br />
elektronischer Medien ist ein Risikofaktor<br />
für Schlafstörungen und<br />
Depressionen», erklärt Susanne<br />
Walitza, Direktorin der Klinik für<br />
Kinder- und Jugendpsychiatrie<br />
der Universität Zürich. Schlafstörungen<br />
selbst können ein Symptom<br />
der Depression sein, aber<br />
auch die Entstehung von Depressionen<br />
begünstigen.<br />
Diese Risikofaktoren lassen<br />
sich jedoch positiv beeinflussen,<br />
meint die Expertin. «Elterliche<br />
Zuwendung, klare Grenzen und<br />
ein strukturierter Tagesablauf in<br />
Kindheit und Jugend beugen vor.»<br />
Nicht immer können sie eine psychische<br />
Erkrankung verhindern.<br />
Um frühzeitig zu erkennen, ob ein<br />
Jugendlicher in eine Depression<br />
abrutscht, braucht es die Aufmerksamkeit<br />
und Mithilfe aller<br />
aus dem Umfeld: Freunde, Eltern<br />
und Lehrer. Denn anders als früher<br />
gedacht wachsen sich Depressionen<br />
und andere psychische<br />
Erkrankungen nicht einfach aus.<br />
«Eine frühe Diagnose und durchgängige<br />
Intervention sind wichtig»,<br />
erklärt Walitza. «Ansonsten<br />
kann sich die Langzeitprognose<br />
deutlich verschlechtern.» Studien<br />
belegen, was passiert, wenn die<br />
therapeutische Chance in der<br />
Pubertät vertan wird: Vier von<br />
fünf psychisch kranken Erwachsenen<br />
waren schon als Jugendliche<br />
psychisch labil.<br />
Die Therapie jugendlicher<br />
De pressionen unterscheide sich<br />
kaum von der depressiver Er-<br />
wachsener, erklärt Walitza, da sich<br />
auch die Symptome sehr ähnelten.<br />
«Im ersten Schritt klären wir die<br />
Jugendlichen über die Erkrankung<br />
auf.» Bei leichten Störungen helfe<br />
eine Gesprächs- und Verhaltenstherapie,<br />
in schwereren Fällen<br />
unterstützt durch Medikamente.<br />
«Typisch für Depressive ist, dass<br />
sie oft alles schwarz sehen und<br />
negativ bewerten», erklärt die<br />
Kinder- und Jugendpsychiaterin.<br />
«In der Therapie bringen wir<br />
Ereignisse und Empfindungen in<br />
einen realistischen Kontext.» Hat<br />
jemand eine Zwei in Mathe, ist er<br />
kein Schulversager. Verlässt ihn<br />
die Freundin, bedeutet das nicht,<br />
dass der Junge nie wieder eine<br />
Partnerin haben wird.<br />
Sich selbst vertrauen<br />
Die Therapeuten helfen auch<br />
dabei, Auslöser aus der Welt zu<br />
schaffen. Beispiel Mobbing: «Wir<br />
nehmen mit der Schule Kontakt<br />
auf und überlegen gemeinsam, wie<br />
wir mit der Situation umgehen»,<br />
so Walitza, selbst Mutter eines<br />
Teenagers. Mal fänden Gespräche<br />
mit Tätern und Opfer statt, mal<br />
würden ganze Klassen einschliesslich<br />
der Eltern geschult. Und gelegentlich<br />
empfehle sich ein Schulwechsel.<br />
«Zentrales Ziel der<br />
Therapie ist immer, das Kind zu<br />
stärken und es darin anzuleiten,<br />
auf sein Können und seine Fähigkeiten<br />
zu vertrauen», betont die<br />
Expertin.<br />
Auch ein stationärer Aufenthalt<br />
kann hilfreich sein. Einfach mal<br />
rauskommen aus dem deprimierenden<br />
Umfeld, weg von den traurigen<br />
Gedanken und den Grübeleien.<br />
Grossen Wert legt die<br />
47-Jährige darauf, die Kinder nach<br />
der Therapie nicht einfach zu entlassen.<br />
«Es muss klar sein, wie es<br />
in Elternhaus und Schule weitergeht<br />
und wo die Therapie ambulant<br />
fortgeführt werden kann.»<br />
60 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Und Jakob? Das Angebot des Professors,<br />
in der Klinik zu bleiben,<br />
schlug der Junge aus. «Drei<br />
Wochen später meldete er sich<br />
wieder, weil die innere Anspannung<br />
stärker geworden war»,<br />
erzählt Alain Di Gallo. Dann sei<br />
Jakob bereit gewesen für eine<br />
ambulante Therapie. Während der<br />
wurde ihm klar, wie sehr der Vater<br />
ihn durch seinen Weggang und<br />
den Kontaktabbruch verletzt hatte<br />
– und dass er sich mit ihm treffen<br />
wollte. Das Wiedersehen gab ihm<br />
die Gelegenheit, dem Vater all seine<br />
Wut entgegenzuschleudern.<br />
Gleichzeitig war es der Anfang<br />
zum Aufbau einer neuen Beziehung.<br />
Heute studiert Jakob Kommunikationsdesign.<br />
Und die<br />
Depression ist eine vergangene<br />
Episode in seinem Leben.<br />
>>><br />
Exzessive Internetnutzung<br />
ist ein Risikofaktor für<br />
Schlafstörungen und Depression.<br />
Constanze Löffler<br />
findet es beruhigend, dass es für die<br />
jugendliche Depression handfeste<br />
neurobiologische Erklärungen gibt.<br />
Anlaufstellen<br />
Pro Juventute unterstützt<br />
Kinder und Jugendliche in<br />
Krisen situationen rund um die<br />
Uhr per Telefon und SMS über<br />
147, im Internet auf www.147.ch.<br />
Im Centre d’Etude et Prévention<br />
du Suicide (ceps.hug-ge.ch)<br />
der Universität Genf sind unter<br />
022 372 42 42 Fachleute 24<br />
Stunden erreichbar. Der Verein<br />
Ipsilon (www.ipsilon.ch) ist eine<br />
private Initiative, um Suizid zu<br />
verhindern.<br />
SCHWEIZER GEMÜSE IST GESUND,<br />
FRISCH GEERNTET UND STAMMT<br />
AUS DER REGION:<br />
In der Schweiz wächst das ganze Jahr über gesundes<br />
Gemüse auf Feldern und in Gewächshäusern.<br />
Je nach Saison kann man unterschiedliches erntefrisches<br />
oder gelagertes Schweizer Gemüse auf dem<br />
Teller geniessen. Die grosse Vielfalt und die Vorteile<br />
von Schweizer Gemüse überzeugen durch Frische,<br />
nachhaltigen Anbau, kurze Transportwege und hohe<br />
Qualität. Die Produkte, welche mit SUISSE GARANTIE<br />
oder der Bio-Knospe ausgezeichnet sind, werden<br />
streng kontrolliert.<br />
WETTBEWERB<br />
Welches der abgebildeten Gemüse hat im März<br />
nicht Saison?<br />
Fenchel<br />
Lauch<br />
Radiesli<br />
Senden Sie uns Ihre Antwort inkl. Postadresse mit<br />
dem Betreff «Fritz&Fränzi» an: info@gemuese.ch<br />
Unter den richtigen Antworten wird ein saisonaler<br />
Gemüsekorb verlost.<br />
Interaktiver Saisonkalender:<br />
www.gemuese.ch/saisonkalender<br />
Rezepte und Tipps:<br />
www.gemuese.ch/rezepte<br />
/SchweizerGemuese.LegumesSuisses
Seele<br />
Zum einen Ohr rein, zum andern<br />
wieder raus? Das muss nicht sein!<br />
Plötzlich schreit jemand, und Türen werden geknallt. Kommunikation in der Familie ist eine knifflige<br />
Sache, zumal Kinder manchmal auf Durchzug schalten. Fünf Beispiele aus dem Alltag – und wie<br />
man es besser machen kann. Text: Claudia Landolt<br />
Sonntagmorgen, irgendwo<br />
in der Schweiz. Eine<br />
Mutter ruft: «Nein!» Das<br />
Kind stellt sich taub.<br />
«Wenn nicht, dann …»,<br />
droht die Mutter. Der Steigerungslauf<br />
elterlicher Macht beginnt.<br />
Befehle, Drohungen, Ermahnungen.<br />
Geschrei, Machtkämpfe,<br />
Tränen: Das kennen wir doch alle.<br />
Und fragen uns: Muss das sein?<br />
Muss es nicht, sagt Kommunikationsexperte<br />
René Borbonus. Er<br />
sagt: «Respekt ist die Grundlage<br />
von funktionierenden Beziehungen.<br />
Menschen brauchen Respekt,<br />
insbesondere auch im Eltern-<br />
Kind-Verhältnis. Wir sehnen uns<br />
nach Respekt und leiden, wenn<br />
wir ihn nicht erhalten.»<br />
Respekt kommt vom Lateinischen<br />
respicere und bedeutet: zu -<br />
rückblicken. «Respektvolle Kommunikation<br />
bringt zum Ausdruck,<br />
dass wir den andern sehen und<br />
seine Meinung respektieren», er -<br />
klärt Borbonus. Wenn man das<br />
tue, dürfe man auch anderer Meinung<br />
sein. «Der Punkt aber ist:<br />
Wenn wir das Gefühl haben, dass<br />
wir mit unserer Meinung oder<br />
Idee nicht respektiert werden, ent-<br />
stehen Probleme, weil Kommunikation<br />
nur schlecht gelingt.»<br />
Fünf Beispiele aus dem Alltag<br />
1. Wie geht man mit Vorwürfen<br />
um?<br />
Situation: «Nie darf ich ... immer<br />
muss ich!» (das Kind). «Wie oft<br />
muss sich dir noch sagen, dass …<br />
(die Eltern).<br />
Resultat: Geschrei und Frustration.<br />
Niemand will nachgeben.<br />
Lösung: Zurück auf die Strasse der<br />
Sachlichkeit. Sich mit der Frage<br />
behelfen: «Worauf beziehst du<br />
dich?» «Woran denkst du ganz<br />
konkret?»<br />
Erklärung: Pauschalisierungen<br />
sind respektlos. Wir werden be -<br />
wertet, das bereitet uns Probleme,<br />
sofern es kein Lob ist. Mit der Be -<br />
ob achtung passiert das nicht. Hinter<br />
jeder Bewertung steckt eine<br />
Respektvolle Kommunikation<br />
heisst, den andern «zu sehen»,<br />
sich in ihn hineindenken.<br />
Beobachtung. Diese können wir<br />
erfragen und so mehr Ruhe ins<br />
Gespräch bringen.<br />
<br />
2. Wie kommuniziert man<br />
respektvoll?<br />
Situation: Das Kind ist nervös<br />
oder ängstlich, weil es anderntags<br />
eine Prüfung oder einen Auftritt<br />
hat. Es sagt: «Ich will nicht in die<br />
Schule!» Eltern antworten: «Ach<br />
komm, das ist doch nicht so<br />
schlimm, das schaffst du schon.»<br />
Resultat: Das Kind ist frustriert,<br />
fühlt sich nicht ernst genommen.<br />
Die Eltern sind genervt.<br />
Lösung: Empathisch sein, den<br />
andern sehen. Sich ins Kind hineindenken,<br />
die Angst sehen und<br />
sie thematisieren. Zum Beispiel:<br />
«Ja, du bist aufgeregt, du hast<br />
Angst, den Text zu vergessen, oder<br />
es macht dir Sorgen, dass du dich<br />
blamieren könntest.»<br />
62 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Eltern sind manchmal<br />
unfrewillig respektlos,<br />
indem sie bagatellisieren.<br />
Bild: Alain Laboile<br />
Erklärung: Eltern neigen manchmal<br />
dazu, unfreiwillig respektlos<br />
zu sein, indem sie bagatellisieren<br />
und sagen: «Komm, ist doch nicht<br />
so schlimm, das schaffst du schon,<br />
du hast ja schon ganz andere Sa <br />
chen geschafft, ein Beinbruch wär<br />
jetzt schlimmer.» Das ist gut ge <br />
meint, allerdings bedeutet es in<br />
Wahrheit: den andern nicht sehen.<br />
Wir sehen das Gefühl nicht, wir<br />
ba gatellisieren es und delegitimieren<br />
es zusätzlich. Das Kind fühlt<br />
sich nun doppelt schlecht, zum<br />
einen, weil es Angst hat, zum andern,<br />
weil es sich in dieser Angst<br />
falsch wähnt, weil es als Einziges<br />
Angst hat, mit diesem Gefühl also<br />
offenbar auch nicht richtig liegt.<br />
3. Welche Aussagen sollte man<br />
in der Familie vermeiden?<br />
Situation: Der Vater ist im Badezimmer<br />
und putzt sich die Zähne.<br />
Routinemässig überprüft er die<br />
Zahnbürste des Sohnes. Sie ist trocken.<br />
Er ruft in das Zimmer des<br />
Sohnes: «Sag mal, hast du dir die<br />
Zähne geputzt?» Das Kind ruft<br />
zurück: «Ja, klar.» Der Vater zitiert<br />
ihn ins Bad und bringt ihn dazu,<br />
die Zähne zu putzen.<br />
Resultat: Das Kind gehorcht, der<br />
Vater hat seine erzieherische Aufgabe<br />
erfüllt. Besonders gut fühlen<br />
sich aber beide nicht. Denn faktisch<br />
hat der Vater seinen Sohn als<br />
Lügner entlarvt («Du hast dir deine<br />
Zähne ja gar nicht geputzt!»).<br />
Lösung: «Kind, du hast dir deine<br />
Zähne noch nicht geputzt, komm<br />
bitte ins Bad, Zähne putzen.»<br />
Erklärung: Der Vater hat die Konsistenz<br />
seines Kindes in Frage ge <br />
stellt, also auch dessen Glaubwürdigkeit.<br />
So entstehen in der Regel<br />
keine wirklich guten Gespräche.<br />
4. Diskutieren wir zu viel?<br />
Situation: Die Mutter fragt das<br />
Kind nach der Schule: «Möchtest<br />
du nicht lieber zuerst Hausaufgaben<br />
machen?» Das Kind antwortet:<br />
«Nein.» Nach längerer Diskussion<br />
sagt die Mutter: «Du machst<br />
zuerst die Hausaufgaben und gehst<br />
dann Fussball spielen.»<br />
Resultat: Das Kind ist verwirrt, die<br />
Mutter verärgert.<br />
Lösung: Sich klar werden, welches<br />
Ergebnis man will. Eine klare Aussage<br />
machen, ohne Begründung.<br />
Erklärung: Wir stellen zu viele<br />
Fragen. Damit verwirren >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />
März <strong>2017</strong>63
Seele<br />
Eltern stellen oft zu viele<br />
Fragen. Damit verwirren<br />
wir unsere Kinder.<br />
>>> wir unsere Kinder. Wenn<br />
das Kind auf obige Frage mit Nein<br />
antwortet und ich seine Entscheidung<br />
korrigiere, respektiere ich<br />
seine Entscheidung nicht. Mit meiner<br />
Frage habe ich streng genommen<br />
dem Kind einen Entscheidungsrahmen<br />
übergeben, den ich<br />
eigentlich gar nicht übergeben<br />
wollte, weil ich ja gerne hätte, dass<br />
es so entscheidet, wie ich will.<br />
5. Muss man ein «Nein»<br />
begründen?<br />
Situation: Kind: «Papa, ich möchte<br />
noch ein Gummibärchen.»<br />
Vater: «Nein, du hattest schon welche.»<br />
Kind: «Aber nur drei, und<br />
die waren alle weiss.»<br />
Resultat: Der Vater ist ratlos.<br />
Lösung: Ein Nein nicht begründen,<br />
sondern drei Schritte weiterdenken.<br />
Sagen: «Ja, Gummibärchen,<br />
das wär jetzt toll, würd ich<br />
auch gern essen, am liebsten einen<br />
ganzen Haufen. Das geht jetzt aber<br />
nicht, denn wir essen gleich. Frag<br />
mich doch nach dem Abendessen<br />
nochmals.»<br />
Erklärung: Man sollte es vermeiden,<br />
ein Nein zu begründen, weil<br />
man sich damit auf weitere Diskussionen<br />
einlässt, die ärgerlich<br />
sein können. Begründet man ein<br />
Nein, geht es nur noch um den<br />
Grund, nicht um das Nein. Besser:<br />
Einen alternativen Impuls setzen<br />
und sagen: Frag mich nach dem<br />
Essen nochmals. So bleibt die<br />
Energie im Spiel. Schlimmstenfalls<br />
fragt dann das Kind: Warum<br />
nicht? Dann kann man es begründen,<br />
muss es aber nicht. Begründet<br />
man es aber, ist man da, wo man<br />
immer schon war.<br />
René Borbonus über …<br />
… Entschuldigungen: Eines der<br />
mächtigsten Instrumente in der<br />
Kommunikation. Wenn man sich<br />
richtig, aufrichtig und gut entschuldigt,<br />
hat das sehr viel Kraft.<br />
Eine gute Entschuldigung braucht<br />
drei Dinge. Erstens: die Reue.<br />
Wenn man glaubwürdig bereut,<br />
stellt das sofort wieder Vertrauen<br />
her. Zweitens: die Empathie. Dass<br />
man sagt, das hat dich getroffen,<br />
jetzt bist du traurig. Drittens: einen<br />
Plan. Glaubhaft versichern, dass es<br />
so nicht mehr vorkommt.<br />
... Vergleiche: Wir kritisieren oft,<br />
indem wir vergleichen: «Guck mal,<br />
wie schön Anna ihr Zimmer aufgeräumt<br />
hat!» «Der Nicolas spielt<br />
so toll Klavier, er übt jeden Tag.»<br />
Was wir damit bei unseren Kindern<br />
erreichen, ist, dass sie Anna<br />
oder Nicolas abgrundtief hassen.<br />
… unechte Fragen: «Warum liegt<br />
denn dein Jacke am Boden?» Die<br />
Frage ist rein rhetorisch, denn es<br />
geht um etwas anderes: Die Jacke<br />
soll aufgehängt werden. Hintenrum<br />
verpackte Kritik nervt.<br />
… Forderungen: «Alle anderen<br />
dürfen, nur ich nicht.» Hier gehts<br />
nur über Emotionen. Also sagen:<br />
«Ja, das wär jetzt toll, zehn Stunden<br />
lang am Stück zu gamen. Und jetzt<br />
bist du wütend, weil du das unfair<br />
findest. Ich möchte dir aber gerne<br />
zeigen, wie ich das sehe.» Dann die<br />
Verhandlungen starten. In dem<br />
Bereich, der einem wichtig ist,<br />
jedoch unnachgiebig bleiben.<br />
… Konflikte: Kinder brauchen<br />
Konflikte. Das ist anstrengend und<br />
kann auch verletzen. Aber ich halte<br />
es für einen Fehler, dass Eltern<br />
Konflikte und Eskalationen vermeiden<br />
möchten. Viele Eltern sind<br />
gefangen in diesem Wellness-Anspruch.<br />
Wir sind unseren Kindern<br />
einen Streit schuldig, selbst wenn<br />
sie uns dann ein «Ich hasse dich!»<br />
entgegenschleudern oder als<br />
«schlimmste Mutter / schlimmsten<br />
Vater der Welt» bezeichnen. Das<br />
gilt es auszuhalten. Wichtig ist:<br />
Man sollte sich davon nicht beeindrucken<br />
lassen. Der hormonelle<br />
Nebel legt sich wieder.<br />
>>><br />
René Borbonus<br />
studierte Germanistik, Psychologie und<br />
Politik, ist ehemaliger Redenschreiber<br />
und arbeitet heute als Redner, Rhetoriker<br />
und Kommunikationstrainer. Er lebt in<br />
Deutschland, ist verheiratet und hat zwei<br />
Söhne. www.rene-borbonus.de<br />
Wie kommuniziere ich richtig –<br />
vier Tipps<br />
• Kurz sprechen. Je mehr wir sagen,<br />
desto mehr Widerstände bauen<br />
sich auf.<br />
• Einfache Sprache. Keine Worte<br />
benutzen, die der andere nicht kennt.<br />
Gerade Kinder fragen oft nicht nach,<br />
weil sie sich keine Blösse geben wollen.<br />
• Strukturiert vorgehen. Also erst<br />
den Grund sagen, dann das Ziel.<br />
• Struktur hörbar machen. Also<br />
mündlich Absätze machen, wie wenn<br />
man es schriftlich auch tun würde.<br />
Die drei Ideen oder die drei Aspekte<br />
zum Beispiel erwähnen.<br />
64 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
Publireportage<br />
Einmal täglich eine Stunde<br />
Wenn Sie an Ihre Kindheit zurückdenken – woran erinnern Sie sich am ehesten?<br />
Daran, dass Sie immer viel zu früh ins Bett mussten? An Schulstunden, während<br />
denen Sie stillsitzen mussten? Oder vielleicht doch an die wilden Fangis-Partien<br />
im Garten mit den Nachbarskindern?<br />
Kinder wollen sich bewegen – ständig und<br />
überall. Doch diesem Bewegungsdrang Raum<br />
zu geben, ist nicht immer ganz einfach. Die<br />
Lebenswelten haben sich in den letzten Jahren<br />
und Jahrzehnten verändert. In Dörfern<br />
und Städten werden die Grünflächen immer<br />
kleiner. Auf den Quartierstrassen herrscht<br />
mehr Verkehr als Eltern lieb ist.<br />
Dabei wäre Bewegung so wichtig für <strong>Gesundheit</strong><br />
und Wohlbefinden. Und zwar nicht<br />
nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene.<br />
Zweieinhalb Stunden pro Woche sollte<br />
sich eine erwachsene Person mindestens so<br />
intensiv bewegen, dass sich ihre Atmung beschleunigt.<br />
Die aktuellste schweizerische<br />
<strong>Gesundheit</strong>sbefragung zeigt, dass mehr als<br />
ein Viertel der Personen im Alter von 15 bis<br />
74 Jahren diese Bewegungsempfehlungen<br />
nicht erreichen. Bei Kindern ist es noch besorgniserregender:<br />
Sie sollten sich täglich<br />
mindestens eine Stunde bewegen können –<br />
drei Viertel aller Kinder tun das jedoch nicht.<br />
unter anderem in Zusammenarbeit mit der<br />
EGK-<strong>Gesundheit</strong>sbotschafterin Simone Niggli-<br />
Luder und deren Familie entstanden sind.<br />
Im Gleichgewicht<br />
mit der Oma<br />
Bis ins hohe Alter hilft regelmässige Bewegung,<br />
modernen Zivilisationskrankheiten wie<br />
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder<br />
Übergewicht vorzubeugen. Weshalb also<br />
nicht die tägliche Bewegung zu einem Freizeitspass<br />
für die ganze Familie machen? Um<br />
dies zu erleichtern, hat die EGK-<strong>Gesundheit</strong>skasse<br />
den Ratgeber «Bewegung, Spiel und<br />
Spass in der ganzen Familie» entwickelt. Dieser<br />
fasst nicht nur spannende Daten und Fakten<br />
zu Bewegung und <strong>Gesundheit</strong> bei Kindern,<br />
Eltern und Grosseltern zusammen. Ein<br />
Praxisteil liefert zahlreiche Anleitungen und<br />
Inspirationen, wie Kinder mit ihren Gspänli,<br />
Eltern oder Grosseltern die Freude an Bewegung<br />
(wieder) entdecken können. Erleichtert<br />
Die spielerischen Aktivitäten sind dabei auf<br />
die Bedürfnisse der jeweiligen Altersgruppe<br />
abgestimmt, wie Sportwissenschaftler<br />
Lukas Zahner vom Departement für Sport,<br />
Bewegung und <strong>Gesundheit</strong> der Universität<br />
Basel erklärt. «Kinder entwickeln ihren<br />
Gleichgewichtssinn erst, während er bei<br />
Senioren schon wieder abnimmt», so der<br />
Experte, der bei der Konzeption des Ratgebers<br />
federführend zur Seite stand. «Dadurch<br />
ist es sinnvoll, wenn beide Generationen den<br />
Gleichgewichtssinn mit gemeinsamen Spielen<br />
trainieren.»<br />
Der Ratgeber «Bewegung, Spiel und<br />
Spass in der ganzen Familie» ist unter<br />
www.egk.ch/shop erhältlich und kostet<br />
für EGK-Versicherte CHF 18.–,<br />
für Nicht-EGK-Versicherte CHF 25.–.<br />
118 Seiten, broschiert.<br />
wird die Umsetzung durch Beispielvideos, die<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong> März <strong>2017</strong>65
Service<br />
Literatur zum Thema<br />
Das wirft mich nicht um. Mit<br />
Resilienz stark durchs Leben<br />
gehen.<br />
Wie Krisen überstehen und in schwierigen<br />
Situationen stark bleiben? Dem<br />
Känguruh fällt dies leicht: Es reagiert<br />
flexibel auf die Umgebung. Jutta Haller erklärt anhand der<br />
Känguruh-Qualitäten, wie wir Widerstandskraft entwickeln.<br />
Kösel, 2015, 48 Seiten, ca. 11 Fr.<br />
Klarheit. Der Schlüssel zur besseren<br />
Kommunikation.<br />
Wir kommunizieren immer häufiger und<br />
auf unterschiedlichen Kanälen. Gleichzeitig<br />
leiden die Klarheit unserer Botschaften,<br />
und es kommt zu Missverständnissen und<br />
Streit. René Borbonus erklärt, wie wir in<br />
Beruf und Familie klarer kommunizieren.<br />
Econ, 2015, 256 Seiten, ca. 20 Fr.<br />
Glück kann man lernen. Was Kinder stark<br />
fürs Leben macht.<br />
Der Lehrer, Psychologe und Schulleiter Ernst<br />
Fritz-Schubert hat das Schulfach Glück<br />
erfunden und in Deutschland und im Ausland<br />
erfolgreich umgesetzt. Er erklärt, wie man<br />
die Potenziale der Kinder entdeckt und<br />
so erreicht, dass sie an sich selbst glauben. Denn nur<br />
aus starken Kindern werden glückliche Menschen.<br />
Ullstein Taschenbuch, 2011, 240 Seiten, ca. 11 Fr.<br />
Essen ist Kommunikation. Esskultur<br />
und Ernährung für eine Welt mit<br />
Zukunft.<br />
Die Professorin für Ernährungswissenschaft<br />
Ines Heindl untersucht, was<br />
und vor allem wie in verschiedenen<br />
Kulturen gegessen und getrunken<br />
wird. Es ist auch ein «Mutmachbuch», weil es Auswege<br />
aus der gängigen Ernährungsaufklärung zeigt.<br />
Umschau Zeitschriftenverlag, 2016, 216 Seiten, ca. 23 Fr.<br />
Links<br />
• Multifokale Theorie / Augusto Cury:<br />
www.augustocury.com.br<br />
• Leistungsförderung durch bewusste Ernährung<br />
(Forschung):<br />
www.uni-flensburg.de, Stichwort: Ines Heindl<br />
• Depressionen, Suizid und Prävention:<br />
www.hug-ge.ch, Stichwort: malatavie-unite-crise<br />
• Glücksforschung:<br />
www.fritz-schubert-institut.de<br />
• Eltern-Kind-Bindung:<br />
www.elter-kind-bindung.net<br />
• Schlafen und Lernen:<br />
www.fritz-schubert-institut.de<br />
• Achtsamkeit und Meditation für Kinder:<br />
www.kadampa.ch<br />
Impressum<br />
Herausgeber<br />
Stiftung Elternsein,<br />
Seehofstrasse 6, 8008 Zürich<br />
www.elternsein.ch<br />
Redaktion<br />
Chefredaktor: Nik Niethammer,<br />
n.niethammer@fritzundfraenzi.ch<br />
Verantwortlich für diese Ausgabe:<br />
Nik Niethammer, Claudia Landolt<br />
Verlag<br />
Fritz+Fränzi,<br />
Dufourstrasse 97, 8008 Zürich,<br />
Tel. 044 277 72 62,<br />
info@fritzundfraenzi.ch,<br />
verlag@fritzundfraenzi.ch,<br />
www.fritzundfraenzi.ch<br />
Business Development & Marketing<br />
Leiter: Tobias Winterberg,<br />
t.winterberg@fritzundfraenzi.ch<br />
Anzeigen<br />
Administration: Dominique Binder,<br />
d.binder@fritzundfraenzi.ch,<br />
Tel. 044 277 72 62<br />
Art Direction / Produktion<br />
Partner & Partner, Winterthur,<br />
www.partner-partner.ch<br />
Bildredaktion<br />
13 Photo AG, Zürich, www.13photo.ch<br />
Korrektorat<br />
Brunner Medien AG, Kriens, www.bag.ch<br />
Auflage: 101 725<br />
Heftsponsoren<br />
Credit Suisse (Schweiz) AG<br />
66 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>
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