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03/2017 Gesundheit-Spezial

Fritz + Fränzi

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März <strong>2017</strong><br />

<strong>Gesundheit</strong><br />

Das macht<br />

Kinder stark<br />

Die neue Achtsamkeit<br />

Meditation mit Kindern –<br />

wie funktioniert das?<br />

Böser, böser Zucker<br />

Wie Eltern ihre Kinder<br />

richtig ernähren<br />

Schlafen und Lernen<br />

Wie guter Schlaf und gute<br />

Noten zusammenhängen


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2 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Editorial<br />

Liebe Leserin, lieber Leser<br />

Bild: Geri Born<br />

Claudia Landolt<br />

Leitende Autorin<br />

beim Schweizer<br />

ElternMagazin<br />

Fritz+Fränzi<br />

Einer meiner vier Söhne mag Fussball nicht. Vergangenes Jahr mühte er sich damit ab,<br />

den Ball bei drei Versuchen wenigstens ein Mal ins Tor zu bekommen. Denn Jungs,<br />

die Fussball nicht mögen, haben zumindest in der Primarschule einen schweren Stand.<br />

Man kann seine Talente nicht aussuchen, denn niemand ist perfekt – auch das eigene<br />

Kind nicht. Aber mindestens eine Sache kann jeder Mensch gut, und genau darum geht<br />

es in diesem Heft: wie Kinder ihre Stärken entdecken, ohne sich für ihre Schwächen zu<br />

schämen, und trotzdem bereit sind, Herausforderungen anzunehmen.<br />

Wir Erwachsenen können sie dabei unterstützen. Ich hätte meinem Sohn nur zu<br />

gern gesagt, er solle in der Pause doch lieber Pingpong spielen, statt sich mit den fussballverrückten<br />

Klein-Neymars zu messen. Tat ich aber nicht. Ich tröstete, ermutigte –<br />

und schwieg. Eisern. Was geschah? Mein Sohn entpuppte sich als meisterhafter Goalie<br />

und wird nun von den anderen Fussballjungs regelmässig ins Tor gewählt. Einstimmig.<br />

Tore schiessen immer noch die anderen, aber er, er hält jeden Ball.<br />

Herzlichst, Ihre Claudia Landolt<br />

Inhalt<br />

<strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong> März <strong>2017</strong><br />

Geist<br />

04 «Eltern, glaubt an eure Kinder»<br />

Der Glücksforscher Ernst Fritz-<br />

Schubert weiss, was unsere Kinder<br />

wirklich glücklich macht.<br />

14 Die neue Achtsamkeit<br />

Meditation mit Kindern – funktioniert<br />

das? Unsere Autorin hats ausprobiert.<br />

18 Was Kinder stark macht<br />

Sechs Tipps für Eltern vom<br />

Psychologen, die wirklich helfen.<br />

Körper<br />

22 Ein gesunder Selbstwert<br />

Die Gefühle der Eltern beeinflussen<br />

den Selbstwert des Kindes –<br />

weiss der Kinderarzt Cyril Lüdin.<br />

26 Schlafen und Lernen<br />

Über den Zusammenhang zwischen<br />

gutem Schlaf und guten Noten.<br />

28 Schlafen und Handy<br />

Was blaues Licht dem Körper<br />

vorgaukelt.<br />

30 Kinder und Zähne<br />

Böser, böser Zucker: Die Banane<br />

muss weg.<br />

34 Kinder und Augen<br />

Alles über Schielen, Kurzund<br />

Schwachsichtigkeit.<br />

38 Kein Zoff mit der Ernährung<br />

Stress am Familientisch? Alles<br />

über Zen beim Essen.<br />

42 Tipps und Tricks rund ums Essen<br />

Wie man Teenagern Pizza, Chips<br />

und Burger abgewöhnt.<br />

Seele<br />

44 Es lebe das Spiel!<br />

Lasst die Kinder endlich spielen.<br />

Ein Plädoyer.<br />

52 Mentale Muster lösen<br />

Wie ein brasilianischer Psychiater und<br />

Bestsellerautor Kinderseelen stärkt.<br />

56 Achtung, Depression!<br />

In der Pubertät treten oft seelische<br />

Verstimmungen auf. Alles über die<br />

ersten Anzeichen.<br />

62 So kommuniziere ich richtig<br />

Kinder sind Meister im Ignorieren<br />

der elterlichen Befehle. Wir sagen,<br />

wie wir garantiert gehört werden.<br />

Service<br />

66 Bücher und Links / Impressum<br />

Die Bilder in diesem Heft stammen vom<br />

französischen Fotografen Alain Laboile.<br />

Er ist Vater von sechs Kindern. Über<br />

viele Jahre hat er das Leben seiner<br />

Familie im Südwesten Frankreichs<br />

mit der Kamera festgehalten. Kindsein<br />

heisst dort baden im Fluss, mit Fröschen<br />

spielen und nackt durch den Garten<br />

laufen. www.laboile.com<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>3


Geist<br />

«Eltern, glaubt<br />

an eure Kinder»<br />

Ein Kind braucht kein Ritalin und keine Matura, um stark und<br />

glücklich zu sein, sagt der Heidelberger Glücks forscher und Pädagoge<br />

Ernst Fritz-Schubert. Ein Gespräch über Lernen, Lebensfreude<br />

und Loslassen. Interview: Claudia Landolt Bilder: Alain Laboile<br />

4 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong> März <strong>2017</strong>5


Geist<br />

Ernst Fritz-Schubert spricht gern,<br />

schnell und viel. Und wenn er<br />

spricht, leuchten seine Augen. Der<br />

pensionierte Schulleiter empfängt<br />

uns in seinem pittoresken, über<br />

100 Jahre alten Haus am<br />

Philosophen weg in Heidelberg.<br />

Hier haben sich früher Liebende<br />

zum Stelldichein getroffen. Die<br />

Wohlfühlatmosphäre und das<br />

liebliche Ambiente kontrastieren<br />

mit den pointierten Äusserungen<br />

des älteren Herrn mit dem<br />

ungewöhnlichen Doppelnamen.<br />

«Schule muss mehr sein als blosse<br />

Qualifizierungsanstalt», sagt<br />

Fritz-Schubert, während er Kaffee<br />

kocht. «Schule empfinde ich in<br />

dieser Form als starke Vergeudung<br />

der Möglichkeiten. Kinder<br />

verlernen das Gefühl, selbst wirksam<br />

zu sein, wirklich gebraucht zu<br />

werden».<br />

Herr Fritz-Schubert, gingen Sie gern<br />

zur Schule?<br />

An meine eigene Schulzeit habe<br />

ich keine guten Erinnerungen.<br />

Meine Neugier und die Lust, die<br />

Berufsfachschule und im Wirtschaftsgymnasium<br />

in Deutschland<br />

seit 2007 auf dem Stundenplan<br />

steht, in Teilen Österreichs und<br />

zeitweilig auch im Internat Ingenbohl<br />

in der Schweiz.<br />

Was wollen Sie Kindern damit<br />

vermitteln?<br />

Dass es neben dem vordergründigen<br />

materiellen Glück auch das<br />

lebenslange Glück gibt, das durch<br />

die eigenen Werte geprägt wird.<br />

Macht die Schule unsere Kinder<br />

unglücklich?<br />

Die Schule ist eine künstliche Veranstaltung.<br />

Lehrer geben meist<br />

alles vor, und Schüler bekommen<br />

mehr fertige Antworten statt Fragen<br />

mit nach Hause. Dadurch verlieren<br />

sie das Gefühl, selbst wirksam<br />

zu sein, wirklich gebraucht zu<br />

werden. Dies ist aber neben der<br />

Selbstachtung ein zentraler Faktor<br />

für die Persönlichkeitsbildung<br />

und für Glück und Wohlbefinden.<br />

Aber Kinder kommen doch in der<br />

Regel glücklich zur Welt.<br />

Das stimmt, und die meisten<br />

Eltern strengen sich an, dass aus<br />

ihnen glückliche Erwachsene werden.<br />

Aber nicht immer gelingt es.<br />

«Gut meinen» ist noch lange nicht<br />

«gut machen». Alle Kinder haben<br />

ungeahnte Ressourcen, und die<br />

gilt es gemeinsam mit ihnen zu<br />

entdecken, das ist eine der wichtigsten<br />

Aufgaben von Eltern und<br />

Pädagogen.<br />

Alle Eltern möchten, dass ihre Kinder<br />

stark werden.<br />

Ja, das steht auch nicht im Widerspruch<br />

zur gesellschaftlich er ­<br />

wünschten Vermittlung von Werten<br />

wie Freiheit, Gleichheit und<br />

Solidarität, sondern beschreibt<br />

lediglich einen anderen Weg zum<br />

selben Ziel.<br />

Wie meinen Sie das?<br />

Lust und Leistung sind keineswegs<br />

Gegensätze. Das Leben zu meistern,<br />

heisst nicht nur, dass man<br />

sich die nötigen Fähigkeiten aneigmich<br />

als Fünfjähriger mit der<br />

Zuckertüte angetrieben hatten,<br />

verwandelten sich schnell in Ratlosigkeit,<br />

Zweifel und Furcht. Ich<br />

wurde jünger eingeschult als die<br />

anderen und erbrachte nicht die<br />

gleiche Leistung. «Mehr anstrengen!»<br />

– diesen Satz bekam ich<br />

immer wieder zu hören. Aber kein<br />

Lob dafür, wie gut ich doch zu ­<br />

rechtkam.<br />

Sie sagen, Sie hätten sich lieber<br />

herumgetrieben, als den Kopf in<br />

Bücher zu stecken.<br />

Weil ich eher schmächtig war, kam<br />

für meine Mutter und meine Lehrer<br />

nur eine Ausbildung in einem<br />

Büro in Frage. So landete ich in<br />

einem Steuerbüro und langweilte<br />

mich zu Tode. Als Ausgleich kaufte<br />

ich teure Autos und päppelte so<br />

mein Selbstwertgefühl auf. Die<br />

Wende kam bei einer allgemeinbildenden<br />

Schulung während des<br />

«Die Schule ist<br />

eine künstliche<br />

Veranstaltung.»<br />

Militärdienstes. Ein Deutschlehrer<br />

ermutigte mich, das Abitur nachzuholen<br />

und Volkswirtschaft zu<br />

studieren. Das änderte alles.<br />

Haben Sie deshalb das Schulfach<br />

Glück erfunden?<br />

Ich hatte es einfach satt, dass Schule<br />

in der Beliebtheitsskala der<br />

Schüler gleich nach dem Zahnarztbesuch<br />

rangiert. Neun- bis<br />

Dreizehnjährige gaben an, sich<br />

besonders in den Ferien wohlzufühlen,<br />

an Weihnachten, überhaupt<br />

bei den Eltern. Am wenigsten<br />

glücklich sind sie beim<br />

Zahnarzt. Und in der Schule. Also<br />

tat ich mich mit ein paar Kollegen<br />

zusammen. Wir entwarfen ein<br />

Konzept für ein Fach, das in der<br />

6 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


net, um zu überleben, sondern es<br />

gehört auch Lebensfreude dazu,<br />

die Fähigkeit, zu geniessen und<br />

auch einmal über sich selbst zu<br />

lachen, wenn der gewünschte<br />

Erfolg ausbleibt. Es hilft unseren<br />

Kindern jedenfalls nicht, wenn wir<br />

sie mit erhobenem Zeigefinger<br />

erziehen oder ihnen alle Hindernisse<br />

aus dem Weg räumen.<br />

Niederlagen können auch Erfolge<br />

sein.<br />

Genau. Aber nur dann, wenn die<br />

notwendige Energie für einen neuen<br />

Anlauf aufgebracht wird. Dazu<br />

benötigt man vor allem positive<br />

Emotionen. Kinder, die nach einer<br />

schlechten Note oder einem Streit<br />

nach Hause kommen, können<br />

nicht direkt zur Tagesordnung<br />

übergehen, sondern wollen getröstet<br />

werden und in der Geborgenheit<br />

der Familie neue Kräfte sammeln.<br />

«Schlechte Noten<br />

sollen die<br />

elterliche Liebe<br />

nicht mindern.»<br />

Haben Kinder Angst, dass schlechte<br />

Noten ihren Eltern missfallen?<br />

Alle Kinder wollen ihren Eltern<br />

gefallen. Umso wichtiger ist es, den<br />

Kindern zu vermitteln, dass<br />

schlechte Noten die elterliche Liebe<br />

und Wertschätzung nicht mindern.<br />

Sie möchten, dass Kinder sich in der<br />

Schule positiv entwickeln?<br />

Kinder und Jugendliche brauchen<br />

ganzheitliche Erlebnisse, um körperlich<br />

und seelisch gesund zu<br />

bleiben und sich in der Gemeinschaft<br />

wirklich wohlzufühlen. Diese<br />

Erfahrungen können sie aber<br />

heute kaum noch machen. Wie oft<br />

klettern sie noch auf Bäume, werfen<br />

sie sich in einen Heuhaufen<br />

oder pflücken sie einen Feldblumenstrauss,<br />

um ihn der Mutter<br />

nach Hause zu bringen? Deshalb<br />

haben wir 2007 in Heidelberg<br />

begonnen, unser schulisches Leitziel<br />

«physische und psychische<br />

<strong>Gesundheit</strong> für Schüler und Lehrer»<br />

durch die Einführung des<br />

neuen Unterrichtsfaches «Glück»<br />

umzusetzen. >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>7


Geist<br />

>>> Gab es einen besonderen<br />

Moment für diese Idee?<br />

Als mir ein Schüler sagte, ich sei<br />

der erste Mensch, der ihm etwas<br />

zugetraut hätte. Dieses Zutrauen<br />

und Vertrauen ist ja sozusagen die<br />

Fortsetzung des Urvertrauens und<br />

dafür verantwortlich, wie wertvoll<br />

wir uns als Mensch fühlen.<br />

Was soll das Fach Glück den Kindern<br />

vermitteln?<br />

Wir wollen die Schüler stärken,<br />

indem wir ihnen vor allem die<br />

Voraussetzungen für ein gelingendes<br />

Leben aufzeigen. Das Fach<br />

dient nicht der Leistungsmaximierung,<br />

sondern es geht darum, dass<br />

sie sich in ihrer Persönlichkeit<br />

entwickeln, indem sie zum Beispiel<br />

früh lernen, mit Herausforderungen<br />

umzugehen, Stress zu<br />

vermeiden oder Phasen extremer<br />

Belastung gelassen zu meistern.<br />

«Die inneren<br />

Bedürfnisse der<br />

Kinder werden<br />

oft nicht erkannt.»<br />

Erfolgt Persönlichkeitsbildung nicht<br />

daheim?<br />

Elternhäuser legen sozusagen das<br />

Standbein fest und schaffen die<br />

Voraussetzungen. Die Schule entwickelt<br />

das Spielbein und eröffnet<br />

neue Möglichkeiten. Ist das Standbein<br />

nicht fest entwickelt – etwa<br />

durch Vereinzelung, die Medien,<br />

unsere Multioptionsgesellschaft –,<br />

werden die Kinder äusserlich zwar<br />

schnell selbständig, ihre inneren<br />

psychischen Bedürfnisse aber werden<br />

nicht erkannt oder nicht be ­<br />

friedigt. Dann sind sie unsicher<br />

und suchen anderswo Bestätigung<br />

– durch viele Freunde oder durch<br />

materielle Dinge, die gegen aussen<br />

einen Selbstwert repräsentieren.<br />

Wie werden Kinder glücklich?<br />

Wenn man ihnen hilft, ihre eigenen<br />

Potenziale zu entdecken und<br />

an sich selbst zu glauben.<br />

8 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Acht Glücksfragen, die sich<br />

Kinder (und ihre Eltern)<br />

stellen können<br />

• Was will ich eigentlich?<br />

• Welche Stärken habe ich?<br />

• Wenn ich diese und jene<br />

Stärken habe: Was mache ich<br />

damit?<br />

• Lebe ich sie?<br />

• Habe ich eine Vision damit?<br />

• Welchen Weg will ich gehen?<br />

• Bin ich bereit, auch Herausforderungen<br />

anzunehmen?<br />

• Wie schaffe ich es, mich bei<br />

Was können Eltern dafür tun?<br />

Das ist die Gretchenfrage. Was<br />

wünschen wir uns für unsere Kinder?<br />

Dass sie diszipliniert sind und<br />

gut funktionieren? Oder dass sie<br />

ein glückliches Leben führen?<br />

Noch nie gab es so viele sogenannte<br />

Problemkinder. Sie sind hyperaktiv,<br />

verwöhnt, aggressiv, möchten<br />

Topmodel werden oder<br />

Superstar und verstecken sich im<br />

Hotel Mama. Aber sind wir wirklich<br />

von kleinen Tyrannen oder<br />

Nesthockern umgeben? Nein! Aus<br />

Angst, dass unsere Kinder in der<br />

Leistungsgesellschaft versagen,<br />

konzentrieren wir uns zu sehr auf<br />

ihre Probleme. Doch wenn man<br />

Kindern nur ihre Schwächen vorhält,<br />

werden sie unglücklich und<br />

mutlos.<br />

«Wir<br />

konzentrieren<br />

uns zu sehr auf<br />

die Schwächen<br />

unserer Kinder.»<br />

Sie sprechen von einem überalterten<br />

Schulsystem. Können Sie das<br />

kurz erklären?<br />

Wir haben eine Pädagogik, die 200<br />

Jahre alt ist und auf einem anderen<br />

Gesellschaftssystem fusst: einer<br />

Oberschicht, in der reflektiert<br />

wird; einer Mittelschicht, aus der<br />

Handwerker hervorgehen; sowie<br />

einer Unterschicht, aus der Knechte<br />

und Mägde entstehen sollen.<br />

Dabei haben wir eine emanzipative<br />

Gesellschaft, in der die soziale<br />

Herkunft weder ein Vorteil noch<br />

ein Hindernis sein soll. Schule<br />

wird also allzu oft dazu benutzt,<br />

Menschen an wirtschaftliche und<br />

gesellschaftliche Gegebenheiten<br />

anzupassen, die es so gar nicht<br />

mehr gibt. Schule lehrt etwas<br />

anderes als das, was jetzt gebraucht<br />

wird.<br />

Was schlagen Sie vor?<br />

Uns endlich von diesem antiquierten<br />

Konstrukt zu lösen. Jedes Kind<br />

hat ein Potenzial, auch wenn es aus<br />

einer Schicht kommt, die für ein<br />

Akademikerleben nicht vorgesehen<br />

ist. Wir sollten uns doch fragen:<br />

Will ich all die Potenziale<br />

ver geuden?<br />

Was sagen Sie zur herrschenden<br />

Fehlerkultur in der Schule?<br />

Ich habe nichts gegen Fehlersuche.<br />

Ich frage mich aber, ob es das<br />

Schwergewicht sein sollte. Eine<br />

Fehlerkultur richtig zu verstehen,<br />

setzt voraus, aus den Fehlern zu<br />

lernen. Wirkliche Fehlerkultur<br />

heisst für mich, dass der Lehrer<br />

zum Begleiter wird und alternative<br />

Möglichkeiten bietet. Also den<br />

Kindern alternative Lösungswege<br />

aufzeigt, statt sie negativ kommentiert.<br />

Die heutige übertriebene<br />

«Fehlerfahndung» erzeugt nur<br />

negative Emotionen. Jeder Mensch<br />

zieht sich zurück, wenn er hört,<br />

dass er etwas Falsches gesagt hat.<br />

Evolutionsgeschichtlich sollten<br />

Angst, Wut, Ekel usw. nämlich<br />

dafür sorgen, uns vor etwas zu<br />

bewahren. Bekomme ich aber<br />

Zuspruch und positive Emotionen,<br />

führt das zu einer Öffnung.<br />

Das nenne ich Potenzialentwicklung.<br />

Erinnern Sie sich an ein Beispiel aus<br />

Ihrer Schulzeit?<br />

Der Lehrer fragte mich in der ersten<br />

Klasse: Wie entstehen Wolken?<br />

Ich habe gesagt: durch die Lokomotive.<br />

Er antwortete einfach nur:<br />

«Das ist Quatsch.» Für mich war<br />

meine Antwort aber logisch, denn<br />

wir haben an einer Eisenbahnlinie<br />

gewohnt und ich sah jeden Tag<br />

Lokomotiven, die Dampfwolken<br />

ausstiessen. Doch mein damaliger<br />

Lehrer hat diese Erkenntnis komplett<br />

ignoriert. Die Lösung wäre<br />

gewesen, zu sagen: Ja, das<br />

Lustlosigkeit zu motivieren? >>><br />

9


Geist<br />

>>> ist interessant, wie arbeitet<br />

denn eine Lokomotive?<br />

Wurde Ihr Potenzial in der Schule<br />

entdeckt?<br />

Nein. Nachdem mein Vater mir<br />

erklärte, dass das Gymnasium für<br />

mich nicht in Frage komme, blieb<br />

ich zunächst in der Volksschule<br />

und kam dann in eine Handelsschule,<br />

weil man mir prognostiziert<br />

hat, dass ich im Kaufmännischen<br />

meine Heimat finden würde.<br />

Die Eltern und die Schule schrieben<br />

mir das als «meinen» Weg vor.<br />

Ich war in diesem nach Schichten<br />

gegliederten Schulsystem für<br />

nichts anderes vorgesehen. Heute<br />

ist das sicherlich anders, da glauben<br />

viele Eltern, dass ihre Kinder<br />

unbedingt studieren müssten.<br />

Ist das falsch?<br />

Prinzipiell nicht, aber überhöhte<br />

Erwartungshaltungen können<br />

Kinder unglücklich machen. Solche<br />

Kinder fühlen sich abgehängt<br />

und machen die Schule einfach,<br />

um die Erwartungen der Eltern zu<br />

erfüllen und der Beziehung zu<br />

ihnen nicht verlustig zu werden.<br />

Es führt zu einer grossen Abhängigkeit,<br />

wenn der Selbstwert nur<br />

an Noten und Leistung geknüpft<br />

ist. Es erstaunt mich nicht, dass<br />

«Der Selbstwert<br />

eines Kindes darf<br />

nicht nur an Noten<br />

und Leistung<br />

geknüpft sein.»<br />

viele junge Leute freie Zeit ausufernd<br />

leben, feiern und trinken,<br />

bis es kracht. Diesen Druck, den<br />

Erwartungen zu genügen, hält auf<br />

die Dauer kein Mensch aus.<br />

Was sollten Eltern also tun?<br />

Auf ihre Intuition hören und dieser<br />

folgen. Sich gewahr werden,<br />

dass Kinder viel können. Dass sie<br />

sie nicht nur nach der schulischen<br />

Leistung bewerten. Nicht sagen:<br />

gute Noten, gutes Kind. Diese Kausalitätskette<br />

kann einfach nicht<br />

erfolgreich sein.<br />

«Gute Noten, gutes<br />

Kind: Diese<br />

Kausalitätskette<br />

kann nicht<br />

funktionieren.»<br />

Was macht ein Kind erfolgreich?<br />

Dass man an es glaubt, realisiert,<br />

dass es das Beste macht, das es<br />

kann. Eltern sollen sich vom System<br />

Schule lösen, statt es zu verstärken.<br />

Das Kind darf nicht denken:<br />

Hab ich eine 6, bin ich super,<br />

hab ich eine 4, bin ich knapp, aber<br />

okay, und mit einer 3 bin ich nichts<br />

wert. Dieses Nichtswertsein bedeutet<br />

Einschränkung, negative<br />

Gefühle. Man kommt dann schnell<br />

in so ein Raster rein. Ich hab das<br />

bei meiner Tochter beobachtet.<br />

Inwiefern?<br />

Ihre Grundschullehrerin empfahl<br />

sie für das Gymnasium und gab<br />

ihr auf den Weg mit: «Du schaffst<br />

das schon irgendwie, du bist ja gut<br />

in den Sprachen, aber weniger in<br />

der Mathe.» Sie glaubte das wirklich.<br />

Aber in der zehnten Klasse<br />

veränderte sich das. Sie lernte ab<br />

und zu mit einem Neffen von mir,<br />

der Physik studierte. Sie dachte,<br />

wenn ich verstehe, was er lernt, bin<br />

ich okay. Und sie verstand immer<br />

mehr. Im Abitur erreichte sie in<br />

Mathematik die Höchstnote, begann<br />

dann ein naturwissenschaftliches<br />

Studium und schloss mit der<br />

Promotion ab.<br />

Und Ihre zweite Tochter?<br />

Die hatte in der ersten Klasse<br />

Schwierigkeiten, vom freien Ler­<br />

10 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


nen auf strukturiertes Lernen umzustellen.<br />

Damit sie nicht sitzen<br />

blieb, wurde sie durch meine<br />

damalige Frau regelrecht durch die<br />

Schule gepowert, es war grauenhaft.<br />

Genutzt hat dieser Drill<br />

wenig. Die Wende kam erst, als<br />

meine Tochter ein Austauschjahr<br />

in den USA machte. Dort hat sie<br />

lauter Kurse belegt, die nur geringe<br />

Anforderungen an sie stellten,<br />

Babysitting zum Beispiel und<br />

Deutschkurse und all sowas. Sie<br />

kam zurück und wollte zuerst mit<br />

der Schule aufhören und etwas<br />

Praktisches machen. Wir überredeten<br />

zum Abitur auszuhalten. Sie willigte<br />

ein, allerdings unter der<br />

Bedingung, dass sie nie mehr diesem<br />

Hausaufgaben- und Lerndrill<br />

mit der Mutter ausgesetzt sein<br />

würde. Und was geschah? Sie<br />

machte Abitur und wurde Sonderschullehrerin.<br />

Ihre Erkenntnis daraus?<br />

Beide Töchter haben einen Weg<br />

beschritten, den die Schule und<br />

teilweise auch das Elternhaus mehr<br />

oder weniger nur behindert haben.<br />

Mein Fazit: Man soll seinen Kindern<br />

etwas zutrauen und dem, was<br />

einem in der Schule gesagt wird,<br />

Viele Eltern haben zur Schule ein<br />

zwiespältiges Verhältnis.<br />

Genau. Wie absurd ist das denn:<br />

Sie halten nicht so viel von der<br />

Schule, aber das Ergebnis bewerten<br />

sie ganz hoch. Dann muss sich<br />

das Kind doch sagen: Wie doof ist<br />

das denn?<br />

Dachten das auch Ihre Schüler?<br />

Ja, klar. Ich erinnere mich an einen<br />

Jungen. Er war ein Migrantenkind,<br />

konnte die Sprache nicht so gut,<br />

und er war gross und korpu lent, so<br />

der Typ dumpfer Bär. Beides<br />

erweckte nicht den Eindruck,<br />

besonders helle zu sein. Also sagte<br />

sie, noch die zwei Jahre bis nicht so viel Wert beimessen. er sich, ich hole mir meinen<br />

>>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>11


12 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Geist<br />

>>> Selbstwert mit meiner Kraft,<br />

haue rein und kriege so den Re ­<br />

spekt. Erst durch den von uns im<br />

Schulfach Glück angeregten Perspektivenwechsel<br />

kam er zu einer<br />

anderen Haltung. Die Sprache<br />

nicht zu können, ist zwar hinderlich,<br />

aber das kann man ändern. Es<br />

ging deshalb zunächst darum, ihm<br />

bei der Suche nach seinen charakterlichen<br />

Stärken zu helfen, Ausdauer,<br />

Kreativität und vielleicht<br />

auch die Fähigkeit, sich zu mässigen.<br />

Als er endlich wusste, was er<br />

kann und was er will, hat sich das<br />

Sprachproblem sehr schnell gelöst.<br />

Wie hat der Glücksunterricht das<br />

erreicht?<br />

Wir schaffen Schlüsselerlebnisse,<br />

die zu guten Erfahrungen werden.<br />

Unsere wissenschaftlichen Untersuchungen<br />

haben eindeutig er geben,<br />

dass die Schüler des Glücksunterrichts<br />

im Vergleich zu anderen<br />

Vierzehn- bis Siebzehnjährigen im<br />

Leben mehr Sinn sehen, sich mehr<br />

zutrauen, Familie und Schule<br />

mehr schätzen und deutlich besser<br />

wissen, was sie wollen oder nicht.<br />

Sie sind ein Verfechter humanitärer<br />

Bildung.<br />

Ja, wir müssen die Schüler fähig<br />

machen, mit allen Dingen, die in<br />

ihrer Welt geschehen, auch umzugehen.<br />

Intelligenz zeigt sich eben<br />

nicht nur in guten Noten. Um das<br />

Leben zu meistern, benötigt man<br />

Kreativität, um neue Ideen zu entwickeln,<br />

die analytische Fähigkeit,<br />

diese Ideen richtig einzuschätzen,<br />

soziale Kompetenzen, die Gedanken<br />

auch umzusetzen, und letztlich<br />

auch die Erkenntnis, ob sie der<br />

Gemeinschaft wirklich zuträglich<br />

sind. Wir müssen uns endlich klarmachen,<br />

dass das Leben weit mehr<br />

als eine akademische Veranstaltung<br />

ist.<br />

«Glück ist ein<br />

Idealzustand,<br />

der nach<br />

Wiederholung oder<br />

Fortdauer strebt.»<br />

Wissen ohne Erkenntnis ist unnütz?<br />

Man kann damit vielleicht im<br />

Fernsehen Millionär werden. Aber<br />

sonst nützt es wenig. Auch müssen<br />

Schüler lernen, das Wichtige vom<br />

Dringlichen zu unterscheiden.<br />

Nicht alles, was dringlich er ­<br />

scheint, ist auch wichtig. Das wichtige<br />

WhatsApp, der wichtige Termin,<br />

die Verabredung: Kinder<br />

hetzen durchs Leben. Leider bleiben<br />

dadurch auch die wirklich<br />

wichtigen Dinge auf der Strecke.<br />

Was ist denn nun Glück?<br />

Glück ist ein Idealzustand, der<br />

nach Wieder holung oder Fortdauer<br />

strebt. Manchmal fällt er ohne<br />

unser Zutun vom Himmel. Er<br />

erstreckt sich vom kleinen Moment<br />

des Hochgefühls bis hin zum<br />

sinnvollen, gelingenden Leben.<br />

Das sinnvolle Leben muss von<br />

jedem selbst erspürt werden. Ich<br />

finde, dass man es besonders gut<br />

spürt, wenn man etwas bewirkt,<br />

wenn man achtsam ist mit den<br />

Dingen, die einem begegnen, mit<br />

den Menschen und mit der Natur.<br />

Zum Erspüren gehört auch, dass<br />

man sich selbst nicht so wichtig<br />

nimmt, in Selbstvergessenheit<br />

gerät. Und dass man geniessen<br />

und sich entspannen kann. Zu<br />

guter Letzt gehört für mich auch<br />

die Erkenntnis dazu, dass man<br />

auch an Leid, an Niederlagen<br />

wachsen kann.<br />

Sind Sie glücklich?<br />

Wenn ich zurückblicke, gibt es<br />

viele glückliche Momente und<br />

Gründe, zufrieden und dankbar<br />

zu sein. Glück ist für mich aber<br />

auch die freudige Erwartung der<br />

Zukunft, auf das, was noch kommt<br />

und mich herausfordert.<br />

>>><br />

Zur Person<br />

Bild: Michael Hudler<br />

Dr. phil. Ernst Fritz-Schubert ist Dozent an der<br />

Universität Kassel und an der SRH Hochschule in<br />

Heidelberg. Als ehrenamtlicher Direktor leitet er das nach<br />

ihm benannte Fritz-Schubert-Institut, das Methoden zur<br />

Persönlichkeitsstärkung erforscht und entwickelt. Zuvor<br />

war der Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Thema<br />

Glück und Wohlbefinden viele Jahre Schulleiter der Willy-<br />

Hellpach-Schule, an der er im Jahre 2007 das Schulfach<br />

Glück einführte. Er ist Vater zweier erwachsener Töchter<br />

und zweifacher Grossvater. www.fritz-schubert-institut.de<br />

13


Achtsamkeit mit Kindern –<br />

wie funktioniert das?<br />

Durch Innehalten, Achtsamkeit und Meditation lernen wir, uns nicht vom Aussen abzulenken<br />

und das Gedankenkarussell abzuschalten. Auch Kinder profitieren davon. Text: Claudia Füssler<br />

Bild: Alain Laboile<br />

14 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Geist<br />

Die erste Aufgabe<br />

klingt lösbar: sich<br />

einfach mal hinstellen.<br />

Ohne sich<br />

irgendwo anzulehnen.<br />

Die Hände aus den Hosentaschen,<br />

die Arme an den Seiten<br />

baumeln lassen. Beide Füsse stehen<br />

auf dem Boden, das Gewicht<br />

ist gleichmässig verteilt. «Für viele<br />

Kinder ist das extrem schwierig»,<br />

sagt Vera Kaltwasser. «Einfach<br />

zu stehen, das kann der<br />

Anfang für eine Verfeinerung der<br />

Selbstwahrnehmung sein, spielerisch<br />

können die Kinder mal in<br />

die rechte Fusssohle spüren, dann<br />

in die linke und so Kontakt mit<br />

dem Körper aufnehmen.»<br />

Vera Kaltwasser ist Lehrerin an<br />

einer Frankfurter Schule und<br />

Autorin mehrerer Bücher zum<br />

Thema Achtsamkeit. Sie hat die<br />

sogenannte Achtsamkeitsbasierte<br />

Stressreduktion (MBSR, Mindfulness-Based<br />

Stress Reduction) bei<br />

Jon Kabat-Zinn, dem Erfinder dieses<br />

Programms, gelernt – eigentlich<br />

für sich selbst. Das hat ihr so<br />

gut getan, dass sie irgendwann auf<br />

die Idee kam, einen Teil dieser<br />

Methode bei ihren Schülern auszuprobieren.<br />

Das bewusste Stehen gehört zu<br />

den Stillephasen, die Kaltwasser<br />

immer wieder in den Unterricht<br />

einflicht – schon bei den Jüngsten.<br />

«Aischu» heisst das von ihr entwickelte<br />

Konzept, das Kinder und<br />

Jugendliche kontinuierlich in kleinen<br />

Schritten dafür begeistern<br />

soll, ihre Innenwelt zu erkunden<br />

und sich selbst besser spüren zu<br />

lernen. «Ich bitte die Kinder zum<br />

Beispiel, sich eine Zitrone vorzustellen.<br />

Dann nehmen sie erstaunt<br />

wahr, dass ihnen das Wasser im<br />

Mund zusammenläuft. Eine Vorstellung<br />

bewirkt also eine körperliche<br />

Reaktion», erklärt Kaltwasser.<br />

«So verstehen die Kinder, dass<br />

sie sich mit Befürchtungen und<br />

Sorgen, obwohl es nur Gedanken<br />

sind, in Stress versetzen. Der<br />

nächste Schritt ist dann, dass Kinder<br />

und Jugendliche lernen, selbsttätig<br />

ihre Stressreaktion zu entschärfen,<br />

indem sie zum Beispiel<br />

bewusst auf den Atem achten.»<br />

Meditieren ist ein Prozess<br />

Auch wenn es von aussen nicht so<br />

aussieht: Achtsamsein, Meditieren<br />

ist ein hochaktiver Prozess. Der<br />

Geist wird geschult. So ist der<br />

Fokus zum Beispiel der Atem.<br />

Immer, wenn die Gedanken abschweifen,<br />

wird die Wahrnehmung<br />

wieder zum Atem zurückgeholt.<br />

Wissenschaftliche Studien<br />

haben gezeigt, dass aufmerksamer<br />

wird, wer regelmässig seine Achtsamkeit<br />

schult. Indirekt wirkt sich<br />

das auch auf die Leistungen der<br />

Schüler aus. Denn wer unter Stress<br />

steht, sieht oft die einfachsten<br />

Lösungen nicht, auch Höchstleistungen<br />

erbringt niemand in angespanntem<br />

Zustand.<br />

Auf die besten Ideen kommt<br />

man, wenn man entspannt ist. Das<br />

haben zahlreiche Studien gezeigt,<br />

und genau diese Erfahrung macht<br />

Vera Kaltwasser mit ihren Schülern.<br />

«Wichtig ist, dass wir Achtsamkeit<br />

nicht als Werkzeug zur<br />

Selbstoptimierung entwerten,<br />

sondern das ethische Potenzial<br />

erkennen, das sich entfaltet, wenn<br />

wir lernen, bewusst mit uns und<br />

dem anderen umzugehen», betont<br />

die Frankfurter Lehrerin.<br />

Regelmässige Übung ist wichtig<br />

Der Schlüssel zur erfolgreichen<br />

Achtsamkeit ist die Konti- >>><br />

Wer unter Stress steht,<br />

sieht oft die einfachsten<br />

Lösungen nicht.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>15


Kinder sammeln beim<br />

In-sich-selbst-Hineinhorchen<br />

neue Erfahrungen.<br />

>>> nuität. Viel wichtiger als<br />

eine lange Übungsdauer ist es, re ­<br />

gelmässig zu üben, und wenn es<br />

nur wenige Minuten sind. «Deshalb<br />

ist es grossartig, wenn Kinder<br />

nicht nur in der Schule meditieren,<br />

sondern auch die Eltern sich damit<br />

ein bisschen auskennen und gemeinsam<br />

mit ihren Kindern auf<br />

mehr Achtsamkeit im Alltag achten»,<br />

sagt Vera Kaltwasser. Sie rät<br />

davon ab, das Meditieren zu einem<br />

festen Programmpunkt im oft<br />

sowieso schon zu vollen Tagesplan<br />

eines Kindes zu machen.<br />

Stattdessen sollten Eltern aufmerksam<br />

registrieren, wann sich<br />

ein guter Zeitpunkt ergibt, um in<br />

konkreten Situationen mit den<br />

Kindern ins Gespräch zu kommen.<br />

Wenn zum Beispiel ein Kind<br />

frustriert nach Hause kommt und<br />

Meditation hinterlässt Spuren im Gehirn<br />

Dass Meditation Spuren im Gehirn hinterlässt, ist mittlerweile<br />

gut belegt. Der Psychologe Richard Davidson von der University<br />

of Wisconsin-Madison konnte schon 2007 demonstrieren, dass<br />

ein dreimonatiges Meditationstraining die Aufmerksamkeit<br />

schärft. Die Teilnehmer erkannten Zahlen, die auf einem<br />

Bildschirm zwischen zahlreichen Buchstaben versteckt<br />

sind, schneller als vor dem Training. Und Sara Lazar vom<br />

Massachusetts General Hospital in Boston berichtete, dass<br />

sich das Training sogar in der Morphologie des Gehirns<br />

niederschlägt. Der Hirnscanner zeigte, dass es den Mandelkern<br />

schrumpfen lässt, eine Struktur im Gehirn, die unter anderem<br />

an der Steuerung von Angst beteiligt ist. Zugleich hatte die<br />

graue Substanz in Bereichen des Gehirns zugenommen, die<br />

zum Beispiel mit Mitgefühl assoziiert sind. «Das Gehirn ist in<br />

der Lage, sich zu verändern, und so, wie wir eine neue Sportart<br />

lernen, können wir auch Fähigkeiten wie Aufmerksamkeit oder<br />

Mitgefühl trainieren», sagt Richard Davidson.<br />

sagt, der Lehrer könne es nicht<br />

leiden. Dann bietet es sich an, dem<br />

Ärger oder der Enttäuschung zwar<br />

Raum zu geben, aber auch Einflussmöglichkeiten<br />

zu zeigen, wie<br />

der Stress, den so eine Zurückweisung<br />

auslöst, entschärft werden<br />

kann. Das heisst nicht, dass man<br />

das Problem kleinredet, aber man<br />

kann so schon früh Bewältigungsstrategien<br />

erlernen.<br />

In Zeiten der ständigen Reizüberflutung<br />

durch Medien und<br />

digitale Geräte ist Achtsamkeit ein<br />

Weg, der Kindern und Jugendlichen<br />

helfen kann, ihre Selbstwahrnehmung<br />

zu verfeinern. «Mir hat<br />

mal ein kleiner Junge nach den<br />

ersten Übungen gesagt: ‹Ich bin<br />

jetzt ein Freund mit mir.› Das trifft<br />

es ziemlich gut, finde ich», sagt<br />

Vera Kaltwasser. «Über den Atem<br />

machen sich die Kinder mit sich<br />

selbst vertraut, sie lernen, freundlich<br />

und liebevoll mit sich selbst<br />

umzugehen. Sie lernen auch, frühzeitig<br />

zu merken, wann sie sich mit<br />

Gedanken mal wieder die Hölle<br />

heiss machen. Und sie lernen,<br />

auch mit den anderen freundlich<br />

und wertschätzend umzugehen.»<br />

Während Kinder im Aussen oft an<br />

Grenzen stossen, anecken, reguliert<br />

werden, können sie beim Insich-selbst-Hineinhorchen<br />

ganz<br />

neue Erfahrungen machen. Sie<br />

merken, dass sie sich die Welt oft<br />

selber machen, dass es etwas<br />

ändert, wenn man die Dinge so<br />

oder anders sieht.<br />

Achtsamer Medienkonsum<br />

Achtsam sein kann auch im Umgang<br />

mit Medien helfen. Kaltwasser<br />

rät Eltern, nicht einfach ein<br />

Verbot – «Du darfst nicht mehr an<br />

das Tablet» – auszusprechen, sondern<br />

sich achtsam mit dem Nichtstun<br />

auseinanderzusetzen und dem<br />

Nachwuchs vorzuschlagen: Spüre<br />

mal nach, was das mit dir macht,<br />

wenn du jetzt nicht auf dem<br />

16 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Geist<br />

Smartphone oder am Computer<br />

spielst, sondern einfach so dasitzt.<br />

Das ist im Grunde genommen die<br />

gute alte Langeweile – und die<br />

führt bekanntlich zu kreativen<br />

Höhenflügen.<br />

Wie schwierig es für Kinder ist,<br />

eine Vorstellung von Zeit und dem<br />

Nichtstun zu haben, zeigt sich oft<br />

ganz am Anfang der Achtsamkeitspraxis.<br />

Vera Kaltwasser fragt dabei<br />

gern, ob sie es schaffen, 30 Sekunden<br />

lang die Augen zu schliessen.<br />

Na logo, lachen die Jungen und<br />

Mädchen, das ist doch einfach!<br />

Und staunen nach fünf Sekunden,<br />

wie lange das doch dauert.<br />

«Nach etwa sechs Wochen»,<br />

sagt Vera Kaltwasser, «können<br />

meist alle Kinder still stehen oder<br />

die Augen eine halbe Minute lang<br />

schlies sen.» Bei denjenigen, die<br />

dann immer noch stören, weil sie<br />

nicht innehalten können, sollten<br />

Lehrer und Eltern genauer hinschauen:<br />

«Das ist eine Art Hilferuf,<br />

denn diese Kinder merken in den<br />

Stillephasen zum ersten Mal, was<br />

eigentlich in ihnen vorgeht, und<br />

das können sie mitunter nicht aushalten.»<br />

«Aischu» und die Wissenschaft<br />

Das Interventionsprogramm<br />

«Aischu» war inzwischen auch auf<br />

dem wissenschaftlichen Prüfstand.<br />

Niko Kohls und Sebastian Sauer,<br />

Forscher an der Ludwig-Maximilian-Universität<br />

München, haben<br />

in einer kleinen Pilotstudie untersucht,<br />

welchen Einfluss die Achtsamkeit<br />

auf Aufmerksamkeitsleistung,<br />

Lebensqualität, Wohlbefinden<br />

und Stress von Fünftklässlern hat.<br />

Die Ergebnisse zeigen, dass sich<br />

Achtsamkeit in allen Punkten positiv<br />

auswirkt. Besonders auffällig<br />

war die verbesserte Aufmerksamkeitsleistung.<br />

Die Wissenschaftler<br />

betonen, dass die Studie Pilotcharakter<br />

hat und die Ergebnisse nur<br />

als erste Anhaltspunkte dienen<br />

könnten, die weiter abgesichert<br />

werden müssten.<br />

Professor Gunther Meinlschmidt<br />

von der Psychologischen<br />

Fakultät der Universität Basel und<br />

der Ruhr-Universität Bochum findet<br />

«das Thema so spannend, dass<br />

derzeit einige Studien und Untersuchungen<br />

laufen und man in<br />

einigen Jahren mehr wissen<br />

wird». Was man aber jetzt schon<br />

weiss: Stress kann zu sogenannten<br />

epigenetischen Veränderungen<br />

führen. Damit sind Veränderungen<br />

an den Genen gemeint, die<br />

nicht vererbt sind, sondern von<br />

äusseren Faktoren herrühren.<br />

Stress ist ein solcher Faktor.<br />

«Als Eltern gemeinsam mit<br />

dem Kind das Innehalten und<br />

Wahrnehmen zu üben, davon<br />

können alle profitieren», sagt<br />

Meinlschmidt. Zum Beispiel bei<br />

einem Waldspaziergang: Tief einatmen<br />

und die einzelnen Düfte<br />

schnuppern, die Ohren spitzen<br />

und den Geräuschen der Tiere<br />

und Pflanzen lauschen, einen<br />

Baum anfassen und mit den Fingerspitzen<br />

die Rinde erfühlen – all<br />

das kann die Achtsamkeit fördern.<br />

>>><br />

Achtsamkeit im Alltag<br />

Achtsamkeit ist eine besondere Form der<br />

Aufmerksamkeit. Dabei werden innere<br />

und äussere Erfahrungen registriert und<br />

zugelassen, ohne diese zu bewerten.<br />

Ein guter Start ist es, sich einfach mal<br />

hinzusetzen und eine halbe Minute lang<br />

nichts zu tun, als seinen Atem zu beobachten.<br />

Manchen hilf es, eine Hand auf den Bauch<br />

zu legen und den Atem so besser zu spüren.<br />

Nach und nach können Sie diese kleine<br />

Meditation etwas verlängern. Auch in den<br />

Alltag lässt sich Achtsamkeit integrieren.<br />

Schärfen Sie Ihre und die Sinne Ihres<br />

Kindes: Wie fühlt es sich an, auf dem Weg<br />

zur Schule über die Betonplatten zu laufen?<br />

Was hört man abends auf dem Balkon, wenn<br />

es draussen schon still ist? Wie fühlen sich<br />

Gegenstände an, die man täglich in die Hand<br />

nimmt – die Zahnbürste, die Seite eines<br />

Buches? Wie riecht es zu Hause? Und was<br />

schmeckt man eigentlich beim Eis zuerst?<br />

Das Süsse? Die Kälte? Oder die Frucht?<br />

Trainieren Sie das regelmässig, nimmt die<br />

Achtsamkeit bald ganz selbstverständlich<br />

einen wichtigen Platz im Leben ein.<br />

Was schmeckt man eigentlich<br />

am Eis zuerst? Das Süsse?<br />

Die Kälte? Oder die Frucht?<br />

Claudia Füssler<br />

freie Journalistin in Freiburg, ist am liebsten<br />

beim Essen achtsam und zelebriert das<br />

Zutaten-Herausschmecken. Allerdings ist die<br />

Familie meist schon beim letzten Bissen, wenn<br />

endlich die letzte Nuance analysiert ist.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>17


18 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Geist<br />

Was Kinder stark macht<br />

6 Tipps für Eltern, die wirklich helfen<br />

Text: Fabian Grolimund<br />

Bild: Alain Laboile<br />

Es ist wichtig, dass Kinder ein<br />

gesundes Selbstvertrauen<br />

entwickeln. Es gilt aber nicht:<br />

je selbstsicherer, desto besser.<br />

Tipp 1: Nutzen Sie Probleme,<br />

um Ihr Kind zu stärken<br />

Kinder stossen im Verlauf ihres<br />

Lebens immer wieder auf Probleme.<br />

Als Eltern fühlen wir uns oft<br />

dazu gedrängt, für unser Kind<br />

sofort eine Lösung bereitzustellen.<br />

Dabei übersehen wir, dass jedes<br />

Problem auch eine Gelegenheit für<br />

das Kind darstellt, zu wachsen und<br />

wichtige Problemlösefertigkeiten<br />

zu entwickeln.<br />

Indem wir nur so viel helfen<br />

wie nötig und das Kind mehr und<br />

mehr in die Entwicklung einer<br />

Lösung einbeziehen, leiten wir es<br />

an, Probleme selbst zu lösen. Ein<br />

Kind, das sich auf seine Fähigkeiten<br />

und seine Problemlösekompetenzen<br />

verlassen sowie mit<br />

Rückschlägen und Misserfolgen<br />

umgehen kann, ist auch zuversichtlich,<br />

wenn es mit Herausforderungen<br />

konfrontiert wird.<br />

Wichtig ist, dass die Kinder ein<br />

gesundes Selbstvertrauen entwickeln.<br />

Es gilt aber nicht: je selbstsicherer,<br />

desto besser. Hilfreich ist<br />

ein positives, aber realistisches<br />

Bild von sich selbst. Damit wir uns<br />

entwickeln können, uns angemessenen<br />

Herausforderungen stellen<br />

und uns über kleine Fortschritte<br />

freuen können. Wir müssen auch<br />

in der Lage sein, unsere Schwächen<br />

und Schwierigkeiten wahrzunehmen<br />

und uns richtig einzuschätzen.<br />

Dazu benötigen Kinder<br />

wohlwollende, aber akkurate<br />

Rück meldungen.<br />

Tipp 2: Zeigen Sie Ihrem Kind,<br />

dass sich Anstrengungen lohnen<br />

Wie reagiert Ihr Kind, wenn es<br />

einen Misserfolg erlebt? Gibt es<br />

gleich auf oder übt es weiter?<br />

Kinder lernen auch indirekt<br />

von Ihnen als Eltern oder Lehrperson,<br />

ob es sich lohnt, sich trotz<br />

Misserfolgen weiter zu bemühen.<br />

Wie effektiv schon ein kurzer Kontakt<br />

mit einem positiven Modell<br />

sein kann, zeigten die Psychologen<br />

Perry und Penner. Sie führten Psychologiestudenten<br />

ein Video eines<br />

Psychologieprofessors vor. Dieser<br />

erzählte von seinen Studienzeiten<br />

und schilderte ein Ereignis, bei<br />

dem er wiederholt Misserfolge<br />

einstecken musste und nur durch<br />

gutes Zureden eines Freundes<br />

nicht aufgab. Danach habe er die<br />

Uni erfolgreich abgeschlossen. Er<br />

betonte, dass die Leistung vor<br />

allem von der eigenen Anstrengung<br />

abhänge und sich Fähigkei­<br />

ten durch Übung trainieren liessen.<br />

Jene Studierenden, die das<br />

Video gesehen hatten, zeigten am<br />

Semesterende bessere Leistungen.<br />

Die Forschung zeigt, dass Kinder<br />

gut mit Misserfolgen umgehen<br />

können, wenn sie glauben, dass sie<br />

sich durch Anstrengung verbessern<br />

können. Sie geben hingegen<br />

rasch auf, wenn sie den Eindruck<br />

haben, eine Leistung hinge von<br />

Intelligenz oder Begabung ab. Kinder<br />

brauchen Eltern, die ihnen<br />

vermitteln: Du kannst dich durch<br />

Übung verbessern; ich sehe (auch<br />

kleine!) Fortschritte und freue<br />

mich darüber.<br />

Tipp 3: Fangen Sie Ihr Kind auf,<br />

wenn es Misserfolge einstecken<br />

muss<br />

Wie würden Sie sich fühlen und<br />

wie würden Sie reagieren, wenn<br />

Sie in Ihrem Beruf trotz vollem<br />

Einsatz Woche für Woche hören<br />

müssten: «Du bist nicht gut genug!<br />

Deine Leistung reicht nicht!»? Viele<br />

Kinder machen diese Erfahrung<br />

tagtäglich – über Jahre hinweg.<br />

Wie können wir als Eltern oder<br />

Lehrperson Kinder in dieser Situation<br />

stärken? Vielleicht gibt Ihnen<br />

der folgende Dialog zwischen der<br />

Mutter eines rechenschwachen<br />

Kindes und mir einen Hinweis:<br />

G.: «Wie schaffen Sie es, dass<br />

Ihre Tochter sich immer >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>19


wieder auf das Rechnen<br />

einlässt, obwohl sie ständig Misserfolge<br />

erlebt?»<br />

Mutter: «Wissen Sie, ich erwarte<br />

von meiner Tochter, dass Sie<br />

täglich zehn Minuten mit mir übt.<br />

Da bin ich eisern. Ich habe aber<br />

gelernt, mich mit ihr zusammen<br />

über kleine Fortschritte zu freuen.<br />

Wenn sie mit einer Prüfung nach<br />

Hause kommt und eine 4 geschafft<br />

hat, gehen wir zusammen ein Siegerglace<br />

essen.»<br />

G.: «Und was, wenn sie mit<br />

einer ungenügenden Note nach<br />

Hause kommt?»<br />

Mutter: «Dann gehen wir ein<br />

Trostglace essen! Ich will, dass sie<br />

weiss: Wenn es gut lief, freuen wir<br />

uns mit dir. Wenn es schlecht lief,<br />

fangen wir dich auf.»<br />

Tipp 4: Geniessen Sie Momente<br />

zu zweit<br />

Wenn Kinder zu Jugendlichen heranreifen,<br />

entwickeln sie andere<br />

Bedürfnisse. Sie möchten von<br />

ihren Eltern nach wie vor ernst<br />

genommen werden. In Gesprächen<br />

erwarten sie, eigene Meinungen<br />

äussern zu dürfen. Sie suchen<br />

die Auseinandersetzung, aber auch<br />

Verständnis und Geborgenheit.<br />

Für Eltern werden die Gespräche<br />

anspruchsvoller.<br />

Es gibt einen einfachen Weg,<br />

um wieder mehr Nähe herzustellen:<br />

Sorgen Sie dafür, dass Sie auch<br />

Zeit mit Ihrem Kind alleine verbringen.<br />

Viele Themen, die<br />

Jugendliche umtreiben, lassen sich<br />

nicht am Esstisch in der Familie<br />

besprechen.<br />

Statt einen Ausflug zu viert zu<br />

machen, könnte die Mutter mit<br />

Nehmen Sie sich ganz<br />

bewusst Zeit für Ihr Kind:<br />

nur zu zweit und ohne<br />

To-do-Liste im Kopf.<br />

dem Sohn, der Vater mit der Tochter<br />

etwas unternehmen. Vielleicht<br />

liegt sogar ein kurzer getrennter<br />

Urlaub drin oder eine Städtereise<br />

zu zweit.<br />

Eltern sind regelmässig er ­<br />

staunt, wie viel besser sie ihre Kinder<br />

kennenlernen und wie viel<br />

Nähe plötzlich wieder da ist, wenn<br />

sie sich ganz bewusst für ein Kind<br />

Zeit nehmen: nur zu zweit und<br />

ohne To-do-Liste im Kopf.<br />

Gleichzeitig wächst unser<br />

Selbstwertgefühl, wenn es uns<br />

gelingt, uns für unsere Werte und<br />

Ideale einzusetzen und an etwas<br />

mitzuwirken, das grösser ist als<br />

wir selbst. Dies geschieht, wenn<br />

Kinder die Erfahrung machen:<br />

• Durch mich und meinen Beitrag<br />

wird meine Familie, meine Klasse,<br />

ja vielleicht sogar die Welt ein<br />

wenig besser.<br />

• Andere können auf mich zählen<br />

und finden bei mir Halt und<br />

Unterstützung.<br />

In unserer Kultur steht der Erfolg<br />

des Einzelnen im Vordergrund. Es<br />

geht darum, besser zu sein, zu<br />

gewinnen, sich abzugrenzen,<br />

andere zu übertrumpfen und sich<br />

hervorzutun. Diese Kultur spornt<br />

uns an, unser Bestes zu geben. Sie<br />

hat aber auch ihre Schattenseiten:<br />

Stress, Burnout, Neid und Gefühle<br />

des Versagens und der Wertlosigkeit,<br />

wenn es uns nicht gelingt,<br />

vorne mitzuschwimmen.<br />

Wir können Glück erlangen<br />

und uns selbst verwirklichen,<br />

wenn wir uns auf etwas anderes<br />

als uns selbst konzentrieren. Wir<br />

können uns Zeit nehmen für<br />

unsere Kinder, uns auf unseren<br />

Partner einlassen.<br />

Tipp 5: Geben Sie Ihrem Kind die<br />

Möglichkeit, sich zu engagieren<br />

Menschen, die sich freiwillig für<br />

andere, die Umwelt oder eine gute<br />

Sache engagieren, empfinden ihr<br />

Leben als sinnvoller und haben ein<br />

höheres Selbstwertgefühl.<br />

Eltern können ihre Kinder dazu<br />

anregen, sich zu engagieren und<br />

Verantwortung zu übernehmen,<br />

indem sie selbst etwas Gutes tun,<br />

grosszügig und dankbar sind. Wir<br />

können unseren Kindern vorleben,<br />

dass es mehr gibt als Leistung,<br />

Wettbewerb, Sieg und Niederlage.<br />

So wie wir das Selbstwertgefühl<br />

eines Kindes fördern können, in ­<br />

dem wir es an einer guten Sache<br />

mitwirken lassen, können wir<br />

auch alle Kinder stärken: Wenn<br />

wir einen 3-Kilometer-Lauf veranstalten,<br />

können manche Kinder ihr<br />

Selbstvertrauen stärken. Sie können<br />

zeigen, wie sportlich sie sind.<br />

Auf der anderen Seite wird es Verlierer<br />

geben. Das übergewichtige<br />

Kind, das als letztes ins Ziel<br />

kommt, wird sich schämen und<br />

darin bestätigt werden, unsportlich<br />

zu sein. Bei einem Sponsorenlauf<br />

hingegen zählt jede gelaufene<br />

Runde für einen guten Zweck, und<br />

jedes Kind kann sich am Ende des<br />

Laufs darüber freuen, eine gute Tat<br />

für andere erbracht zu haben.<br />

Unser Selbstvertrauen hat auch<br />

damit zu tun, wo wir im Vergleich<br />

zu anderen stehen. Machen wir<br />

unser Glück davon abhängig, stehen<br />

wir auf wackligen Füssen.<br />

Wenn wir uns etwas mehr auf<br />

andere konzentrieren als auf uns<br />

selbst, wächst unser Selbstwertgefühl.<br />

Wir lesen an den Gesichtern<br />

anderer Menschen ab, dass unser<br />

Beitrag geschätzt wird. Wir sehen<br />

eine gute Sache wachsen, freuen<br />

uns darob, empfinden unser Leben<br />

als wert- und sinnvoll. Zugleich<br />

weitet sich der Blick. Wir sind<br />

nicht mehr so stark auf uns fixiert,<br />

denken weniger dar über nach, wie<br />

20 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Geist<br />

Wer sich für andere<br />

engagiert, hat ein<br />

höheres Selbstwertgefühl.<br />

andere uns sehen, wie wir wirken<br />

und wie bedeutsam wir sind.<br />

Tipp 6: Zeigen Sie Ihrem Kind<br />

den Wert guter Taten<br />

Der Forschungszweig der positiven<br />

Psychologie befasst sich mit<br />

der Frage, wie Menschen Wohlbefinden<br />

erreichen können. Professor<br />

Martin Seligmann, der Begründer<br />

dieser Forschungsrichtung,<br />

kommt zum Schluss, «dass eine<br />

freundliche Handlung mehr zur<br />

Steigerung des eigenen Wohlbefindens<br />

beiträgt als jede andere<br />

Übung, die wir getestet haben».<br />

Überlegen Sie zusammen mit<br />

Ihrem Kind, zu wem es freundlich<br />

sein könnte. Die folgenden Fragen<br />

können Ihnen dabei helfen:<br />

• Wann und wie hast du letztmals<br />

je mandem eine Freude gemacht?<br />

Wie hast du dich danach gefühlt?<br />

• Wie kann man andern eine Freude<br />

bereiten (je manden besuchen,<br />

jemandem helfen, etwas teilen,<br />

ein Kompliment machen, ein<br />

Kind, das am Rand steht, zum<br />

Spielen einladen usw.)?<br />

• Was davon würdest du nun gerne<br />

tun?<br />

Tauschen Sie sich danach mit<br />

Ihrem Kind darüber aus, wie es<br />

sich gefühlt hat.<br />

• mit anderen sprechen, wenn<br />

mich Sorgen quälen,<br />

• mir Hilfe und Unterstützung<br />

holen, wenn ich sie benötige.<br />

Ich bin<br />

• als Mensch liebenswert,<br />

• verantwortlich für das, was ich<br />

tue,<br />

• zuversichtlich, dass ich mit Problemen<br />

und schwierigen Gefühlen<br />

umgehen kann,<br />

• mir bewusst, dass mein Wert als<br />

Mensch nicht von meinen Leistungen<br />

abhängt.<br />

Ich habe<br />

• Eltern, die mir zuhören und sich<br />

Zeit für mich nehmen,<br />

• Menschen in meinem Leben, die<br />

mich so annehmen und lieben,<br />

wie ich bin,<br />

Anzeige<br />

• Menschen, die mir helfen, wenn<br />

ich Hilfe brauche, und mich<br />

gleichzeitig darin bestärken,<br />

selbstbestimmt zu handeln,<br />

• Werte, die mir wichtig sind<br />

und für die ich mich einsetzen<br />

kann.<br />

>>><br />

Dieser Text ist in Fritz+Fränzi,<br />

Ausgabe 2 / März 2015 erschienen.<br />

Fabian Grolimund<br />

ist Psychologe und Autor («Mit Kindern<br />

lernen»). Der 38-Jährige ist verheiratet,<br />

Vater eines Sohnes, 4, und einer Tochter, 1.<br />

Er lebt mit seiner Familie in Freiburg.<br />

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Ein starkes Kind sagt von sich:<br />

Ich kann<br />

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• aus Misserfolgen und Fehlern<br />

lernen,<br />

• mich durch Anstrengung und<br />

Übung verbessern,<br />

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überwinden,<br />

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Naturärzte Vereinigung Schweiz


Körper<br />

«Gefühle der Eltern beeinflussen<br />

den Selbstwert des Kindes»<br />

Seit drei Jahrzehnten praktiziert Cyril Lüdin als Kinderarzt bei Basel. Einer seiner Schwerpunkte<br />

ist die Eltern-Kind-Bindung. Dabei spricht er aus eigener Erfahrung. Interview: Claudia Landolt<br />

Herr Lüdin, was brauchen Kinder,<br />

um stark zu sein?<br />

Kinder brauchen eine verlässliche<br />

Bindung an primäre Bezugspersonen,<br />

in der Regel Mutter und Vater.<br />

Werden sie zudem im Umfeld von<br />

verlässlichen Personen umsorgt,<br />

erlangen sie eine gute soziale Kompetenz,<br />

zeigen eine adäquate<br />

Stress resistenz und neigen weniger<br />

zu psychischen Erkrankungen.<br />

Sie haben den Zusammenhang<br />

zwischen früher Bindung und dem<br />

Einfluss auf die Hirnstruktur des<br />

Kindes erkundet. Welches sind Ihre<br />

wichtigsten Erkenntnisse?<br />

Wir wissen aus den Erkenntnissen<br />

der pränatalen Psychologie und<br />

aus der Hirnforschung, dass ein<br />

ungeborenes Kind mit seinen Sinnen<br />

alles aufnimmt und speichert.<br />

Es spürt, wenn die Eltern in Verbindung<br />

mit ihm stehen. Gefühlserfahrungen<br />

während der Schwangerschaft,<br />

sowohl positive wie auch<br />

negative, werden im Gehirn als<br />

emotionale Muster abgelegt. Das<br />

Kinder spüren jede Stimmung<br />

von uns Erwachsenen –<br />

egal wie alt die Kinder sind.<br />

ungeborene Kind möchte anerkannt<br />

werden. Es ist hilflos, wenn<br />

sich die Mutter oder der Vater seelisch<br />

verschliessen.<br />

Auch wenn das Kind schon älter ist?<br />

Ja. Erinnern Erlebnisse in der frühen<br />

Kindheit an vorgeburtliche<br />

negative Muster, so können sie<br />

irrationale Ängste auslösen. Solche<br />

Ängste sind ein Risikofaktor für<br />

spätere Lernstörungen, Aggressionen<br />

und asoziales Verhalten.<br />

Wie muss ich mir ein solches Muster<br />

vorstellen?<br />

Ängste sind in unserer Zeit allgegenwärtig.<br />

Sie entstehen schon in<br />

der Schwangerschaft, indem die<br />

werdende Mutter durch die Hektik<br />

im Alltag und durch medizinische<br />

Interventionen kaum mehr zur<br />

Ruhe kommt. Eltern in freudiger<br />

Erwartung geben dem Kind<br />

Sicherheit. Alle Sinne des Embryos<br />

sind aktiv, er lebt bewusst! Das<br />

Ungeborene ist intrauterin in der<br />

gleichen Stimmung wie seine<br />

Umgebung und schüttet bei Un­<br />

ruhe oder Angst ebenso das<br />

Stresshormon Kortisol als Abbauprodukt<br />

ins Fruchtwasser aus.<br />

Unterschätzt wird, dass der entsprechende<br />

Geschmack vom<br />

Embryo wahrgenommen und<br />

nach der Geburt am Körper der<br />

Eltern wiedererkannt wird. Auch<br />

in der Stillzeit riecht die Mutter<br />

unterschiedlich, je nachdem, ob<br />

sie in Ruhe oder in Anspannung<br />

ist. Neugeborene schmiegen sich<br />

an – oder sie schreien, quengeln<br />

und wenden sich ab. Egal, wie alt<br />

die Kinder sind, sie spüren jede<br />

Stimmung von uns Erwachsenen.<br />

Sie sagen, Berührung, Bewegung<br />

und Sprache seien die wichtigsten<br />

Elemente für ein gesundes Gedeihen<br />

der Kinder.<br />

Als soziale Wesen reagieren Kinder<br />

auf körperliche wie auf emotionale<br />

Einflüsse. Schon der direkte<br />

Körperkontakt in den Wochen<br />

nach der Geburt vermittelt Sicherheit<br />

und Geborgenheit. Berührung<br />

ist ganz essenziell für die<br />

Sicherheit und das Wohlbefinden<br />

in einer Eltern-Kind-Beziehung.<br />

Bewegung fördert die Entwicklung<br />

der motorischen, geistigen<br />

und sprachlichen Fähigkeiten.<br />

Schon in der Schwangerschaft<br />

setzt die Bewegung des Babys Reize<br />

für die Entwicklung des Gehirns<br />

Bild: Alain Laboile<br />

22 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


und der Muskulatur. Gefühle von<br />

Freude bewirken ein Strampeln,<br />

Angst und Furcht ein Erstarren des<br />

Babys. Kinderzimmer müssen<br />

früh zu Freiräumen werden, indem<br />

wir zum Beispiel eine Strickleiter,<br />

eine Schaukel oder Klettergriffe<br />

an die Wand montieren – oder<br />

mit dem Kind jonglieren üben. So<br />

fördern wir spielend die Geschicklichkeit.<br />

Auch Spielplätze gehören<br />

dementsprechend gestaltet, Wälder<br />

sollten zusammen mit den<br />

Eltern genutzt werden. Das freie<br />

Spiel in der Bewegung ist zentral<br />

für die Entwicklung.<br />

Und Sprache?<br />

Kommunikation ist das A und O.<br />

Sie bedeutet Wahrnehmung, Interaktion<br />

und Anregung. Sie funktioniert<br />

nur in der Beziehung. Im<br />

Kontakt zum Kind müssen wir<br />

emotional und gedanklich dabei<br />

sein. Hantieren wir am Smartphone,<br />

sind wird nicht wirklich<br />

verfügbar. So fehlt schon dem<br />

Kleinkind die sprachliche Auseinandersetzung<br />

und damit die<br />

kommunikative Kompetenz. Zum<br />

Lernen braucht es persönliche Be ­<br />

ziehungen. Geschichten vorlesen<br />

und erzählen hilft den Kindern,<br />

Ruhe zu finden und sich zu konzentrieren.<br />

Im Blick- oder Körperkontakt<br />

können wir uns gut rückversichern,<br />

ob das Kind noch<br />

emotional «dabei ist». Wir geben<br />

Fähigkeiten und Fertigkeiten weiter,<br />

ebenso Vorstellungen von<br />

Regeln, von Haltungen und Orientierungen.<br />

Ich wiederhole mich:<br />

Kinder brauchen uns als Vorbilder<br />

und als Gegenüber.<br />

Im Kontakt mit dem Kind<br />

müssen wir emotional und auch<br />

gedanklich dabei sein.<br />

Sie haben als einer der ersten Kinderärzte<br />

den Körperkontakt direkt<br />

nach der Geburt im Spital institutionalisiert.<br />

Ja, unsere Neugeborenen dürfen<br />

ab Geburt während der ganzen<br />

Spitalzeit am Körper der Mutter<br />

bleiben. Wärme und Geborgenheit<br />

erzeugen bei Mutter und Kind ein<br />

Gefühl von Ruhe, Phasen der<br />

Unsicherheit können besser reguliert<br />

werden. Wo Bindung besteht,<br />

herrrscht Ruhe. Natürlich gelingt<br />

das nicht immer, aber die Gefühle<br />

der Eltern werden vom Kind «verstanden»<br />

und be einflussen seinen<br />

Selbstwert. Die Folgen von emotionaler<br />

Vernachlässigung >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>23


Körper<br />

>>> sind Unruhe, Aufmerksamkeitsprobleme,<br />

Hyperaktivität und<br />

Lernstörungen. So werden in der<br />

frühen Kindheit mit grossem Aufwand<br />

Frühförderungen angeordnet.<br />

Diese wiederum haben nur in<br />

einer wertschätzenden Beziehung<br />

Aussicht auf Erfolg, wenn die<br />

Gefühlszentren des Kindes angesprochen<br />

und aktiviert werden.<br />

Leider werden Kinder heute oft in<br />

spalierbaumartige Vorstellungen<br />

gezwängt. Andersartigkeit wird<br />

gebrandmarkt und einer Therapie<br />

zugeführt, Originalität, mangelnde<br />

Konformität kaum mehr ge ­<br />

würdigt und getragen.<br />

Sie fordern einen Mutterschaftsurlaub<br />

von sechs Monaten. Warum?<br />

Unsere Gesellschaft macht es Frauen<br />

und Männern schwer, das<br />

Aben teuer «Elternsein» ruhig und<br />

gelassen anzugehen. Wir leben in<br />

einer beschleunigten Welt, in der<br />

niemand Zeit hat. Dies steht im<br />

Gegensatz zum gemächlichen<br />

Tempo des kindlichen Empfindens,<br />

vor allem der frühen Kindheit.<br />

Frauen müssen, damit sie<br />

ihren Job nicht verlieren, nach vier<br />

Monaten wieder arbeiten gehen,<br />

das bedeutet einen grossen Stress.<br />

Sie sind häufiger gezwungen,<br />

abzustillen, während das Kind<br />

noch nie einen Schoppen getrunken<br />

hat. Die Fremdbetreuung<br />

muss schon früh organisiert werden,<br />

vor allem, wenn die Grosseltern<br />

weit weg wohnen, noch<br />

arbeiten oder an derweitig beschäftigt<br />

sind. Einen Vaterschaftsurlaub<br />

gibt es nicht. Das Kind muss also<br />

in die Krippe. In Tagesbetreuungsstätten<br />

ist die Kontinuität der Beziehung<br />

oft durch betriebliche<br />

Faktoren ge fährdet.<br />

Sie sagen, die Gesellschaft müsse<br />

sich ändern. In welche Richtung?<br />

Indem Elternschaft geschätzt und<br />

der Wert der Bindung zwischen<br />

Kind und Eltern anerkannt wird.<br />

Ich bin für ein Elterngeld, damit<br />

sie länger zu Hause bleiben können<br />

oder eine Institution be zahlen<br />

können, die eine sichere sekundäre<br />

Betreuung gewährleistet.<br />

Was passiert mit Kindern, die<br />

un sicher gebunden sind?<br />

Säuglinge und Kleinkinder, die zu<br />

Hause eine unsichere Bindung erfahren,<br />

sind besonders verwundbar,<br />

wenn sie tagsüber fremd betreut<br />

werden. Ihre Erfahrungen<br />

von dysfunktionalen Beziehungen<br />

zu Hause und unzulänglichen<br />

Zweitbindungen während der<br />

Tagesbetreuung setzen sie einem<br />

doppelten Risiko aus. Eine sichere<br />

und beständige Zweitbetreuung<br />

durch eine einfühlsame sekundäre<br />

Bindungsperson in einer Krippe<br />

wirkt sich aber auch positiv aus.<br />

Man darf also nicht verallgemeinern.<br />

Doch wir müssen hohe<br />

Anforderungen an die Qualität der<br />

Betreuungsperson stellen, aber<br />

auch über politische Arbeit viel<br />

Geld in die Ausbildung investieren.<br />

Das ist Familienförderung in<br />

der heutigen Zeit.<br />

Sie behandeln in Ihrer Praxis viele<br />

Eltern zusammen mit ihren Kindern.<br />

Berührung spielt da eine Rolle. Wie<br />

muss ich mir das vorstellen?<br />

Unter Berührtwerden verstehe ich<br />

die Anerkennung der Geschichte<br />

des Kindes mit seinen Eltern. Es<br />

gibt Kinder, die ihre Verzweiflung<br />

verbergen, indem sie ganz ruhig<br />

werden, sie täuschen Zuversicht<br />

vor. Als Säuglinge nuckeln sie entweder,<br />

klammern sich an Übergangsobjekte<br />

oder schaukeln. Später<br />

wiederum sind sie zwanghaft<br />

selbständig, Kontakt vermeidend<br />

oder distanzlos. All diese und noch<br />

viele andere Verhaltensweisen ge ­<br />

ben uns Hinweise auf Belastungen<br />

oder durchgemachte Traumata in<br />

der Schwangerschaft, nach der<br />

Geburt oder in der frühen Kindheit.<br />

Indem ich die Eltern in An ­<br />

wesenheit des Kindes ihre gemeinsame<br />

Geschichte erzählen lasse,<br />

erhält das Kind Einblick in die<br />

Ge schehnisse, Sorgen und Probleme<br />

der Eltern und wird dadurch<br />

einbezogen. Bestehen Tabuthemen<br />

innerhalb der Eltern-Kind-Beziehung,<br />

wird das Kind nicht<br />

ruhig. Um diese Themen dann<br />

therapeutisch zu bearbeiten, brauche<br />

ich einen Auftrag der Eltern.<br />

Schuld und Scham sind oft Ur ­<br />

sachen der Verschwiegenheit, An ­<br />

erkennung der Gegebenheiten<br />

unsererseits ist wichtig.<br />

Sie arbeiten auch mit Atmung.<br />

In der «Emotionellen Ersten Hilfe»<br />

(siehe Box Seite 25) ist die Bauchatmung<br />

ein Hilfsmittel, um das<br />

autonome Nervensystem zu regulieren<br />

und so die Entspannung zu<br />

fördern. In einem gesunden Organismus<br />

befindet sich das autonome<br />

Nervensystem in einem ständigen<br />

Schwingungsprozess. Beim Kind<br />

schön sichtbar in entspannten<br />

Phasen des Selbstkontaktes und in<br />

aktiven Zeiten der Interaktion und<br />

Umwelt erkundung. Die Übererregung<br />

äussert sich durch Quengeln,<br />

Schreien, Schlaf unruhe, Hypermotorik.<br />

Bei der besorgten Mutter<br />

verflacht sich der Atem, ihr Blickkontakt<br />

ist weniger zugewandt, der<br />

Körper fühlt sich weniger kuschlig<br />

an, und ihre Stimme hat nicht<br />

Eigene Erfahrungen weckten<br />

mein Interesse, die Ursachen von<br />

Verhaltensauffälligkeiten<br />

zu hinterfragen.<br />

24 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Bild: Basile Bornand / 13 Photo<br />

Viele Eltern fühlen sich mit ihren<br />

Fragen alleingelassen, beschämt<br />

und isoliert.<br />

mehr den weichen Klang. Sie leidet<br />

an Muskelverspannungen vor<br />

allem im Schulterbereich, auch an<br />

Schlaflosigkeit. Sie fühlt sich nicht<br />

mehr verstanden. Im Endeffekt<br />

fühlen sich viele Eltern mit ihren<br />

Fragen alleingelassen, beschämt<br />

und isoliert. Wichtig in meiner<br />

Praxis sind die Achtsamkeit, die<br />

Anerkennung der Situation, in der<br />

Eltern und Kind sich befinden.<br />

Jungen Müttern rate ich, authentisch<br />

zu sein und ihre Gefühle den<br />

Kindern offen mit zuteilen. Zu ­<br />

rückgehaltene und unterdrückte<br />

Gefühle bewirken beim Kind Irritationen<br />

und Ängste.<br />

Sie behandeln auch verhaltensoriginelle<br />

Kinder. Verschreiben Sie<br />

Ritalin?<br />

Ja. Ist das Kind richtig diagnostiziert<br />

und sind die Ressourcen in<br />

Familie, Schule und Umfeld aufgebraucht<br />

oder einfach nicht vorhanden,<br />

kann Ritalin für Eltern<br />

und Kind eine grosse Erleichterung<br />

sein. Die moralbehaftete<br />

öffentliche Diskussion um dieses<br />

Medikament miss achtet, häufig<br />

durch Unkenntnis, das Ausmass<br />

dieses Leidens der Betroffenen. Ich<br />

habe es selbst an meinem Adoptivsohn<br />

erlebt.<br />

Mögen Sie davon erzählen?<br />

Als er zu uns kam, in eine Familie<br />

mit drei eigenen Kindern, hatte er<br />

eine äusserst schwache Selbststeuerung,<br />

keine sprachlichen Kompetenzen<br />

und war sehr bedürftig.<br />

Seine Impulsivität war für alle<br />

belastend. Auch wir versuchten<br />

ihm mit verschiedenen Fördermassnahmen<br />

zu helfen – und<br />

mussten häufig die eigenen Frustrationen<br />

und die des Knaben aushalten.<br />

Das Kind spürt den täglichen<br />

Er wartungsdruck und kann<br />

ihm nie gerecht werden.<br />

Hat Ihre eigene Situation Ihren Forschungsschwerpunkt<br />

beeinflusst?<br />

Absolut. Vaterschaft ist eines meiner<br />

leidenschaftlichsten Anliegen.<br />

Gerne hätte ich damals mehr ge ­<br />

wusst. Die Erfahrungen mit meinem<br />

Sohn weckten mein Interesse,<br />

die Ursachen dieser Verhaltensauffälligkeiten<br />

zu hinterfragen. Wir<br />

müssen bei der Beurteilung der<br />

Kinder die Lebensweise und Lebensgeschichte<br />

der Eltern kennen<br />

und verstehen. Auf der Suche nach<br />

Möglichkeiten, Stressreaktionen<br />

rund um die Ge burt und während<br />

der frühen Kindheit re duzieren zu<br />

können, fand ich das enorme<br />

Potenzial des frühen kontinuierlichen<br />

Hautkontakts zur Bindungsförderung.<br />

Weiter faszinierte mich<br />

die Pränatalforschung, und in der<br />

Praxis legte ich meinen Schwerpunkt<br />

auf die Psychosomatik und<br />

Eltern-Baby-Therapie.


Körper<br />

Lernen im Schlaf – geht das?<br />

Genügend Schlaf ist wichtig für die Gedächtnisbildung und erfolgreiches Lernen. Neueste<br />

Forschungsergebnisse zeigen, dass insbesondere ungestörter Tiefschlaf von grosser<br />

Bedeutung ist – auch für Kinder in der Pubertät. Text: Claudia Landolt<br />

Nach der Schule<br />

lernt Luis Französischwörter<br />

und<br />

für den Geografietest.<br />

Der 14-Jährige<br />

geht um 21 Uhr ins Bett. Die<br />

darauffolgende Nacht entscheidet<br />

mit, ob er das Erlernte auch im<br />

Kopf behält. Genug Schlaf und vor<br />

allem ein erholsamer Tiefschlaf<br />

geben dabei den Ausschlag.<br />

Warum wir schlafen, ist eine<br />

Frage, die bis heute wissenschaftlich<br />

nicht geklärt ist – auch wenn<br />

sich die <strong>Spezial</strong>isten einig sind,<br />

dass der Schlaf sowohl für das<br />

Immunsystem, für den Stoffwechsel<br />

wie auch für die kognitiven<br />

Leistungen des Gehirns unabdingbar<br />

ist.<br />

Schlaf und Lernen sei in den<br />

letzten Jahrzehnten eines der<br />

Hauptforschungsgebiete in der<br />

Schlafforschung, erklärt Reto<br />

Huber, wissenschaftlicher Leiter<br />

des Zentrums für Schlaf medizin<br />

am Kinderspital Zürich. «Schlaf ist<br />

mehr als nur Er holungsphase, er<br />

trägt etwas Eigenständiges zum<br />

Lernen, zum Gedächtnis, zum<br />

Verarbeiten von Erlebtem bei», so<br />

Huber. Es sei wissenschaftlich<br />

unbestritten, dass Schlaf zum<br />

Lern erfolg beitrage: «Wenn man<br />

vor dem Schlafengehen noch<br />

etwas lernt, das am anderen Tag<br />

abgefragt wird, erzielt man eine<br />

Verbesserung von 10 bis 20 Prozent»,<br />

erklärt Huber – zumindest<br />

bei Erwachsenen.<br />

Bei Kindern und Jugendlichen ist<br />

das Bild unschärfer. Denn Schlaf<br />

ist eine komplizierte und von mehreren<br />

Faktoren bestimmte Sache.<br />

Erstens das individuelle Schlafbedürfnis<br />

von Kindern und Jugendlichen.<br />

Zweitens gibt es Kurzschläfer<br />

und Langschläfer. Und drittens<br />

gibt es sogenannte Chronotypen:<br />

die Eulen, die ungern vor 23 Uhr<br />

ins Bett gehen und dafür am Morgen<br />

nicht aus den Federn kommen,<br />

sowie die Lerchen, die gern früh<br />

ins Bett gehen und morgens um<br />

sieben Uhr schon sehr munter<br />

sind. Hinzu kommt: In der Pubertät<br />

nimmt die Fähigkeit, länger<br />

wach zu bleiben und später aufzustehen,<br />

generell zu.<br />

Wichtige Slow Waves<br />

Aber noch wichtiger als die Schlafdauer<br />

ist die Schlafintensität, also<br />

wie gut und tief der Schlaf ist. Entscheidend<br />

ist die erste Nachthälfte.<br />

Der Tiefschlaf ist durch sogenannte<br />

langsame Wellen gekennzeichnet,<br />

im Fachjargon Slow-Wave-<br />

Ströme (SWS) genannt. Sie sind<br />

das Mass für die Schlafqualität; je<br />

eindeutigere und je mehr Slow<br />

Waves, desto tiefer die Schlafphase.<br />

Entscheidend ist, dass die normalerweise<br />

kontinuierliche Aktivität<br />

der Neuronen für einige 100<br />

Millisekunden unterbrochen wird.<br />

Wenn das viele Neuronen tun,<br />

erzeugt das die langsamen Hirnstromwellen,<br />

die Slow-Wave-Ströme.<br />

«Aus einer Vielzahl von Unter-<br />

suchungen wissen wir, dass gerade<br />

diese Slow Waves wichtig für die<br />

Lernprozesse im Gehirn sind»,<br />

erklärt der Schlafexperte. Werden<br />

diese Ströme zum Beispiel durch<br />

Aussenreize gestört, weisen Versuchspersonen<br />

Lerndefizite auf.<br />

Im Vergleich zu ungestört Schlafenden<br />

können sie sich am nächsten<br />

Morgen schlechter an gelernte<br />

Wortpaare erinnern.<br />

Diese Slow Waves sind besonders<br />

interessant, weil sie im Zu -<br />

sammenhang mit der Hirnentwicklung<br />

stehen. Diese verändert<br />

sich während Kindheit und Jugend<br />

deutlich. Slow Waves sind interessanterweise<br />

immer in jener Hirnregion<br />

besonders aktiv, in der<br />

ge rade ein Reifungsprozess stattfindet.<br />

«Das sieht man beispielsweise<br />

am Schlaf von 6- bis 8-Jährigen;<br />

in diesem Alter schlafen<br />

Kinder so unglaublich tief, dass<br />

man sie fast nicht wecken kann»,<br />

erläutert Reto Huber. Die zunehmende<br />

Reifung des Stirnlappens<br />

bewirkt, dass sich das Kind zunehmend<br />

selbst beherrschen, seine<br />

Gefühle kontrollieren und seine<br />

Bedürfnisse herausschieben kann.<br />

Dadurch kann es sich besser konzentrieren<br />

und zielgerichtet lernen.<br />

Umbau zur Effizienz<br />

Bei Jugendlichen werden die vorderen<br />

Teile des Grosshirns, die für<br />

Entscheidungen und höhere ko -<br />

gni tive Leistungen benötigt wer-<br />

26 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Rubrik<br />

Slow-Wave-Ströme<br />

Slow-Wave-Ströme (SWS)<br />

bezeichnen eine Schlafphase,<br />

in der die Aktivitätsphase der<br />

Neuro nen extrem gering ist (mit<br />

einer Frequenz zwischen 0,5 und<br />

3 Hz). Diese SWS-Schlafphase gilt<br />

als der Schlaf mit der höchsten<br />

Weckschwel le und widerspiegelt<br />

die Qualität des Schlafes.<br />

Bild: Alain Laboile<br />

Schlafen – Lernen – Schlafen<br />

In einer aktuellen Studie mussten<br />

40 Probanden die Übersetzungen<br />

von 16 Swahili-Wörtern auswendig<br />

lernen. Dabei schritt die Gruppe,<br />

die um 9 Uhr abends sowie 12<br />

Stunden später lernte, deutlich<br />

besser ab als die Gruppe, die zuerst<br />

morgens und dann abends lernte.<br />

Das bedeutet, dass Schlaf das<br />

Erlernen und langfristige Behalten<br />

von Inhalten begünstigen kann.<br />

Effizi­ent lernen heisst demnach:<br />

lernen, eine Nacht schlafen<br />

und am Morgen erneut lernen.<br />

den, umgebaut. «Es überleben nur<br />

die relevanten Verknüpfungen,<br />

welche für die Funktionalität des<br />

Hirns in der Adoleszenz wichtig<br />

sind», weiss Reto Huber. Teenager<br />

verfügen mit der Zeit dann über<br />

ein weniger dichtes, dafür umso<br />

effizienteres Netzwerk an Nervenzellen.<br />

Und ebenso, wie die Um ­<br />

bauwelle des Gehirns von hinten<br />

nach vorne geschehe, veränderten<br />

sich auch diese SWS-Muster. Das<br />

heisst: Teenager schlafen zwar<br />

weniger, weil die Fähigkeit, länger<br />

wach zu bleiben, zunimmt. Dafür<br />

schlafen sie relativ tief.<br />

Langsame Wellen sind also<br />

wichtig für die Gedächtnisleistung.<br />

Lerninhalte, die am Abend<br />

eingeprägt werden, werden am<br />

Morgen besser memoriert. Die<br />

grosse Frage aber lautet: Was passiert,<br />

wenn Jugendliche zu wenig<br />

schlafen? «Da gibt es natürlich<br />

Leistungseinbussen», erklärt Reto<br />

Huber.<br />

Genug Schlaf ist wichtig<br />

Allerdings ist die Grenze sehr individuell<br />

und abhängig von der einzelnen<br />

Leistung, denn nicht alle<br />

kognitiven Fähigkeiten geraten in<br />

Schieflage. Ob acht Stunden pro<br />

Tag wirklich notwendig sind,<br />

belegt die Wissenschaft nicht.»<br />

Man sehe aber, dass Teenager am<br />

Wochenende sehr viel mehr schlafen<br />

würden als unter der Woche.<br />

«Das zeigt, dass ein gewisses Be ­<br />

dürfnis unter der Woche zu kurz<br />

kommt.» Wie viel Schlaf das eigene<br />

Kind braucht, ist für Eltern<br />

manchmal schwierig zu eruieren.<br />

Laut Reto Huber kann man sich<br />

dabei an Ferienzeiten orientieren,<br />

wenn die Jugendlichen nach einem<br />

eigenen Rhythmus leben können.<br />

«Wenn jemand immer um 23 Uhr<br />

ins Bett geht und nicht vor 11 Uhr<br />

aufsteht, ist klar, dass diese Person<br />

mehr als sieben Stunden Schlaf<br />

braucht.» Allerdings machen Jugendliche<br />

ihren Schlafmangel<br />

einerseits durch tieferen Schlaf<br />

wieder wett, sie füllen ein Schlafdefizit<br />

durch einige Nächte mit<br />

tiefem Schlaf wieder auf. Andererseits<br />

müssen sie eben gerade am<br />

Wochenende oder in den Ferien<br />

vermehrt Schlaf nachholen.<br />

Und Luis? Er hat in jener Nacht<br />

vor dem Test gut geschlafen. Im<br />

Geografietest bringt er eine 5,5<br />

nach Hause, die Französischwörtchen<br />

weiss er auch am anderen Tag<br />

noch. Einer guten Nacht folgte ein<br />

lerntechnisch erfolgreicher Tag.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>27


Körper<br />

Schlafstörungen:<br />

Ist das Handy schuld?<br />

Der zunehmende Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen hat Auswirkungen<br />

auf das Schlafverhalten. Schuld ist das blaue Licht. Es gaukelt dem Körper vor, dass<br />

Tag ist. Text: Claudia Landolt<br />

Bild: Alain Laboile<br />

Jugendliche, die nachts im<br />

Bett digitale Medien nutzen,<br />

haben ein erhöhtes<br />

Risiko, an Schlafproblemen<br />

und depressiven<br />

Symptomen zu leiden. Das<br />

fanden Forscher der Uni<br />

Basel heraus und publizieten 2005<br />

eine vielbeeachtete Studie. Um<br />

den digitalen Medienkonsum bei<br />

Teenagern mit Smart phones zu<br />

untersuchen, befragte das Forscherteam<br />

insgesamt 162 Schülerinnen<br />

und 200 Schüler aus der<br />

Nordwestschweiz im Alter von 12<br />

bis 17 Jahren.<br />

Die Resultate sprechen für sich.<br />

So verbrachten Jugendliche mit<br />

Smartphones an Wochentagen<br />

etwa doppelt so viel Zeit im Inter-<br />

net wie ihre Alterskollegen mit<br />

konventionellem Handy, nämlich<br />

durchschnittlich zwei Stunden<br />

gegenüber einer.<br />

Zudem ergab die Studie, dass<br />

nur 17 Prozent der Teenager ihr<br />

Smartphone über Nacht ausschalten<br />

oder lautlos stellen – im Vergleich<br />

zu 47 Prozent der Jugendlichen<br />

mit Handys ohne Internet.<br />

28 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Viele der Befragten gaben an, bis<br />

spät in die Nacht noch Videos<br />

anzusehen, online zu sein oder<br />

mit Freunden zu chatten.<br />

Eine Umfrage der amerikanischen<br />

Schlafstiftung (National<br />

Sleep Foundation) ergab 2014 ein<br />

ähnliches Bild. So schlafen Kinder<br />

schlechter, wenn sie Handy, Computer<br />

oder Fernseher in ihrem<br />

Zimmer haben. Fast drei Viertel<br />

der befragten Kinder zwischen 6<br />

und 17 Jahren besassen mindestens<br />

ein elektronisches Gerät,<br />

wobei die Spanne von Fernseher,<br />

Computer und Spielkonsolen bis<br />

hin zu Tablets und Smartphones<br />

reicht. Die Untersuchung ergab,<br />

dass diese Schulkinder schlechter<br />

schliefen als jene, die kein Gadget<br />

in ihren Zimmern hatten.<br />

Eine andere Untersuchung der<br />

Stony Brook University New York<br />

um Dr. Jill Creighton ergab, dass<br />

Kinder und Jugendliche, die ein<br />

Smartphone besitzen, bis zu einer<br />

Stunde weniger schliefen als ihre<br />

Altersgenossen. Besonders Jugendliche<br />

überprüfen auf iPhone und<br />

Co. die Uhrzeit, wenn sie nachts<br />

wach werden. Das Licht des Displays<br />

unterbricht jedoch den<br />

Schlafzyklus und man schläft<br />

wesentlich schlechter ein. Schuld<br />

daran ist das blaue LED-Licht des<br />

Displays. Dieses Kunstlicht ist ein<br />

kurzwelliges Licht mit erhöhtem<br />

Blauanteil im Lichtspektrum, wie<br />

es sich in Beleuchtungen mit LED<br />

findet. Die Spektralfarbe Blau wiederum<br />

senkt den Melatoninspiegel<br />

und hält das Gehirn wach – ein<br />

Effekt, der am Abend vor allem bei<br />

Schulkindern wohl eher unerwünscht<br />

ist.<br />

Die innere Uhr in Schieflage<br />

«Wer um Mitternacht noch seine<br />

E-Mails oder SMS checkt, bringt<br />

seine innere Uhr durcheinander»,<br />

sagt Christian Cajochen, der Leiter<br />

des Zentrums für Chronobiologie<br />

an den Psychiatrischen Universitären<br />

Kliniken Basel. In jüngster<br />

Zeit habe es sich gezeigt, dass die<br />

Menschen spezielle Sinneszellen<br />

im Auge haben, die auf blaues<br />

Licht reagieren und dem Hirn mitteilen,<br />

ob es den Körper wach oder<br />

schlafbereit halten soll. Bisher gab<br />

es aber nur wenige gültige Daten,<br />

die der Frage nachgingen, ob das<br />

Licht der LED-Monitore tatsächlich<br />

ausreicht, um den Tag-Wach-<br />

Rhythmus zu stören und den<br />

Schlaf zu verzögern.<br />

In einem weiteren Experiment<br />

wählten die Forscher einen anderen<br />

Ansatz. Sie testeten die Auswirkungen<br />

auf den Schlaf direkt<br />

bei Jugendlichen. Laut Umfrageergebnissen<br />

verbringen diese<br />

knapp viereinhalb Stunden am<br />

Tag vor dem Fernseher, am Computer<br />

oder Smartphone. 95 Prozent<br />

checken noch regelmässig vor<br />

dem Schlafengehen ihre Social-<br />

Media-Seite oder ihre Chats.<br />

Mit einer Blaulicht-Dusche<br />

ins Bett<br />

«Viele gehen mit einer richtigen<br />

Blaulicht-Dusche ins Bett», sagt<br />

Cajochen. Die Forscher gaben nun<br />

Jugendlichen Brillen mit oder<br />

ohne Blaulichtfilter und untersuchten<br />

den Schlaf am Freitagabend<br />

nach einer Schulwoche.<br />

Nach einer Woche fanden die Forscher<br />

bei den Teilnehmenden mit<br />

Brillen mit Filter deutlich höhere<br />

Melatoninwerte als bei den Probanden<br />

mit Brillen ohne Filter. «Je<br />

länger man abends am Licht ist,<br />

auch am Computerbildschirm,<br />

desto länger meint die innere Uhr,<br />

es sei Tag», so Cajochen.<br />

Experten empfehlen für Schulkinder<br />

genügend Schlaf. Weniger<br />

kann manchmal zu Konzentrationsschwächen<br />

führen. Bereits<br />

die letzte Stunde vor dem Schlafengehen<br />

– so die Wissenschaftler<br />

– sollten Kinder grundsätzlich<br />

ohne Computer, Handy und Co.<br />

verbringen. Eltern wird empfohlen,<br />

mit den Kindern eine Zubettgeh-Routine<br />

zu entwickeln. Diese<br />

funktioniert auch bei grös seren<br />

Kindern – etwa Zähneputzen,<br />

Duschen, Lesen. Spätestens um 21<br />

Uhr sollte aber auch für grössere<br />

Kinder Schluss sein mit lustig.<br />

Go offline – und fünf weitere Tipps<br />

von Jill Creighton für Eltern<br />

• Entwickeln Sie eine Zubettgeh-Routine,<br />

egal, wie alt ihr Kind ist. Das kann ein Bad<br />

sein, ein Buch lesen oder ruhige (!) Musik<br />

hören.<br />

• Go offline! Die Stunde vor dem Schlafengehen<br />

ist elektronikfreie Zone. Die Kinder<br />

sollten an einem definierten Ort in der<br />

Wohnung – beispielsweise in der Küche<br />

oder im Wohnzimmer – ihre Gadgets<br />

einste cken und über Nacht dort lassen.<br />

• Das Bett ist handyfreie Zone. Ein normaler<br />

Wecker tut es auch.<br />

• Falls das Kind sein Smartphone nicht<br />

ausschal tet, sollte man die Screening-Zeit<br />

herunterhandeln. 30 Minuten pro Woche<br />

weniger online sind ein guter Anfang.<br />

Idealer weise limitieren Eltern die Online-<br />

Zeit auf 60 Minuten pro Tag. So viele<br />

Minuten, wie das Kind am Handy hängt,<br />

sollte es sich auch bewegen.<br />

• Das pubertierende Kind vom Sofa oder aus<br />

dem Zimmer zu kriegen, kann zur elterlichen<br />

Herausforderung werden. Sport<br />

oder Bewegung wird gerne als langweilige<br />

Pflichtübung empfunden. Creighton rät zur<br />

Kreativität. Ein 20-minütiger Spazier gang,<br />

30 Minuten Basketball, aber auch Ämtli<br />

und Hausarbeit wie Staubsaugen,<br />

Schneeschau feln oder Rasenmähen<br />

zählen zu entsprechenden Aktivitäten, die<br />

je nachdem monetär entschädigt werden.<br />

• Gute Gewohnheiten etablieren. Am<br />

Ess tisch vom Smartphone oder Fernsehen<br />

abgelenkt zu sein, führt zu eigenartigen<br />

Tischmanieren. Die Eltern müssen<br />

hier mit gutem Beispiel vorangehen.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>29


Körper<br />

Kinder und Zähne:<br />

Brot ist besser als Banane<br />

Wussten Sie, dass Milchzähne schneller kariös werden, zu früher Zahnwechsel zu Lispeln führen<br />

kann und elterliche Zahnputzkontrolle bis ins Teenageralter wichtig ist? Antworten auf Fragen,<br />

die Eltern zu den Zähnen ihrer Kinder haben. Text: Claudia Füssler<br />

Die Milchzähne<br />

gründlich pflegen?<br />

Wozu denn? Die<br />

fallen doch sowieso<br />

wieder heraus.<br />

Diese Einstellung ist bei Eltern<br />

auch heute noch weit verbreitet.<br />

Und sehr falsch. Denn die ersten<br />

Zähne im Leben sind wertvoll: Sie<br />

bilden das Fundament für ein<br />

lebenslang gesundes und solides<br />

Gebiss.<br />

«Deshalb ist einmal täglich<br />

Zähneputzen ab dem ersten Zahn<br />

Pflicht», sagt Priska Fischer von<br />

der Klinik für Zahnerhaltungskunde<br />

und Parodontologie am<br />

Universitätsklinikum Freiburg im<br />

Breisgau. Spätestens wenn sich die<br />

ersten Backenzähne im zweiten<br />

Lebensjahr zeigen, sollte morgens<br />

und abends geputzt werden: mit<br />

einer Bürste, deren Kopf klein und<br />

mit weichen Borsten ausgestattet<br />

ist. Ihr Griff sollte dicker sein als<br />

bei Bürsten für Erwachsene; sie ist<br />

dadurch für Kinder leichter zu<br />

handhaben.<br />

gramm pro Gramm Zahnpasta. Da<br />

Kinder bis zum Schulalter noch<br />

eher viel Zahnpasta verschlucken,<br />

statt sie auszuspucken, dürfen Kinderzahncremes<br />

maximal 500 ppm<br />

Fluorid enthalten, also 0,5 Milligramm<br />

pro Gramm Zahnpasta.<br />

Die Zwischenstufe sind sogenannte<br />

Juniorzahnpasten, die<br />

zwar wie eine Zahncreme fluoridiert,<br />

aber vom Geschmack her<br />

sanfter und vielleicht sogar mit<br />

Fruchtaromen versehen sind.<br />

Empfohlen werden diese Zahncremes<br />

meist ab dem sechsten<br />

oder siebten Lebensjahr. «Mitunter<br />

ist es allerdings sinnvoll, früher<br />

damit zu beginnen», sagt Priska<br />

Fischer. «Ausschlaggebend sollte<br />

sein, wann die ersten bleibenden<br />

Zähne kommen. Bei manchen<br />

Kindern ist das bereits mit vier,<br />

fünf Jahren der Fall. Dann ist eine<br />

stärkere Fluoridierung wichtig.»<br />

Wir brauchen ein gut funktionierendes<br />

Milchzahngebiss für die<br />

Nahrungsaufnahme. Um von<br />

einem Brot oder einer Karotte<br />

abbeissen zu können, müssen die<br />

Zähne richtig zueinander stehen.<br />

Zudem haben die ersten Zähne<br />

eine sogenannte Platzhalterfunktion.<br />

Die ersten bleibenden<br />

Backenzähne nutzen die hintersten<br />

Milchbackenzähne als eine Art<br />

Gerüst, an dem sie sich hochhangeln.<br />

Fehlt diese Orientierung,<br />

Die richtige Dosis Fluorid<br />

Für die Jüngsten empfiehlt sich<br />

eine gering fluoridierte Zahncreme.<br />

Zahnpasta für Erwachsene<br />

enthält meist zwischen 1000 und<br />

1500 ppm (parts per million) des<br />

Karies vorbeugenden Fluo rids.<br />

Das entspricht 1 bis 1,5 Millistossen<br />

die bleibenden Backenzähne<br />

oft zu weit vorne durch den<br />

Kiefer – nicht selten muss hier<br />

später der Kieferorthopäde für die<br />

richtige Zahnstellung sorgen.<br />

Milchzähne sind auch essenziell<br />

für den Prozess des Sprechenlernens:<br />

Fallen die Schneidezähne<br />

im Oberkiefer zu früh aus, hat das<br />

negative Folgen für die Sprachentwicklung.<br />

Die Zunge hat plötzlich<br />

vorne mehr Platz, als sie braucht,<br />

dadurch klingen S- und Z-Laute<br />

merkwürdig, das Kind beginnt zu<br />

lispeln. Schlimmstenfalls führen<br />

die ständigen Zungenbewegungen<br />

nach dem Zahnwechsel zu einem<br />

offenen Biss.<br />

Ein Putzsystem fürs ganze Leben<br />

Deshalb versucht die moderne<br />

Zahnmedizin alles, um auch<br />

schwer geschädigte Milchzähne so<br />

lange wie möglich zu erhalten. Es<br />

gibt Kronen für Milchzähne und<br />

Zahnprothesen für Kinder, auch<br />

Wurzelbehandlungen an den ersten<br />

Zähnen werden durchgeführt.<br />

So weit sollte es allerdings nur in<br />

Die Milchzähne sollten<br />

genauso gut gepflegt werden<br />

wie die bleibenden Zähne.<br />

30 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Bild: Alain Laboile<br />

Ausnahmefällen kommen. Die<br />

Prophylaxe heisst also: Pflege, Pflege,<br />

Pflege.<br />

Die Milchzähne sollten unbedingt<br />

genauso gut gepflegt werden<br />

wie die bleibenden. Sie sind nämlich<br />

schwächer mineralisiert als<br />

das dauerhafte Gebiss und werden<br />

dadurch schneller kariös. Dem<br />

Keim Streptococcus mutans und<br />

den Laktobazillen – den beiden<br />

grössten Kariesverursachern – ist<br />

völlig egal, ob es sich um einen<br />

Milch- oder einen bleibenden<br />

Zahn handelt. Eine einmal auftretende<br />

Karies an Kinderzähnen<br />

kann schlimme Folgen haben,<br />

denn die Nervhöhle des Zahns ist<br />

im Verhältnis zur Hartsubstanz<br />

grösser als bei einem bleibenden<br />

Zahn. Das heisst, die Karies kann<br />

den Nerv schneller erreichen. «Ist<br />

der Nerv einmal entzündet, können<br />

die Bakterien auch den ge -<br />

schützt darunterliegenden bleibenden<br />

Zahn angreifen», erklärt<br />

Priska Fischer.<br />

Bis in das Grundschulalter hinein<br />

sollten die Eltern nachputzen,<br />

rät Fischer. Erst in diesem Alter<br />

sehe man, ob es den Kindern<br />

gelungen sei, sich ihr eigenes<br />

Putzsystem zu erarbeiten. Das ist<br />

wichtig, denn solche Muster bleiben<br />

meist ein Leben lang erhalten.<br />

Ab dem Kindergartenalter – die<br />

Kleinen müssen ausspucken können<br />

– können Eltern mit Färbetabletten<br />

aus der Apotheke das<br />

Bewusstsein für die Sauberkeit der<br />

Zähne schärfen: Rote Verfärbungen<br />

zeigen an, wo noch Belag haften<br />

geblieben ist und gründlicher<br />

geputzt werden muss.<br />

Während eine Mundspülung<br />

für die Zahnpflege bei Kin- >>><br />

Die Milchzähne<br />

Milchzähne haben wichtige Aufgaben.<br />

Angelegt werden sie in der sechsten<br />

Schwangerschaftswoche, und bei der<br />

Geburt liegen sie voll entwickelt im<br />

Kiefer des Kindes – man sieht jedoch<br />

noch nichts von ihnen. Ab dem vierten<br />

Lebensmonat brechen die Zähne durch,<br />

und zum ersten Geburtstag sind meist<br />

alle oberen und unteren Schneidezähne<br />

sichtbar. Bis zum 16. Monat folgen<br />

die ersten Backenzähne, die Eckzähne<br />

zeigen sich bis zum 20. Monat. Ein<br />

dreijähriges Kind hat mit 20 Zähnen<br />

ein vollständiges Milchzahngebiss.<br />

Die neuen, bleibenden Zähne entwickeln<br />

sich unter dem Milchgebiss. Zwischen<br />

dem 6. und dem 12. Lebensjahr werden<br />

die Milchzähne durch die bleibenden<br />

Zähne ersetzt – wann genau, das ist von<br />

Kind zu Kind verschieden. In der Regel<br />

ist der Zahnwechsel abgeschlossen, bis<br />

die Kinder 12 Jahre alt sind.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>31


Körper<br />

>>> dern eher lässlich ist, ist die<br />

Zahnseide ein wichtiges Hilfsmittel.<br />

Sie sollte konsequent ab dem<br />

Moment angewandt werden, ab<br />

dem man zwischen zwei Zähnen<br />

keinen Zwischenraum mehr sieht.<br />

«Das sollten die Eltern übernehmen,<br />

motorisch ist Zahnseide für<br />

Kinder noch schwierig zu handhaben»,<br />

sagt Priska Fischer.<br />

Die fehlende Feinmotorik sollte<br />

jedoch kein Grund dafür sein,<br />

dass Eltern sich dazu verführen<br />

lassen, eine elektrische Zahnbürste<br />

für die Kinder zu kaufen –<br />

zumindest nicht am Anfang.<br />

Denn jedes Kind sollte zunächst<br />

Jedes Kind sollte zuerst die<br />

grundlegende Putztechnik mit<br />

einer Handzahnbürste lernen.<br />

die grundlegende Putztechnik mit<br />

einer Handzahnbürste aus dem<br />

Effeff beherrschen, um darauf<br />

zurückgreifen zu können, wenn<br />

die elektrische Zahnbürste nicht<br />

dabei ist. «Ich vergleiche das<br />

immer mit Tennis und Tischtennis»,<br />

sagt Priska Fischer, «das eine<br />

spielt man aus dem Handgelenk,<br />

das andere aus dem Arm heraus<br />

– so verhält es sich auch mit der<br />

Handzahnbürste und der elektrischen.»<br />

Sind die Kinder sicher im<br />

Umgang mit der Handzahnbürste,<br />

kann eine elektrische eine sinnvolle<br />

Anschaffung sein, denn sie entfernt<br />

mehr Beläge als eine Handzahnbürste<br />

– allerdings nur bei<br />

richtiger Handhabung. «Man<br />

kann auch mit einer elektrischen<br />

Zahnbürste schlecht putzen», sagt<br />

Priska Fischer. Die ideale Kombination,<br />

so die Zahnärztin, sei,<br />

morgens von Hand und abends<br />

elektrisch zu putzen.<br />

Zahnfreundliches Essen und<br />

Trinken<br />

Neben dem Putzen trägt auch die<br />

Ernährung zu einem gesunden<br />

Gebiss bei. Es gilt die Faustregel:<br />

generell so wenig industriell hergestellte<br />

Lebensmittel und Fertigprodukte<br />

wie möglich. Die enthalten<br />

meist viele versteckte Zucker,<br />

die die schädlichen Säureangriffe<br />

der Bakterien auf die Zähne auslösen.<br />

Hierunter fallen auch viele<br />

Früchtetees für Kinder sowie Eistees<br />

und Softdrinks für Jugendliche.<br />

Karotte und Apfel sorgen<br />

durch ihre Konsistenz ebenso wie<br />

Vollkornbrot für eine leichte,<br />

natürliche Reinigung der Zähne,<br />

während eine Banane lange an den<br />

Zähnen kleben bleibt. Bei Süssigkeiten<br />

kommt es auf die richtige<br />

«Wir befinden uns<br />

auf gutem Weg»<br />

Der Präventivzahnmediziner<br />

Giorgio Menghini über die<br />

Mundgesundheit in der Schweiz.<br />

Interview: Claudia Füssler<br />

Herr Menghini, wie steht es um die<br />

<strong>Gesundheit</strong> von Kinderzähnen in<br />

der Schweiz?<br />

Insgesamt sehr gut. Das liegt auch daran,<br />

dass wir in der Schweiz ein System<br />

haben, bei dem bereits im Vorschulalter,<br />

vor allem durch Mütterberaterinnen,<br />

und ab dem Kindergartenalter<br />

durch Schulzahnpflege-Instruktorinnen<br />

regelmässig auf die Zahnpflege<br />

der Kinder geachtet wird. Diese umfassende<br />

Aufklärung von Eltern und Kindern<br />

und die Zahnbürstübungen in der<br />

Schule haben einen wichtigen Beitrag<br />

an die Karies reduktion von 90 Prozent<br />

geleistet, die in den letzten 40 Jahren bei<br />

den Volksschülern beobachtet wurde.<br />

Gibt es gar nichts mehr, was Ihnen<br />

Sorgen macht?<br />

Es gibt immer noch Risikogruppen, bei<br />

welchen auch die einfachen Botschaften<br />

der Kariesvorbeugung schwer<br />

ankommen. Wir achten also darauf,<br />

dass die bewährten Vorbeugemassnahmen<br />

möglichst alle Bevölkerungsschichten<br />

erreichen. Doch wir befinden<br />

uns auf einem guten Weg. Dank der<br />

verbesserten Mundhygiene sind auch<br />

schwere Fälle von Gingivitis – also der<br />

Zahnfleischentzündung – aus der<br />

Schule praktisch verschwunden.<br />

Was sind die wichtigsten Faktoren<br />

für die Mundgesundheit?<br />

Als erster das Zähnebürsten, ab dem<br />

Durchbruch des ersten Milchzahns<br />

einmal täglich, spätestens mit zwei<br />

Jahren zweimal täglich. Wir empfehlen<br />

dazu eine fluoridhaltige Kinderzahnpaste,<br />

mit der die Frontzähne zuerst<br />

aussen, dann innen gebürstet werden.<br />

Wichtig sind die Bewegungen: Sie sollten<br />

vertikal sein, also auf und ab. Horizontale,<br />

schrubbende Bewegungen<br />

schaden Zähnen und Zahnfleisch auf<br />

Dauer. Sobald die ersten Milchmolaren<br />

da sind, müssen auch deren Kauflächen<br />

gründlich gebürstet werden.<br />

Ausführliche Zahnpflege-Informationen<br />

auf: www.generation-kariesfrei.ch.<br />

Giorgio Menghini<br />

ist Zahnarzt an der Klinik für<br />

Präventivzahnmedizin, Parodontologie<br />

und Kariologie der Universität Zürich.<br />

32 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Lieber zehn Gummibärchen<br />

auf einmal essen als<br />

unkontrolliert den ganzen<br />

Nachmittag welche naschen.<br />

Dosierung an: «Lieber zehn Gummibärchen<br />

auf einmal als unkontrolliert<br />

den ganzen Nachmittag<br />

über welche essen und den Bakterien<br />

damit immer wieder Substrat<br />

zuführen», sagt Priska Fischer.<br />

Die Zahnärztin empfiehlt für<br />

Kinder, die ein erhöhtes Kariesrisiko<br />

haben, den natürlichen<br />

Zuckerersatzstoff Xylith. Der<br />

schmeckt süss und eignet sich<br />

sowohl als Mundspülung als auch<br />

zum Backen. Da Xylith in zu<br />

hohen Dosen abführend wirken<br />

kann, sollten sich Anwender langsam<br />

an grössere Mengen herantasten.<br />

«Als Spüllösung verwendet,<br />

blockiert Xylith den Bakterienstoffwechsel<br />

und kann so Karies<br />

verhindern», sagt Fischer. Auch<br />

eine Versiegelung kann sinnvoll<br />

sein, so haben Bakterien weniger<br />

Angriffsmöglichkeiten auf der<br />

Kaufläche eines Backenzahns.<br />

Die Strategie mit dem Nachputzen<br />

und den Färbetabletten<br />

sollten Eltern auch bei älteren<br />

Kindern beibehalten – wenn auch<br />

nicht täglich. So können die Kinder<br />

lernen, worauf es beim Zähneputzen<br />

wirklich ankommt. Vor<br />

allem, wenn mit sechs, sieben Jahren<br />

die ersten bleibenden Backenzähne<br />

kommen, stellen Zahnärzte<br />

häufig fest, dass die schnell Karies<br />

bekommen – weil dies in einem<br />

Alter geschieht, in dem die elterliche<br />

Zahnputzkontrolle meist<br />

schon an Strenge verloren hat.<br />

Dabei ist die weit bis ins Teenageralter<br />

hinein gefragt: Jugendliche<br />

sind eine Klientel, die Zahnärzte<br />

mit ihren Appellen kaum<br />

erreichen.<br />

>>><br />

Karies vorbeugen<br />

So schützen Sie die Milchzähne Ihres Kindes vor Karies:<br />

• Regelmässige und sorgfältige Zahn- und Mundhygiene:<br />

zweimal täglich mit fluoridhaltiger Kinderzahnpasta.<br />

• Regelmässige Kontrolluntersuchungen beim Zahnarzt<br />

zweimal im Jahr.<br />

• Zahnfreundliches Essen und Trinken: Produkte, die wenig<br />

Zucker und wenig Säure enthalten. Schlecht für die Zähne<br />

sind Nahrungsmittel, die an den Zähnen kleben – zum<br />

Beispiel Chips, Honig, Bananen oder Trockenfrüchte.<br />

• Zahnfreundliche Süssigkeiten: Ein weisses Zahnmännchen<br />

mit Schirm auf rotem Grund – mit diesem Logo sind<br />

Süsswaren gekennzeichnet, die während und bis 30 Minuten<br />

nach dem Verzehr keinen Säure auslösenden Kariesschub<br />

verursachen.<br />

• Fluoridierung: Fluoride wirken doppelt. Sie hemmen den<br />

Stoffwechsel der Karies auslösenden Bakterien und sie<br />

härten den Zahnschmelz und machen ihn so<br />

widerstands fähiger. Achten Sie auf eine fluoridhaltige<br />

Zahncreme. Vorbeugend kann zudem fluoridiertes<br />

Speisesalz zum Kochen verwendet werden.<br />

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Körper<br />

Kinderaugen,<br />

die alles sehen<br />

Schielen, Schwach- und Kurzsichtigkeit treten bei<br />

Kindern und Jugendlichen jeden Alters auf. Viele<br />

Augenprobleme können mit einer frühen Diagnose und<br />

Therapie erfolgreich behandelt werden. Text: Petra Seeburger<br />

Die orthoptische<br />

Sprechstunde der<br />

Zürcher Augenklinik<br />

ist voll. Die<br />

dreijährige Anna<br />

ist zum Sehtest hier. Ihre Hausärztin<br />

hat bei der Jahreskontrolle festgestellt,<br />

dass sie auf einem Auge<br />

schlechter sieht. In einer Art Kasperlitheater<br />

werden dem Mädchen<br />

Bilder von Äpfeln, Sternen<br />

und Blumen gezeigt. Die Orthoptistin<br />

kontrolliert so die Sehfähigkeit<br />

der Kleinen. Nach ihr kommt<br />

der sechsjährige Max mit der<br />

Augenklappe. Seit etwa einem<br />

Monat trainiert der kleine Pirat<br />

damit sein schielendes Auge.<br />

Dann sitzt noch Frank im Wartezimmer.<br />

Er ist in der zweiten Klasse.<br />

Bei ihm wurde eine Lese-<br />

Schreib-Schwäche festgestellt. In<br />

der Augenklinik wird nun abgeklärt,<br />

ob ein Augenproblem dabei<br />

eine Rolle spielen könnte. Zum<br />

Schluss kommt noch die zehnjährige<br />

Jana, die neu eine Brille hat,<br />

weil sie kurzsichtig ist.<br />

Sehen lernen in der Kindheit<br />

Augenprobleme bei Kindern und<br />

Jugendlichen können vielschichtig<br />

sein und jedes Alter betreffen.<br />

«Stets geht es bei der Behandlung<br />

von Augenerkrankungen in dieser<br />

Altersgruppe darum, das bestmögliche<br />

Sehvermögen zu erhalten<br />

oder wiederzuerlangen», sagt<br />

Professorin Klara Landau, Direktorin<br />

der Augenklinik am Zürcher<br />

Unispital. Schliesslich sei das<br />

Sehen einer unserer wichtigsten<br />

Sinne. Das Sehvermögen entwick-<br />

Bild: Alain Laboile<br />

34 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


le sich aber erst nach der Geburt.<br />

«Zwar sind die Sehnerven und die<br />

Augen schon angelegt, die komplexen<br />

Verbindungen zwischen<br />

den Nervenzellen in der gesamten<br />

Sehbahn vom Auge bis zum Ge ­<br />

hirn müssen sich jedoch erst ausbilden<br />

und reifen», erklärt Landau.<br />

Sehvermögen beobachten<br />

Ein Sehproblem bei Kindern zu<br />

erkennen, ist aber nicht immer<br />

leicht: «Kinder sind keine kleinen<br />

Erwachsenen. Sie melden nicht<br />

von sich aus, wenn sie nicht gut<br />

sehen», sagt Renata Gulik Landolt,<br />

Cheforthoptistin der Zürcher Klinik.<br />

Es sei daher die Aufgabe der<br />

Eltern oder des Umfelds, das Sehvermögen<br />

zu beobachten. Wenn<br />

allerdings nur ein Auge schlechter<br />

sehe, merke das keiner. «Für die<br />

Kinder ist das dann die Norm»,<br />

sagt Renata Gulik Landolt. Sehtests<br />

seien deshalb auch Teil der<br />

regelmässigen Kindervorsorgeuntersuchungen.<br />

«Im Kanton<br />

Zürich gehören sie sogar zu den<br />

schulärztlichen Untersuchungen.»<br />

Wenn Eltern bei ihrem Kind<br />

eine Sehschwäche vermuten, sollte<br />

das umgehend spezialärztlich<br />

untersucht werden. «Viele Augenprobleme<br />

können mit einer frühen<br />

Diagnose und Therapie er ­<br />

folgreich behandelt werden»,<br />

be tont Landau. Sei man hingegen<br />

zu spät, könne dies lebenslange<br />

Auswirkungen haben.<br />

«Faule» Augen<br />

Wird bei einem Kind ein Auge<br />

durch einseitiges Schielen oder<br />

eine ungleiche Brechkraft der<br />

Augen benachteiligt, kann es zu<br />

einer Schwachsichtigkeit kommen.<br />

Bei dieser sogenannten<br />

Amblyopie sieht dieses zurückgesetzte<br />

Auge beschränkt, obwohl es<br />

«organisch» gesund ist. Die Expertinnen<br />

reden auch von einem «lazy<br />

eye».<br />

Die Schwachsichtigkeit entstehe in<br />

der kindlichen Entwicklungsphase<br />

zwischen der Geburt und dem<br />

Primarschulalter und könne auch<br />

in dieser Zeitspanne erfolgreich<br />

behandelt werden, erklärt Klara<br />

Landau. Behandelt wird mit der<br />

sogenannten Okklusionstherapie:<br />

Für eine bestimmte Zeit am Tag<br />

wird das führende Auge mit einem<br />

Augenpflaster abgeklebt. Das Kind<br />

wird so quasi gezwungen, das<br />

schwächere Auge zu benutzen.<br />

Dies sei übrigens eine Behandlung,<br />

deren Wirksamkeit wissenschaftlich<br />

nachgewiesen sei, be ­<br />

tont Landau. David H. Hubel und<br />

Torsten N. Wiesel haben 1981«für<br />

ihre Entdeckungen über die Sehwahrnehmung»<br />

den Medizinnobelpreis<br />

erhalten. Zur Okklusionstherapie<br />

braucht es aber oft<br />

noch eine Brille. Bei richtiger Therapie<br />

erholt sich die Sehkraft wieder.<br />

Nicht auf Achse stehen<br />

Schielen ist ein weiteres und häufiges<br />

Augenproblem von Kindern.<br />

Etwa fünf Prozent aller Kinder<br />

sind betroffen, betont Orthoptistin<br />

Renata Gulik Landolt. Beim Schielen<br />

liege eine Fehlstellung der<br />

Augen vor. «Die zentrale Steuerung<br />

zwischen Augenmuskeln und<br />

Gehirn ist gestört», ergänzt sie. Es<br />

gibt unterschiedliche Formen von<br />

Schielen. So kann ein Kind dauernd<br />

schielen oder nur manchmal,<br />

wenn es müde ist. Wenn das räumliche<br />

Sehen eingeschränkt >>><br />

Welche Symptome können auf<br />

Augenprobleme hinweisen?<br />

• Fehlstellung der Augen (Schielen)<br />

• Schiefhalten des Kopfes<br />

• Häufiges Blinzeln und Zwinkern oder<br />

Augenzittern (Nystagmus)<br />

• Lichtüberempfindlichkeit<br />

• Kopfschmerzen und Brennen der Augen<br />

• Konzentrationsprobleme, Leseschwäche<br />

• Ungeschicklichkeit wie Vorbeigreifen<br />

an Gegenständen oder Schwierigkeiten<br />

mit Zielen und Fangen<br />

Wie entwickelt sich das Sehen?<br />

• Geburt: Neugeborene sehen etwa<br />

20 Zentimeter weit.<br />

• 3. Monat: Kontraste werden<br />

wahrgenommen, Säuglinge können<br />

Menschen und Gegenstände anschauen<br />

und fixieren.<br />

• 4. Monat: Dinge in der Ferne sowie<br />

in der Nähe werden zunehmend<br />

scharf gesehen.<br />

• 6. Monat: Das räumliche und<br />

dreidimensionale Sehen entwickelt sich.<br />

• Erste Lebensjahre: Die Kleinkinder<br />

sehen in Farben.<br />

• 7. Lebensjahr: Sehvermögen<br />

ist komplett ausgebildet.<br />

• 8. bis 9. Lebensjahr: Gesichtsfeld<br />

ist vollständig entwickelt.<br />

Was macht eine Orthoptistin?<br />

Orthoptistinnen und Orthoptisten HF sind<br />

medizinische Fachkräfte und arbeiten im<br />

Auftrag von Augenärzten. Sie untersuchen<br />

oder behandeln Sehstörungen oder<br />

Funktionsstörungen der Augenmuskeln.<br />

Kinder, die meistens drinnen mit<br />

Handy und Computer beschäftigt<br />

sind, werden häufiger kurzsichtig.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>35


Körper<br />

Kontaktlinsen sind für<br />

Jugendliche erst ab dem<br />

14. Lebensjahr zu empfehlen.<br />

>>> ist oder bei einem grossen<br />

und störenden Schielwinkel kann<br />

eine Operation an den Augenmuskeln<br />

durchgeführt werden. Dabei<br />

wird die Schielstellung verbessert<br />

und die Sehachse gestellt. Den Eingriff<br />

übernimmt die obligatorische<br />

Krankenversicherung.<br />

Bei der Lese-Rechtschreib-<br />

Störung – auch Legasthenie ge -<br />

nannt – besteht eine fehlerhafte<br />

Verarbeitung von sprachlichen<br />

Informationen im Gehirn. «Bei<br />

Verdacht auf eine Legasthenie soll<br />

trotzdem immer eine augenärztliche<br />

Untersuchung gemacht werden,<br />

um gute Voraussetzungen für<br />

die visuelle Wahrnehmung von<br />

Texten zu schaffen», erklärt Gulik<br />

Landolt.<br />

Für das Lesenlernen muss ein<br />

Kind Wortbilder korrekt sehen<br />

können. Ist die Diagnose der Legasthenie<br />

gesichert, so empfiehlt<br />

Frau Gulik, dass die weitere Be -<br />

treuung durch geschulte Logopädinnen<br />

und Logopäden erfolgt.<br />

Alternative Massnahmen wie<br />

Prismengläser seien allerdings<br />

wissenschaftlich nicht belegt und<br />

unter Umständen sogar schädlich.<br />

erklärt sie. Kinder, die meistens<br />

drinnen mit Handys und Computern<br />

beschäftigt sind, werden häufiger<br />

kurzsichtig, bedingt durch die<br />

ständige Akkommodation, also<br />

das Zoomen in die Nähe.<br />

Bei Kurzsichtigkeit – auch<br />

Myopie genannt – wächst auch der<br />

Augapfel in die Länge. Betroffene<br />

brauchten dann eine Brille, was<br />

seit den Harry-Potter-Filmen viel<br />

besser akzeptiert sei. Bei Kontaktlinsen<br />

sind beide Expertinnen zu -<br />

rückhaltend: Diese seien wegen<br />

des Hygieneproblems nur bei<br />

wenigen Erkrankungen oder für<br />

<strong>Spezial</strong>fälle etwa ab dem 14. Le -<br />

bensjahr zu empfehlen.<br />

Sonnenbrille nicht vergessen<br />

Gemäss Klara Landau ist in den<br />

Industriestaaten Blindheit bei Kindern<br />

heute sehr selten. «Schwere<br />

Schädigungen der Netzhaut sehen<br />

wir selbst bei sehr kleinen Frühgeborenen<br />

kaum noch», sagt sie.<br />

Allerdings können Infektionskrankheiten<br />

von schwangeren<br />

Müttern bei Kindern Augenprobleme<br />

verursachen, wie beispielsweise<br />

die Toxoplasmose oder neu<br />

das Zika-Virus. Klara Landau<br />

warnt besonders vor Röteln in der<br />

Schwangerschaft: «Diese Erkrankung<br />

kann zu schwersten Augenmissbildungen<br />

beim ungeborenen<br />

Kind führen.» Deshalb sei die<br />

Rötelnimpfung aller jungen Mädchen<br />

dringend empfohlen.<br />

Auf die Frage, ob Augengymnastik<br />

oder eine Extraportion<br />

Rüebli den Augenproblemen vorbeugten,<br />

winkt Renata Gulik Landolt<br />

ab: «Eine spezielle Augengymnastik<br />

ist nicht nötig, denn<br />

die Augen sind ständig in Bewegung<br />

– sogar im Schlaf.» Auch ein<br />

Vitamin-A- Mangel sei in unseren<br />

Breitengraden kein Thema.<br />

Für gesunde Kinderaugen seien<br />

die folgenden Faktoren ausreichend:<br />

abwechslungsreiche Er -<br />

nährung, viel Zeit im Freien verbringen<br />

und die Augen mit einer<br />

Sonnenbrille vor UV-Strahlen<br />

schützen. Die beiden Expertinnen<br />

empfehlen aber, «Sehprobleme<br />

immer ernst zu nehmen und rasch<br />

abklären zu lassen».<br />

>>><br />

Petra Seeburger<br />

ist Intensivpflegefachfrau, Journalistin und<br />

Kommunikationsspezialistin. Sie arbeitet<br />

seit über 30 Jahren im <strong>Gesundheit</strong>swesen.<br />

Kurzsichtigkeit nimmt zu<br />

Immer mehr Kinder und Jugendliche<br />

sind kurzsichtig. «Die Zunahme<br />

ist vor allem im asiatischen<br />

Raum dramatisch», sagt Klara<br />

Landau. Zum einen seien dafür<br />

genetische und zum anderen<br />

Umweltfaktoren verantwortlich.<br />

«Massgeblichen Einfluss hat die<br />

Lichtexposition – also der Aufenthalt<br />

im normalen Tageslicht»,<br />

Ausgewogene Ernährung<br />

und viel Zeit im Freien sorgen<br />

für gesunde Kinderaugen.<br />

36 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

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März <strong>2017</strong>37<br />

Allgemeinen Vertragsbedingungen der Krankenkasse.


Zen in der Kunst<br />

der Kinderernährung<br />

Bei allen guten Ratschlägen und sachlichen Empfehlungen rund um das Thema<br />

Ernährung geht beinahe vergessen, dass Essen auch Genuss und Geborgenheit<br />

bedeutet. Text: Ruth Hoffmann<br />

ten täglich, Tomaten akzeptiert es<br />

allenfalls im Ketchup, kräht nach<br />

Pommes frites, Pizza, Hamburger<br />

und schwört, sterben zu müssen,<br />

wenn es in die Nähe von Brokkoli<br />

käme. So uneins sich Eltern in<br />

vielen Fragen sind, ins grosse Klagelied<br />

über das Essverhalten ihres<br />

Nachwuchses stimmen alle mit<br />

ein. Fast gilt es schon als Tatsache,<br />

dass Kinder beim Essen rundweg<br />

ablehnen, was gut für sie ist.<br />

Und es ist auch oft nicht einfach.<br />

Das Thema birgt durchaus<br />

Konfliktpotenzial und sorgt in<br />

Gemüse, klar, Obst<br />

und Vollkornbrot<br />

sowieso, selbstverständlich<br />

Hülsenfrüchte<br />

und Milchprodukte,<br />

Schokolade nur ab und<br />

zu – wie gesunde Ernährung für<br />

Kinder aussieht, wissen wir ganz<br />

gut. An Empfehlungen mangelt es<br />

ohnehin nicht, und auch nicht am<br />

guten Willen, sie umzusetzen.<br />

Zumindest nicht bei uns. Es könnte<br />

so einfach sein, wäre da nicht<br />

dieser kleine Haken: das Kind.<br />

Partout will es Nudeln, am liebsvielen<br />

Familien regelmässig für<br />

Frust auf beiden Seiten: beim<br />

Kind, weil es sich unverstanden<br />

fühlt, bei den Eltern, weil ihre Versuche,<br />

ihm Gesundes schmackhaft<br />

zu machen, nicht fruchten wollen.<br />

So wird der Esstisch immer wieder<br />

zum Schauplatz grösserer und<br />

Die Inhaltsstoffe eines<br />

Lebensmittels sind Kindern egal.<br />

Hauptsache, es schmeckt.<br />

38 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Körper<br />

kleinerer Scharmützel. Jammerschade<br />

ist das. Und völlig unnötig:<br />

Kein noch so vorbildliches Ernährungskonzept<br />

ist es wert, dass darüber<br />

die Freude am Essen verloren<br />

geht, denn ohne sie wird es sowieso<br />

nichts damit.<br />

Wer möchte, dass der Nachwuchs<br />

freiwillig zu Vollkorn, Früchten<br />

und Gemüse greift, muss selbst<br />

mit gutem Beispiel vorangehen.<br />

Genuss oder Qual der Mahlzeit<br />

Bild: Alain Laboile<br />

«Wir starren viel zu sehr auf Er ­<br />

nährungsempfehlungen und verlieren<br />

dabei den Blick für die Esssituationen.<br />

In denen entscheidet<br />

sich aber, ob eine Mahlzeit als<br />

Genuss oder als Qual empfunden<br />

wird», sagt Ines Heindl. Sie ist Professorin<br />

für Ernährungswissenschaft<br />

und Verbraucherbildung an<br />

der Europa-Universität in Flensburg,<br />

Deutschland, und beschäftigt<br />

sich seit vielen Jahren mit dem<br />

Zusammenhang zwischen Essen<br />

und Kommunikation. Dieser sei<br />

von der Wissenschaft vernachlässigt<br />

worden, kritisiert sie die eigene<br />

Zunft. So befassten sich auch<br />

viele Verbraucher eher mit Nährstoffgehalten<br />

und Lebensmittelpyramiden<br />

als mit Genuss und<br />

Freude am Essen (siehe Interview<br />

auf Seite 40).<br />

Eine angespannte Atmosphäre<br />

bei Tisch, in der gereizt verhandelt<br />

wird, was gegessen werden muss,<br />

ist nicht dazu angetan, das, was<br />

auf dem Teller liegt, mit guten<br />

Gefühlen zu verbinden. Wer mit<br />

sechs Jahren vor einer Portion Spinat<br />

sitzen musste, bis sie aufgegessen<br />

war, wird Spinat höchstwahrscheinlich<br />

auch als Erwachsener<br />

noch meiden. Die Inhaltsstoffe<br />

eines Lebensmittels sind Kindern<br />

ohnehin egal. Hauptsache, es<br />

schmeckt! Ist das nicht auch ein<br />

verständlicher Ansatz?<br />

Mit Appellen ans <strong>Gesundheit</strong>sbewusstsein<br />

kommt man also<br />

nicht weit – sie funktionieren<br />

schon bei Erwachsenen nicht sonderlich<br />

gut. Druck und Zwang<br />

aber sind sogar absolut kontraproduktiv.<br />

Denn Essen ist nun einmal<br />

viel mehr als nur Nahrungsaufnahme.<br />

Es kann trösten und beruhigen;<br />

es verbindet, trennt und<br />

schafft Identität. Mal ist es Heimat,<br />

mal Fremde, mal eklig, mal<br />

köstlich. Es weckt Erinnerungen<br />

und Assoziationen, im Guten wie<br />

im Bösen. Kurz: Es ist emotional.<br />

Natürliche Vorliebe für Süsses<br />

Von Anfang an ist das so. Schon<br />

ein Säugling erlebt das Gestilltwerden<br />

als wärmende Zuwendung.<br />

Die Entspannung durch die langsam<br />

einsetzende Sättigung, die<br />

Nähe zur Mutter, ihre Stimme und<br />

ihr Herzschlag verschmelzen zu<br />

einem Gefühl von Geborgenheit,<br />

das sich untrennbar mit der Süsse<br />

der Muttermilch verbindet. Die<br />

Vorliebe für Süsses ist uns also<br />

angeboren und kein Trick der<br />

Lebensmittelindustrie. Jedes Kind<br />

kommt mit ihr auf die Welt, unabhängig<br />

vom Kulturkreis. Auch in<br />

der Ablehnung bitterer Geschmäcker<br />

sind sich alle Menschenkinder<br />

gleich: ein Schutz der Evolution<br />

vor Giftigem.<br />

Erst mit der Zeit lernt ein Kind,<br />

auch Saures, Salziges und Bitteres<br />

zu mögen. Vorausgesetzt, es be ­<br />

kommt die Chance dazu. Und hier<br />

sind die Eltern gefragt: Kurzfristig<br />

mag es einfacher sein, Kindern<br />

jeden Essenswunsch zu erfüllen.<br />

Auf Dauer tut man ihnen damit<br />

aber keinen Gefallen, da man sie<br />

so der Möglichkeit beraubt, ihre<br />

Sinne zu entwickeln und unterschiedliche<br />

Geschmackserfahrungen<br />

zu machen. Ein Versäumnis,<br />

das später nur schwer nachzuholen<br />

ist. Je breiter und bunter das<br />

Angebot an Nahrungsmitteln ist,<br />

das Kinder und Jugendliche zu<br />

Hause kennenlernen, desto breiter<br />

ist auch das kulinarische Fundament,<br />

auf dem sie stehen, und desto<br />

besser sind sie gegen Mängel<br />

oder Essstörungen gefeit.<br />

Die ersten Weichen werden<br />

schon vor der Geburt gestellt: Forschungen<br />

haben gezeigt, dass Kinder<br />

von Frauen, die sich während<br />

der Schwangerschaft abwechslungsreich<br />

ernährt haben, später<br />

eher bereit sind, sich beim Essen<br />

auf Neues einzulassen, weil sie<br />

über das Fruchtwasser bereits vieles<br />

in Nuancen zu schmecken be ­<br />

kommen haben. Auch Muttermilch<br />

schmeckt jeden Tag ein<br />

wenig anders und trägt so zur Ge ­<br />

schmacksprägung des Babys bei.<br />

Als Kleinkind erforscht es dann<br />

das Universum des Essens mit<br />

derselben Neugier wie den Rest<br />

der Welt.<br />

«Kinder interessieren sich ir ­<br />

gendwann ganz von selbst für das,<br />

was sich Vater und Mutter in den<br />

Mund stecken und ihnen offensichtlich<br />

schmeckt. Man sollte<br />

darum schon früh versuchen, es in<br />

altersgemässer Weise an den ge ­<br />

meinsamen Mahlzeiten teilhaben<br />

zu lassen», rät Ines Heindl. «Kinder<br />

wollen nicht gefüttert werden,<br />

sondern dabei sein und mittun.»<br />

Warum also nicht die Anderthalbjährige<br />

von den Pellkartoffeln mit<br />

Quark und den gekochten >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>39


Körper<br />

Der Geschmack eines<br />

Menschen entwickelt sich<br />

allmählich und in Schüben.<br />

>>> Rüben probieren lassen<br />

oder beim Frühstück von einem<br />

Stück des Käsebrots?<br />

Kinder durchschauen unehrliches<br />

Werben<br />

Wer möchte, dass der Nachwuchs<br />

freiwillig zu Vollkorn, Früchten<br />

und Gemüse greift, muss selbst<br />

mit gutem Beispiel vorangehen.<br />

Je echter und selbstverständlicher,<br />

desto besser. Denn Kinder haben<br />

feine Antennen für Zwischentöne<br />

und doppelte Böden: Wenn der<br />

Vater das Müesli als «gesund und<br />

gut» preist, es aber insgeheim<br />

selbst nicht mag, wird seine Werbung<br />

wenig Erfolg haben.<br />

Wenn Kinder ihre Eltern aber<br />

mit Vergnügen essen sehen, in der<br />

Familie eine undogmatische Vielfalt<br />

auf den Tisch kommt und ge ­<br />

meinsam in entspannter Atmosphäre<br />

gegessen wird, stehen die<br />

Chancen sehr gut, dass sie sich<br />

eines Tages davon anstecken lassen<br />

und ebenfalls zu Paprika, Gurke<br />

und Birne greifen. «Das Vorbild<br />

der Eltern hat eine starke Wirkung,<br />

auf die man sich getrost<br />

verlassen kann», sagt Ines Heindl.<br />

«Entscheidend ist, dass der ‹soziale<br />

Raum des Essens› von allen als<br />

etwas Schönes empfunden wird<br />

und sich mit positiven Erlebnissen<br />

anreichern kann.»<br />

Was aber, wenn sich das Töchterchen<br />

strikt weigert, Neues zu<br />

probieren? Tatsächlich sind Kinder<br />

dickfellige Gewohnheitstiere<br />

und haben meist kein Problem<br />

damit, jeden Tag dasselbe zu<br />

essen. Das heisst aber nicht, dass<br />

Eltern sich dem dauerhaft ergeben<br />

müssen. Der Geschmack eines<br />

Menschen entwickelt sich allmählich<br />

und in Schüben: Phasen einseitiger<br />

Vorlieben und vermeintlicher<br />

Rückschritte sind normal<br />

und kein Grund zur Sorge. «Wenn<br />

die Eltern kein Problem daraus<br />

machen, gelassen weiterhin Un ­<br />

terschiedliches anbieten und das<br />

Kind wählen lassen, wird sich sein<br />

Spektrum früher oder später wieder<br />

erweitern», beruhigt Heindl.<br />

Dranbleiben und sich nicht<br />

verunsichern lassen, lautet also<br />

die Zauberformel. Und im Kopf<br />

be halten, dass es meist mehrere<br />

An läufe braucht, bis ein unbekanntes<br />

Lebensmittel akzeptiert<br />

wird, die erste Reaktion also nicht<br />

das letzte Wort sein muss. Zwei<br />

Wochen später, in neuem Kontext<br />

oder anders zubereitet, kann das<br />

Urteil ganz anders ausfallen.<br />

Will man also Kindern beibringen,<br />

sich gesund und ab ­<br />

wechslungsreich zu ernähren, tut<br />

man gut daran, sich in Vertrauen<br />

und Gelassenheit zu üben, Haltungen,<br />

die ohnehin – auch für<br />

einen selbst – ausgesprochen<br />

nützlich und heilsam sind.<br />

Ruth Hoffmann<br />

>>><br />

kocht leidenschaftlich gerne und schreibt<br />

seit vielen Jahren über Ernährung. Die<br />

Mutter zweier Kinder weiss, wie schwierig<br />

Gelassenheit in gewissen Esssituationen<br />

ist. Ruth Hoffmann lebt in Hamburg.<br />

«Bei Kindern siegt<br />

immer die Neugier»<br />

Die Ernährungswissenschaftlerin<br />

Ines Heindl über die Botschaften,<br />

die sich hinter dem Essen<br />

verstecken. Interview: Ruth Hoffmann<br />

Frau Heindl, warum empfinden es<br />

viele Eltern als so schwierig, ihre Kinder<br />

zu gesundem Essen zu erziehen?<br />

Nach meiner Erfahrung in der Beratung<br />

und aus Befragungen stehen zu oft Ge -<br />

sundheitsbotschaften im Vordergrund. Je<br />

jünger die Leute sind, desto mehr. Genuss,<br />

Freude und die Lust am Ausprobieren verschwinden<br />

dahinter regelrecht. Daran ist<br />

die Ernährungswissenschaft nicht un -<br />

schuldig. Sie konzentriert sich in der Vermittlung<br />

zu sehr auf Empfehlungen zur<br />

Nährstoffzufuhr und hat den Zusammenhang<br />

zwischen Essen und Kommunikation<br />

aus dem Blick verloren. Aber Essen<br />

ist immer auch Kommunikation!<br />

Das müssen Sie erklären.<br />

Meistens liegt der Fokus auf dem, was<br />

gegessen wird oder gegessen werden sollte,<br />

aber nicht darauf, wie es gegessen wird:<br />

Wie sieht die konkrete Esssituation aus?<br />

In welcher Atmosphäre wird gegessen?<br />

Welche Personen sind dabei und wie verhalten<br />

sie sich? Der Esstisch kann ein Ort<br />

der Entspannung sein, an dem sich alle<br />

gern versammeln, oder ein Schauplatz<br />

von Pflichtveranstaltungen, die man so<br />

schnell wie möglich hinter sich bringen<br />

möchte. Mit dem, was und wie wir essen,<br />

senden wir Botschaften aus über uns<br />

selbst und unser Verhältnis zu den anderen,<br />

auch wenn uns das nicht bewusst ist.<br />

Wenn sich ein Kind weigert, etwas anderes<br />

zu essen als Nudeln mit Zucker, ist darum<br />

auch das ein Mittel der Kommunikation.<br />

Aber wie soll man als Eltern damit<br />

umgehen?<br />

Man sollte sich fragen, wer hier eigentlich<br />

wen erzieht. In anderen Zusammenhän-<br />

40 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


gen, im Kindergarten etwa oder wenn sie<br />

bei Freunden zu Besuch sind, verhalten<br />

sich Kinder meistens ganz anders und<br />

essen anstandslos, was dort auf den Tisch<br />

kommt. Einfach weil sie wissen, dass es<br />

da nicht verhandelbar ist.<br />

Also geht es gar nicht unbedingt um<br />

eine Vorliebe oder Abneigung.<br />

Genau. Das jeweilige Essen ist oft nur ein<br />

Vehikel, über das ganz andere Dinge verhandelt<br />

werden. Ein anderes gutes Beispiel<br />

ist die «Quengelmeile» mit Süssigkeiten<br />

vor der Supermarktkasse, die ganz<br />

bewusst dort platziert werden, weil viele<br />

Eltern die Wut ihrer Kinder nicht aushalten<br />

und dann lieber nachgeben. Vordergründig<br />

geht es um Süssigkeiten, die jedes<br />

Kind gern isst. Darunter läuft aber noch<br />

ein anderes Thema, nämlich: Wer hat hier<br />

das Sagen? Eltern müssen sich erst einmal<br />

selbst darüber klar werden, welche<br />

Linie sie fahren wollen. Wenn sie diese in<br />

aller Ruhe und konsequent vertreten,<br />

akzeptieren die Kinder sie auch irgendwann.<br />

Von strikten Verboten rate ich allerdings<br />

ab, egal ob es um Bonbons, Chips<br />

oder Hamburger geht – sie machen das<br />

Begehrte nur noch attraktiver.<br />

Fastfood und andere Dickmacher zu<br />

begrenzen, ist das eine. Wie schaffe<br />

ich es aber, mein Kind von Obst und<br />

Gemüse zu überzeugen?<br />

Indem Sie es selbst gern essen und zubereiten,<br />

und zwar ganz normal und selbstverständlich,<br />

ohne mahnende Appelle und<br />

<strong>Gesundheit</strong>sbotschaften. Mit das Erste,<br />

was ein Kind lernt, ist ja das Essen. Es<br />

kommt zwar mit einer Vorliebe für Süsses<br />

auf die Welt, lernt dann aber in der sozialen<br />

Gemeinschaft auch andere Geschmäcker<br />

kennen und erweitert so allmählich<br />

seinen kulinarischen Horizont, wobei es<br />

sich das meiste von seiner unmittelbaren<br />

Umgebung abguckt. Früher oder später<br />

will es darum ganz von selbst auch das<br />

probieren, was Vater, Mutter oder ältere<br />

Geschwister sichtlich mögen. Vorbilder<br />

haben eine starke Wirkung. Bei Kindern<br />

siegt immer die Neugier.<br />

Und wenn es trotzdem nicht so recht<br />

funktioniert?<br />

Gelassen bleiben, sich nicht verunsichern<br />

lassen und sich in Geduld üben. Solange<br />

man selbst kein Problem daraus macht,<br />

weiterhin die Vielfalt anbietet und das<br />

Kind wählen lässt, wird sich sein Spektrum<br />

mit der Zeit schon erweitern. Das<br />

Wichtigste ist die entspannte Atmosphäre<br />

bei Tisch. Essen sollte etwas rundum<br />

Erfreuliches sein, das sich mit schönen<br />

Erlebnissen in der Gemeinschaft verbindet<br />

und so positiv aufgeladen wird. Wenn<br />

das gelingt, bekommt man die Kinder<br />

schon. Man darf nur nicht den Fehler<br />

machen, zu erwarten, dass sie sich gleich<br />

beim ersten Mal für ein neues Lebensmittel<br />

begeistern. An unbekannte Geschmäcker<br />

und Konsistenzen muss man sich<br />

erst gewöhnen. Das ist normal und geht<br />

Erwachsenen auch so. Was bekannt ist<br />

und regelmässig auf den Tisch kommt,<br />

wird hingegen gern gegessen. Es ist eine<br />

Art Training. Tischregeln können dabei<br />

helfen, etwa die, dass alles probiert werden<br />

muss. Oder gemeinsame Familienrituale<br />

– Pizza oder Pfannkuchen am<br />

Wochenende zum Beispiel, für die sich<br />

jeder seinen Lieblingsbelag bzw. seine<br />

Lieblingsfüllung wünschen kann.<br />

Wie geht man mit Teenagern um, die<br />

ständig ihr Gewicht im Auge behalten<br />

oder bestimmte Nahrungsmittel aus<br />

ideologischen Gründen ablehnen?<br />

Das ist nicht leicht. Leider machen heute<br />

viele Jugendliche beim Essen eine Gratwanderung,<br />

besonders Mädchen. Nach<br />

meiner Erfahrung finden die meisten aber<br />

wieder zurück zum normalen Essen. Vor<br />

allem muss man versuchen, mit ihnen im<br />

Gespräch zu bleiben. Zeigen Sie Interesse<br />

an dem, was sie beschäftigt, und erkundigen<br />

Sie sich nach ihren Beweggründen,<br />

statt ihr Verhalten als unsinnig abzutun.<br />

Wenn Mädchen Angst haben, zu dick zu<br />

werden, nützt es wenig, ihnen das ausreden<br />

zu wollen. Besser ist, mit Verständnis<br />

zu reagieren und bis zu einem gewissen<br />

Grad darauf einzugehen, indem man etwa<br />

Gemüsetage für die ganze Familie anbietet.<br />

Man darf den Draht nicht verlieren.<br />

Wann ist wirklich Grund zur Sorge?<br />

Wenn das Essverhalten pathogene Züge<br />

annimmt und sich zur psychogenen Störung<br />

entwickelt. Erste Anzeichen für eine<br />

Essstörung könnten sein, wenn Jugendliche<br />

beispielsweise nach einer zunächst<br />

durchaus sinnvollen Gewichtsreduktion<br />

immer noch weiter abnehmen wollen und<br />

sich bei ihnen keine Zufriedenheit mit<br />

dem neuen Körperbild und dem neuen<br />

Essverhalten einstellt. Man sollte ausserdem<br />

darauf achten, was sie von Gleichaltrigen<br />

erzählen und – ganz wichtig – in<br />

welchen Internetforen sie unterwegs sind.<br />

Andererseits zeichnet sich bei jungen<br />

Leuten im positiven Sinne ein zunehmendes<br />

Bewusstsein fürs Essen und<br />

die Herkunft von Lebensmitteln ab.<br />

Ja, angesichts von Trends wie Clean<br />

Eating, veganer Küche oder dem Hype um<br />

sogenannte Superfoods zeigen viele junge<br />

Leute Interesse an gesunder Ernährung<br />

und lassen sich für Fragen der Nahrungsqualität<br />

gewinnen. Verbindet sich das im<br />

sozialen Raum der Familie oder im Freundeskreis<br />

mit einem Gefühl der Zusammengehörigkeit,<br />

indem man neue Rezepte<br />

oder Zubereitungsarten ausprobiert<br />

und sich darüber austauscht, wird Essen<br />

wieder zum genüsslichen und Gemeinschaft<br />

stiftenden Erlebnis – und das «Problemthema<br />

Ernährung» verliert seine<br />

Macht im Alltag.<br />

Ines Heindl<br />

Professorin, ist Ernährungswissenschaftlerin<br />

an der Europa-Universität Flensburg, Abteilung<br />

Ernährung und Verbraucherbildung.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>41


Interesse zeigen statt mahnen<br />

Burger, Pizza und Eistee: Viele Kinder und Jugendliche mögen das, was Erwachsene zur<br />

Verzweiflung bringt. Die Ernährungsexpertin Marianne Botta kennt Tipps und Tricks, wie<br />

man Fastfood ein bisschen unattraktiver machen kann. Text: Claudia Landolt<br />

Frau Botta, Teenager lieben Fastfood.<br />

Kann man ihnen das abgewöhnen?<br />

Die Frage lautet: Haben sie Junkfood<br />

wirklich gern oder gehen sie<br />

nur zum Schnellimbiss, weil ihre<br />

Kollegen das auch tun? Meiner Er ­<br />

fahrung nach möchten viele<br />

Jugendliche gesund essen, aber das<br />

Geld dazu nicht ausgeben – weil<br />

sie lieber für eine neue Jeans oder<br />

ein Game sparen. Denn ein Salat<br />

kostet selbst beim Fastfood-Marktführer<br />

mehr als ein Burger. Wenn<br />

es am Geld liegt, gibt es eine Möglichkeit,<br />

die bei meinen Kindern<br />

gut funktioniert: Ich gebe ihnen<br />

Essensgeld, damit sie sich gesund<br />

verpflegen – gegen eine Quittung.<br />

So sehe ich, was sie ge gessen<br />

haben. Liegt es eher an der Peergroup,<br />

dann sollte man versuchen,<br />

mit den Kids ins Gespräch zu kommen.<br />

Was bedeutet es dir, mittags<br />

ins Schnellrestaurant zu gehen?<br />

Warum findest du es fein? Können<br />

wir etwas zu Hause tun, um unser<br />

Essen aufzuwerten? Ge rade in der<br />

Pubertät ist es sinnlos, sich wegen<br />

gesundem Essen in die Haare zu<br />

In der Pubertät ist es sinnlos,<br />

sich wegen gesundem Essen<br />

in die Haare zu geraten.<br />

geraten. Gegen Kollegen hat man<br />

keinen Stich. Besser, man holt die<br />

Kinder ins Boot und bezieht sie mit<br />

ein. Was auch funktioniert, ist die<br />

Wissensschiene. Ihnen zu erklären,<br />

was Hamburger, Hotdogs und<br />

Donuts mit ihrem Körper machen<br />

– selbst wenn es «nur» Pickel, Fettröllchen<br />

oder Cellulitis sind. Glauben<br />

Sie mir, kein Teenager möchte<br />

dick sein oder Cellulite haben.<br />

Nach der Schule haben viele Kinder<br />

Hunger. Wie verhindere ich, dass sie<br />

zu Chips und Co. greifen?<br />

Grössere Kinder mögen es, wenn<br />

man ihnen Verantwortung übergibt<br />

und Zusammenhänge aufzeigt,<br />

zum Beispiel indem man<br />

sagt: «Probier doch das mal aus<br />

und schau, wie es dir geht.» Oder<br />

wenn man ihnen erklärt, dass nach<br />

einem Schoggistengeli der Blutzuckerspiegel<br />

sofort wieder absinkt<br />

und sich ein Hungergefühl einstellt.<br />

Sind Kinder allein zu Hause,<br />

essen sie gerne vor dem TV oder<br />

am Handy. Das verhindert aber,<br />

dass sich ein Sättigungsgefühl einstellt.<br />

Am besten ist, man stellt ein<br />

vorbereitetes Znüni oder Zvieri<br />

hin oder in den Kühlschrank. Das<br />

kann auch mit dem Namen des<br />

Kindes angeschrieben sein.<br />

Sie schlagen vor, dass jedes Familienmitglied<br />

drei bis fünf Lebensmittel<br />

abwählen darf, die es nicht<br />

probieren oder essen muss.<br />

Schreiben Sie auch für sich selbst<br />

eine Liste. Sie haben auch das<br />

Recht, nichts zu probieren. Das<br />

ergibt lustige Situationen, wenn<br />

Ihre Kinder Sie dann doch davon<br />

überzeugen möchten, etwas zu<br />

probieren. Dieses Listensystem<br />

funktioniert aber nur, bis Kinder<br />

in die Pubertät kommen. Der Geschmackssinn<br />

wird in den ersten<br />

zehn bis zwölf Lebensjahren trainiert,<br />

danach ist alles spannend,<br />

was die Eltern auf die Palme bringt<br />

– also zickiges Essverhalten. In der<br />

Regel normalisiert sich das später<br />

wieder. Problematisch wird es,<br />

wenn der Teenager jüngere Geschwister<br />

hat. Dessen Verhalten<br />

am Tisch färbt auf die Jüngeren ab:<br />

Macht der grosse Bruder Theater<br />

ums Gemüse, werden es seine Geschwister<br />

auch tun. Bei uns gibt es<br />

folgende Regel: Wenn das grosse<br />

Kind etwas nicht mag oder nicht<br />

essen will, soll das diskret geschehen,<br />

denn es hat eine Vorbildfunktion.<br />

Das klappt gut.<br />

Was, wenn Kinder heimlich naschen?<br />

Sackgeld gibt Kindern die Möglichkeit,<br />

ungeliebtes Essen zu umgehen,<br />

indem sie sich am Kiosk<br />

etwas zum Naschen kaufen und es<br />

dann im Zimmer verstecken.<br />

Dann sollte man darauf bestehen,<br />

dass nur am Tisch gegessen wird.<br />

Grössere Kinder können beispielsweise<br />

Lebensmittel, die sie gern<br />

essen und die man mit ihnen ausgehandelt<br />

hat, in einer Box in der<br />

Küche aufbewahren. So stellt man<br />

sicher, dass sie nicht wahllos<br />

42 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Körper<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

irgendetwas essen. Oder man geht<br />

die Sache offensiv an: Wenn die<br />

Kinder wirklich ganz grosse Lust<br />

auf etwas haben, kann man es<br />

zusammen kaufen und gemeinsam<br />

essen. Selbst wenn es drei<br />

Pack Fasnachtschüechli sind.<br />

Soll man Süsses verbieten?<br />

Verschiedene Studien zeigen, dass<br />

Kinder Lebensmittel, die ihnen<br />

verboten oder vorenthalten wurden,<br />

besonders interessant finden.<br />

Kinder, denen Süssigkeiten verboten<br />

wurden, greifen später lieber,<br />

häufiger und am meisten zu Süssigkeiten.<br />

Besser ist es, man handelt<br />

etwas aus. Etwa: Eine Süssigkeit<br />

pro Tag ist in Ordnung, ein<br />

Mal pro Monat Fastfood auch.<br />

Was, wenn es am Tisch heisst:<br />

«Wäh! Hani nöd gern!»<br />

Dann schöpft man dem Kind<br />

trotzdem von allem, was man gekocht<br />

hat, auf den Teller und lässt<br />

sich auf keinen Machtkampf ein.<br />

Grösseren Kindern kann man erklären,<br />

warum eine solche Aussage<br />

verletzend ist.<br />

Viele Eltern kochen nur noch das,<br />

was ihren Kindern sicher schmeckt.<br />

Ist das falsch?<br />

Damit Kinder nicht zu mäkligen<br />

Essern werden, müssen sie von<br />

Anfang an möglichst vielseitig<br />

essen. Und die Geschmacksnerven<br />

trainieren. Ein Kind muss 10<br />

bis 15 Mal ein neues Lebensmittel<br />

probieren, bis es sich an den neuen<br />

Geschmack gewöhnt hat. Besser<br />

funktioniert die Regel: Wer<br />

kocht, bestimmt, was auf den<br />

Tisch kommt. Bringen Eltern ein<br />

neues Gericht mit Begeisterung<br />

auf den Tisch, wird es eher akzeptiert.<br />

Ausserdem dürfen Kinder<br />

bestimmen, wovon sie wie viel<br />

essen möchten.<br />

Auch ein Thema: Am Tisch sitzen<br />

bleiben, bis alle fertig sind.<br />

Im Restaurant kann es einem Kind<br />

tatsächlich mal langweilig werden.<br />

Da hilft, eine Schachtel mit spannenden<br />

Dingen mitzunehmen, die<br />

das Kind erforschen kann und<br />

womit es wirklich beschäftigt ist.<br />

Diese Schachtel gibt es dann aber<br />

immer nur bei Restaurantbesuchen.<br />

Zu Hause ist es eine Definitionsfrage,<br />

es gibt nicht eine Regel,<br />

die stimmt. Die Erwachsenen sollten<br />

selbst bestimmen, was sie sich<br />

wünschen, und eine Regel festsetzen.<br />

Sicher optimaler ist, zu fragen,<br />

ob man aufstehen darf, statt einfach<br />

den Tisch zu verlassen.<br />

Salz, Fett oder Zucker: Was ist<br />

eigentlich schlimmer?<br />

Bei Jugendlichen sind Fett und<br />

Salz weniger ein Problem, weil sie<br />

in der Regel genügend Sport treiben,<br />

dabei schwitzen und Salz verlieren.<br />

Zudem essen wir heute<br />

generell viel weniger Salz als früher.<br />

Auch Fett ist nicht so schlimm,<br />

da wir weniger Transfettsäuren zu<br />

uns nehmen und Olivenöl und<br />

Rapsöl die ungesunderen Öle wie<br />

Sonnenblumenöl verdrängt haben.<br />

Zucker aber ist ein Pro blem, vor<br />

allem in Kombination mit Weissmehl<br />

oder schnell verwertbaren<br />

Kohlenhydraten – gerade für Kinder<br />

mit wenig Bewegung.<br />

Die Tochter isst plötzlich vegan.<br />

Muss ich mir Sorgen machen?<br />

Fragen wie «Wer bin ich und wie<br />

wirke ich auf andere?» sind bei<br />

Teenagern zentral. Dazu gehört<br />

auch, neue Ernährungstrends auszuprobieren.<br />

Ich empfehle, daraus<br />

keine grosse Sache zu machen.<br />

Wichtig ist: Fehlen Fleisch und<br />

Milchprodukte, mangelt es an Protein<br />

und Eisen – Letzteres ist vor<br />

allem bei Mädchen ein Thema.<br />

Eine Studie mit 16-jährigen Mädchen<br />

hat gezeigt, dass bei Eisenmangel<br />

die Noten um 1 bis 1,5<br />

schlechter sind. Mängel können<br />

sich also negativ auswirken. Das<br />

sollte man thematisieren und gegebenenfalls<br />

mit Vitamin-B­ 12-<br />

Nahrungsergänzungsmitteln supplementieren.<br />

März <strong>2017</strong><br />

Ernähren sich Kinder von<br />

Anfang an vielseitig, werden<br />

sie nicht zu mäkligen Essern.<br />

Diese Lebensmittel machen schön,<br />

schlau und gute Laune<br />

• Für bessere Konzentration: Walnüsse,<br />

Cashewnüsse, Mandeln, Avocado,<br />

Hülsenfrüchte – und viel Wasser<br />

trinken!<br />

• Für bessere Laune: Vanille, Safran,<br />

Chili, Ingwer, Lachs, Hering, Datteln,<br />

Feigen, Beeren<br />

• Für schöne Haut und Haare: Dinkel,<br />

Roggen, Rüebli, Weizenkeime, Linsen<br />

oder Fleisch, Buttermilch, Kiwi,<br />

Meerrettich<br />

Zur Person<br />

Marianne Botta ist Lebensmittelwissenschaftlerin<br />

und Fachlehrerin. Sie<br />

hat sich auf Ernährungswissenschaften<br />

spezialisiert, arbeitet als Fach journalistin<br />

für verschiedene Publikationen und hat<br />

mehrere Bücher geschrieben, unter<br />

anderem über Kinderernährung (www.<br />

mbfit.ch). Sie ist Mutter von 8 Kindern<br />

zwischen 7 und 21 Jahren und kocht und<br />

isst täglich mit ihrer Familie<br />

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Seele<br />

Lasst<br />

die Kinder<br />

spielen!<br />

Experten empfehlen Mädchen und Jungen<br />

die Rückkehr zum freien, unbeobachteten<br />

Spiel in der Natur. Denn Kinder, die viel Zeit<br />

mit Spielen verbringen, lernen später<br />

leichter – und oft auch mehr.<br />

Text: Claudia Landolt Bilder: Alain Laboile<br />

44 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong> März <strong>2017</strong>45


Seele<br />

Unsere Grosseltern verbrachten<br />

75 Prozent ihrer Freizeit<br />

draussen. Bei unseren Kindern<br />

sind es noch 25 Prozent.<br />

Die Maxime des<br />

deutschen Neurobiologen<br />

Gerald<br />

Hüther ist ein<br />

Drei wortsatz im<br />

Imperativ: «Rettet das Spiel!» So<br />

lautet dieser, und es ist auch der<br />

Titel eines Buches, das Hüther<br />

verfasst hat. Ein programmatischer<br />

Titel.<br />

«Spiel ist die Erkundung des<br />

Möglichen, der ganzen Grossartigkeit»,<br />

erklärt Hüther in einem<br />

Interview mit der Sendung<br />

«aspekte» zu seinem Buch. Die<br />

Crux dabei ist: Wir tun es immer<br />

weniger. Erwachsene fast gar<br />

nicht, und Kinder leider auch<br />

nicht.<br />

Natur ist für viele Kinder zu<br />

einer Art Kulisse geworden, die<br />

vom Auto, vom Fahrrad oder vom<br />

Weg aus betrachtet wird. Hüther,<br />

der zusammen mit Co-Autor und<br />

Kinderarzt Herbert Renz-Polster<br />

das Buch «Wie Kinder heute<br />

wachsen» geschrieben hat, beklagt<br />

dies bitterlich. Der Aktionsradius<br />

der Kinder – also der Raum, in<br />

dem sie auf eigene Faust spielen<br />

und entdecken dürfen – ist laut<br />

ihm zwischen 1970 und 1990 auf<br />

ein Neuntel zurückgegangen. «Es<br />

ist anzunehmen, dass inzwischen<br />

weitere Einbussen dazugekommen<br />

sind. Und für viele Kinder<br />

kommt inzwischen auch noch<br />

eine elektronische Leine dazu –<br />

welches Kind ist nicht jederzeit<br />

per Handy für seine Eltern er ­<br />

reichbar?», fragen die Autoren.<br />

Eine fatale Entwicklung, diagnostizieren<br />

sie, denn: «Die Natur<br />

stellt für Kinder einen massgeschneiderten<br />

Entwicklungsraum<br />

dar.» Sie biete den Kindern Reichtum<br />

für ihre Entwicklung, stecke<br />

voller Anreize, die zu den Herausforderungen<br />

des Grosswerdens<br />

passten wie der Schlüssel zum<br />

Schloss. «Spiel ist der Zustand, in<br />

dem der Mensch wirklich frei ist<br />

und jegliche Angst verloren hat.»<br />

Spielen ist Arbeit<br />

Spielen ist eben nicht nur Bildung,<br />

wie es im pädagogischen >>><br />

Das Spiel ist der Zustand,<br />

in dem der Mensch frei ist.<br />

46


Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong> März <strong>2017</strong>47


«Kinder wollen in<br />

die Natur, nicht auf<br />

den Spielplatz»<br />

Die Erziehungswissenschaftlerin<br />

Margrit Stamm erklärt, warum<br />

Kindern eine getaktete<br />

Freizeitgestaltung nicht<br />

zugutekommt.<br />

Interview: Claudia Landolt<br />

Frau Stamm, warum spielen Kinder<br />

immer weniger?<br />

Weil es nicht in unsere Erwachsenenwelt<br />

passt. Das kindliche Spiel ist nicht zielorientiert.<br />

Ausserdem erzeugt das freie<br />

Spiel bei vielen Eltern Angst.<br />

Warum?<br />

Bewegt sich das Kind draussen, befürchten<br />

viele Eltern, dass es sich verletzen<br />

könnte. Oder dreckig wird.<br />

Sie kritisieren Förderkurse. Warum?<br />

Kurse sind nicht grundsätzlich schlecht.<br />

Aber wenn ein Kind nur noch in Kurse<br />

geht, statt draussen zu spielen, ist das<br />

ungünstig.<br />

Sie plädieren fürs Nichtstun?<br />

Langeweile ist ein wichtiges Erziehungsprinzip.<br />

Aber wenn Eltern am Weekend<br />

ihre Kinder plötzlich machen lassen,<br />

steigen noch mehr Gewissensbisse auf.<br />

Nach dem Motto: Mann, bin ich ein Faulpelz,<br />

jetzt einfach auf dem Sofa zu liegen.<br />

Dabei wäre Langeweile etwas, das man<br />

wiederentdecken müsste.<br />

Was ist denn die Zentralkompetenz<br />

eines Kindes?<br />

Es braucht drei Punkte, damit ein Kind<br />

längerfristig erfolgreich ist. Erstens ein<br />

gutes Selbstkonzept. Das heisst, das<br />

Kind empfindet sich selbst als guten<br />

Menschen und hat Vertrauen in sich und<br />

seine Fähigkeiten. Zweitens muss es eine<br />

gewisse Frustrationstoleranz haben, also<br />

in der Lage sein, eine Hürde zu meistern,<br />

ohne aufzugeben oder ohne dass Mami<br />

und Papi zeigen, wie es geht. Drittens:<br />

Neugier. Das ist etwas, das ein Mensch<br />

braucht, um in der Schule erfolgreich,<br />

leistungsbereit und lernmotiviert zu sein.<br />

Warum spielt die Natur eine so<br />

wichtige Rolle?<br />

Die beste frühkindliche Bildung ist die<br />

ganzheitliche Förderung aller Sinne. Da<br />

bietet sich der Wald doch an. Aber das ist<br />

für Eltern anspruchsvoll: Man muss in<br />

den Wald gehen, das Kind wird dreckig,<br />

man muss Angst haben, das Kind esse<br />

etwas Unkontrolliertes. Dabei wissen wir<br />

aus der Forschung, dass Kinder, die viel<br />

mit Dreck in Kontakt kommen, weniger<br />

Ekzeme, Allergien und ADHS haben. Der<br />

Wald als Spielraum passt nicht zu unserer<br />

modernen Lebenskultur.<br />

Wie könnte man das ändern?<br />

In der Schweiz ist man relativ schnell in<br />

einer Gegend, in der sich ein Kind frei<br />

48 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Seele<br />

Das kindliche Spiel gilt<br />

in den Augen vieler<br />

Erwachsener als trivial.<br />

bewegen kann. Man müsste ganz<br />

bewusst solche Inseln suchen und etwa<br />

einmal in der Woche dorthin gehen. Ohne<br />

Ziel! Es gibt eine Studie, in der Kinder<br />

nach ihrem Lieblingsort zum Spielen<br />

befragt wurden. Die Antwort lautete:<br />

Natur! Kinder ziehen sie dem Spielplatz<br />

oder anderen künstlichen Anlagen vor.<br />

Also sollen wir unseren Kindern<br />

sagen: Geht raus?<br />

Ja, genau. Vertrauen entwickeln in sich<br />

selber und in die Welt, das ist zentral.<br />

Margrit Stamm<br />

ist emeritierte Professorin und Direktorin des<br />

Forschungsinstituts Swiss Education in Bern.<br />

Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der<br />

Begabung, der Qualität in der Berufsbildung<br />

und der Förderung von Migrantenkindern.<br />

>>> Standardwerk «Entwicklungspsychologie»<br />

heisst. Spielen<br />

ist viel mehr. «Spielen ist die Arbeit<br />

des Kindes und seine wichtigste<br />

Tätigkeit», sagt Professor André<br />

Frank Zimpel. Der Pädagoge ist<br />

europaweit der Forscher, der die<br />

frühkindliche Entwicklung und<br />

insbesondere das Spiel untersucht<br />

hat.<br />

Für Zimpel ist deshalb klar: Spielen<br />

ist das Beste, was ein Kind tun<br />

kann. «Wenn Kinder einen Stein<br />

wie ein U-Boot auf dem Boden<br />

oder im Wasser fahren oder sich<br />

Blumen wie die Krone einer Prinzessin<br />

aufsetzen, dann bewegen sie<br />

sich in einer Fantasiewelt», so<br />

Zimpel. Diese sei von einer nicht<br />

zu unterschätzenden Wichtigkeit,<br />

so der Experte.<br />

Denn gerade in der Fantasie<br />

lerne ein Kind, seine Einbildungskraft<br />

einzusetzen und zu abstrahieren.<br />

Kinder sähen im Fantasiespiel<br />

von einigen Eigenschaften<br />

ab und höben andere hervor, so<br />

Zimpel.<br />

Genau diese Art der Gehirntätigkeit<br />

ist später die Grundlage<br />

für natur- und geisteswissenschaftliches<br />

Denken. Zimpel<br />

erklärt, dass Kinder sich im Spiel<br />

intuitiv selbst Herausforderungen<br />

suchten, die ihre intellektuelle<br />

Entwicklung vorantrieben, und<br />

dass sie so nahezu alles durch das<br />

Spiel lernten.<br />

Doch heute hat das kindliche<br />

Spiel massiv an Bedeutung verloren.<br />

Es kontrastiert mit Lernen<br />

oder «wird lediglich als Vorstadium<br />

für das eigentliche Arbeiten<br />

bezeichnet», wie die Schweizer<br />

Professorin Margrit Stamm aus<br />

ihren Studien FRANZ («Früher an<br />

die Bildung – erfolgreicher in die<br />

Zukunft?») und PRINZ («Best<br />

Practice in Kitas und Kindergärten»)<br />

weiss. Das Ergebnis der beiden<br />

Studien: Das kindliche >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>49


Seele<br />

Spielen ist die beste<br />

Fördermassnahme, weil<br />

Kinder fast immer<br />

Spass dabei empfinden.<br />

>>> Spiel gilt in den Augen vieler<br />

milien mit Kindern im Kindergartenalter<br />

men laut «Spiegel» allein zum<br />

Erwachsener als «trivial oder<br />

reine Zeitverschwendung». in der Stadt Zürich hat<br />

laut Wohn experte und Pädagoge<br />

Unterricht. 1971 waren es noch 80<br />

Prozent. Der Schulweg, Inbegriff<br />

Marco Hüttenmoser Folgendes des anarchischen Freiraums, auf<br />

Zwei Gründe für den starken gezeigt: Wer in einem Wohnumfeld<br />

aufwächst, das kein unbeglei-<br />

Hausaufgaben abgeschrieben und<br />

dem geträumt wurde, gerauft, die<br />

Rückgang des freien Spiels<br />

Verantwortlich für diese Einschätzung<br />

sind, so Margrit Stamm, zwei<br />

Faktoren. Einerseits die gesellschaftspolitische<br />

Debatte um<br />

Frühförderung: Kindertagesstätten<br />

und Kindergärten werden als<br />

Orte zum Lernen angesehen. Die<br />

Resultate der Pisa-Studie und der<br />

Druck, in einer globalisierten, wissensorientierten<br />

Arbeitswelt er -<br />

folgreich sein zu müssen, haben<br />

bei manchen Eltern einen regelrechten<br />

Förderwahn hervorgebracht.<br />

Laut Margrit Stamm sind viele<br />

tetes Spiel im Freien zulässt, zeigt<br />

im Alter von fünf Jahren deutliche<br />

Defizite in der motorischen und<br />

sozialen Entwicklung.<br />

Eine anschliessend in der Stadt<br />

Zürich durchgeführte repräsentative<br />

Studie und eine Kontrollerhebung<br />

in sieben Landgemeinden<br />

zeigte auf, dass in der Stadt wie auf<br />

dem Land ein Viertel bis ein Drittel<br />

der Kinder bis im Alter von<br />

fünf Jahren die Wohnung und das<br />

Haus nicht unbegleitet verlassen<br />

dürfen.<br />

Der Verlust an Spielkameraden<br />

mit dem ersten Schwarm zögerliche<br />

Kontakte geknüpft wurden, ist<br />

für ganz viele Kinder heute<br />

Geschichte.<br />

Hüther benutzt für diese Entwicklung<br />

drastische Worte: «Es ist<br />

gefährlich, wenn eine ganze Ge -<br />

sellschaft einen Weg geht, auf dem<br />

das Spiel kaum vorkommt oder<br />

verzweckt wird.» Eine vielfältige<br />

und kreative Gesellschaft benötige<br />

genau dieses Spielen: «Erst das<br />

Spiel ermöglich Kreativität, Ideen<br />

und Visionen», sagt Gerald Hüther.<br />

Angebote auf den Markt gekommen,<br />

welche den Eltern weisma-<br />

Zwang, die Kinder dauernd zu für diese Kinder ist gross, und der<br />

Drogenrausch im Hirn<br />

chen wollen, dass man nie früh<br />

genug beginnen könne, dem Kind<br />

«spielerisch» erste Lese-, Mathematik-<br />

und Fremdsprachenkenntnisse<br />

beizubringen. Das habe zur<br />

Folge, dass die Eltern die Wochenprogramme<br />

ihrer Kinder durchtakten<br />

– im Glauben, sie würden<br />

ihrem Kind durch diese «Förderitis»<br />

Gutes tun.<br />

Doch nicht nur die Eltern sind<br />

verantwortlich dafür, dass ihre<br />

Kinder immer weniger spielen.<br />

Auch städtebauliche und architektonische<br />

Situationen sind – als<br />

zweiter Faktor – massgeblich daran<br />

beteiligt. Ein Beispiel: Eine<br />

Intensivuntersuchung bei 20 Fa -<br />

begleiten, führt zu einem massiven<br />

Verlust an Bewegungszeit. Als<br />

wichtigste Ursache bezeichnen<br />

76 Prozent von 1729 Eltern der<br />

Stadt Zürich den Strassenverkehr.<br />

Von 142 Eltern auf dem Land sind<br />

87 Prozent dieser Meinung. «Kinder,<br />

die ohne rechte Bodenhaftung<br />

aufwachsen – Hors-sol-Kinder<br />

sozusagen –, sind das Produkt der<br />

modernen, vom privaten Motorfahrzeugverkehr<br />

dominierten Ge -<br />

sellschaft», sagt Marco Hüttenmoser.<br />

Dieser Verkehr dominiert auch<br />

die letzte erwachsenenfreie Zone:<br />

den Schulweg. Nicht einmal 10<br />

Prozent der Achtjährigen kom-<br />

Wir wären genau dies doch unseren<br />

Kindern schuldig. Denn sie, so<br />

belegen Neurowissenschaftler, blühen<br />

kognitiv auf, wenn sie – ohne<br />

Helm, Matschhose und Rückenpanzer<br />

– unbeaufsichtigt draussen<br />

Der Zwang, Kinder dauernd<br />

zu begleiten, führt zu<br />

einem massiven Verlust an<br />

Bewegunszeit.<br />

50 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


spielen, sie werden umsichtiger<br />

und ihr Mitgefühl steigt, ebenso<br />

wie die Schulleistungen.<br />

Auch sind Wissenschaftler<br />

überzeugt, dass bei Kindern, die<br />

in einem freien Raum spielen, der<br />

von keinem Architekten designt<br />

und von keinem Elternteil aufgeräumt<br />

wurde, die Synapsen im<br />

kindlichen Hirn ins Kraut schiessen<br />

würden. Hüther nennt es den<br />

«Drogenrausch im Hirn».<br />

Erst in der Freiheit gedeihen<br />

die Verknüpfungen im Denkapparat<br />

und vernetzen sich ebenso<br />

vielfältig wie die Bezüge im Ökosystem<br />

der Natur. Und die Kinder<br />

haben Spass dabei. Denn Spass ist<br />

der Schlüssel zum erfolgreichen<br />

und nachhaltigen Lernen. Beides<br />

versorgt das Nervensystem mit<br />

Dopamin, dem Glücksbotenstoff<br />

im Gehirn.<br />

Wer sich an Gelerntes erinnert,<br />

erinnert sich auch immer an die<br />

Emotion beim Lernen. Wurde das<br />

Lernen als lustvoll empfunden,<br />

erinnern wir uns gerne an das<br />

Gelernte. Haben wir unter Angst<br />

einen Stoff auswendig gelernt,<br />

werden wir uns nicht gerne daran<br />

erinnern. Insofern ist Spielen die<br />

beste Fördermassnahme, weil Kinder<br />

fast immer Spass dabei empfinden.<br />

Robert Schmuki, früherer Di ­<br />

rektor von Pro Juventute, sieht es<br />

so: «Kinder der offenen Welt nicht<br />

auszusetzen, stiehlt ihnen körperlich<br />

wie geistig wichtigste Erfahrungen.<br />

Auf Bäume klettern muss<br />

man selbst.»<br />

>>><br />

Dieser Text ist in Fritz+Fränzi,<br />

Ausgabe 8 / August 2016 erschienen.<br />

unikat<br />

«Wenn es um eine natürliche und<br />

gesunde Ernährung geht …»<br />

«… schneiden Schweizer<br />

Äpfel sehr gut ab.»<br />

Anz_Apfel_178x115_de.indd 1 15.12.2016 14:<strong>03</strong>:10


Seele<br />

«Die herrschende Bildungsdoktrin<br />

macht unsere Kinder krank»<br />

In Brasilien ist Augusto Cury ein Superstar und gilt als der Paolo Coelho der Elternberaterzunft.<br />

Seine Bücher werden über 15 Millionen Mal verkauft. Nur hierzulande ist er kaum bekannt.<br />

Ein Porträt. Text: Claudia Landolt<br />

Augusto Cury ist ein<br />

glücklicher Mann.<br />

Der Psychiater und<br />

Schriftsteller lebt in<br />

São Paulo, der<br />

grössten Stadt Brasiliens. Eine Art<br />

New York der Südhalbkugel mit<br />

knapp 12 Millionen Einwohnern.<br />

Geboren in einem Ort, der von<br />

Pferdezucht und Pferdegestüten<br />

geprägt ist. Der heute 58-Jährige<br />

ist Vater von drei erwachsenen<br />

Töchtern, und er ist ein vielbeschäftigter<br />

Mann.<br />

In seinem Instituto Augusto<br />

Cury professionalisiert er die<br />

eigens von ihm entwickelte «Teoria<br />

da Inteligência multifocal»<br />

über die Funk tionalität der Psyche<br />

und der Ge danken und Programme.<br />

Dahinter steckt das Anliegen,<br />

Kinder, die in der wissensorientierten<br />

Multi optionsgesellschaft<br />

Kinder brauchen nicht<br />

nur physische Hygiene,<br />

sondern auch psychische.<br />

Von Spitzensportlern bewundert<br />

Dazu hat er Bücher verfasst. Zu<br />

seinen treuesten Bewunderern ge -<br />

hören Spitzensportler wie Luciana<br />

Diniz (olympische Springreiterin)<br />

oder Ricardo Kaká (ehemaliger<br />

Weltfussballer des Jahres). Sie fühlen<br />

sich von Curys Philosophie<br />

angesprochen, weil er wie kein<br />

anderer auf die Kraft der Emotionen,<br />

des Vertrauens und des Glaubens<br />

an sich selbst baut. Im<br />

Wissensbildung genügt nicht<br />

Und weiter: «Die Gesellschaft<br />

funktioniert nur nach den er -<br />

kenntnistheoretischen Prinzipien<br />

eines Descartes ausgerichtet»,<br />

erklärt er. Ein wichtiges Prinzip<br />

von Descartes ist die Dualität von<br />

Leib und Seele – die Antithese zu<br />

Curys Position. «Genau deshalb<br />

Dezember 2016 wurde der Film werden in den Schulen bril-<br />

>>><br />

aufwachsen, emotional zu stärken<br />

und aus ihnen Menschen mit<br />

einem gesunden Selbstwert werden<br />

zu lassen. Dafür hat er Module<br />

entwickelt, die in den Schulen<br />

Brasiliens seit vielen Jahren angewendet<br />

werden. Diese Theorie<br />

veranschaulicht Cury in seinen<br />

Büchern in literarischer Form.<br />

Damit treibt Cury das an, was<br />

man altmodisch als – wissenschaftlich<br />

erforschte – Herzensbildung<br />

bezeichnen kann. Im Mittelpunkt<br />

seiner Forschungen stehen<br />

die Entwicklung einer höheren<br />

Lebensqualität sowie die Ausprägung<br />

der menschlichen Intelligenz<br />

in Bezug auf die Natur, den Aufbau<br />

und die Dynamik von Emotionen<br />

und Gedanken.<br />

«O vendedor de sonhos» (dt.: Der<br />

Träumhändler) von Jaime Monjardin<br />

in Brasilien uraufgeführt,<br />

laut einem Facebook-Eintrag<br />

Kakás ein «äusserst bewegender<br />

Film», der nicht wenige Zuschauer<br />

zu Tränen gerührt habe.<br />

Augusto Cury ist ein dunkelhaariger<br />

Mann mit Brille, den<br />

man sich gut als Psychiater, versunken<br />

in einem tiefen Ohrensessel,<br />

vorstellen kann. Jemand, dem<br />

man seine Sorgen gern anvertrauen<br />

würde. Seine Stimme ist sonor<br />

und ruhig, er spricht, wie nur ein<br />

in sich selbst ruhender Mann es<br />

tun kann. Sie erhebt sich nur<br />

dann, wenn Kinder das Thema<br />

sind. «Die heutigen Schulen lehren<br />

Kinder alles, aber nicht das,<br />

was sie wirklich brauchen im<br />

Leben: wie sie mit ihren Emotionen<br />

umgehen können», sagt Cury.<br />

Bild: Alain Laboile<br />

52 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong> März <strong>2017</strong>53


Seele<br />

>>> lante Köpfe geformt, die<br />

Seele und ihre Emotionen aber<br />

gänzlich vernachlässigt.» Kinder<br />

wüssten am Ende ihrer Schulzeit<br />

sehr viel über Algebra, Chemie<br />

und Physik, aber nicht, wie sie den<br />

Umgang mit ihren Emotionen<br />

meistern könnten.<br />

«Ein vierjähriges Kind weiss<br />

mehr, als ein römischer Kaiser je<br />

wusste», sagt Cury im Interview,<br />

das wir via Skype führen und bei<br />

dem seine Tochter als Übersetzerin<br />

fungiert. «Kinder brauchen<br />

eine emotionale Impfung», erklärt<br />

er. Ohne ein emotionales Fundament<br />

kann ein Kind nicht kreativ<br />

sein. Nichtstun und Langeweile,<br />

freies Spielen, Musik, Zeichnen,<br />

eigene Sachen konstruieren und<br />

sich mit Hunden umgeben, das<br />

seien Dinge, die für junge Kinder<br />

essenziell seien und die im herrschenden<br />

Bildungs- und Förderwahn<br />

schlicht vergessen würden.<br />

Mentale Blockaden auflösen<br />

Cury will für Kinder eine «mentale<br />

Hygiene in Ergänzung zur körperlichen<br />

Sorgfalt gegenüber dem<br />

eigenen Körper». Eltern und Lehrpersonen<br />

diese mentale Hygiene<br />

zu vermitteln, ist es, was Cury<br />

antreibt. «Viele Eltern glauben,<br />

ihre Kinder hätten eine glückliche<br />

Kindheit, aber ein Aufwachsen<br />

ohne mentale Hygiene ist nicht<br />

möglich.»<br />

Wie sieht mentale Hygie ne aus?<br />

«Das Problem ist, dass Kinder<br />

negative Emotionen oder Gedanken<br />

speichern, schon in sehr jungen<br />

Jahren», führt Cury aus. «Und<br />

ein weiteres Problem ist, dass das<br />

Kinder speichern negative<br />

Erlebnisse in ihrem Gehirn.<br />

Das ist fatal.<br />

Gehirn alle Erlebnisse, die mit<br />

diesen negativen Gedanken verbunden<br />

sind, speichert – mit fatalen<br />

Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung.<br />

Um diese negativen<br />

Gedanken zu löschen, braucht es<br />

ein Management der Gefühle. Das<br />

müssten Eltern wie auch die Schule<br />

vermitteln, und zwar auf der<br />

ganzen Welt!» Gerade auch deshalb,<br />

weil mangelndes Selbstwertgefühl,<br />

Angst und De pressionen<br />

gerade in den Indus trieländern<br />

sehr häufig sind.<br />

«Wir handeln erst, wenn die<br />

Symptome schon akut sind», er -<br />

eifert sich Cury. «Dann schicken<br />

wir unsere Kinder zum Psychologen.<br />

Das ist absurd!» Die Schule<br />

sei ein Ort der Kritik, der Kindern<br />

sage, was sie nicht könnten oder<br />

falsch machten, erzählt Augusto<br />

Cury weiter. Solche Kritik sei<br />

schädlich und könne Kinder nicht<br />

stark machen.<br />

Das bedeute aber nicht, so<br />

Cury, dass man Kinder von allem<br />

Negativen fernhalten müsse. Cury<br />

fordert daher, dass man Kindern<br />

erkläre und vorlebe, wie man mit<br />

externer Kritik umgehen lerne<br />

und neue Perspektiven entwickle.<br />

Ein Ansatz ist: von seinen ureigenen<br />

Ängsten und Verletzungen zu<br />

erzählen – und wie man trotzdem<br />

nicht aufgegeben habe.<br />

Was Kinder zu starken<br />

Menschen macht<br />

Innere Stärke ist nicht in die Wiege gelegt,<br />

sondern kann erworben werden. Resilienz<br />

heisst die Fähigkeit, mit jeglichen<br />

Wider ständen im Leben gelassen umzugehen.<br />

Text: Anja Lang<br />

Widerstandskraft oder Resilienz geht auf das lateinische<br />

«resilire» zurück, was so viel bedeutet wie<br />

«zurückspringen» oder auch «abprallen». Ursprünglich<br />

in der Materialkunde verwendet, bezeichnet<br />

Re silienz die Elastizität oder Spannkraft eines Werkstoffes.<br />

«In der Psychologie spricht man von Resilienz,<br />

wenn sich Personen trotz gravierender Belastungen<br />

oder widriger Lebensumstände psychisch gesund<br />

entwickeln», erklärt Professor Klaus Fröhlich-Gildhoff,<br />

Leiter des Zentrums für Kinder- und Jugendforschung<br />

(ZfKJ) an der Evangelischen Hochschule Freiburg.<br />

Resilienz gilt als eine Art Immunsystem der Psyche.<br />

Ähnlich wie das körperliche Immunsystem ist auch sie<br />

nicht angeboren. «Sie wird viel mehr durch Erfahrung<br />

und Interaktion mit der Umwelt erlernt und trainiert,<br />

aber auch erstickt oder vergessen», weiss Fröhlich-<br />

Gildhoff. Durch neue re Studien weiss man, dass es<br />

Faktoren gibt, die Resi lienz bei Kindern fördern.<br />

Ein besonders wichtiger Baustein für die Entwicklung<br />

von Resilienz ist die liebevolle und wertschätzen-<br />

54 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


«Erfahren Kinder, dass auch ihre<br />

Eltern Hindernisse kennen, die sie<br />

zweifeln liessen, lernen sie, dass<br />

diese überwunden werden können,<br />

denn sie sehen ihre Eltern ja<br />

als stark und unbesiegbar.» Unsere<br />

Kinder, so schliesst Cury ab,<br />

würden in ihrem weiteren Leben<br />

noch grossen Frustrationen begegnen.<br />

«Vielleicht finden sie keine<br />

Arbeit, hungern oder erleiden<br />

Schicksalsschläge. Wir müssen sie<br />

darauf vorbereiten, dass auch<br />

Wohlstand und <strong>Gesundheit</strong> nicht<br />

selbstverständlich sind, dass das<br />

Leben trotzdem immer lebenswert<br />

und schön ist.»<br />

>>><br />

Zur Person<br />

Augusto Jorge Cury, geboren 1958, ist<br />

ein brasilianischer Arzt, Physiotherapeut,<br />

Psychiater und Schriftsteller. Er ist der<br />

Begründer der «Teoria da Inteligência<br />

Multifocal» und Autor mehrerer Bücher<br />

über bessere Lebensqualität und Selbsthilfe.<br />

www.grupoaugustocury.com.br<br />

Kritik, wie wir sie in der<br />

Schule betreiben, ist schädlich<br />

und macht Kinder nicht stark.<br />

de Beziehung zu mindestens einem Menschen. «Diese<br />

Person muss nicht zwingend der eigene Vater oder<br />

die Mutter sein», betont Experte Fröhlich-Gildhoff.<br />

«Auch Geschwister, Grosseltern, Nachbarn oder Lehrer<br />

können diese Rolle einnehmen.»<br />

Pippi Langstrumpf ist ein Paradebeispiel<br />

für Resilienz<br />

Die zweite tragende Säule zur Entwicklung von Resilienz<br />

sind bestimmte Schutzfaktoren. Das Beispiel der<br />

Kinderbuchheldin Pippi Langstrumpf zeigt anschaulich,<br />

worauf es hier ankommt. Objektiv betrachtet,<br />

wächst Pippi ja unter denkbar ungünstigen Bedingungen<br />

auf: Die Mutter ist tot und der Vater ständig auf<br />

Reisen. Trotzdem meistert Pippi ihr Leben hervorragend.<br />

«Denn Pippi Langstrumpf verfügt über wichtige<br />

Resilienzfaktoren, wie eine positive Lebenseinstellung,<br />

soziale Kompetenzen und vor allem Selbstwirksamkeitsüberzeugung»,<br />

betont der Resilienzexperte. «Faktoren,<br />

die die Forschung als besonders schützend für<br />

die kindliche Psyche identifiziert hat.»<br />

So fördern Eltern die psychische<br />

Widerstandskraft ihres Kindes<br />

Eltern sind in den ersten Jahren meist die wichtigsten<br />

Bezugspersonen im Leben ihres Kindes. Deshalb können<br />

sie die psychische Widerstandskraft ihres Kindes<br />

besonders gut fördern. «Das tun Eltern am besten,<br />

indem sie präsent sind und ihrem Kind aktiv zuhören,<br />

indem sie die Bedürfnisse ihres Kindes ernst nehmen<br />

und soziale Kompetenzen im Alltag beispielhaft vorleben»,<br />

appelliert Fröhlich-Gildhoff. «Lassen Sie Ihr<br />

Kind so oft wie möglich altersgerechte Erfahrungen<br />

selbst machen, aber überfordern Sie es dabei auch<br />

nicht.» So lernen Kinder schon früh, ihren Fähigkeiten<br />

zu vertrauen und sich auch in schwierigen Lebensphasen<br />

erfolgreich zu behaupten.<br />

Diese 6 Resilienzfaktoren machen Kinder stark<br />

• Positive Selbstwahrnehmung<br />

• Gefühle allein steuern (Selbststeuerungsfähigkeit)<br />

• Selbstwirksamkeitsüberzeugung (eigene Stärken<br />

kennen sowie Erfolge auf ihr Handeln beziehen und<br />

Strategien daraus ableiten)<br />

• Soziale Kompetenzen (auf Menschen zugehen,<br />

Kontakt aufnehmen, einfühlsam sein, Konflikte<br />

lösen)<br />

• Angemessener Umgang mit Stress<br />

• Problemlösekompetenz<br />

Anja Lang<br />

ist langjährige Medizinjournalistin. Sie ist<br />

Mutter von drei Kindern und lebt in der<br />

Nähe von München.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>55


Seele<br />

Krank oder null Bock?<br />

Die Pubertät ist eine Zeit der Veränderung. Psychische Erkrankungen wie Depressionen<br />

treten gehäuft auf. Eltern sollten jetzt auf erste Anzeichen achten. Text: Constanze Löffler<br />

56 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Bild: Alain Laboile<br />

Ungefähr ein Kind pro<br />

Klasse leidet an einer<br />

behandlungsbedürftigen<br />

Depression.<br />

Leere und Trauer kennt<br />

der 16-jährige Jakob,<br />

seitdem er von der Primar-<br />

in die Sekundarstufe<br />

wechselte. Um sie<br />

zu vertreiben, fängt er an zu kiffen.<br />

Später erscheint der Junge<br />

wiederholt angetrunken zum<br />

Unterricht. Als ihn ein Vertrauenslehrer<br />

darauf anspricht, streitet<br />

Jakob die Trunkenheit erst ab und<br />

fängt dann an zu weinen. Sein<br />

Leben sei völlig verkorkst und<br />

hoffnungslos. Er wisse überhaupt<br />

nicht, wie es nach der Schule weitergehen<br />

solle. Und ja, er denke<br />

darüber nach, sich das Leben zu<br />

nehmen. Der Lehrer ruft umgehend<br />

Alain Di Gallo an. Der<br />

Direktor der Klinik für Kinderund<br />

Jugendpsychiatrie Basel ist<br />

alarmiert. «Ich bestellte Jakob und<br />

seine Mutter noch am gleichen<br />

Abend in die Klinik», erinnert er<br />

sich. Dort erzählt der Junge, dass<br />

seine Eltern seit fünf Jahren<br />

getrennt seien. Seine Mutter<br />

erklärt, sie habe unter dem unerwarteten<br />

Fortgang ihres Mannes<br />

sehr gelitten und sei kaum noch<br />

für ihren Sohn da gewesen. Jakob<br />

ist überzeugt, auch seine Freunde<br />

würden ihn nicht mehr mögen.<br />

Immer mehr hat er sich zurückgezogen<br />

und ins Comic-Zeichnen<br />

vertieft. Für den Psychiater deutet<br />

alles auf eine Depression hin.<br />

Geschichten wie die von Jakob<br />

gibt es viele. In der Schweizer<br />

SMASH-Studie aus dem Jahr 2002<br />

gaben 35 Prozent der Mädchen<br />

und knapp 20 Prozent der befragten<br />

Jungen an, sie seien häufiger<br />

traurig und deprimiert. «Eine<br />

behandlungsbedürftige Depression<br />

hat am Ende nur ein Bruchteil<br />

von ihnen», beruhigt Experte<br />

Di Gallo. Rund drei Prozent der<br />

Kinder und fünf Prozent der<br />

Jugendlichen, also etwa eine Person<br />

pro Klasse, leiden daran. Das<br />

Fatale: Häufig bleiben die Symptome<br />

unerkannt – insbesondere,<br />

wenn sie mit dem Eintritt in die<br />

Pubertät zusammentreffen. Eltern<br />

fällt es dann schwer, zu erkennen,<br />

ob der Sprössling die Zimmertür<br />

ab-schliesst, weil er sich – wie in<br />

diesem Alter völlig gesund – von<br />

ihnen abgrenzt oder weil er ernsthaft<br />

krank ist.<br />

Stimmungsschwankungen<br />

«Gelegentliche Nullbockstimmung<br />

und ein schwankendes<br />

Selbstwertgefühl während der<br />

Pubertät sind völlig normal»,<br />

meint auch Di Gallo. Gleichzeitig<br />

sei diese Lebensphase eine Zeit, in<br />

der sich gehäuft psychische Störungen<br />

entwickelten. «Negative<br />

Gedanken über die eigene Person»,<br />

so Di Gallo, «können ein<br />

Baustein für die Entstehung von<br />

Depressionen sein.» Eine Untersuchung<br />

der Universität Zürich hat<br />

gezeigt, dass Pubertierende besonders<br />

rasch auf negatives Feedback<br />

reagieren. Das könnte erklären,<br />

warum sich Jugendliche alles so<br />

sehr zu Herzen nehmen.<br />

Während der Pubertät fallen<br />

solche negativen Empfindungen<br />

auf besonders fruchtbaren Boden.<br />

Jetzt gleicht das Gehirn einer<br />

Grossbaustelle: Unwichtige Nervenverbindungen<br />

werden gekappt,<br />

wichtige ausgebaut. Nicht alle<br />

Hirnanteile entwickeln sich dabei<br />

gleich schnell. Das limbische System<br />

und die Amygdala – beides<br />

Hirnstrukturen, die Belohnung<br />

und Emotionen verschlüsseln –<br />

gedeihen schneller als das Stirnhirn.<br />

Das wiederum hat eine kontrollierende<br />

Funktion, mahnt also<br />

zur Ordnung und erinnert an<br />

Regeln.<br />

Die Suche nach dem Kick<br />

Dieses Ungleichgewicht macht<br />

Heranwachsende anfällig für riskantes<br />

Verhalten. Jugendliche<br />

rasen mit dem Mofa umher, probieren<br />

Drogen, betrinken sich und<br />

wechseln ihre Geschlechtspartner<br />

– immer auf der Suche nach dem<br />

ultimativen Kick. «Die Schwelle,<br />

bei der ein Reiz das Gefühl >>><br />

Wenn das Leben keinen Sinn mehr macht<br />

2014 nahmen sich laut Bundesamt für Statistik<br />

31 Jugendliche zwischen 10 und 19 Jahren das<br />

Leben. «Diese Zahl muss uns zu denken geben»,<br />

sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Alain<br />

Di Gallo. Nach Unfällen sind Selbsttötungen<br />

hierzulande die häufigste Todesursache bei<br />

Jugendlichen. Die Zahl der Suizidversuche<br />

schätzen Fachleute noch einmal 100-fach höher.<br />

Depressionen sind der stärkste Risikofaktor<br />

für einen Suizid: Betroffene Buben und Mädchen<br />

hegen oft Selbstmordgedanken. Als Gründe<br />

nennen sie Gefühle wie Einsamkeit und sich<br />

nicht geliebt fühlen, Wut, Ärger und<br />

Enttäuschungen. «Suizidalität muss mit<br />

depressiven Jugendlichen offen angesprochen<br />

werden. Falls notwendig, werden konkrete<br />

Hilfsmassnahmen verbindlich festgelegt», so<br />

Di Gallo. Dazu gehöre der Besuch bei einem<br />

<strong>Spezial</strong>isten und auch, zu Hause Waffen und<br />

Medikamente unzugänglich zu machen.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>57


Seele<br />

>>> von Belohnung verschafft,<br />

liegt in der Jugend höher als im<br />

Erwachsenenalter», führt der<br />

55-jährige Experte aus. «Die Adoleszenz<br />

ist wie ein Auto mit vielen<br />

PS, das die Jugendlichen zwar starten,<br />

aber noch nicht sicher lenken<br />

können.»<br />

Veranlagung spielt eine Rolle<br />

Für Jungen sind Entwicklungen<br />

wie die von Jakob typisch. Sie verstossen<br />

gegen Regeln in der Schule<br />

und Öffentlichkeit, riskieren<br />

mehr beim Sport oder im Strassenverkehr.<br />

Mädchen hingegen<br />

verletzen sich eher selbst und neigen<br />

zu Essstörungen. Psychiater<br />

und Psychologen haben die Kriterien<br />

für eine Depression klar<br />

umrissen. «Wenn Heranwachsende<br />

sich mindestens zwei Wochen<br />

am Stück von Freunden, Schule,<br />

Familie zurückziehen, ihre Freizeitaktivitäten<br />

vernachlässigen<br />

und ungewohnt bedrückt sind,<br />

muss man von einer depressiven<br />

Phase ausgehen», so Experte Di<br />

Gallo. Anders als Gleichaltrige<br />

kämen sie dann nicht mehr aus<br />

dem Bett, verweigerten die Schule<br />

und brächen den Kontakt mit<br />

Freunden ab.<br />

Dennoch ist die Diagnose nicht<br />

immer einfach: «Es gibt keine eindeutigen<br />

Laborwerte oder Anzeichen<br />

des Gehirns im Kernspin»,<br />

erklärt Klinikdirektor Di Gallo.<br />

Eine Depression wird in erster<br />

Linie anhand der Symptome diagnostiziert.<br />

Ausschlaggebend sei<br />

Experten zufolge können<br />

Erlebnisse im Kleinkindalter<br />

depressive Krisen in<br />

der Adoleszenz auslösen.<br />

neben der Schwere der Symptomatik<br />

vor allem der Zeitfaktor:<br />

Das Gefühl der Leere geht einfach<br />

nicht mehr weg.<br />

Doch warum erkranken manche<br />

Kinder und warum überstehen<br />

andere diese labile Phase völlig<br />

unbeschadet? Untersuchungen<br />

zeigen, dass Kinder, die in schwierigen<br />

sozialen Bedingungen aufwachsen,<br />

gefährdeter sind für psychische<br />

Krankheiten. Auch eine<br />

genetische Veranlagung spielt eine<br />

Rolle. Ist ein Elternteil depressiv,<br />

erhöht sich das Risiko des Kindes,<br />

zu erkranken, auf 20 Prozent, sind<br />

beide Eltern betroffen, auf 50 Prozent.<br />

«Die genetische Veranlagung<br />

ist aber nicht allein für die<br />

Entwicklung von Depressionen<br />

verantwortlich», stellt Di Gallo<br />

klar. Zu den inneren Faktoren<br />

müssen äussere kommen. Einer<br />

der häufigsten Gründe ist die<br />

Trennung der Eltern. In einer Zeit,<br />

in der die Gefühle Achterbahn<br />

fahren, sind stabile Beziehungen<br />

eben besonders wichtig. Auch<br />

Jakob hätte seinen Vater gebraucht<br />

– um sich mit ihm als Pubertierender<br />

auseinanderzusetzen und<br />

um sich mit ihm als Mann zu<br />

identifizieren.<br />

Mittlerweile verstehen Forscher<br />

auch immer besser, dass<br />

schon Erlebnisse im Säuglingsund<br />

Kleinkindesalter depressive<br />

Krisen in der Adoleszenz auslösen<br />

können. «Traumatische Trennungen<br />

oder Vernachlässigung in der<br />

frühen Kindheit können nachhal-<br />

tige Auswirkungen auf die Entwicklung<br />

haben», bestätigt Di<br />

Gallo. Mitunter reichen die Auslöser<br />

sogar noch weiter zurück.<br />

Schon während der Schwangerschaft<br />

stehen Föten über die Plazenta<br />

unter dem Einfluss mütterlicher<br />

Stresshormone wie Cortisol.<br />

Pränataler Stress hebt beim Ungeborenen<br />

den Stresshormonspiegel<br />

dauerhaft an und beschleunigt die<br />

Hirnreifung, fanden Neurologen<br />

der Uniklinik Jena heraus. Stress<br />

während der Schwangerschaft gilt<br />

deshalb als ein Risikofaktor für<br />

eine spätere Depression.<br />

Sind Jugendliche denn heute<br />

depressiver als noch vor zehn oder<br />

zwanzig Jahren? Experte Di Gallo<br />

«Eltern verkennen<br />

ihre Rolle»<br />

Wenn das Kind sich in der Pubertät<br />

in sich zurückzieht, dürfen Eltern<br />

nicht lockerlassen.<br />

Interview: Constanze Löffler<br />

Frau Walitza, wie deutet sich eine psychische<br />

Krise bei Pubertierenden an?<br />

Eltern sollten bei neu auftretenden Symptomen<br />

hellhörig werden. Vielleicht ist ihr<br />

Kind öfter schlecht gelaunt und gereizt<br />

oder ungewohnt ernsthaft und traurig.<br />

Vielleicht hört es auf, sich am Nachmittag<br />

oder Wochenende mit den Kollegen zu<br />

treffen. Oder es sackt in der Schule ab,<br />

bringt schlechte Noten heim oder verweigert<br />

die Schule ganz.<br />

Wie sollten Eltern reagieren?<br />

Solche Symptome treten auch im Laufe<br />

einer normalen pubertären Entwicklung<br />

auf. Eltern kennen ihre Kinder am besten.<br />

Wenn sie spüren, dass etwas nicht<br />

stimmt, sollten sie dem nachgehen und<br />

mit dem Nachwuchs reden. Ein offenes<br />

58 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


ist skeptisch. Heute stünden De ­<br />

pressionen mehr im Blickpunkt,<br />

seien gesellschaftsfähiger geworden<br />

und würden deshalb häufiger<br />

diagnostiziert, meint der Kinderpsychiater.<br />

«Die Zeiten sind nicht<br />

schlimmer als früher, aber die<br />

Herausforderungen an die Jugend<br />

haben sich verändert.» So seien<br />

die meisten Kinder und Jugendlichen<br />

zwar leistungswillig. Manche<br />

hätten jedoch Mühe, ihren<br />

eigenen Ansprüchen ge recht zu<br />

werden, und fühlten sich davon<br />

gestresst.<br />

Auch Mobbing ist ein<br />

Risikofaktor für eine Depression.<br />

Problem Smartphone<br />

Eine Mitschuld tragen auch die<br />

neuen Medien. Beispiel Cybermobbing:<br />

Früher wurde hinter<br />

vorgehaltener Hand getuschelt.<br />

Heute verbreiten sich Beleidigungen<br />

und Gerüchte anonym und<br />

rasend schnell im Netz. Rund fünf<br />

Prozent aller minderjährigen<br />

Schweizer machen die Erfahrung,<br />

schwer gemobbt zu werden – ein<br />

häufiger Risikofaktor für eine<br />

Depression.<br />

Auch das ständige Spielen am<br />

Handy verändert das So ­ >>><br />

Gespräch klärt schnell, ob sie beruhigt<br />

sein können oder eingreifen müssen.<br />

Was, wenn es eine Krise ist?<br />

Eine Pubertät ohne Krisen gibt es nicht!<br />

Manche Krisen sind kleiner, andere grösser:<br />

Liebeskummer, Schule schwänzen,<br />

Erfahrungen mit illegalen Substanzen bis<br />

hin zu kleineren Verkehrsdelikten. Die<br />

meisten Krisen gehen vorüber. Wenn<br />

Eltern allein nicht mehr weiterkommen,<br />

gibt es Hilfe: bei der Elternberatung von<br />

Pro Juventute, bei kantonalen Familienund<br />

Erziehungsberatungen oder dem<br />

Notfalldienst der kinder- und jugendpsychiatrischen<br />

Kliniken.<br />

Wer sind die richtigen Ansprechpartner<br />

bei einer möglichen Depression?<br />

Wichtig ist vor allem, dass Eltern, Lehrer<br />

und Freunde rasch handeln. Haben Eltern<br />

den Verdacht, dass Sohn oder Tochter<br />

depressiv ist, sollten sie sich zunächst an<br />

den Kinderarzt wenden. Geht es dem<br />

Nachwuchs nicht bald besser, vereinbaren<br />

sie einen Termin bei einem Kinderund<br />

Jugendpsychiater oder bei einem auf<br />

diese Altersgruppe spezialisierten Psychologen.<br />

Reden die Kinder von Suizid,<br />

sollten sie mit ihrem Kind sofort einen<br />

Fachmann aufsuchen. Jugendliche,<br />

denen es schlecht geht, vertrauen sich<br />

übrigens häufig Gleichaltrigen an und<br />

bitten sie, das Erzählte für sich zu behalten.<br />

Das stürzt die Vertrauensperson in<br />

Konflikte. Auch hier helfen die Berater<br />

von anonymen Sorgentelefonen weiter.<br />

Eine Depression ist sehr ernst zu nehmen<br />

und darf nicht bagatellisiert werden.<br />

Wie beugen Eltern Krisen vor?<br />

Eltern sollten mit ihren Kindern im<br />

Gespräch bleiben, indem sie sich ein Thema<br />

suchen, mit dem sich das Kind identifiziert.<br />

Und auch wenn der Nachwuchs<br />

abweisend reagiert und meint, dass man<br />

davon nichts verstehe, dürfen Eltern<br />

nicht lockerlassen. Studien zeigen, dass<br />

Eltern ihre Rolle während der Pubertät<br />

ihrer Kinder unterschätzen. Sie haben<br />

einen grösseren Einfluss, als sie von sich<br />

glauben. Eltern sollten immer zeigen,<br />

dass sie für ihr Kind da sind und sich für<br />

es interessieren. Wenn Eltern beispielsweise<br />

nicht wissen, wo ihr Teenager die<br />

Nacht verbringt, finde ich das alarmierend.<br />

Wie können Eltern ihre Kinder stärken?<br />

Indem sie dafür sorgen, dass Heranwachsende<br />

ein Interesse oder eine Leidenschaft<br />

haben, mit der sie sich beschäftigen,<br />

wenn es ihnen nicht gut geht. Sie<br />

brauchen einen Ersatz, wenn der erste<br />

Liebeskummer ausbricht oder es Probleme<br />

mit den Schulkameraden gibt.<br />

Fühlt sich ein Kind beispielsweise<br />

gemobbt und ausgegrenzt, wird es sich<br />

vermutlich nach und nach zurückziehen.<br />

Ist das Kind jedoch in einer Sportmannschaft<br />

integriert und wird von den Kameraden<br />

dort geschätzt, wird es die Ablehnung<br />

durch die Mitschüler als weniger<br />

bedeutsam empfinden. Andere Kinder<br />

reiten, spielen ein Instrument oder zeichnen<br />

Mangas – Hauptsache, sie sind mit<br />

Leidenschaft bei der Sache.<br />

Susanne Walitza<br />

ist Direktorin der Klinik für Kinder- und<br />

Jugendpsychiatrie der Universität Zürich.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>59


Seele<br />

Malatavie: Wenn das<br />

Leben wehtut<br />

In Genf hat die Stiftung Children Action<br />

in Zusammenarbeit mit den Universitätsspitälern<br />

Genf ein einzig artiges Konzept<br />

zur Prävention von selbstmordgefährdeten<br />

Jugendlichen entwickelt.<br />

Text: Claudia Landolt<br />

1994 gründete der gebürtige Franzose Bernard<br />

Sabrier, ehemals Chef von Unigestion, einem<br />

Vermögensverwalter für Grosskunden wie Pensionskassen<br />

und Versicherer, die Stiftung Children<br />

Action mit dem Ziel, Kindern in Not zu helfen<br />

– in der Schweiz und auch im Ausland.<br />

1996 wurde in Genf in Zusammenarbeit mit<br />

den Universitätskliniken eine interdisziplinäre<br />

Kriseneinheit zur Prävention und Therapie von<br />

Teenies in Nöten, darunter auch selbstmordgefährdete<br />

Jugendliche, geschaffen. Die Malatavie<br />

(dt. Wenn das Leben wehtut) genannte<br />

Kriseneinheit besteht aus einer Präventionsund<br />

einer Pflegeabteilung. In der sogenannten<br />

Care Unit ist ein multidisziplinäres Team von<br />

Experten da, um betroffene Teenager und<br />

deren Eltern zu unterstützen, sei dies stationär<br />

oder ambulant. Das Ziel dabei ist, den Teenager<br />

zur Mitwirkung zu motivieren.<br />

Die Präventionsabteilung Preven tion Unit<br />

operiert auf drei Ebenen: jener, die sich ausschliesslich<br />

an Jugendliche richtet, einer zweiten,<br />

die sich an Risikopersonen adressiert, und<br />

schliesslich einer dritten, die sich mittels Aufklärung<br />

an die Gesamtbevölkerung wendet.<br />

Seit Beginn des in der Schweiz einzigartigen<br />

Präventionsprogrammes hat Malatavie Hilfe<br />

für 3731 Jugendliche geleistet. Im selben Zeitraum<br />

hat die Ados Line, der Telefondienst für<br />

Teenies in Not, 7514 Anrufe registriert, wovon<br />

6236 klinische Anliegen behandelt wurden.<br />

2014 wurde die Plattform www.airedados.ch<br />

geschaffen, die das Netzwerk rund um sensi ble<br />

Jugendliche stützen und erweitern soll.<br />

>>> zial verhalten. Statt mit drei,<br />

vier echten Freunden auf dem<br />

Sportplatz zu kicken oder sich<br />

zum Shoppen zu verabreden,<br />

haben Jugendliche mit ein paar<br />

hundert Freunden Kontakt – hinter<br />

zugezogener Tür. Das ständige<br />

Herumtippen am Smartphone<br />

oder Bildschirm verändert ihren<br />

Tag- und Nachtrhythmus. «Die<br />

ex zessive nächtliche Nutzung<br />

elektronischer Medien ist ein Risikofaktor<br />

für Schlafstörungen und<br />

Depressionen», erklärt Susanne<br />

Walitza, Direktorin der Klinik für<br />

Kinder- und Jugendpsychiatrie<br />

der Universität Zürich. Schlafstörungen<br />

selbst können ein Symptom<br />

der Depression sein, aber<br />

auch die Entstehung von Depressionen<br />

begünstigen.<br />

Diese Risikofaktoren lassen<br />

sich jedoch positiv beeinflussen,<br />

meint die Expertin. «Elterliche<br />

Zuwendung, klare Grenzen und<br />

ein strukturierter Tagesablauf in<br />

Kindheit und Jugend beugen vor.»<br />

Nicht immer können sie eine psychische<br />

Erkrankung verhindern.<br />

Um frühzeitig zu erkennen, ob ein<br />

Jugendlicher in eine Depression<br />

abrutscht, braucht es die Aufmerksamkeit<br />

und Mithilfe aller<br />

aus dem Umfeld: Freunde, Eltern<br />

und Lehrer. Denn anders als früher<br />

gedacht wachsen sich Depressionen<br />

und andere psychische<br />

Erkrankungen nicht einfach aus.<br />

«Eine frühe Diagnose und durchgängige<br />

Intervention sind wichtig»,<br />

erklärt Walitza. «Ansonsten<br />

kann sich die Langzeitprognose<br />

deutlich verschlechtern.» Studien<br />

belegen, was passiert, wenn die<br />

therapeutische Chance in der<br />

Pubertät vertan wird: Vier von<br />

fünf psychisch kranken Erwachsenen<br />

waren schon als Jugendliche<br />

psychisch labil.<br />

Die Therapie jugendlicher<br />

De pressionen unterscheide sich<br />

kaum von der depressiver Er-<br />

wachsener, erklärt Walitza, da sich<br />

auch die Symptome sehr ähnelten.<br />

«Im ersten Schritt klären wir die<br />

Jugendlichen über die Erkrankung<br />

auf.» Bei leichten Störungen helfe<br />

eine Gesprächs- und Verhaltenstherapie,<br />

in schwereren Fällen<br />

unterstützt durch Medikamente.<br />

«Typisch für Depressive ist, dass<br />

sie oft alles schwarz sehen und<br />

negativ bewerten», erklärt die<br />

Kinder- und Jugendpsychiaterin.<br />

«In der Therapie bringen wir<br />

Ereignisse und Empfindungen in<br />

einen realistischen Kontext.» Hat<br />

jemand eine Zwei in Mathe, ist er<br />

kein Schulversager. Verlässt ihn<br />

die Freundin, bedeutet das nicht,<br />

dass der Junge nie wieder eine<br />

Partnerin haben wird.<br />

Sich selbst vertrauen<br />

Die Therapeuten helfen auch<br />

dabei, Auslöser aus der Welt zu<br />

schaffen. Beispiel Mobbing: «Wir<br />

nehmen mit der Schule Kontakt<br />

auf und überlegen gemeinsam, wie<br />

wir mit der Situation umgehen»,<br />

so Walitza, selbst Mutter eines<br />

Teenagers. Mal fänden Gespräche<br />

mit Tätern und Opfer statt, mal<br />

würden ganze Klassen einschliesslich<br />

der Eltern geschult. Und gelegentlich<br />

empfehle sich ein Schulwechsel.<br />

«Zentrales Ziel der<br />

Therapie ist immer, das Kind zu<br />

stärken und es darin anzuleiten,<br />

auf sein Können und seine Fähigkeiten<br />

zu vertrauen», betont die<br />

Expertin.<br />

Auch ein stationärer Aufenthalt<br />

kann hilfreich sein. Einfach mal<br />

rauskommen aus dem deprimierenden<br />

Umfeld, weg von den traurigen<br />

Gedanken und den Grübeleien.<br />

Grossen Wert legt die<br />

47-Jährige darauf, die Kinder nach<br />

der Therapie nicht einfach zu entlassen.<br />

«Es muss klar sein, wie es<br />

in Elternhaus und Schule weitergeht<br />

und wo die Therapie ambulant<br />

fortgeführt werden kann.»<br />

60 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Und Jakob? Das Angebot des Professors,<br />

in der Klinik zu bleiben,<br />

schlug der Junge aus. «Drei<br />

Wochen später meldete er sich<br />

wieder, weil die innere Anspannung<br />

stärker geworden war»,<br />

erzählt Alain Di Gallo. Dann sei<br />

Jakob bereit gewesen für eine<br />

ambulante Therapie. Während der<br />

wurde ihm klar, wie sehr der Vater<br />

ihn durch seinen Weggang und<br />

den Kontaktabbruch verletzt hatte<br />

– und dass er sich mit ihm treffen<br />

wollte. Das Wiedersehen gab ihm<br />

die Gelegenheit, dem Vater all seine<br />

Wut entgegenzuschleudern.<br />

Gleichzeitig war es der Anfang<br />

zum Aufbau einer neuen Beziehung.<br />

Heute studiert Jakob Kommunikationsdesign.<br />

Und die<br />

Depression ist eine vergangene<br />

Episode in seinem Leben.<br />

>>><br />

Exzessive Internetnutzung<br />

ist ein Risikofaktor für<br />

Schlafstörungen und Depression.<br />

Constanze Löffler<br />

findet es beruhigend, dass es für die<br />

jugendliche Depression handfeste<br />

neurobiologische Erklärungen gibt.<br />

Anlaufstellen<br />

Pro Juventute unterstützt<br />

Kinder und Jugendliche in<br />

Krisen situationen rund um die<br />

Uhr per Telefon und SMS über<br />

147, im Internet auf www.147.ch.<br />

Im Centre d’Etude et Prévention<br />

du Suicide (ceps.hug-ge.ch)<br />

der Universität Genf sind unter<br />

022 372 42 42 Fachleute 24<br />

Stunden erreichbar. Der Verein<br />

Ipsilon (www.ipsilon.ch) ist eine<br />

private Initiative, um Suizid zu<br />

verhindern.<br />

SCHWEIZER GEMÜSE IST GESUND,<br />

FRISCH GEERNTET UND STAMMT<br />

AUS DER REGION:<br />

In der Schweiz wächst das ganze Jahr über gesundes<br />

Gemüse auf Feldern und in Gewächshäusern.<br />

Je nach Saison kann man unterschiedliches erntefrisches<br />

oder gelagertes Schweizer Gemüse auf dem<br />

Teller geniessen. Die grosse Vielfalt und die Vorteile<br />

von Schweizer Gemüse überzeugen durch Frische,<br />

nachhaltigen Anbau, kurze Transportwege und hohe<br />

Qualität. Die Produkte, welche mit SUISSE GARANTIE<br />

oder der Bio-Knospe ausgezeichnet sind, werden<br />

streng kontrolliert.<br />

WETTBEWERB<br />

Welches der abgebildeten Gemüse hat im März<br />

nicht Saison?<br />

Fenchel<br />

Lauch<br />

Radiesli<br />

Senden Sie uns Ihre Antwort inkl. Postadresse mit<br />

dem Betreff «Fritz&Fränzi» an: info@gemuese.ch<br />

Unter den richtigen Antworten wird ein saisonaler<br />

Gemüsekorb verlost.<br />

Interaktiver Saisonkalender:<br />

www.gemuese.ch/saisonkalender<br />

Rezepte und Tipps:<br />

www.gemuese.ch/rezepte<br />

/SchweizerGemuese.LegumesSuisses


Seele<br />

Zum einen Ohr rein, zum andern<br />

wieder raus? Das muss nicht sein!<br />

Plötzlich schreit jemand, und Türen werden geknallt. Kommunikation in der Familie ist eine knifflige<br />

Sache, zumal Kinder manchmal auf Durchzug schalten. Fünf Beispiele aus dem Alltag – und wie<br />

man es besser machen kann. Text: Claudia Landolt<br />

Sonntagmorgen, irgendwo<br />

in der Schweiz. Eine<br />

Mutter ruft: «Nein!» Das<br />

Kind stellt sich taub.<br />

«Wenn nicht, dann …»,<br />

droht die Mutter. Der Steigerungslauf<br />

elterlicher Macht beginnt.<br />

Befehle, Drohungen, Ermahnungen.<br />

Geschrei, Machtkämpfe,<br />

Tränen: Das kennen wir doch alle.<br />

Und fragen uns: Muss das sein?<br />

Muss es nicht, sagt Kommunikationsexperte<br />

René Borbonus. Er<br />

sagt: «Respekt ist die Grundlage<br />

von funktionierenden Beziehungen.<br />

Menschen brauchen Respekt,<br />

insbesondere auch im Eltern-<br />

Kind-Verhältnis. Wir sehnen uns<br />

nach Respekt und leiden, wenn<br />

wir ihn nicht erhalten.»<br />

Respekt kommt vom Lateinischen<br />

respicere und bedeutet: zu -<br />

rückblicken. «Respektvolle Kommunikation<br />

bringt zum Ausdruck,<br />

dass wir den andern sehen und<br />

seine Meinung respektieren», er -<br />

klärt Borbonus. Wenn man das<br />

tue, dürfe man auch anderer Meinung<br />

sein. «Der Punkt aber ist:<br />

Wenn wir das Gefühl haben, dass<br />

wir mit unserer Meinung oder<br />

Idee nicht respektiert werden, ent-<br />

stehen Probleme, weil Kommunikation<br />

nur schlecht gelingt.»<br />

Fünf Beispiele aus dem Alltag<br />

1. Wie geht man mit Vorwürfen<br />

um?<br />

Situation: «Nie darf ich ... immer<br />

muss ich!» (das Kind). «Wie oft<br />

muss sich dir noch sagen, dass …<br />

(die Eltern).<br />

Resultat: Geschrei und Frustration.<br />

Niemand will nachgeben.<br />

Lösung: Zurück auf die Strasse der<br />

Sachlichkeit. Sich mit der Frage<br />

behelfen: «Worauf beziehst du<br />

dich?» «Woran denkst du ganz<br />

konkret?»<br />

Erklärung: Pauschalisierungen<br />

sind respektlos. Wir werden be -<br />

wertet, das bereitet uns Probleme,<br />

sofern es kein Lob ist. Mit der Be -<br />

ob achtung passiert das nicht. Hinter<br />

jeder Bewertung steckt eine<br />

Respektvolle Kommunikation<br />

heisst, den andern «zu sehen»,<br />

sich in ihn hineindenken.<br />

Beobachtung. Diese können wir<br />

erfragen und so mehr Ruhe ins<br />

Gespräch bringen.<br />

<br />

2. Wie kommuniziert man<br />

respektvoll?<br />

Situation: Das Kind ist nervös<br />

oder ängstlich, weil es anderntags<br />

eine Prüfung oder einen Auftritt<br />

hat. Es sagt: «Ich will nicht in die<br />

Schule!» Eltern antworten: «Ach<br />

komm, das ist doch nicht so<br />

schlimm, das schaffst du schon.»<br />

Resultat: Das Kind ist frustriert,<br />

fühlt sich nicht ernst genommen.<br />

Die Eltern sind genervt.<br />

Lösung: Empathisch sein, den<br />

andern sehen. Sich ins Kind hineindenken,<br />

die Angst sehen und<br />

sie thematisieren. Zum Beispiel:<br />

«Ja, du bist aufgeregt, du hast<br />

Angst, den Text zu vergessen, oder<br />

es macht dir Sorgen, dass du dich<br />

blamieren könntest.»<br />

62 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Eltern sind manchmal<br />

unfrewillig respektlos,<br />

indem sie bagatellisieren.<br />

Bild: Alain Laboile<br />

Erklärung: Eltern neigen manchmal<br />

dazu, unfreiwillig respektlos<br />

zu sein, indem sie bagatellisieren<br />

und sagen: «Komm, ist doch nicht<br />

so schlimm, das schaffst du schon,<br />

du hast ja schon ganz andere Sa ­<br />

chen geschafft, ein Beinbruch wär<br />

jetzt schlimmer.» Das ist gut ge ­<br />

meint, allerdings bedeutet es in<br />

Wahrheit: den andern nicht sehen.<br />

Wir sehen das Gefühl nicht, wir<br />

ba gatellisieren es und delegitimieren<br />

es zusätzlich. Das Kind fühlt<br />

sich nun doppelt schlecht, zum<br />

einen, weil es Angst hat, zum andern,<br />

weil es sich in dieser Angst<br />

falsch wähnt, weil es als Einziges<br />

Angst hat, mit diesem Gefühl also<br />

offenbar auch nicht richtig liegt.<br />

3. Welche Aussagen sollte man<br />

in der Familie vermeiden?<br />

Situation: Der Vater ist im Badezimmer<br />

und putzt sich die Zähne.<br />

Routinemässig überprüft er die<br />

Zahnbürste des Sohnes. Sie ist trocken.<br />

Er ruft in das Zimmer des<br />

Sohnes: «Sag mal, hast du dir die<br />

Zähne geputzt?» Das Kind ruft<br />

zurück: «Ja, klar.» Der Vater zitiert<br />

ihn ins Bad und bringt ihn dazu,<br />

die Zähne zu putzen.<br />

Resultat: Das Kind gehorcht, der<br />

Vater hat seine erzieherische Aufgabe<br />

erfüllt. Besonders gut fühlen<br />

sich aber beide nicht. Denn faktisch<br />

hat der Vater seinen Sohn als<br />

Lügner entlarvt («Du hast dir deine<br />

Zähne ja gar nicht geputzt!»).<br />

Lösung: «Kind, du hast dir deine<br />

Zähne noch nicht geputzt, komm<br />

bitte ins Bad, Zähne putzen.»<br />

Erklärung: Der Vater hat die Konsistenz<br />

seines Kindes in Frage ge ­<br />

stellt, also auch dessen Glaubwürdigkeit.<br />

So entstehen in der Regel<br />

keine wirklich guten Gespräche.<br />

4. Diskutieren wir zu viel?<br />

Situation: Die Mutter fragt das<br />

Kind nach der Schule: «Möchtest<br />

du nicht lieber zuerst Hausaufgaben<br />

machen?» Das Kind antwortet:<br />

«Nein.» Nach längerer Diskussion<br />

sagt die Mutter: «Du machst<br />

zuerst die Hausaufgaben und gehst<br />

dann Fussball spielen.»<br />

Resultat: Das Kind ist verwirrt, die<br />

Mutter verärgert.<br />

Lösung: Sich klar werden, welches<br />

Ergebnis man will. Eine klare Aussage<br />

machen, ohne Begründung.<br />

Erklärung: Wir stellen zu viele<br />

Fragen. Damit verwirren >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong><br />

März <strong>2017</strong>63


Seele<br />

Eltern stellen oft zu viele<br />

Fragen. Damit verwirren<br />

wir unsere Kinder.<br />

>>> wir unsere Kinder. Wenn<br />

das Kind auf obige Frage mit Nein<br />

antwortet und ich seine Entscheidung<br />

korrigiere, respektiere ich<br />

seine Entscheidung nicht. Mit meiner<br />

Frage habe ich streng genommen<br />

dem Kind einen Entscheidungsrahmen<br />

übergeben, den ich<br />

eigentlich gar nicht übergeben<br />

wollte, weil ich ja gerne hätte, dass<br />

es so entscheidet, wie ich will.<br />

5. Muss man ein «Nein»<br />

begründen?<br />

Situation: Kind: «Papa, ich möchte<br />

noch ein Gummibärchen.»<br />

Vater: «Nein, du hattest schon welche.»<br />

Kind: «Aber nur drei, und<br />

die waren alle weiss.»<br />

Resultat: Der Vater ist ratlos.<br />

Lösung: Ein Nein nicht begründen,<br />

sondern drei Schritte weiterdenken.<br />

Sagen: «Ja, Gummibärchen,<br />

das wär jetzt toll, würd ich<br />

auch gern essen, am liebsten einen<br />

ganzen Haufen. Das geht jetzt aber<br />

nicht, denn wir essen gleich. Frag<br />

mich doch nach dem Abendessen<br />

nochmals.»<br />

Erklärung: Man sollte es vermeiden,<br />

ein Nein zu begründen, weil<br />

man sich damit auf weitere Diskussionen<br />

einlässt, die ärgerlich<br />

sein können. Begründet man ein<br />

Nein, geht es nur noch um den<br />

Grund, nicht um das Nein. Besser:<br />

Einen alternativen Impuls setzen<br />

und sagen: Frag mich nach dem<br />

Essen nochmals. So bleibt die<br />

Energie im Spiel. Schlimmstenfalls<br />

fragt dann das Kind: Warum<br />

nicht? Dann kann man es begründen,<br />

muss es aber nicht. Begründet<br />

man es aber, ist man da, wo man<br />

immer schon war.<br />

René Borbonus über …<br />

… Entschuldigungen: Eines der<br />

mächtigsten Instrumente in der<br />

Kommunikation. Wenn man sich<br />

richtig, aufrichtig und gut entschuldigt,<br />

hat das sehr viel Kraft.<br />

Eine gute Entschuldigung braucht<br />

drei Dinge. Erstens: die Reue.<br />

Wenn man glaubwürdig bereut,<br />

stellt das sofort wieder Vertrauen<br />

her. Zweitens: die Empathie. Dass<br />

man sagt, das hat dich getroffen,<br />

jetzt bist du traurig. Drittens: einen<br />

Plan. Glaubhaft versichern, dass es<br />

so nicht mehr vorkommt.<br />

... Vergleiche: Wir kritisieren oft,<br />

indem wir vergleichen: «Guck mal,<br />

wie schön Anna ihr Zimmer aufgeräumt<br />

hat!» «Der Nicolas spielt<br />

so toll Klavier, er übt jeden Tag.»<br />

Was wir damit bei unseren Kindern<br />

erreichen, ist, dass sie Anna<br />

oder Nicolas abgrundtief hassen.<br />

… unechte Fragen: «Warum liegt<br />

denn dein Jacke am Boden?» Die<br />

Frage ist rein rhetorisch, denn es<br />

geht um etwas anderes: Die Jacke<br />

soll aufgehängt werden. Hintenrum<br />

verpackte Kritik nervt.<br />

… Forderungen: «Alle anderen<br />

dürfen, nur ich nicht.» Hier gehts<br />

nur über Emotionen. Also sagen:<br />

«Ja, das wär jetzt toll, zehn Stunden<br />

lang am Stück zu gamen. Und jetzt<br />

bist du wütend, weil du das unfair<br />

findest. Ich möchte dir aber gerne<br />

zeigen, wie ich das sehe.» Dann die<br />

Verhandlungen starten. In dem<br />

Bereich, der einem wichtig ist,<br />

jedoch unnachgiebig bleiben.<br />

… Konflikte: Kinder brauchen<br />

Konflikte. Das ist anstrengend und<br />

kann auch verletzen. Aber ich halte<br />

es für einen Fehler, dass Eltern<br />

Konflikte und Eskalationen vermeiden<br />

möchten. Viele Eltern sind<br />

gefangen in diesem Wellness-Anspruch.<br />

Wir sind unseren Kindern<br />

einen Streit schuldig, selbst wenn<br />

sie uns dann ein «Ich hasse dich!»<br />

entgegenschleudern oder als<br />

«schlimmste Mutter / schlimmsten<br />

Vater der Welt» bezeichnen. Das<br />

gilt es auszuhalten. Wichtig ist:<br />

Man sollte sich davon nicht beeindrucken<br />

lassen. Der hormonelle<br />

Nebel legt sich wieder.<br />

>>><br />

René Borbonus<br />

studierte Germanistik, Psychologie und<br />

Politik, ist ehemaliger Redenschreiber<br />

und arbeitet heute als Redner, Rhetoriker<br />

und Kommunikationstrainer. Er lebt in<br />

Deutschland, ist verheiratet und hat zwei<br />

Söhne. www.rene-borbonus.de<br />

Wie kommuniziere ich richtig –<br />

vier Tipps<br />

• Kurz sprechen. Je mehr wir sagen,<br />

desto mehr Widerstände bauen<br />

sich auf.<br />

• Einfache Sprache. Keine Worte<br />

benutzen, die der andere nicht kennt.<br />

Gerade Kinder fragen oft nicht nach,<br />

weil sie sich keine Blösse geben wollen.<br />

• Strukturiert vorgehen. Also erst<br />

den Grund sagen, dann das Ziel.<br />

• Struktur hörbar machen. Also<br />

mündlich Absätze machen, wie wenn<br />

man es schriftlich auch tun würde.<br />

Die drei Ideen oder die drei Aspekte<br />

zum Beispiel erwähnen.<br />

64 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


Publireportage<br />

Einmal täglich eine Stunde<br />

Wenn Sie an Ihre Kindheit zurückdenken – woran erinnern Sie sich am ehesten?<br />

Daran, dass Sie immer viel zu früh ins Bett mussten? An Schulstunden, während<br />

denen Sie stillsitzen mussten? Oder vielleicht doch an die wilden Fangis-Partien<br />

im Garten mit den Nachbarskindern?<br />

Kinder wollen sich bewegen – ständig und<br />

überall. Doch diesem Bewegungsdrang Raum<br />

zu geben, ist nicht immer ganz einfach. Die<br />

Lebenswelten haben sich in den letzten Jahren<br />

und Jahrzehnten verändert. In Dörfern<br />

und Städten werden die Grünflächen immer<br />

kleiner. Auf den Quartierstrassen herrscht<br />

mehr Verkehr als Eltern lieb ist.<br />

Dabei wäre Bewegung so wichtig für <strong>Gesundheit</strong><br />

und Wohlbefinden. Und zwar nicht<br />

nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene.<br />

Zweieinhalb Stunden pro Woche sollte<br />

sich eine erwachsene Person mindestens so<br />

intensiv bewegen, dass sich ihre Atmung beschleunigt.<br />

Die aktuellste schweizerische<br />

<strong>Gesundheit</strong>sbefragung zeigt, dass mehr als<br />

ein Viertel der Personen im Alter von 15 bis<br />

74 Jahren diese Bewegungsempfehlungen<br />

nicht erreichen. Bei Kindern ist es noch besorgniserregender:<br />

Sie sollten sich täglich<br />

mindestens eine Stunde bewegen können –<br />

drei Viertel aller Kinder tun das jedoch nicht.<br />

unter anderem in Zusammenarbeit mit der<br />

EGK-<strong>Gesundheit</strong>sbotschafterin Simone Niggli-<br />

Luder und deren Familie entstanden sind.<br />

Im Gleichgewicht<br />

mit der Oma<br />

Bis ins hohe Alter hilft regelmässige Bewegung,<br />

modernen Zivilisationskrankheiten wie<br />

Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder<br />

Übergewicht vorzubeugen. Weshalb also<br />

nicht die tägliche Bewegung zu einem Freizeitspass<br />

für die ganze Familie machen? Um<br />

dies zu erleichtern, hat die EGK-<strong>Gesundheit</strong>skasse<br />

den Ratgeber «Bewegung, Spiel und<br />

Spass in der ganzen Familie» entwickelt. Dieser<br />

fasst nicht nur spannende Daten und Fakten<br />

zu Bewegung und <strong>Gesundheit</strong> bei Kindern,<br />

Eltern und Grosseltern zusammen. Ein<br />

Praxisteil liefert zahlreiche Anleitungen und<br />

Inspirationen, wie Kinder mit ihren Gspänli,<br />

Eltern oder Grosseltern die Freude an Bewegung<br />

(wieder) entdecken können. Erleichtert<br />

Die spielerischen Aktivitäten sind dabei auf<br />

die Bedürfnisse der jeweiligen Altersgruppe<br />

abgestimmt, wie Sportwissenschaftler<br />

Lukas Zahner vom Departement für Sport,<br />

Bewegung und <strong>Gesundheit</strong> der Universität<br />

Basel erklärt. «Kinder entwickeln ihren<br />

Gleichgewichtssinn erst, während er bei<br />

Senioren schon wieder abnimmt», so der<br />

Experte, der bei der Konzeption des Ratgebers<br />

federführend zur Seite stand. «Dadurch<br />

ist es sinnvoll, wenn beide Generationen den<br />

Gleichgewichtssinn mit gemeinsamen Spielen<br />

trainieren.»<br />

Der Ratgeber «Bewegung, Spiel und<br />

Spass in der ganzen Familie» ist unter<br />

www.egk.ch/shop erhältlich und kostet<br />

für EGK-Versicherte CHF 18.–,<br />

für Nicht-EGK-Versicherte CHF 25.–.<br />

118 Seiten, broschiert.<br />

wird die Umsetzung durch Beispielvideos, die<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong> März <strong>2017</strong>65


Service<br />

Literatur zum Thema<br />

Das wirft mich nicht um. Mit<br />

Resilienz stark durchs Leben<br />

gehen.<br />

Wie Krisen überstehen und in schwierigen<br />

Situationen stark bleiben? Dem<br />

Känguruh fällt dies leicht: Es reagiert<br />

flexibel auf die Umgebung. Jutta Haller erklärt anhand der<br />

Känguruh-Qualitäten, wie wir Widerstandskraft entwickeln.<br />

Kösel, 2015, 48 Seiten, ca. 11 Fr.<br />

Klarheit. Der Schlüssel zur besseren<br />

Kommunikation.<br />

Wir kommunizieren immer häufiger und<br />

auf unterschiedlichen Kanälen. Gleichzeitig<br />

leiden die Klarheit unserer Botschaften,<br />

und es kommt zu Missverständnissen und<br />

Streit. René Borbonus erklärt, wie wir in<br />

Beruf und Familie klarer kommunizieren.<br />

Econ, 2015, 256 Seiten, ca. 20 Fr.<br />

Glück kann man lernen. Was Kinder stark<br />

fürs Leben macht.<br />

Der Lehrer, Psychologe und Schulleiter Ernst<br />

Fritz-Schubert hat das Schulfach Glück<br />

erfunden und in Deutschland und im Ausland<br />

erfolgreich umgesetzt. Er erklärt, wie man<br />

die Potenziale der Kinder entdeckt und<br />

so erreicht, dass sie an sich selbst glauben. Denn nur<br />

aus starken Kindern werden glückliche Menschen.<br />

Ullstein Taschenbuch, 2011, 240 Seiten, ca. 11 Fr.<br />

Essen ist Kommunikation. Esskultur<br />

und Ernährung für eine Welt mit<br />

Zukunft.<br />

Die Professorin für Ernährungswissenschaft<br />

Ines Heindl untersucht, was<br />

und vor allem wie in verschiedenen<br />

Kulturen gegessen und getrunken<br />

wird. Es ist auch ein «Mutmachbuch», weil es Auswege<br />

aus der gängigen Ernährungsaufklärung zeigt.<br />

Umschau Zeitschriftenverlag, 2016, 216 Seiten, ca. 23 Fr.<br />

Links<br />

• Multifokale Theorie / Augusto Cury:<br />

www.augustocury.com.br<br />

• Leistungsförderung durch bewusste Ernährung<br />

(Forschung):<br />

www.uni-flensburg.de, Stichwort: Ines Heindl<br />

• Depressionen, Suizid und Prävention:<br />

www.hug-ge.ch, Stichwort: malatavie-unite-crise<br />

• Glücksforschung:<br />

www.fritz-schubert-institut.de<br />

• Eltern-Kind-Bindung:<br />

www.elter-kind-bindung.net<br />

• Schlafen und Lernen:<br />

www.fritz-schubert-institut.de<br />

• Achtsamkeit und Meditation für Kinder:<br />

www.kadampa.ch<br />

Impressum<br />

Herausgeber<br />

Stiftung Elternsein,<br />

Seehofstrasse 6, 8008 Zürich<br />

www.elternsein.ch<br />

Redaktion<br />

Chefredaktor: Nik Niethammer,<br />

n.niethammer@fritzundfraenzi.ch<br />

Verantwortlich für diese Ausgabe:<br />

Nik Niethammer, Claudia Landolt<br />

Verlag<br />

Fritz+Fränzi,<br />

Dufourstrasse 97, 8008 Zürich,<br />

Tel. 044 277 72 62,<br />

info@fritzundfraenzi.ch,<br />

verlag@fritzundfraenzi.ch,<br />

www.fritzundfraenzi.ch<br />

Business Development & Marketing<br />

Leiter: Tobias Winterberg,<br />

t.winterberg@fritzundfraenzi.ch<br />

Anzeigen<br />

Administration: Dominique Binder,<br />

d.binder@fritzundfraenzi.ch,<br />

Tel. 044 277 72 62<br />

Art Direction / Produktion<br />

Partner & Partner, Winterthur,<br />

www.partner-partner.ch<br />

Bildredaktion<br />

13 Photo AG, Zürich, www.13photo.ch<br />

Korrektorat<br />

Brunner Medien AG, Kriens, www.bag.ch<br />

Auflage: 101 725<br />

Heftsponsoren<br />

Credit Suisse (Schweiz) AG<br />

66 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi <strong>Gesundheit</strong>s-<strong>Spezial</strong>


HERZLICH WILLKOMMEN<br />

auf dem Bauernhof !<br />

Stallvisite:<br />

Besuchen Sie uns das ganze Jahr<br />

hindurch auf dem Hof<br />

Wählen Sie aus über 300 Bauernhöfen<br />

in der ganzen Schweiz<br />

Entdecken Sie, was der Bauernhof<br />

Spannendes für Sie hergibt<br />

Geniessen Sie ein kostenloses<br />

Erlebnis für die ganze Familie<br />

Woher kommt mein Essen?<br />

Wir achten immer mehr auf die Herkunft und die Produktionsweise<br />

von Lebensmitteln, doch haben wir immer<br />

weniger den direkten Kontakt zu den Bauernfamilien.<br />

«Stallvisite» setzt einen Kontrapunkt: Sie macht die Herkunft<br />

von Milch, Fleisch und Eiern erlebbar und macht transparent,<br />

wo diese Lebensmittel herkommen und wie sie entstehen.<br />

Ab, auf den Hof!<br />

Besuchen auch Sie einen Betrieb in Ihrer Nähe.<br />

Die Begrüssungstafel auf jedem Hof zeigt die individuellen<br />

Öffnungszeiten der Höfe für Besucher an. Ist die Bauernfamilie<br />

vor Ort, gibt sie gerne und kompetent Antwort<br />

auf Fragen rund um den Betrieb. Der Besuch ist kostenlos.<br />

Alle Stallvisite-Betriebe und weitere wichtige Informationen<br />

sind online auf www.stallvisite.ch zu finden.<br />

Haben Sie fragen?<br />

info@lid.ch / <strong>03</strong>1 359 59 77 / Stallvisite.ch


Für Genuss und Wohlbefinden.<br />

Vertragen Sie selbst oder jemand in Ihrem Umfeld gewisse Lebens mittel nicht? Seit über<br />

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