03/2017
Fritz+Fränzi
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Digital & Medial<br />
Therapie im Chatroom?<br />
Der Klient, sein Problem, der Therapeut und vielleicht noch eine Couch – diese bekannte<br />
Konstellation ist heute längst nicht mehr die Regel. Das ständige Vor-dem-Bildschirm-<br />
Sitzen ist ein Grund, warum Jugendliche eine Therapie brauchen. Aber es kann auch<br />
Teil der Lösung sein. Viele Therapeuten holen die Jugendlichen heute dort ab,<br />
wo sie sind: online. Die psychoanalytische Sozialarbeiterin Sylvia Künstler über Risiken<br />
und Chancen. Interview: Kathrin Blum<br />
Frau Künstler, aus dem Alltag von<br />
Jugendlichen sind neue Medien nicht<br />
mehr wegzudenken. Wie wirkt sich das<br />
auf Ihren Arbeitsalltag aus?<br />
Es ist ein riesiges Problem, wenn wir<br />
eine Jugendgruppe vor uns haben<br />
und alle ihre Smartphones zücken.<br />
Alle müssen nur «ganz schnell, ganz<br />
kurz»… Wenn man ihnen ihr Telefon<br />
wegnimmt, ist das im übertragenen<br />
Sinne gesprochen so, wie<br />
wenn man ihnen die Hand oder ein<br />
Bein amputieren würde. Das Handy<br />
hat eine immense Bedeutung<br />
bekommen, das «In-Kontakt-Sein<br />
mit der Welt» ist für die Jugendlichen<br />
essenziell.<br />
Selbst wenn sich die Jugendlichen<br />
gerade in einer sozialtherapeutischen<br />
Sitzung befinden?<br />
Ja – und manchmal vielleicht auch<br />
gerade dann. Es kann natürlich auch<br />
eine Art sein, den Kontakt zu uns zu<br />
«Mitten in der Sitzung wird<br />
das Smartphone gezückt.<br />
Und dann nimmt ein Freund<br />
virtuell teil.»<br />
vermeiden oder uns die Kontaktaufnahme<br />
zumindest zu erschweren.<br />
Die Klienten teilen uns auch etwas<br />
mit, wenn sie den Kontakt zu anderen<br />
suchen, wenn eigentlich wir zu<br />
ihnen Kontakt aufnehmen möchten.<br />
Hin und wieder kommt es vor, dass<br />
wir nicht nur zu zweit in einer Einzelstunde<br />
sind, sondern dass per<br />
Internet oder Handy von den Jugendlichen<br />
noch jemand dazugeholt<br />
wird. Nimmt ein Jugendlicher jemanden<br />
(virtuell) mit in die Therapie,<br />
fragen wir uns: Warum macht<br />
er das? Was will uns der Klient damit<br />
mitteilen? Es ist möglich, dass dadurch<br />
ein Problem in die Stunde<br />
mitgebracht wird, über das der Jugendliche<br />
nicht sprechen kann. So<br />
macht er es dennoch zum Thema.<br />
Sehen Sie neue Medien in der Psychotherapie<br />
eher als Chance oder Risiko?<br />
Mal sind sie Risiko, mal Chance. Wir<br />
sehen beispielsweise junge Menschen<br />
mit autistischen Störungen,<br />
die aus der Welt fallen, weil sie es<br />
nicht schaffen, zu anderen Kontakt<br />
aufzunehmen oder gar Beziehungen<br />
aufzubauen – zumindest nicht, wenn<br />
ihnen diese anderen gegenübersitzen.<br />
Für sie kann es eine grosse<br />
Chance sein, im Netz virtuelle<br />
Freundschaften zu schliessen. Und<br />
diese Freundschaften können durchaus<br />
sehr intensiv sein. Ich erinnere<br />
mich da an eine Klientin, die<br />
Freundschaft geschlossen hat zu<br />
einer Frau in Moskau. Sie haben<br />
täglich telefoniert, geskypt oder<br />
gechattet, waren füreinander da,<br />
wenn eine in Not war. Das war eine<br />
echte Freundschaft. Aber die junge<br />
Frau hätte diesen Kontakt ohne die<br />
räumliche Distanz nicht ausgehalten.<br />
Für Autisten sind neue Medien<br />
und soziale Netzwerke eine grosse<br />
Chance, in Beziehungen zu treten.<br />
Werden allerdings alle anderen Beziehungen<br />
durch Freundschaften im<br />
Netz ersetzt, kann das durchaus auch<br />
für autistische Menschen zum Problem<br />
werden. Ausserdem gibt es die<br />
dunklen Seiten, etwa die ganzen<br />
Mobbinggeschichten. Neue Medien<br />
sind extrem ambivalent.<br />
Viele Jugendliche verbringen mehrere<br />
Stunden täglich in der virtuellen Welt.<br />
Wann stellt sich die Frage nach der<br />
Internetsucht?<br />
Da müssen wir differenzieren. Exzessive<br />
Computernutzung wird oft<br />
als Problem betrachtet. Übersehen<br />
darf man dabei nicht, dass diese oft<br />
nur die Folge eines anderen Problems<br />
ist. Sozusagen das Sym ptom.<br />
Wenn beispielsweise ein Jugendli-<br />
74 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi