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03/2017

Fritz+Fränzi

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Erziehung & Schule<br />

Kinder kranker Eltern müssen<br />

über alles reden können und<br />

alles fragen dürfen. Sie<br />

brauchen ehrliche Antworten.<br />

>>> er müsse nochmals ins Spital.<br />

Mami musste auf die Intensivstation<br />

verlegt werden. Ich rief Jonas an, um<br />

nicht allein zu sein. Er wohnt 25<br />

Fussminuten entfernt.» – «Das dauerte<br />

mir zu lange, so schnappte ich<br />

mir auf dem Weg ein kaputtes Velo<br />

und stand nach einer Minute vor<br />

Giulias Tür», sagt der 19-Jährige. Er<br />

fand seine Freundin sprachlos vor.<br />

«Ich spürte nur ihre Angst. Oder<br />

eher ein Bangen um etwas. Extremer<br />

als die Angst um das eigene Leben.»<br />

Der beste Freund ist es also, der<br />

dem Gefühl Kinder kranker Eltern<br />

einen Namen gibt: Sie bangen.<br />

Ein Jahr lang blieb Giulia zu Hause<br />

und leistete ihrer Mutter Gesellschaft.<br />

Sie redeten, schauten TV<br />

oder gingen spazieren. Als ihre Mutter<br />

in die Physiotherapie ging, löste<br />

Giulia ein Abo im selben Fitnesscenter.<br />

«Ich wollte Mami nicht alleine<br />

lassen.» Jonas sah zu, wie sich seine<br />

Freundin immer mehr von ihren<br />

Freunden zurückzog. Berechtigt, wie<br />

Giulia damals dachte: «Zum Teil verstanden<br />

mich Gleichaltrige nicht<br />

mehr. Ass ich zum Beispiel während<br />

der Grippesaison Pancakes nicht mit<br />

blossen Händen, galt ich als Tussi.<br />

Wäre ich aber krank geworden, hätte<br />

ich Mami nicht besuchen können.<br />

Manche fanden auch, dass ich Fakten<br />

ohne Empfindung erzähle. Solche<br />

Kommentare helfen mir nicht,<br />

mich zu öffnen.»<br />

Was hilft denn? Das weiss Alain<br />

Di Gallo: «Eine offene Atmosphäre.<br />

Kinder kranker Eltern sollen über<br />

alles reden und alles fragen dürfen.<br />

Sie brauchen ehrliche Antworten.<br />

Wenn man nichts tabuisiert und<br />

offen mit ihnen spricht, sind sie mit<br />

ihren Gefühlen nicht alleine. Bei<br />

Jugendlichen muss man aber auch<br />

respektieren, dass sie nicht immer<br />

über alles reden wollen. Sie sind oft<br />

mit sich selbst in Auseinandersetzung.<br />

Wenn hingegen Eltern erkranken,<br />

alle traurig sind und erstarren,<br />

dann ist es wichtig, Jugendliche<br />

direkt darauf anzusprechen.»<br />

Normal ist der Alltag noch nicht<br />

Was Alain Di Gallo aus seiner Praxiserfahrung<br />

weiss, setzte Jonas in -<br />

tui tiv um. «Giulia redete selten über<br />

ihre Sorgen. Ich stellte dann die Fragen<br />

so, dass sie Antwort geben musste.<br />

Nicht ja, nein, sondern spezifisch.<br />

So, wie es wirklich ist.»<br />

Und wie ist es heute wirklich?<br />

Giulia denkt nach. «Mami ist wieder<br />

gesund. Aber einen normalen Alltag<br />

gibt es noch nicht. Ich habe Mühe,<br />

einfach wieder Tochter zu sein.<br />

Manchmal sind unsere Rollen noch<br />

verschoben. So auch mein Zeitgefühl.<br />

Ich erledige die Dinge nicht<br />

mehr so schnell wie früher.» Jonas<br />

ist optimistischer. «Sie geht wieder<br />

mehr mit Kolleginnen ins Kino. Und<br />

die Erfahrung hat sie erwachsener<br />

gemacht: Sie will Probleme klären.<br />

Eigentlich ist es so, als käme die alte<br />

Giulia zurück. Aber mit Update.»<br />

Giulia nickt. «Ich bin unabhängiger<br />

und verantwortungsbewusster. Fahre<br />

ich Auto, spiele ich nicht mit meinem<br />

Leben. Ich streite auch weniger<br />

mit meinen Eltern.»<br />

Von «Entwicklungssprung»<br />

spricht August Flammer, wenn Kinder<br />

früher Verantwortung übernehmen<br />

als Gleichaltrige. Analog zur<br />

körperlichen Frühreife bestehe zum<br />

Beispiel das Risiko, dass psychisch<br />

frühentwickelte Kinder bei Kollegen<br />

anecken. Dafür werde die Selbständigkeit<br />

gefördert. «Gleichzeitig leidet<br />

aber möglicherweise die Entwicklung<br />

in anderen Bereichen – in<br />

der Bildung oder im Berufsentscheid.»<br />

Der Berufsentscheid ist für<br />

Giulia noch fern. «Zuerst muss ich<br />

wissen, wer ich bin. Das ist nicht so<br />

einfach.»<br />

Die Entwicklung kann «springen»,<br />

stillstehen, aber auch rückläufig<br />

sein, wie Alain Di Gallo erklärt.<br />

«Vor allem bei kleineren Kindern ist<br />

eine Regression auf eine frühere<br />

Altersstufe in einer belastenden Situation<br />

eine normale Reaktion. So hat<br />

zum Beispiel ein 7-jähriges Kind<br />

alleine im Bett plötzlich Angst.»<br />

Damit verschaffe es sich Zuwendung.<br />

Alain Di Gallo sieht den Nutzen:<br />

«Reculer pour mieux sauter.»<br />

Etwas zurückweichen, um mit mehr<br />

Anlauf springen zu können, so die<br />

sinngemässe Übersetzung.<br />

Giulia ist mitten im Sprung. Bald<br />

wird sie 19. Auf ihrem Schreibtisch<br />

stapeln sich Bücher. Sie will aufholen,<br />

was sie in der Schule verpasst<br />

hat. Daneben redet sie weiter über<br />

das Erlebte – in Blogs und anderen<br />

Medien.<br />

Ihre Botschaft: «Es ist wichtig,<br />

dass man redet.» Nicht nur für sich<br />

selbst. Sondern «damit sich andere<br />

nicht alleine fühlen».

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