03/2017
Fritz+Fränzi
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Erziehung & Schule<br />
Kinder von kranken Eltern<br />
halten sich aus Angst und<br />
Scham oft verborgen.<br />
Giulia hat<br />
Brieffreunde in<br />
der ganzen Welt.<br />
Sie bat sie, ihrer<br />
kranken Mutter<br />
zu schreiben.<br />
– so müssen sich die Betroffenen nicht<br />
zu erkennen geben.<br />
Was ist das Ziel Ihrer Forschung?<br />
Wir streben Chancengleichheit für die<br />
jungen Leute in Ausbildung an. Einerseits<br />
braucht es Praxisinstrumente, um<br />
die betroffenen Kinder identifizieren zu<br />
können, andererseits wollen wir verlässliche<br />
Unterstützungsmassnahmen erarbeiten.<br />
Dazu gehören ganz simple Netzwerkkarten<br />
für Fachpersonen oder eine<br />
To-do-Liste für junge Menschen. Eine<br />
17-jährige Frau übernahm zum Beispiel<br />
nach Anleitung des Hausarztes die Insulinspritzen<br />
bei ihrem im Sterben liegenden<br />
Vater. Bei einer dieser Injektionen<br />
starb ihr Vater. Der Hausarzt war nicht<br />
erreichbar. Für sie war das traumatisch.<br />
Wir wollen verhindern, dass Kindern<br />
solche Aufgaben übertragen werden.<br />
Und sie müssen wissen, wie sie im Notfall<br />
reagieren können. Auch für Lehrer<br />
möchten wir Instrumente bieten, wie sie<br />
betroffene Kinder in ihrer Klasse erkennen<br />
können. Diese Kinder werden zum<br />
Teil gemobbt – sogar vom Lehrer, weil<br />
er nicht realisiert, warum das Kind so<br />
anders ist.<br />
Was sind für Sie die bisher wichtigsten<br />
Resultate?<br />
Es gibt auch in der Schweiz Kinder und<br />
Jugendliche, die Ausbildung und Pflegerolle<br />
zusammen vereinbaren müssen.<br />
Die Studien zeigen, dass sie oft eine<br />
wichtige Vermittlungsrolle zwischen<br />
allen involvierten Personen einnehmen.<br />
Sie informieren zwar, dürfen aber bei<br />
Entscheidungen nicht mitreden. In den<br />
persönlichen Interviews erfuhren wir<br />
ausserdem, dass viele dieser Kinder gerne<br />
eine fortführende Schule machen<br />
würden. Oft ist das aus verschiedenen<br />
Gründen nicht möglich. Es zeigte sich<br />
aber auch eine erstaunliche Tatsache:<br />
Viele dieser jungen Leute können auf<br />
eine gute Art mit der Situation umgehen<br />
und sind sehr leistungsfähig.<br />
Agnes Leu<br />
ist Professorin an der Kalaidos<br />
Fachhochschule, Departement Gesundheit,<br />
Zürich. Seit 2012 erforscht sie «Young<br />
Carers» und leitet das Forschungsprogramm<br />
«learn and care». Mehr zu den<br />
Forschungsprojekten und -ergebnissen ist zu<br />
finden unter www.careum.ch > Forschung ><br />
Young Carers.<br />
>>> nicht selten werde es in seiner<br />
Verantwortungsübernahme<br />
wenig beachtet. «Alles dreht sich um<br />
die erkrankte Person. Für das Leiden<br />
der Kinder herrscht wenig Verständnis.»<br />
«Hat ein Elternteil von dir Krebs<br />
und du wünschst dir, mit anderen<br />
Jugendlichen, die in der gleichen<br />
Situation sind, zu reden?» – Mit diesen<br />
Worten suchte Giulia im Sommer<br />
2015 Verständnis. Das Selbsthilfezentrum<br />
in Zürich unterstützte<br />
sie dabei. Auch in verschiedenen<br />
Arztpraxen legte Giulia einen Flyer<br />
auf. Reaktion? Keine. Das erstaunt<br />
nicht. Trotz vermehrter Aufklärungsarbeit<br />
sind körperliche und<br />
besonders psychische Krankheiten<br />
in der Familie ein verschwiegenes<br />
Thema. «Kinder von kranken Eltern<br />
verstecken sich», weiss Agnes Leu<br />
aus ihrer Forschung. «Sie dürfen<br />
oder wollen nicht reden. Manche<br />
realisieren auch nicht, dass sie in<br />
einer ausserordentlichen Situation<br />
sind.»<br />
Vom Vater fühlt sie sich verstanden<br />
Giulia versteckte sich nicht und fühlte<br />
sich doch übersehen: «Freunde<br />
meiner Eltern und Ärzte nahmen<br />
mich nicht mehr als Tochter wahr,<br />
sondern betrachteten mich als Pflegepersonal<br />
oder als Kind, das nichts<br />
versteht.» Als Fernmaturandin fragten<br />
auch keine Lehrer nach ihr. Vom<br />
Vater hingegen fühlte sie sich verstanden:<br />
«Wir wurden Verbündete,<br />
weil wir dieselben Bilder vor Augen<br />
hatten.» Der Vater war es auch, der<br />
Giulia zu einer Therapie motivierte.<br />
Die Therapeutin war es, die Giulia<br />
darin bestärkte, eine Haushaltshilfe<br />
einzufordern. Aber etwas Wesentliches<br />
fehlte dennoch: die Gleichaltrigen.<br />
«Auf der Suche nach ihrer Identität<br />
suchen Jugendliche alternative<br />
Lebensräume», sagt August Flammer.<br />
«Sie tauschen sich aus mit<br />
Gleichaltrigen, vergleichen, horchen<br />
in sich hinein. Für Mädchen ist die<br />
beste Freundin die wichtigste Be <br />
zugsperson. Mit ihr tauscht man<br />
In times aus und verbringt man am<br />
meisten Zeit. Diese Zeit fehlt<br />
Jugendlichen, die zu Hause stark be <br />
ansprucht werden.<br />
Dezember 2016: Giulia schlendert<br />
mit einem Freund Richtung<br />
Sihlcity. Jonas. Die beiden kennen<br />
sich seit der 1. Sekundarstufe. Nein,<br />
sie seien kein Paar. «Früher mal»,<br />
lacht Giulia. «Aber wir haben abgemacht,<br />
dass wir beste Freunde bleiben.»<br />
Beste Freunde klauen bisweilen<br />
ein kaputtes Velo, wenn ihre Hilfe<br />
gefragt ist. «Eines Nachts kam mein<br />
Vater ins Zimmer und sagte, >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
März <strong>2017</strong>59