03/2017
Fritz+Fränzi
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«Kinder halten sich<br />
aus Angst und<br />
Scham verborgen»<br />
Erkranken Eltern schwer, sind ihre<br />
Kinder mitbetroffen. Sie helfen<br />
mit bei der Pflege, im Haushalt<br />
und bei der Betreuung jüngerer<br />
Geschwister. Wie viele Kinder in der<br />
Schweiz in der Unterstützerrolle<br />
sind, will Agnes Leu von Careum<br />
Forschung sichtbar machen.<br />
Interview: Sarah King<br />
Frau Leu, seit vier Jahren erforschen Sie<br />
Kinder, die ihre schwerkranken Eltern pflegen<br />
– sogenannte «Young Carers».<br />
In unserer Forschung berücksichtigen<br />
wir Kinder, Jugendliche und junge<br />
Erwachsene unter 25 Jahre. Sie übernehmen<br />
regelmässig Pflegeaufgaben für ein<br />
physisch oder psychisch erkranktes<br />
Familienmitglied – dies entweder über<br />
viele Jahre hinweg oder kurz und intensiv,<br />
zum Beispiel in einer Palliativsituation,<br />
wenn ein Elternteil stirbt. In den<br />
meisten Fällen kümmern sich diese<br />
Kinder um Eltern (50%), weniger häufig<br />
sind es Geschwister (30%) oder Grosseltern<br />
(3–4%). Oft werden diese Kinder<br />
zu wenig wahrgenommen. Dabei kann<br />
ihre Belastung so gross sein, dass ihr<br />
eigenes Wohl darunter leidet.<br />
In einem Teilprojekt befragten Sie Fachpersonen<br />
aus den Bereichen Bildung,<br />
Gesundheit und Soziales. Was können<br />
diese zum Thema beitragen?<br />
Wir wissen aus internationaler Forschung:<br />
Wenn Fachpersonen nicht sensibilisiert<br />
sind, können sie die jungen<br />
Leute nicht identifizieren. Das liegt nicht<br />
nur daran, dass sich betroffene Kinder<br />
aus Angst vor den Konsequenzen verstecken,<br />
sondern auch an unserem patientenorientierten<br />
System: Ärzte wissen<br />
oft nicht, wie viele Kinder ihre Patienten<br />
haben, wie alt sie sind oder was sie tun.<br />
Kinder kranker Eltern hören oft, was sie<br />
tun sollen, aber selten die Frage: «Wie<br />
geht es dir?» Diese kleine Frage könnte<br />
so viel verändern. Wir möchten, dass<br />
Fachpersonen die betroffenen Kinder<br />
wahrnehmen.<br />
Wie viele Kinder übernehmen in der<br />
Schweiz eine Unterstützerrolle?<br />
Bisherige Zahlen beruhen auf Schätzungen.<br />
Eigentlich können wir nur sagen:<br />
Wir haben das Phänomen in der<br />
Schweiz. Repräsentative Zahlen existieren<br />
noch nicht. Ich versuchte erfolglos<br />
herauszufinden, wie viele junge Menschen<br />
in einer Familie leben, in der ein<br />
Familienmitglied erkrankt ist. Nun starten<br />
wir diesen Frühling eine vom<br />
Schweizerischen Nationalfonds finanzierte<br />
nationale und repräsentative Studie.<br />
In über 700 Schulen aus drei Sprachregionen<br />
befragen wir etwa 12 000<br />
Schülerinnen und Schüler zu diesem<br />
Thema. Die obligatorische Schule ist der<br />
einzige Ort, wo Kinder sein müssen. So<br />
erhoffen wir möglichst alle betroffenen<br />
Kinder zu erfassen.<br />
Wenn sich Kinder kranker Eltern verstecken<br />
– tun sie das nicht auch in einem<br />
Fragebogen?<br />
Kinder halten sich verborgen aus Angst<br />
und Scham. Gerade zwischen 11- und<br />
14-jährig wollen sie gleich sein wie andere<br />
Gleichaltrige – ebenso cool sein, ausgehen<br />
oder denselben Sport treiben. In<br />
diesem Alter fällt es ihnen schwer, zuzugeben,<br />
dass sie zu Hause einen Angehörigen<br />
pflegen. Manche Kinder sind sich<br />
auch nicht bewusst, dass ihre Familiensituation<br />
aussergewöhnlich ist. Deshalb<br />
befragen wir alle Kinder anonymisiert<br />
mit einem standardisierten Fragebogen<br />
58 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi