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03/2017

Fritz+Fränzi

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Erziehung & Schule<br />

Giulia schaut konzentriert<br />

auf die Strasse.<br />

«Als meine Mutter an<br />

Krebs erkrankte, war<br />

ich 16, aber ich wurde<br />

sehr schnell 17.» Heute ist Giulia 18.<br />

Sie parkiert den Wagen vor ihrem<br />

Elternhaus in Thalwil. Niemand ist<br />

zu Hause. Seit zwei Wochen arbeitet<br />

Giulias Mutter wieder 100 Prozent.<br />

«Seit Anfang Dezember 2016 ist<br />

Mami offiziell gesund. Dabei hatte<br />

ich Angst, dass sie meinen 18. Ge ­<br />

burtstag nicht erleben wird.»<br />

Mit dieser Angst ist Giulia nicht<br />

alleine. Basierend auf US-amerikanischen<br />

Statistiken sind in westlichen<br />

Industrieländern bis zu 15<br />

Prozent der minderjährigen Kinder<br />

von körperlich kranken Eltern<br />

betroffen. Etwa 200 000 Kinder sind<br />

es in Österreich, Deutschland und<br />

der Schweiz unter Berücksichtigung<br />

nur krebskranker Eltern. Rechnet<br />

man zu den Kindern aller körperlich<br />

kranken Eltern auch diejenigen psychisch<br />

kranker dazu, dürfte die Zahl<br />

der Betroffenen höher sein. Laut<br />

Agnes Leu, Professorin an der Kalaidos<br />

FH, Departement Gesundheit,<br />

in Zürich, zählen viele dieser Kinder<br />

zu den «Young Carers»: Kinder, die<br />

ein erkranktes Familienmitglied<br />

pflegen (siehe Interview Seite 58).<br />

Dies tun sie nicht selten auf Kosten<br />

ihrer Ausbildung und Freizeit.<br />

Wie gehen Jugendliche wie Giulia<br />

mit dieser Belastung um? Und vor<br />

allem: Wer versteht ihr Leiden?<br />

Januar 2015, Spital Wollishofen,<br />

Aufwachraum: Die 16-jährige Giulia<br />

tritt ans Bett ihrer Mutter. «Eine<br />

kleine Operation», wurde Giulia<br />

zuvor informiert. «Nur zwei Zysten<br />

entfernen.» Die Operation sei gut<br />

Bis zu 15 Prozent der<br />

minderjährigen Kinder sind<br />

«Young Careres»: Sie pflegen<br />

ein krankes Familienmitglied.<br />

verlaufen, aber man habe der Mutter<br />

neben den Zysten auch den Blinddarm<br />

entfernt, erfährt Giulia. Sie<br />

wird stutzig.<br />

Die Mutter nimmt ihre Hand,<br />

bekundet ihre Liebe. Da wird Giulia<br />

ohnmächtig. Sie mag es danach lange<br />

nicht, wenn jemand ihre Hand<br />

hält.<br />

Im Februar 2015, sechs Tage vor<br />

Giulias 17. Geburtstag, erhält ihre<br />

Mutter schliesslich die Diagnose:<br />

Blinddarmkrebs. Für Giulia beginnt<br />

ein Leben «wie auf einer Achterbahn».<br />

Dem Alltag kam die Normalität<br />

abhanden und Giulia die grosse<br />

kindliche Illusion, dass Eltern un ­<br />

zerstörbar sind. Sie sah zu, wie sich<br />

ihre Mutter «von einem kerngesunden<br />

Menschen» in jemanden verwandelte,<br />

«der aussieht, als würde er<br />

sterben».<br />

«Habe ich Mami gesagt, dass ich<br />

sie gerne habe?» Das wurde Giulias<br />

dringende Frage beim täglichen Spitalbesuch.<br />

Ihr Alltag änderte sich radikal<br />

«Jugendliche sind über die Medien<br />

laufend mit dem Tod konfrontiert,<br />

aber stets aus sicherer Distanz», sagt<br />

der Psychiater Alain Di Gallo, Direktor<br />

der Kinder- und Jugendpsychiatrischen<br />

Klinik Basel. «Werden sie<br />

nun mit der schweren Er krankung<br />

eines Elternteils konfrontiert, kommt<br />

es zu einem Einbruch der Endlichkeit,<br />

was existenzielle Fragen aufwirft.»<br />

Giulias Fragen betrafen nicht nur<br />

die Existenz im Sinne von Leben<br />

und Tod. Durch die Krankheit der<br />

Mutter veränderte sich ihr Alltag<br />

radikal. Statt Schulaufgaben erledigte<br />

sie zu Hause den Haushalt. Statt<br />

ihren Brieffreunden zu antworten,<br />

gab sie Bekannten und Verwandten<br />

telefonisch Auskunft über das Befinden<br />

der Mutter. Das ist kein unbekanntes<br />

Phänomen, wie Agnes Leu<br />

weiss: «Unsere Forschung zeigt, dass<br />

sich Jugendliche als Kommunikationsstelle<br />

fühlen, die alles triagiert,<br />

sortiert. Jeder ruft sie an – vom Arzt<br />

bis zum entfernten Bekannten. Das<br />

ist zeitaufwendig und belastend.»<br />

Die Belastung fiel in einen Zeitraum,<br />

der für Jugendliche ohnehin<br />

ein Kraftakt ist. «Ausser vielleicht<br />

bei der Geburt und beim Tod sind<br />

die physiologischen und psychischen<br />

Ansprüche an einen Menschen<br />

nie grösser als während der<br />

Adoleszenz», sagt August Flammer.<br />

Der inzwischen emeritierte Professor<br />

für Entwicklungspsychologie an<br />

der Universität Bern hat Jugendliche<br />

über Jahre erforscht. «Freundschaften,<br />

Ausbildung, Lebensstil, Aussehen,<br />

Sexualität, die Ablösung von<br />

den Eltern – das alles ist ein enormer<br />

Aufwand für die Heranwachsenden.»<br />

Die zusätzliche Belastung zehrte<br />

an Giulias Kräften. Sie zog die Konsequenzen,<br />

pausierte mit der Fernmatur<br />

und stellte Hobbys ein. Als<br />

ihre Mutter nach sechs Wochen aus<br />

dem Spital nach Hause entlassen<br />

wurde, wehrten sich Vater und<br />

Tochter. Zu gross war ihre Angst,<br />

dass sie der Aufgabe nicht gewachsen<br />

sein würden. «Ich fühlte mich<br />

verantwortlich für meine Mutter, die<br />

eben noch im Sterben gelegen hatte.<br />

Mein Vater redete mit dem Arzt<br />

über eine Rehabilitationsklinik. Dieser<br />

fand aber, Mami sei jung und zu<br />

Hause besser aufgehoben. Die Familie<br />

sei ja noch da. Wir redeten mit<br />

Mami. Auch sie bestand darauf,<br />

nach Hause zu kommen. Bei ihren<br />

Freunden stiessen wir auf Unverständnis.<br />

So kam Mami heim. Wir<br />

freuten uns nicht.»<br />

Giulia hält inne, als warte sie ab,<br />

welche Reaktion auf ihre Worte<br />

folgt. Auf einem Möbel hinter ihr<br />

lächelt sie zusammen mit ihren<br />

56

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