Kunsthaus Zürich Zürcher Kunstgesellschaft Jahresbericht 2010

Kunsthaus Zürich Zürcher Kunstgesellschaft Jahresbericht 2010 Kunsthaus Zürich Zürcher Kunstgesellschaft Jahresbericht 2010

11.12.2012 Aufrufe

94 Dieses aus dem Zufall oder aus dem Unbewussten aufsteigende Land der freien Schöpfung und der Freiheit überhaupt sah Richter in der abstrakten, vom Gegenständlichen gänzlich gelösten Kunst. Die spontanen Gestaltungen Arps sind in diesem Sinn wohl nicht nur die künstlerisch intensivsten, sondern auch von ihrem Ansatz her die dadaistischsten Kunstwerke überhaupt. Während dieser über eine vollendete Balance von Zufall und bewusster Kontrolle verfügte, war Richter mit den chaotischen, vom Nihilismus bedrohten Improvisationen bald nicht mehr zufrieden. Ferruccio Busoni, der damals ebenfalls in Zürich weilte, riet ihm, sich mit dem Kontrapunkt Bachs im Klavierbüchlein für Anna Magdalena auseinanderzusetzen, und aus der Übertragung dieser polaren Ordnungsideen entwickelte Richter aus einfachen Elementen in der Art chinesischer Zeichen oder Arps Amöben die «Dada-Köpfe»: Etüden in Tusche auf weissem Papier über das Gleichgewicht von Positiv- und Negativ-Formen, über das Verhältnis gestalthafter 1 Den kohärentesten Überblick über Richters Leben und Tätigkeiten bietet die Chronologie von Marion von Hofacker in: Hans Richter. 1888–1976. Dadaist, Filmpionier, Maler, Theoretiker (Ausst.-Kat. Berlin, Akademie der Künste, Kunsthaus Zürich, Lenbachhaus, München, 1982), im Übrigen dominieren Richters eigene Schriften und die oft leicht variierten autobiographischen Mitteilungen: Hans Richter: DADA – Kunst und Antikunst (Köln 1964; = DuMont Dokumente); Hans Richter. Einführung Herbert Read. Autobiographischer Text des Künstlers (ed. Marcel Joray, Neuenburg 1965, reich illustriert); Hans Richter by Hans Richter (ed. Cleve Gray, New York 1971, illustriert); Hans Richter. Opera grafica dal 1902 al 1969 (ed. Olivio Galassi, Pollenza 1976, umfangreicher Abbildungsband meist von Zeichnungen aus der früheren Zeit mit kurzen Kommentaren Richters). Neuere Forschungen in: Hans Richter. Activism, Modernism, and the Avant-Garde (ed. Stephen C. Foster, Cambridge, (Mass. 1998, mit reicher Bibliographie). 2 Ursula Perucchi: Zu den Zeichnungen und Bildern von Hans Richter (in: Kunsthaus Zürich. Zürcher Kunstgesellschaft. Jahresbericht 1977, S. 77–81). Die Auswahl umfasst vor allem politisch-kritische Blätter aus der Kriegszeit und Dada-Köpfe von 1918. – Hans Bolliger, Guido Magnaguagno, Raimund Meyer: Dada in Zürich (Zürich 1985; = Sammlungsheft 11 Kunsthaus Zürich) mit einer eingehenden Darstellung der Ereignisse von Raimund Meyer und dem Katalog der Bestände, zu Richter insbes. S. 132–154. Fügungen zur Bildfläche. Durch den von Tzara vermittelten Kontakt zu Viking Eggeling ergaben sich daraus in einem weiteren Schritt die grafischen Umsetzungen kompositorischer Strukturen, die durch den impliziten zeitlichen Ablauf zur Reihung drängten und dies wiederum führte 1921 zum Kino und den ersten abstrakten Filmen. Damit hatte Richter seine eigentliche Berufung und historische Bedeutung erreicht. Daneben aber liefen die politischen Aktivitäten, die Karikaturen für Pfemferts «Aktion» und Rubiners «Zeit- Echo», die «Welt der Ochsen und Schweine», 1918 dann auch die Mitwirkung in der Münchner Räterepublik und an sozialistischen und pazifistischen Treffen bis nach Zimmerwald. Wie diese Agitation aber mit der abstrakten Kunst –damals freilich noch ein Bürgerschreck –, dem Ideal Richters vom freien individuellen Künstlertum, das in jedem Menschen schlummere, in Einklang gebracht werden könnte, bleibt bis heute ein ungelöstes Problem. 19 Christian Klemm 3 S. Richter by Richter 1971 (wie Anm. 1), S. 47. – Margarete Melzer war später mit dem Schauspieler und Journalisten Dieter Gütt liiert, dem sie die ihr von Richter geschenkten Werke vermachte, der sie seinerseits seiner Frau Inge Dambruch-Gütt vererbte; von ihr wurden sie vom Kunsthaus erworben, begleitet von einer Korrespondenz Gütts mit Richter von 1971–1974. – Für die technischen Angaben s. oben S. 9. – Wir möchten hier Frau Dambruch-Gütt und Frau Marion von Hofacker für ihre Hilfe, die zahlreichen Hinweise und das Gutachten sehr danken. 4 Abbildung in Richter, ed. Foster 1998 (wie Anm. 1), S. 21. 5 Richter by Richter 1971 (wie Anm. 1), S. 21. – Die Bemerkung Richters aus seinem Brief an Dieter Gütt vom 13. Dezember 1973. 6 Kat. Berlin/Zürich 1982 (wie Anm. 1), Farbabb. S. 59. Hier, bei Richter, ed. Joray 1965 (wie Anm. 1) und bei Roberto Sanesi: Hans Richter. Annotazioni sul linguaggio di Hans Richter (Pollenza 1978, Text ital./ engl.) findet man mehrere frühe Gemälde abgebildet. 7 Zur Rezeption der Avantgarde und zur malerischen Produktion vor Dada vgl. Richter by Richter 1971 (wie Anm. 1), S. 21–26 und Timothy O. Benson: Abstraction, Autonomy, and Contradiction in the Politicization of the Art of Hans Richter (in: Richter, ed. Foster 1998 [wie Anm. 1], S. 16–46), insbes. S. 21–25. 8 Vgl. Anm. 7. Es scheint kein näher verwandtes Gemälde Richters erhalten zu sein; an Landschaften sind noch frühere Bilder des Kurfürstendamms (Sanesi, wie Anm. 6, Abb. S. 42–44) bekannt, ver-

gleichbarer «Ghost Cyclists» und zwei Bilder «Revolution», alle von 1914 (Sanesi, Abb. S. 50, 46, 52). 9 Aargauer Kunsthaus Aarau, 1915 weiterentwickelt in «Orchester» und «Arbeiter», Richter, ed. Joray 1965 (wie Anm. 1), Abb. S. 13–15. 10 Kat. Berlin/Zürich 1982 (wie Anm. 1), S. 53, Abb. 11 Unter den bekannten Gemälden Richters gibt es nichts unmittelbar Vergleichbares: Es ist offensichtlich ein Experiment zwischen den in Anm. 9 genannten Werken und den beiden nur in dem Bilderheft zur ersten Dada-Ausstellung, Galerie Corray Januar/Februar 1917 (s. Sammlungsheft Dada Zürich 1985, wie Anm. 2, Nr. 106) überlieferten Gemälden «Simultaneistische Landschaft» (an Klees oder Mackes Tunis-Aquarelle erinnernd) und «Innerliche Musik» (ganz abstrakt, vielleicht noch schwach an ein Gesicht erinnernd). Richter bemerkte 1971 dazu, dass hier zum ersten Mal die für ihn später so wichtigen Rechtecke und Quadrate auftreten (Richter by Richter 1971, wie Anm. 1, S. 80, beide abgebildet S. 81). Das vergleichsweise etwas etüdenhaft wirkende und dem Kubismus noch näher stehende «Selbstbildnis in Rot und Blau» dürfte unmittelbar davor entstanden sein. 12 Sammlungsheft Dada Zürich 1985 (wie Anm. 2), Nr. 15, Farbabb. S. 110 (Gemälde), Nr. 13, 14 (Zeichnungen). 13 Ebendort Nr. 38, Farbabb. S. 111. Zur Identifikation mit Graf Pedro- so s. Richter: Dada 1964 (wie Anm. 1), S. 61. 14 Richter, ed. Joray 1965 (wie Anm. 1), S. 18, hier auch die Seite aus dem Ausst.-Kat. der Galerie Wolfsberg 1918 mit den Bildtiteln reproduziert; der Einschub «drei bis vier am Tag» nur in der englischen Version: Richter by Richter 1971 (wie Anm. 1), S. 33. 15 Richter: Dada 1964, S. 56, ähnlich Richter by Richter 1971, S. 64, 67 (beide wie Anm. 1). 16 Abbildungen: Ekstase: Sanesi 1978 (wie Anm. 6), S. 62 (hier S. 62 auch die verwandte, gleichzeitig ausgestellte «Tropische Madonna») – Macabre: Ausst.-Kat. Berlin/Zürich 1982, farbig S. 75 – Lokomotivseele: Richter, ed. Foster 1998, Farbtaf. 8 bei S. 149 – Selbstbildnis: Richter by Richter 1971, farbig S. 74 – Hennings: Ausst.-Kat. Berlin/ Zürich 1982, S. 74 – Liesl: Richter, ed. Joray 1965, S. 14 (alle wie Anm. 1). 17 Richter: Dada 1964 (wie Anm. 1), S. 57. 18 Richter, ed. Joray 1965 (wie Anm. 1), S. 18. 19 Dazu Benson: Abstraction, Autonomy, and Contradiction in the Politicization of the Art of Hans Richter (wie Anm. 7). 95

gleichbarer «Ghost Cyclists» und zwei Bilder «Revolution», alle von<br />

1914 (Sanesi, Abb. S. 50, 46, 52).<br />

9 Aargauer <strong>Kunsthaus</strong> Aarau, 1915 weiterentwickelt in «Orchester»<br />

und «Arbeiter», Richter, ed. Joray 1965 (wie Anm. 1), Abb. S. 13–15.<br />

10 Kat. Berlin/<strong>Zürich</strong> 1982 (wie Anm. 1), S. 53, Abb.<br />

11 Unter den bekannten Gemälden Richters gibt es nichts unmittelbar<br />

Vergleichbares: Es ist offensichtlich ein Experiment zwischen den in<br />

Anm. 9 genannten Werken und den beiden nur in dem Bilderheft zur<br />

ersten Dada-Ausstellung, Galerie Corray Januar/Februar 1917 (s.<br />

Sammlungsheft Dada <strong>Zürich</strong> 1985, wie Anm. 2, Nr. 106) überlieferten<br />

Gemälden «Simultaneistische Landschaft» (an Klees oder Mackes<br />

Tunis-Aquarelle erinnernd) und «Innerliche Musik» (ganz abstrakt,<br />

vielleicht noch schwach an ein Gesicht erinnernd). Richter bemerkte<br />

1971 dazu, dass hier zum ersten Mal die für ihn später so wichtigen<br />

Rechtecke und Quadrate auftreten (Richter by Richter 1971, wie Anm.<br />

1, S. 80, beide abgebildet S. 81). Das vergleichsweise etwas etüdenhaft<br />

wirkende und dem Kubismus noch näher stehende «Selbstbildnis<br />

in Rot und Blau» dürfte unmittelbar davor entstanden sein.<br />

12 Sammlungsheft Dada <strong>Zürich</strong> 1985 (wie Anm. 2), Nr. 15, Farbabb. S.<br />

110 (Gemälde), Nr. 13, 14 (Zeichnungen).<br />

13 Ebendort Nr. 38, Farbabb. S. 111. Zur Identifikation mit Graf Pedro-<br />

so s. Richter: Dada 1964 (wie Anm. 1), S. 61.<br />

14 Richter, ed. Joray 1965 (wie Anm. 1), S. 18, hier auch die Seite aus<br />

dem Ausst.-Kat. der Galerie Wolfsberg 1918 mit den Bildtiteln reproduziert;<br />

der Einschub «drei bis vier am Tag» nur in der englischen<br />

Version: Richter by Richter 1971 (wie Anm. 1), S. 33.<br />

15 Richter: Dada 1964, S. 56, ähnlich Richter by Richter 1971, S. 64, 67<br />

(beide wie Anm. 1).<br />

16 Abbildungen: Ekstase: Sanesi 1978 (wie Anm. 6), S. 62 (hier S. 62<br />

auch die verwandte, gleichzeitig ausgestellte «Tropische Madonna»)<br />

– Macabre: Ausst.-Kat. Berlin/<strong>Zürich</strong> 1982, farbig S. 75 – Lokomotivseele:<br />

Richter, ed. Foster 1998, Farbtaf. 8 bei S. 149 – Selbstbildnis:<br />

Richter by Richter 1971, farbig S. 74 – Hennings: Ausst.-Kat. Berlin/<br />

<strong>Zürich</strong> 1982, S. 74 – Liesl: Richter, ed. Joray 1965, S. 14 (alle wie<br />

Anm. 1).<br />

17 Richter: Dada 1964 (wie Anm. 1), S. 57.<br />

18 Richter, ed. Joray 1965 (wie Anm. 1), S. 18.<br />

19 Dazu Benson: Abstraction, Autonomy, and Contradiction in the<br />

Politicization of the Art of Hans Richter (wie Anm. 7).<br />

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