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Kunsthaus Zürich Zürcher Kunstgesellschaft Jahresbericht 2010

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Dieses aus dem Zufall oder aus dem Unbewussten<br />

aufsteigende Land der freien Schöpfung und der<br />

Freiheit überhaupt sah Richter in der abstrakten, vom<br />

Gegenständlichen gänzlich gelösten Kunst. Die spontanen<br />

Gestaltungen Arps sind in diesem Sinn wohl<br />

nicht nur die künstlerisch intensivsten, sondern auch<br />

von ihrem Ansatz her die dadaistischsten Kunstwerke<br />

überhaupt. Während dieser über eine vollendete<br />

Balance von Zufall und bewusster Kontrolle verfügte,<br />

war Richter mit den chaotischen, vom Nihilismus<br />

bedrohten Improvisationen bald nicht mehr zufrieden.<br />

Ferruccio Busoni, der damals ebenfalls in <strong>Zürich</strong><br />

weilte, riet ihm, sich mit dem Kontrapunkt Bachs im<br />

Klavierbüchlein für Anna Magdalena auseinanderzusetzen,<br />

und aus der Übertragung dieser polaren<br />

Ordnungsideen entwickelte Richter aus einfachen<br />

Elementen in der Art chinesischer Zeichen oder Arps<br />

Amöben die «Dada-Köpfe»: Etüden in Tusche auf weissem<br />

Papier über das Gleichgewicht von Positiv- und<br />

Negativ-Formen, über das Verhältnis gestalthafter<br />

1 Den kohärentesten Überblick über Richters Leben und Tätigkeiten<br />

bietet die Chronologie von Marion von Hofacker in: Hans Richter.<br />

1888–1976. Dadaist, Filmpionier, Maler, Theoretiker (Ausst.-Kat.<br />

Berlin, Akademie der Künste, <strong>Kunsthaus</strong> <strong>Zürich</strong>, Lenbachhaus,<br />

München, 1982), im Übrigen dominieren Richters eigene Schriften<br />

und die oft leicht variierten autobiographischen Mitteilungen: Hans<br />

Richter: DADA – Kunst und Antikunst (Köln 1964; = DuMont Dokumente);<br />

Hans Richter. Einführung Herbert Read. Autobiographischer<br />

Text des Künstlers (ed. Marcel Joray, Neuenburg 1965, reich illustriert);<br />

Hans Richter by Hans Richter (ed. Cleve Gray, New York 1971,<br />

illustriert); Hans Richter. Opera grafica dal 1902 al 1969 (ed. Olivio<br />

Galassi, Pollenza 1976, umfangreicher Abbildungsband meist von<br />

Zeichnungen aus der früheren Zeit mit kurzen Kommentaren Richters).<br />

Neuere Forschungen in: Hans Richter. Activism, Modernism,<br />

and the Avant-Garde (ed. Stephen C. Foster, Cambridge, (Mass. 1998,<br />

mit reicher Bibliographie).<br />

2 Ursula Perucchi: Zu den Zeichnungen und Bildern von Hans Richter<br />

(in: <strong>Kunsthaus</strong> <strong>Zürich</strong>. <strong>Zürcher</strong> <strong>Kunstgesellschaft</strong>. <strong>Jahresbericht</strong><br />

1977, S. 77–81). Die Auswahl umfasst vor allem politisch-kritische<br />

Blätter aus der Kriegszeit und Dada-Köpfe von 1918. – Hans Bolliger,<br />

Guido Magnaguagno, Raimund Meyer: Dada in <strong>Zürich</strong> (<strong>Zürich</strong> 1985;<br />

= Sammlungsheft 11 <strong>Kunsthaus</strong> <strong>Zürich</strong>) mit einer eingehenden Darstellung<br />

der Ereignisse von Raimund Meyer und dem Katalog der<br />

Bestände, zu Richter insbes. S. 132–154.<br />

Fügungen zur Bildfläche. Durch den von Tzara vermittelten<br />

Kontakt zu Viking Eggeling ergaben sich daraus<br />

in einem weiteren Schritt die grafischen Umsetzungen<br />

kompositorischer Strukturen, die durch den impliziten<br />

zeitlichen Ablauf zur Reihung drängten und dies<br />

wiederum führte 1921 zum Kino und den ersten abstrakten<br />

Filmen. Damit hatte Richter seine eigentliche<br />

Berufung und historische Bedeutung erreicht. Daneben<br />

aber liefen die politischen Aktivitäten, die Karikaturen<br />

für Pfemferts «Aktion» und Rubiners «Zeit-<br />

Echo», die «Welt der Ochsen und Schweine», 1918<br />

dann auch die Mitwirkung in der Münchner Räterepublik<br />

und an sozialistischen und pazifistischen Treffen<br />

bis nach Zimmerwald. Wie diese Agitation aber mit der<br />

abstrakten Kunst –damals freilich noch ein Bürgerschreck<br />

–, dem Ideal Richters vom freien individuellen<br />

Künstlertum, das in jedem Menschen schlummere, in<br />

Einklang gebracht werden könnte, bleibt bis heute ein<br />

ungelöstes Problem. 19<br />

Christian Klemm<br />

3 S. Richter by Richter 1971 (wie Anm. 1), S. 47. – Margarete Melzer<br />

war später mit dem Schauspieler und Journalisten Dieter Gütt liiert,<br />

dem sie die ihr von Richter geschenkten Werke vermachte, der sie<br />

seinerseits seiner Frau Inge Dambruch-Gütt vererbte; von ihr wurden<br />

sie vom <strong>Kunsthaus</strong> erworben, begleitet von einer Korrespondenz<br />

Gütts mit Richter von 1971–1974. – Für die technischen Angaben s.<br />

oben S. 9. – Wir möchten hier Frau Dambruch-Gütt und Frau Marion<br />

von Hofacker für ihre Hilfe, die zahlreichen Hinweise und das Gutachten<br />

sehr danken.<br />

4 Abbildung in Richter, ed. Foster 1998 (wie Anm. 1), S. 21.<br />

5 Richter by Richter 1971 (wie Anm. 1), S. 21. – Die Bemerkung Richters<br />

aus seinem Brief an Dieter Gütt vom 13. Dezember 1973.<br />

6 Kat. Berlin/<strong>Zürich</strong> 1982 (wie Anm. 1), Farbabb. S. 59. Hier, bei Richter,<br />

ed. Joray 1965 (wie Anm. 1) und bei Roberto Sanesi: Hans Richter.<br />

Annotazioni sul linguaggio di Hans Richter (Pollenza 1978, Text ital./<br />

engl.) findet man mehrere frühe Gemälde abgebildet.<br />

7 Zur Rezeption der Avantgarde und zur malerischen Produktion vor<br />

Dada vgl. Richter by Richter 1971 (wie Anm. 1), S. 21–26 und Timothy<br />

O. Benson: Abstraction, Autonomy, and Contradiction in the Politicization<br />

of the Art of Hans Richter (in: Richter, ed. Foster 1998 [wie<br />

Anm. 1], S. 16–46), insbes. S. 21–25.<br />

8 Vgl. Anm. 7. Es scheint kein näher verwandtes Gemälde Richters<br />

erhalten zu sein; an Landschaften sind noch frühere Bilder des<br />

Kurfürstendamms (Sanesi, wie Anm. 6, Abb. S. 42–44) bekannt, ver-

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