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Kunsthaus Zürich Zürcher Kunstgesellschaft Jahresbericht 2010

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92<br />

«Sturm»:zumdeutschenExpressionismusundimgrossen<br />

Herbstsalon 1913 zur ganzen Breite der internationalen<br />

aktuellen Strömungen, von den Fauves über den<br />

Kubismus und Orphismus bis zum Futurismus. Neben<br />

der künstlerischen Intensität der neuen Ausdrucksformen<br />

reizt ihn die Kühnheit, die natürlichen Objekte<br />

nicht einfach abzubilden, sondern in der Abstraktion zu<br />

zerlegen, zu zersplittern. Schon zuvor hatte er in Zeichnungen<br />

und in einem Gemälde versucht, die Rhythmen<br />

der Bewegungen von Arbeitergruppen im Strassenbau<br />

zu erfassen. 6 Die summarische Gestaltung, letztlich in<br />

der Tradition von Daumier, zeigt bereits eine erstaunliche<br />

Dominanz der Energien der Bildfläche über die<br />

plastische und räumliche Illusion.<br />

Die Rückseite des zweiten neu erworbenen<br />

Gemäldes führt in Motiv und Farbigkeit bereits einen<br />

Schritt weiter: In den beiden weidenden, von einem<br />

kosmisch gerundeten Hügel überwölbten Pferden<br />

setzt sich Richter offensichtlich mit der orphischen<br />

Kunst Franz Marcs auseinander. 7 Die Vorderseite mit<br />

der «Schlittenfahrt» (Abb. 5) bietet sodann das künstlerisch<br />

geglückteste Resultat der analytisch kubistischen<br />

Umsetzung des Räumlichen ins Flächige;<br />

geometrisch kristallin splittrige Partikel vermögen<br />

den Tiefensog und die Stimmung des Winterfrosts<br />

zu evozieren. Das Bedrohliche der letzten Bilder von<br />

Marc, die das «Stahlgewitter» des ausbrechenden<br />

Weltkriegs vorwegzunehmen scheinen, die Hektik des<br />

Futurismus, vor allem das dynamische Raumerleben<br />

Delaunays fliessen hier zu etwas Eigenem zusammen,<br />

das sich dem Betrachter in der Dynamik des vielschichtig<br />

verstrebten Formgefüges mitteilt. Rhythmus<br />

und Bewegung erweisen sich bereits hier als zentral<br />

für die künstlerische Intension. 8<br />

Parallel zu der Erforschung dieser neuen Gestaltungsprinzipien<br />

im Räumlich-Landschaftlichen steht<br />

ihre Anwendung im Figürlich-Plastischen; das beste<br />

Beispiel bietet das «Cello», eigentlich ein mit seinem<br />

Instrument zusammen schmelzender Cellist. 9 Die<br />

dynamische Rhythmik der Formen kann hier direkt<br />

als das Hin- und Herstreichen des Bogens, als Vibrato<br />

des Klanges verstanden werden. Gegenüber der<br />

«Schlittenfahrt» schliessen sich die einzelnen Formpartikel<br />

stärker zu geometrischen Zellen zusammen,<br />

und diese Tendenz sehen wir in dem «Selbstbildnis in<br />

Rot und Blau» von 1916 weiterentwickelt. Inzwischen<br />

musste Richter im September 1914 an die Ostfront<br />

einrücken, wurde nach einigen Monaten in Litauen<br />

schwer verletzt und später in ein Berliner Militärspital<br />

verlegt. Für Franz Pfemferts sozialistische, gegen den<br />

Krieg gerichtete Wochenschrift «Die Aktion» beginnt<br />

er regelmässig Zeichnungen und Linolschnitte, meist<br />

Portraits, zu liefern; am 25. März 1916 widmet ihm<br />

Pfemfert eine Sondernummer mit einem poetisch<br />

kunstkritischen Text von Theodor Däubler, in dem<br />

dieser seine konsequent moderne, aber von keinem<br />

Programm eingeengte Suche lobt. 10 Und tatsächlich<br />

erscheint das «Selbstbildnis in Rot und Blau» (Abb.<br />

4) in seinem strengen Aufbau aus Rechtecken in den<br />

Primärfarben weniger von dem expressiv kristallinen<br />

Kubismus als von einer geometrischen Flächenkonstruktion<br />

bestimmt. Es geht entschieden über das<br />

Selbstbildnis auf der Sondernummer hinaus, und so<br />

ist es vermutlich bereits in <strong>Zürich</strong> unter dem Eindruck<br />

der Werke Otto van Rees und Marcel Jancos entstanden.<br />

11 Denn am 15. September 1916 trifft er hier um<br />

drei Uhr nachmittags im Café de la Terrasse Ferdinand<br />

Hardekopf und Albert Ehrenstein, wie sie es genau<br />

zwei Jahre vorher bei der Abschiedsparty in Berlin vor<br />

dem Einrücken an die Front abgemacht haben. Alsbald<br />

wird er mit Tzara, Janco, Arp und dem ganzen Dada-<br />

Kreis bekannt gemacht. Die erste, vor allem literarisch<br />

provokative Saison der Bewegung im Cabaret Voltaire<br />

ist bereits vorbei und er kommt gerade rechtzeitig zur<br />

Fortsetzung, in der die bildenden Künste die wichtigere<br />

Rolle spielen. Die betont anti-dogmatische Haltung<br />

des Kreises entspricht der Auffassung Richters und<br />

der Breite seiner Experimentierlust; das «Selbstbildnis<br />

in Rot und Blau» markiert in dieser Phase den Extrempunkt<br />

geometrischer Strenge. Eine ähnliche Farbigkeit<br />

zeigt das Herbst-Bild, das in seiner lyrischen Lockerheit<br />

als Ausdruck des Aufatmens im Frieden der Schweiz<br />

aufgefasst wird. Das auf den Vorzeichnungen dominierende<br />

zwitschernde Vögelein ist in der abstrahieren-

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