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Kunsthaus Zürich Zürcher Kunstgesellschaft Jahresbericht 2010

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schen Wesens sind alles andere als ätherisch, ebenso<br />

wie das Gesicht und die Hände Mariae nicht an die<br />

Himmelskönigin, sondern an eine Magd denken lässt:<br />

«Ecce ancilla Domini» –«Siehe die Magd des Herrn,<br />

mir geschehe nach Deinem Wort», spricht sie zu Gabriel,<br />

das Wunder der Menschwerdung Gottes vollziehend.<br />

Und auch diese Worte des Evangelisten Lukas<br />

sprechen die Gläubigen täglich im «Angelus»-Gebetszyklus.<br />

Dieser Realismus, der die unterste Schicht der<br />

sozialen Hierarchie erfassen will, ist zentral für die<br />

Kunst Caravaggios und seiner Nachfolger und beruht<br />

auf der Frömmigkeitstradition der Bettelorden und<br />

ihrer Weiterentwicklung in der Gegenreformation: Je<br />

tiefer sich Jesus in seiner Menschwerdung erniedrigt,<br />

desto grösser ist die Gnadenfülle Gottes. Neben dem<br />

Prinzip der Vergebung gehört diese Demut des Höchsten<br />

vor dem Niedrigsten zu den grossen menschheitsgeschichtlichen<br />

Errungenschaften des Christentums.<br />

Es entspricht dieser Betonung des Niedrigen,<br />

dass das Materielle, das Physische der Dinge besonderes<br />

Gewicht erhält. Das Wesentliche im Ereignis der<br />

Verkündigung besteht darin, dass Gott in diese Materialität<br />

eingeht, «inkarniert», d.h. «Fleisch» wird. «Inkarnat»<br />

ist einer der ältesten Fachbegriffe der Maler; er<br />

bedeutet heute nur noch Farbe und Behandlung der<br />

Haut. Ursprünglich aber gab er zu verstehen, dass hier<br />

die dargestellten Heiligen «Fleisch» werden, und dies<br />

konnte nur die Malerei sinnlich erfahrbar machen. 9<br />

Um die Wiedergabe der Materialität bemühten sich die<br />

Caravaggisten besonders und entwickelten stark individuell<br />

geprägte Varianten im Spannungsfeld zwischen<br />

real Gegebenem, vom Licht sichtbar Gemachtem, vom<br />

Standort des Betrachters mehr oder weniger scharf<br />

Wahrgenommenen und schliesslich den Möglichkeiten<br />

der malerischen Umsetzung oder Realisierung<br />

auf der Leinwand. Bis zu welchem Grad Terbrugghen<br />

dies stofflich Gegenständliche vergegenwärtigen<br />

kann, zeigt der Flügel und sein Gefieder; wir sind hier<br />

wohl absolut am oberen Ende des Möglichen, wie ein<br />

Seitenblick zu Stom verdeutlicht. Während dieser die<br />

Intensität der dinglichen Präsenz im beleuchteten<br />

Bereich ziemlich gleichmässig beibehält, variiert sie<br />

Terbrugghen vielfältig. Dadurch wird die unabweisbare<br />

Materialität des Flügels speziell herausgehoben,<br />

zum «Statement», zum Beweis der physischen<br />

Realität des Engels. Von ähnlicher Dichte ist nur der<br />

schmutzige Fuss, der die Figur an der vorderen Bildkante<br />

verankert, und von hier nimmt sie ab bis zur fernen,<br />

nur mehr erahnbaren Taube des Heiligen Geistes.<br />

Das Kunstmittel dient somit zur Erschliessung<br />

der räumlichen Tiefe, und das ist seine Hauptfunktion<br />

in der Malerei des 17. Jahrhunderts. Die abnehmende<br />

Schärfe der Wahrnehmung verbindet sich mit der<br />

zunehmenden Verschleierung durch die Atmosphäre.<br />

Dadurch wird das oben beschriebene Modell für die<br />

Erfahrung des Betenden erst richtig anschaulich: Die<br />

Grade der physischen Realität werden vom Betrachter<br />

im realen Raum über den fast greifbaren Engel zur<br />

Maria und schliesslich zum Heiligen Geist abgestuft.<br />

Der verschattete Kopf Gabriels, der sich als dunkles<br />

Profil vor dem blassen Blau des Mantels abhebt,<br />

betont zwar die räumliche Schichtung der beiden Protagonisten,<br />

zugleich aber wirkt er durch die schwache<br />

Modellierung als flächenbetonende Silhouette, ein<br />

Effekt, der durch das frontale Gesicht Mariens dicht<br />

daneben noch gesteigert wird. 10 Auch die Flügel scheinen<br />

in der Bildfläche zu liegen, statt sich diagonal in den<br />

Raum zu entfalten. Die Schulterlinie ist so stark in den<br />

Zug vom rechten zum linken Arm eingespannt, dass<br />

die Rückenpartie primär als Teil dieses nahezu abstrakten<br />

Gefüges wahrgenommen wird. Die ornamental<br />

expressiv weit gespannte Geste um die Figur der<br />

Maria kontrastiert mit der geschlossenen Haltung der<br />

vor der Brust gekreuzten Arme. Am stärksten wird die<br />

Bildrhythmik durch die grossen Farbpartien geprägt,<br />

die schon durch ihre Intensität die Fläche betonen. Die<br />

Faltenschwünge des leuchtend gelben Umhangs des<br />

Engels dienen kaum der Beschreibung seines Körpers,<br />

sondern vielmehr seiner Bewegungsenergie zur<br />

Maria, in deren Mantel die Linien weitergeführt und<br />

rechts nach unten zurück geleitet werden. 11 Die Schärpe<br />

wirkt vollends nur als expressiver Farbträger; ihr<br />

roter Bogen verknüpft sich mit dem Gewand der Maria<br />

und baut so eine in beide Richtungen, von unten nach

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