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Teil 4/12: Sprache

Anthroposophische Perspektiven - In dieser Aufsatzreihe stellen Autoren beispielhaft Perspektiven der Anthroposophie auf das Lebensgebiet ihrer Berufspraxis vor.

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ANTHROPOSOPHISCHE PERSPEKTIVEN<br />

SPRACHE<br />

SERIE: TEIL 4 / <strong>12</strong><br />

SPRECHEN UND SPRACHE<br />

1


EINFÜHRUNG<br />

Mittels Lauten kommunizieren auch Tiere, sogar über Artgrenzen hinweg. Warnlaute von<br />

Vögeln kann sogar der Mensch »verstehen«. Ein Seelisches wird geäußert, das etwa »Achtung!«<br />

bedeutet. Umgekehrt kann man durch Einsatz der menschlichen Stimme mit langsam gesprochenen,<br />

dunklen Lauten ein aufgeregtes Tier beruhigen. Das Wort »Ruhe« – mit sehr<br />

langem »u« gesprochen – eignet sich aufgrund seiner klanglichen Eigenschaften gut dazu. Das<br />

Tier »weiß« ja nicht, was »Ruuuuhe« bedeutet, nimmt aber den lautlichen Eindruck auf und<br />

reagiert. Wenn Menschen miteinander sprechen, geht es um die lautlichen Qualitäten der<br />

Worte, und es geht um ihre mehr oder minder definierte lexikalische Bedeutung. Aber im<br />

Wort schwingt mehr mit, ein lebendiges Geistiges. »Ein Vogel käme dir wieder. / Nicht dein<br />

Wort« sagt die Dichterin Hilde Domin, um wenig später das Wort gar mit einem Messer zu<br />

vergleichen: »Ein Messer trifft oft / am Herzen vorbei. / Nicht das Wort« (»Unaufhaltsam«).<br />

Ein Wort kann tödlich verletzen. Glücklicherweise kann es auch trösten, lindern, heilen. Ein<br />

Sprachfehler quält nicht nur den, der mit ihm geschlagen ist. Wie befreiend die Heilung sogar<br />

noch in einer nacherzählten Kino-Geschichte wirken kann, zeigt der Oscar-prämierte Film<br />

»The King’s Speech«, wörtlich übersetzt »Des Königs Rede« oder »Des Königs <strong>Sprache</strong>«. Mit<br />

Bewusstsein für die klanglichen wie Bedeutungsgehalte der <strong>Sprache</strong> lässt sich höchster<br />

künstlerischer Ausdruck ebenso erreichen wie soziale Realität gestalten. Was hier möglich ist,<br />

geht über den reinen Informationsgehalt der gesprochenen Worte weit hinaus.<br />

Der Sprachgestalter und Regisseur Marc Vereeck spürt im folgenden Beitrag den Möglichkeiten<br />

von Sprechen und <strong>Sprache</strong> nach.<br />

››› Manon Haccius<br />

I M P R E S S U M<br />

Anthroposophische Perspektiven / Zwölfteilige Serie<br />

<strong>Teil</strong> 4: Sprechen und <strong>Sprache</strong><br />

Autor: Marc Vereeck<br />

Herausgegeben von: Manon Haccius, Alnatura Produktions- und Handels GmbH,<br />

Darmstädter Straße 63, DE-64404 Bickenbach, www.alnatura.de<br />

Copyright © 2011 by Alnatura Produktions- und Handels GmbH, Bickenbach<br />

Gestaltung: usus.kommunikation, Berlin<br />

Abbildungen: Rudolf Steiner Archiv, Dornach<br />

Verlag: mfk corporate publishing GmbH, Prinz-Christians-Weg 1, DE-64287 Darmstadt<br />

Druck: alpha print medien AG, Darmstadt<br />

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten. Kein <strong>Teil</strong> des Werks darf ohne schriftliche Genehmigung<br />

in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme oder Datenträger verarbeitet,<br />

vervielfältigt oder verbreitet werden. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Herausgebers und des Autors unzulässig.


SPRECHEN UND SPRACHE<br />

MARC VEREECK<br />

<strong>Sprache</strong> ist größer als der<br />

Mensch. Sie stellt sich ihm<br />

bedingungslos zur Verfügung.<br />

Sprechen, »wie mir der Schnabel gewachsen ist«, gehört<br />

zum Alltag. Wir benutzen die <strong>Sprache</strong> wie selbstverständlich<br />

als Medium. Dabei liegt die Aufmerksamkeit<br />

vor allem auf dem Gesagten, auf dem Inhalt, nicht so<br />

sehr auf dem Wie des Sprechens. Jeder will sich verständlich<br />

machen durch <strong>Sprache</strong> 1 .<br />

»Ich sprech’ halt so, wie mir der Schnabel gewachsen<br />

ist«, sagt der junge Mann an der Kasse.<br />

»Es tut mir leid«, antwortet der Kunde, »ich habe<br />

Sie wirklich nicht verstanden. Wie viel soll ich jetzt bezahlen?«<br />

Wie wir etwas sagen, entgeht häufig unserer Aufmerksamkeit.<br />

Auch weitere Aspekte der <strong>Sprache</strong> und des<br />

Sprechens: Kraft, Klang der Stimme, Rhythmus, Gebärden<br />

et cetera bleiben weitgehend unbewusst, obwohl sie so<br />

stark auf das Gegenüber wirken – und auf einen selbst.<br />

Sie kennen das: Sie telefonieren mit jemandem, den<br />

Sie noch nie gesehen haben. Und was entsteht? Sie fangen<br />

an, sich diese Person nur über die Stimme vorzustellen.<br />

Die Stimme ist ein zweiter Mensch im Menschen.<br />

Man kann ihn sogar sehen! Es ist immer lustig, wenn<br />

man dann später die Person leibhaftig sieht, die man bis<br />

dahin nur am Telefon gehört hat. Sie sieht wirklich anders<br />

aus.<br />

Sprechen nur auf gute Artikulation und Sprechtechniken<br />

zu reduzieren, heißt, sich nur auf einen (nicht unwesentlichen)<br />

<strong>Teil</strong>aspekt zu beschränken. <strong>Sprache</strong> und<br />

Sprechen ist viel mehr: Bewegung, Mimik, Atem, Stimmführung,<br />

Stille, Lautcharaktere, Gebärden, Begriffe, Intentionen,<br />

Atmosphäre, Sprach- und Versformen, Grammatik,<br />

Satzbogen, Sprecher und Zuhörer, sogar die Herkunftslandschaft,<br />

der Schriftsteller oder Dichter et cetera<br />

gehören dazu. <strong>Sprache</strong> erscheint in Tausenden verschiedenen<br />

»<strong>Sprache</strong>n« und Dialekten.<br />

<strong>Sprache</strong> ist weit größer als der Mensch. Sie stellt sich<br />

uns Menschen bedingungslos zur Verfügung. Alles macht<br />

sie mit. Sie lässt sich verbiegen, benutzen und ist jederzeit<br />

imstande, dem Menschen ein Ausdrucksforum zu<br />

bieten, welches ihm ermöglicht, über sich hinauszugehen.<br />

SPRACHSTILE<br />

Eine Kostprobe: Der französische Dichter und Schriftsteller<br />

Raymond Queneau hat eine kleine alltägliche Geschichte<br />

in 99 verschiedenen Sprachstilen verfasst (Raymond<br />

Queneau: »Stilübungen«). Einige Eindrücke am<br />

Beispiel des ersten Satzes:<br />

Erzählung:<br />

Eines Tages gegen Mittag erblickte ich auf der hinteren<br />

Plattform eines fast besetzten Autobusses der Linie S<br />

eine Person mit sehr langem Hals, die einen umrandeten<br />

weichen Filzhut trug.<br />

Angaben:<br />

Im Autobus der Linie S, zur Hauptverkehrszeit. Ein Kerl<br />

von etwa sechsundzwanzig Jahren, weicher Hut mit<br />

Kordel anstelle des Bandes, zu langer Hals, als hätte<br />

man daran gezogen.<br />

Alexandriner:<br />

In einem Obus S erblickte eines Tages<br />

ich einen Jämmerling, ich weiß nicht welchen Schlages,<br />

der quengelte, obgleich um seinen Turbanrand<br />

er eine Kordel trug anstatt ein schmuckes Band.<br />

Und dieser junge Mann mit übermäßigem Hals<br />

aus dem es faulig stank, geschmacklos bestenfalls …<br />

Icke:<br />

Icke, icke ne, ha was vorn paar Tarn uff da hintern<br />

Plattform von eem Autobus S jesehn. Icke, ick fand den<br />

Hals von dem jungen Knülch n bißken lang und et Dinge,<br />

det aussah wie ne Kordel un wo er um sein Hut rum<br />

hatte, nee, det fand ick ja ooch verdammt ulkig …<br />

1 Wenn in den Ausführungen vom Sprecher die Rede ist, sind selbstverständlich<br />

beide Geschlechter gemeint.<br />

SPRECHEN UND SPRACHE<br />

3


Freie Verse:<br />

Besetzt<br />

Der Autobus<br />

Leer<br />

Das Herz<br />

Lang<br />

Der Hals<br />

Geflochten<br />

Das Band<br />

Platt<br />

Die Füße …<br />

Welch verschiedene Zugangsweisen und Stile für das<br />

gleiche, lapidare Thema. Andere Wortwahl, Satzgefüge,<br />

Rhythmus et cetera, <strong>Sprache</strong> ist zu jeder Bewegung fähig<br />

und hat dennoch ihre eigenen Gesetze. Sie ist kein Begriffsgerüst,<br />

nicht einfach Lautmaterial oder Fertigprodukt,<br />

dessen wir uns bedienen. Jedes gewordene Wort<br />

geht, indem wir es ergreifen, sofort in Wirkung über. Der<br />

Sprecher baut auf, probiert aus, spricht an, geht auf ein<br />

Lebendiges zu.<br />

»Der Mensch trägt in seiner Kopforganisation<br />

ein Abbild des ganzen<br />

Weltalls. Er muss es nur wahrnehmen.«<br />

Rudolf Steiner im Vortrag am 1. 4. 1922<br />

SPRECHEN UND SPRACHE:<br />

PRAKTIZIERTE GANZHEITLICHKEIT<br />

<strong>Sprache</strong> ist eine Ganzheit, ist mehr als die Summe ihrer<br />

<strong>Teil</strong>e. Wir addieren nicht Laute und Wörter zu Sätzen,<br />

sondern sprechen immer aus einer bewegten Ganzheit<br />

heraus. So lesen und hören wir auch.<br />

Eine weitere Kostprobe:<br />

Leesn Sie mal! Wie enie Stuide eneir Unvisiterät in<br />

Eglnand asuasgt, ist es nchit witichg, in welechr Rienefloghe<br />

die Bstabchuen in eniem Wrot snid. Wiitchg ist<br />

nur, dsas der estre und der leztte Bstabchue an der ritichegn<br />

Sletle setehn, der Rset knan vilölg druchenianedr<br />

und tlotaer Blönisdn sien. Todzterm knan man den Txet<br />

onhe sher goßre Premoble lseen. Das ist so, wiel wir<br />

nchit jeedn Bstachuebn enzelin leesn, snedorn das Wrot<br />

als Gnazes. Wie Sie seehn, ghet das wrilkich! (Aus der<br />

Postkarte »Rienefloghe«, Discordia, Morsbach).<br />

Zur Ganzheit gehört, dass sogar der ganze menschliche<br />

Organismus an der <strong>Sprache</strong> und dem Sprechen beteiligt<br />

ist. Wir alle wissen, wie Körpersprache, Bewegung<br />

und Sprechen zusammenhängen. Viele wissen nicht, dass<br />

das auch den Hörenden betrifft. Rudolf Steiners Sinnesforschung<br />

und die Forschung der Sinnesphysiologen der<br />

letzten Jahrzehnte haben ergeben, dass wir beim Sprechen<br />

unentwegt feinste Bewegungen nicht nur in den<br />

Sprechorganen, sondern mit unserem ganzen Leib ma-


Die Mystiker des Mittelalters<br />

schufen sich<br />

neue Wörter, um Erfahrungen<br />

des Nicht-Sagbaren<br />

Ausdruck zu verleihen.<br />

chen. Wir benutzen nicht nur über hundert Gesichtsmuskeln<br />

bei jedem gesprochenen Laut, sondern unseren<br />

ganzen Muskelorganismus. Der amerikanische Physiologe<br />

William Condon zeigte dies mit Hilfe von Hochgeschwindigkeitskameras.<br />

Er fand sogar heraus, dass die<br />

gleichen feinsten Bewegungsregungen in den Muskeln<br />

beim Hörer ebenfalls auftreten. Diese Bewegungen, die<br />

sich vom Kopf bis zu den Füßen ziehen können, bleiben<br />

unbewusst. Unabhängig von <strong>Sprache</strong> und Kultur hat jeder<br />

gesprochene und gehörte Laut ein spezifisches Bewegungsbild<br />

im ganzen Körper (Wolfgang Held: »Der Resonanzsinn<br />

des Menschen«; Zeitschrift a tempo, 10/2005).<br />

SPRACHE IST TÄTIGKEIT 2<br />

<strong>Sprache</strong> tut etwas mit einem, nicht nur der Inhalt. So ergreift<br />

die Grammatik die dynamischen Verhältnisse, die<br />

Sprachrhythmen geben ganz andere Impulse und Wirkungen.<br />

Ihre griechischen Namen weisen noch auf die<br />

aktive Tätigkeit hin: »Trochäus« (lang-kurz) heißt griechisch<br />

»Läufer«. »Jambus« (kurz-lang) stammt wohl vom<br />

griechischen Wort »Schleuderer«.<br />

<strong>Sprache</strong> ist lebendig, sie entwickelt sich sogar weiter.<br />

Daraus folgt aber auch, dass <strong>Sprache</strong>n »sterben« können,<br />

wie zum Beispiel Latein. In der Etymologie können<br />

wir die schöpferischen Spuren der <strong>Sprache</strong> nachvollziehen.<br />

Jedes Wort hat eine Geschichte, und jedes Wort ist<br />

durch die Geschichte gezeichnet. Viele heute geläufige<br />

Wörter, wie »begreifen«, »Verständnis«, »Eindruck«,<br />

»einleuchten«, »einsehen« et cetera sind zum Beispiel<br />

aus der inneren Tätigkeit der Mystiker im 13. und 14.<br />

Jahrhundert entstanden. Sie schufen neue Wörter, um<br />

ihren geistigen Erfahrungen des Nicht-Sagbaren Ausdruck<br />

zu verleihen. Die <strong>Sprache</strong> hat es mitgemacht, hat<br />

der geistigen Erfahrung ein Gewand gegeben. Das setzt<br />

sich bis heute fort, von neuen Jugendjargons bis hin zu<br />

Wortschöpfungen, wie Globalisierung et cetera.<br />

Die nächste Kostprobe:<br />

Das einfache Wort »Straße« scheint einen Begriff wiederzugeben.<br />

In Wirklichkeit öffnet es eine vielschichtige<br />

Welt, einen ganzen Kosmos. Da ist das immer wechselnde<br />

2 »Die <strong>Sprache</strong> ist, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, etwas<br />

Beständiges und in jedem Augenblick Vorübergehendes (…). Sie selbst<br />

ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia) (…). Sie ist<br />

nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten<br />

Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen.«<br />

Wilhelm von Humboldt, Werke, Band 5.<br />

Gesicht der Straße: Staub, spiegelnde Nässe, Schnee, Blätter,<br />

Sonnenuntergang, die Kurve in den Wald hinein – da<br />

ist die stete Bewegung: Autos, spielende Kinder, Fußgänger,<br />

Postbote, Müllabfuhr, Pferd – da ist die Welt der Geräusche:<br />

Motoren, Gekläff, Geklingel – und unzählige<br />

Stimmen, Dialekte, <strong>Sprache</strong>n, Gespräche aller Art – da<br />

sind Erinnerungen, die jeder mit irgendeiner Straße verbindet:<br />

Kindheitsglück, Arbeitsweg, frohe Begebenheit,<br />

Gerüche, Unfall (Ulrich Häussermann: »Friedensfeier«).<br />

Wir erschaffen eine Welt mit einem Wort! Jedes Wort ist<br />

Akt, schöpferisch formender Akt des Bewusstseins. Der<br />

Schriftsteller Durs Grünbein formuliert das so: »Das<br />

Wort ist ein Wegweiser, in der das Universum physikalischer<br />

Fakten und die Welt des menschlichen Geistes, der<br />

Mythen, Erzählungen und Bilder eins werden« (Durs<br />

Grünbein: Booklettext zur CD »Das Schmetterlingstal«<br />

von Inger Christensen und Hanna Schygulla). Das muss<br />

man vielleicht zweimal lesen, aber Sie haben das bestimmt<br />

schon erlebt: Während des Redens kann plötzlich<br />

jene ruckartige Spannung entstehen, die alles verwandelt.<br />

Auf einmal spricht sich einer unmittelbar aus.<br />

Die Worte sind nicht mehr nur überkommenes Erbe,<br />

nicht mehr Geschwätz. Es mag die überraschende Wendung<br />

in einem Gespräch sein, die dem Menschen, der da<br />

spricht, unversehens eine neue <strong>Sprache</strong> schenkt oder<br />

auch nur den Aufbruch eines einzigen »Ja«. Die Worte<br />

können auf einmal wie neu entspringen und man horcht<br />

auf. Im Sprechen kann jeder an geistige und schöpferische<br />

Vorgänge anknüpfen. Das macht ein Fass mit gewaltigen<br />

Kräften auf!<br />

SPRACHGESTALTUNG<br />

Die von Rudolf und Marie Steiner entwickelte Sprachgestaltung<br />

(österreichisch für Sprecherziehung) greift alle<br />

Aspekte des Sprechens und der <strong>Sprache</strong> auf. Sie knüpft<br />

an eine lange Tradition der Rezitationskunst an, unterstützt<br />

und bereichert die Berufsfelder des Schauspiels,<br />

der Literaturbühne, der Pädagogik, der Therapie und<br />

der Erwachsenenbildung. Die Sprachgestaltung findet<br />

auch Anwendung im Sprechen zur Bewegungskunst der<br />

Eurythmie, im Sprechen von mantrischen Texten und im<br />

Chorsprechen.<br />

Die Sprachgestaltung kann den sprechenden Menschen<br />

immer durchlässiger machen für alle Dimensionen<br />

und Richtungen der <strong>Sprache</strong> und der Sprachkräfte, die<br />

sich im Sprechen offenbaren. Die vielen Sprachgestaltungsübungen<br />

3 haben dabei einen speziellen Ansatz: Sie<br />

3 Die ersten Sprachgestaltungsübungen sind nicht für Künstler,<br />

sondern ganz praktisch bei Anregungen für Ansprachen in der Öffentlichkeit<br />

entstanden. Rudolf Steiner: »Anthroposophie, soziale Dreigliederung<br />

und Redekunst«.<br />

SPRECHEN UND SPRACHE<br />

5


estehen oft aus Sätzen, in denen nicht die Bedeutung,<br />

sondern die Lautfolge eine gezielte Sensibilisierung oder<br />

Kräftigung der Sprachorgane, der Atmung, der Artikulationsfähigkeit<br />

et cetera erzeugt (Rudolf Steiner: »Die<br />

Kunst der Rezitation und Deklamation, Methodik und<br />

Wesen der Sprachgestaltung«). Nach Rudolf Steiner ist<br />

das Hören, »vor allem das Sich-selber-Zuhören«, Ausgangspunkt<br />

jeglicher Sprechtätigkeit. Das ist »wie ein<br />

Fühlen der Laute, was sich durch die Ohren ergießt.«<br />

Das ermöglicht, dass man viel sensibler fühlen lernt, was<br />

die verschiedenen Laute an »natürlicher Selbstverständlichkeit<br />

in der Handhabung der organischen Funktionen«<br />

bewirken.<br />

Jetzt kommt eine Sprechprobe. Sprechen Sie zügig:<br />

Zuwider zwingen zwar<br />

zweizweckige Zwacker zu wenig<br />

zwanzig Zwerge.<br />

Die sehnige Krebse<br />

Sicher suchend schmausen<br />

Das schmatzende Schmachter<br />

Schmiegsam schnellstens<br />

Schnurrig schnalzen.<br />

Merken Sie, was es mit Ihnen macht?<br />

Ein eigener Bereich ist die Stimme. Sie ist unser akustischer<br />

Fingerabdruck. Kein Mensch auf dieser Erde ist<br />

stimmlich identisch mit irgendeinem anderen. Wir sind<br />

gewohnt, uns selbst und andere am Stimmklang zu identifizieren.<br />

Wir bringen in unsere Stimme unser unruhiges<br />

Selbst ständig mit hinein. Stimme spiegelt Stimmung.<br />

Stimme gibt wieder, wenn etwas nicht stimmt.<br />

Die Auseinandersetzung des Sprechers mit der <strong>Sprache</strong><br />

verhält sich nach dem Prinzip der 1996 entdeckten<br />

Spiegelneuronen 4 : Alles in der <strong>Sprache</strong> ist Bewegung,<br />

das verlangt vom Sprecher eine gleiche Beweglichkeit.<br />

<strong>Sprache</strong> stellt sich zur Verfügung, so ist der Sprecher veranlasst,<br />

sich ebenfalls zur Verfügung zu stellen. Der<br />

4 Im Jahr 1996 gelang dem Chef des Physiologischen Instituts der Universität<br />

Parma, Giacomo Rizzolatti, eine spektakuläre Entdeckung. Er<br />

erforschte, in diesem Fall zuerst beim Affen, wie die Neuronen im Hirn,<br />

welche bei einer bestimmten Handlung aktiv werden, genauso tätig<br />

werden, wenn diese Handlung von einem anderen ausgeführt und vom<br />

ersteren nur beobachtet wird. Wir machen alles in der Welt innerlich<br />

mit. Die auf diese Weise aktivierten Neuronen bekamen die Bezeichnung:<br />

»Spiegelneuronen«. Die gewonnenen Erkenntnisse der Tierversuche<br />

wurden später auch beim Menschen als gültig be stätigt. Und<br />

zwar mit erweitertem Wirkungsradius: »Beim Menschen genügt es zu<br />

hören, wie von einer Handlung gesprochen wird, um die Spiegelneuronen<br />

in Resonanz treten zu lassen. Diese Resonanz der Spiegelneurone<br />

erzeugt sogar Handlungsbereitschaften zu dieser Handlung«. Das<br />

Gleiche gilt für die Sprachfähigkeit. Im Gehirn befinden sich die<br />

Nervenzellen, die für die Sprachproduktion zuständig sind, an gleicher<br />

Stelle wie die Spiegelneuronen des bewegungssteuernden Systems. Es<br />

ist nicht ausgeschlossen, dass sie teilweise identisch sind (Joachim Bauer:<br />

»Warum ich fühle, was du fühlst«).<br />

»Das Geistige wird sinnlich<br />

im Gewand, das der<br />

(Sprech-)Künstler ihm gibt«<br />

Rudolf Steiner<br />

Sprachgestalter bildet mit der <strong>Sprache</strong> an sich selbst, indem<br />

er der <strong>Sprache</strong> entspricht.<br />

Ein großes Anliegen der Sprachgestaltung ist die<br />

Kunst, Dichtung zu sprechen, von den ältesten Überlieferungen<br />

alter Kulturen bis hin zu den modernsten<br />

Sprachschöpfungen. Was sich an der Schnittstelle von<br />

<strong>Sprache</strong> und Sprecher an Ereignissen und Gestaltungen<br />

entwickelt, kann man als das Kerngebiet der Sprachgestaltung<br />

bezeichnen. So eröffnen sich ganz andere Haltungen,<br />

andere Räume und Sprechansätze, sogar andere<br />

Artikulationszonen beim Vortragen alter Sagen und Mythen<br />

als bei der modernen Erzählung, als bei der Rezitation<br />

eines Gedichtes, als bei der dramatischen Auseinandersetzung<br />

zwischen mehreren Akteuren auf der Bühne.<br />

Der Sprechkünstler findet die Zugangsweisen immer<br />

am Konkreten der <strong>Sprache</strong>, sei es, dass er mehr dem<br />

Klang nachgeht oder der Satzbildung, der Bewegungsart<br />

oder die Gestimmtheit in einem Laut sucht. In Rudolf<br />

Steiners Dramatischem Kurs finden sich noch viel ungewohntere<br />

Anregungen, zum Beispiel der gymnastische<br />

Fünfkampf der Griechen oder die Schulung in Naturbetrachtung<br />

et cetera, alles in Bezug zu den Offenbarungen<br />

der <strong>Sprache</strong> (Rudolf Steiner: »Sprachgestaltung und dramatische<br />

Kunst«). »Das Sinnliche enthält nämlich alles<br />

Geistige, alles Leben, andersherum gesagt: Das Geistige<br />

wird sinnlich im Gewand, das der (Sprech-)Künstler ihm<br />

gibt« (Rudolf Steiner: »Goethe als Vater einer neuen Ästhetik«).<br />

An den sinnlich-konkreten Komponenten können<br />

sich Kreativität und exakte Fantasie entfalten. Das<br />

ist nicht immer leicht, denn die Arbeit an der <strong>Sprache</strong><br />

führt hinein in viele Dimensionen des Lebens, mit allen<br />

Höhen und Tiefen, in Bewusstes und Unbewusstes, Bekanntes<br />

und Unbekanntes, Gesagtes und nicht Gesagtes.<br />

Ein wichtiges Arbeitsfeld für den bewussten Umgang<br />

mit der <strong>Sprache</strong> ist die Pädagogik. Es ist eine Tatsache,<br />

dass wir heute durch alle Arten von elektronischem, phrasenhaften,<br />

gleichförmigen Müll zugeschüttet werden,<br />

wodurch sogar die Spiegelneuronen im Gehirn nicht mehr<br />

anschlagen 5 . Es ist aber nicht so, dass die <strong>Sprache</strong> selbst<br />

verloren geht. Die Sprachfähigkeit kann jederzeit an der<br />

Sache selbst durch lebendige Begegnung mit echter Dichtung<br />

oder im lebendigen Gespräch wieder auftauchen.<br />

Wir können jederzeit übergehen von Beeindruckungen<br />

von außen zur Ausdrucksfähigkeit von innen. In den Waldorfschulen<br />

gibt es viele Angebote: tägliches »Training«<br />

mit rhythmischen Sprüchen, Vermittlung des Lernstoffs,<br />

angereichert durch gesprochene Dichtung im Haupt- und<br />

6<br />

5 Die Spiegelneuronen werden nur bei leibhaft echten Begegnungen<br />

tätig, nicht bei elektronischen Übertragungen.


Fachunterricht (auch Biologie, Mathematik, Fremdsprachen);<br />

zudem ganze Epochen, welche sich mit großen<br />

Dichtungen (wie Parzival, Nibelungen, Faust) sowie Metrik<br />

und Poetik auseinandersetzen, und last but not least,<br />

die großen Theaterspiele in der achten und elften oder<br />

zwölften Klasse und die jährlichen Oberuferer Weihnachtsspiele.<br />

Zum Betätigungsfeld der Sprachgestaltung gehört<br />

zunehmend die Sprechtherapie. Sie geht über die »Reparatur«<br />

der üblichen Sprechdefizite beim Menschen hinaus.<br />

Die Forschungen der letzten Jahre konnten nachweisen,<br />

dass Sprachgestaltungsübungen sogar eine harmonisierende<br />

Synchronisation von Atem- und Herzrhythmus<br />

entwickeln, die sonst nur im erholsamsten Tiefschlaf erreicht<br />

wird, und dass jeder Laut auf spezifische Art den<br />

venösen Blutstrom gestaltet (weitere Informationen unter<br />

www.therapeutische-sprachgestaltung.de).<br />

GEISTESWISSENSCHAFT<br />

UND SPRACHE<br />

Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu erfahren,<br />

welches Verhältnis Rudolf Steiner selbst zur <strong>Sprache</strong> gefunden<br />

hat, weil er doch einen unmittelbaren Zugang<br />

zum Geistigen hatte. Wilhelm Keilhau kannte »keinen<br />

Redner, der es in Atemtechnik und Stimmführung mit<br />

ihm aufnehmen könnte« (Wilhelm Keilhau: »Samtiden«<br />

37. Jg., Oslo 1926). Steiners <strong>Sprache</strong> ist zunächst ungewohnt,<br />

denn »unsere <strong>Sprache</strong> ist geprägt von der Erdenwelt<br />

und oft nur schwer durchlässig für die Quelle« (Rudolf<br />

Steiner: Das Künstlerische in seiner Weltmission).<br />

Rudolf Steiner musste um das Wort ringen, sowohl<br />

als Redner in über 5.000 Vorträgen als auch in seinen<br />

zahlreichen Dichtungen. Er suchte durch bildreiche<br />

Wort schöpfungen und neue Wortverbindungen die <strong>Sprache</strong><br />

zu finden, welche die Beweglichkeit und Dynamik<br />

des Geistigen in irdischen Verhältnissen zur Darstellung<br />

bringt. Steiners <strong>Sprache</strong> ist daher nicht leicht zugänglich<br />

für unsere Ohren oder Denkgewohnheiten, er holte oft<br />

weit aus, brachte ungewohnte Satzwendungen, erzeugt<br />

aber eine nachhaltig schöpferische, innerlich bewegte<br />

Tätigkeit in demjenigen, der sich mit seiner <strong>Sprache</strong> aus-<br />

Des Menschen Äußerung<br />

durch Ton und Wort.<br />

Rudolf Steiner im Vortrag<br />

am 2. <strong>12</strong>. 1922<br />

SPRECHEN UND SPRACHE


Das Durchfühlen des Lautlichen.<br />

Rudolf Steiner im Vortrag am 21. 9. 1924<br />

einandersetzt.<br />

Eine Leseprobe aus der Sprachwerkstatt Rudolf Steiners:<br />

Oster-Stimmung<br />

Wenn aus den Weltenweiten<br />

Die Sonne spricht zum Menschensinn<br />

Und Freude aus den Seelentiefen<br />

Dem Licht sich eint im Schauen,<br />

Dann ziehen aus der Selbstheit Hülle<br />

Gedanken in die Raumesfernen<br />

Und binden dumpf<br />

Des Menschen Wesen an des Geistes Sein.<br />

(aus: Anthroposophischer Seelenkalender)<br />

MYSTERIENDRAMEN<br />

Wenn bis jetzt vom schöpferischen Wort, von der Ganzheit,<br />

vom Geist im Sinnlichen die Rede war, berühren wir<br />

zugleich elementare Vorgänge, wie sie in Bildern der Genesis<br />

6 , der alten Mysterien und der Kunst überliefert sind.<br />

Rudolf Steiner greift das im Schauspiel auf.<br />

Das Theater hat von seinen Anfängen an Entwicklungsschritte<br />

einzelner Personen in Bezug zum »Ganzen«<br />

gezeigt – sei es zu der Zeit, sei es zur Gesellschaft, sei es<br />

zu den Göttern oder Teufeln. Das ist auch die Thematik<br />

der vier »Mysteriendramen« von Rudolf Steiner.<br />

In diesen vier Dramen treten Persönlichkeiten auf,<br />

welche in ihrem Ringen um das Geistige auf elementare<br />

Grenzerfahrungen stoßen, die größten Widerstände<br />

überwinden und individuelle Prüfungen bestehen müssen.<br />

Diese führen ebenso zu Begegnungen mit dem Bösen wie<br />

auch mit dem eigenen inneren »Hüter der Schwelle«,<br />

welcher den Zugang zur Geistwelt ermöglicht oder versperrt.<br />

Zum ersten Mal in der Theatergeschichte werden<br />

dabei Verkörperungen der Hauptfiguren in verschiedenen<br />

Zeitepochen auf der Bühne dargestellt. Sie führen<br />

tiefer in das Verständnis der Handlungsweisen der Figuren<br />

und in die Wirklichkeiten, in denen wir leben. Damit<br />

erweitert Rudolf Steiner die Möglichkeiten von Sprechen,<br />

<strong>Sprache</strong> und Drama, man könnte sagen: Er führt<br />

sie weiter zu ihrem Ursprung.<br />

DER AUTOR<br />

Marc Vereeck geboren 1954<br />

in Antwerpen, Belgien. Pädagogik-<br />

und Sportstudium in Gent<br />

(B), Waldorfpädagogik und Bothmer-Gymnastik<br />

in Stutt gart.<br />

Mitbegründer des Seminars für<br />

Leibeserziehung in Heidenheim.<br />

Studium Sprachgestaltung und Schauspiel in Stuttgart.<br />

Sprachgestalter in der Freien Waldorfschule auf den Fildern.<br />

Schauspieler bei Art Europa und Theater van het<br />

Woord (NL). Rezitationsabende, künstlerische Workshops,<br />

Vorträge und Gastspiele im In- und Ausland.<br />

Regisseur in freien Theater produktionen u. a. für Das<br />

Zelt, Dein Theater. Seit 1994 innovative Kunstprojekte<br />

und Seminare in der Wirtschaft, u. a. Daimler AG. Mitbegründer<br />

von Abenteuer Kultur in der Lehrlingsausbildung<br />

bei dm-drogerie markt. 2007/08 Professur im<br />

Studiengang Schauspiel an der Alanus Hochschule in<br />

Alfter/Bonn. Mitbegründer und Regisseur des Ensembles<br />

Die jungen Klassiker.<br />

LESE-TIPPS:<br />

Slezak-Schindler, Christa »Vom Leben mit dem<br />

Wort«, Verlag am Goetheanum, Dornach 1992.<br />

Steiner, Rudolf »Sprechen und <strong>Sprache</strong>«, Themen<br />

aus dem Gesamtwerk Band 2, 4. Auflage, Verlag Freies<br />

Geistesleben, Stuttgart 2010.<br />

Zimmermann, Heinz »Vom Sprachverlust zur neuen<br />

Bilderwelt des Wortes«, 2. Auflage, Verlag am Goetheanum,<br />

Dornach 2000.<br />

AUSBILDUNGSSTÄTTEN:<br />

AmWort Anthroposophische Akademie für Therapie<br />

und Kunst, www.amwort.ch<br />

Internationale Schauspielschule Basel<br />

www.internationale-schauspielschule-basel.ch<br />

Theaterakademie Stuttgart www.aka-stuttgart.com<br />

Michael Tschechow Studio Berlin, www.mtsb.de<br />

Artemis School of Speech and Drama<br />

www.artemisspeechanddrama.org.uk<br />

6 Die biblische Schöpfungsgeschichte: Gott sprach: »Es werde Licht!«<br />

Und es ward Licht.<br />

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