Psychosomatische Erkrankung als biographisches Ereignis am ...

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304 Interpretationen des gewonnenen Datenmaterials – Ergebnisse des Forschungsprojekts… Interview 1 mit Herrn A Er selbst sieht ein: „da bin ich auch immer zu großzügig habe immer alles da eben erlaubt oder zugelassen oder wie auch immer - Augen zugeschlossen, und jetzt bin ich jetzt in die Offensive weil sich da nichts getan hat //// und habe dann auch ein Dreiergespräch mit dem Schulamt gewollt und so weiter und habe gesagt ok da mache ich nicht mehr mit, ... dass ich da jetzt irgendwie Grenzen setze und sage äh (Herr A holt tief Luft) irgendwo geht das so in der Art der Zusammenarbeit nicht mehr weiter ja? ... das hätte ich vorher auch nicht nicht so einfach gemacht, da habe ich halt einfach das Gefühl gehabt ich habe die Kraft gar nicht da nein! zu sagen, ... oder oder da irgendwie das ähm mal durchzustehen, ja? weil das ja auch teilweise ganz schön schwierig ist dann wenn man hier einen Kollegen aus dem Haus haben will ja? das ist gar nicht so leicht aber das war mir schon klar! das muss ich ändern ...“. 1276 Was die Partnerschaft des Herrn A betrifft, kann festgehalten werden, dass er auch hier die Herzangst als Verwirklichung von ungelebtem Leben benutzt hat (von Weizsäcker), nun jedoch durch die Kurmaßnahme bedingt vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben Eigenständigkeit und Selbstbewusstsein entwickelt, Passivität und Anpassung werden demnach ersetzt. Die Bin- dung an und die Identifikation über den Partner ist charakteristisch für den klassischen Herzneurotiker, der seine Ich-Schwäche mittels anderer Menschen kompensiert. Insofern kann die Aussage von Herrn A, er konnte irgendwann die angstbesetzte Strecke zur Schule alleine fahren und dann habe sich das irgendwie wieder beruhigt, 1277 als Metapher auf seine Partner- schaft übertragen werden, denn er sagt zum Beispiel, dass er sich nach der Kur innerhalb der Ehe einen gewissen Freiraum geschaffen hat: 1278 „so wie das mit Berlin oder mit rund um das *Taubertal das waren waren also wirklich wunderschöne Tage wo ich gemerkt habe Mensch! äh das geht ja alleine! ich ich ich kann alleine! leben ich könnte alleine auch meinen eigenen Weg gehen und ähm bräuchte keine Angst jetzt auch vor Partnerverlust oder so was zu haben ja?“ 1279 Dem Patienten ist also bewusst, dass er zwar in einer Partnerschaft lebt, dass er andererseits aber auch ein eigenständiges Leben führt und nicht nur an seine Ehefrau denken darf. 1280 Das Selbstbewusstsein des Herrn A lässt ihn sogar zu seiner Ehefrau sagen, dass er von dieser Autonomie auch nicht mehr ablassen möchte und dass sie diesen Umstand akzeptieren müsse. 1281 1276 Interview 1, S. 15 1277 vgl. Interview 1, S. 4 1278 vgl. Interview 1, S. 15 1279 Interview 1, S. 16 1280 vgl. Interview 1, S. 16

Interpretationen des gewonnenen Datenmaterials – Ergebnisse des Forschungsprojekts… Interview 1 mit Herrn A Herr A hat hier die Herzneurose, die ihn ehemals in fast unterwürfiger Weise an seine Ehefrau gebunden hat und jegliche Autonomie verbot, beiseite geschoben und Autonomie sowie Selbst- bestimmtheit an ihren Platz gesetzt. Und schließlich wirkt sich diese Verschiebung weg von der Depression hin zur Aktivität auch auf das gesamte soziale Umfeld und den Freizeitbereich des Herrn A aus. Zwar ist dieser Bereich – wie alle anderen auch – nicht völlig frei von der neurotischen ‚Grundstruktur‘ des Patienten, Sport wird zum Teil unter dem Aspekt der Blutdruck- und Kreislaufstabilisierung betrieben 1282 , dennoch hat Herr A während seiner Kur viele neue Bekanntschaften geschlossen, die er auch pflegen möchte. 1283 Der Interpret hat das Gefühl, dass Herr A zum ersten Mal in seinem Leben gelernt hat, Freundschaften aufzubauen und zu pflegen. Er selbst gibt an, er könne sich nun wieder anderen Menschen gegenüber öffnen 1284 . Mit Herrn A hat der Interpret einen Patienten befragt, der das Bild des klassischen Herzneurotikers verkörpert. Fragt man, was die Krankheit aus dem Leben des Patienten gemacht hat, stößt man auf den üblichen ‚Scherbenhaufen‘, mit dem ein Herzneurotiker lebt: in diesem Fall Angst, das Herz könnte aufhören zu schlagen, Angst, alleine das Haus zu verlassen oder größere Reisen anzutreten, Angst, sich durchzusetzen, übertriebene Bindung an und Unterwerfung gegenüber dem Partner usw. Betrachtet man aber andererseits die Frage, was Herr A aus seiner Erkrankung gemacht hat, stellt man erstaunt fest, dass er trotz der Integration der ‚Restangst‘ in sein Leben die neuroti- schen Grundstrukturen erkannt hat und nun aktiv daran arbeitet, diese in den Griff zu be- kommen, gleichzeitig erkennt Herr A, was er dadurch an Lebensqualität gewinnt. Die Thesen sind somit belegt. 1281 vgl. Interview 1, S. 24 1282 vgl. Interview 1, S. 9 1283 vgl. Interview 1, S. 21 1284 vgl. Interview 1, S. 22 305

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Interpretationen des gewonnenen Datenmateri<strong>als</strong> – Ergebnisse des Forschungsprojekts…<br />

Interview 1 mit Herrn A<br />

Er selbst sieht ein: „da bin ich auch immer zu großzügig habe immer alles da eben erlaubt oder<br />

zugelassen oder wie auch immer - Augen zugeschlossen, und jetzt bin ich jetzt in die Offensive<br />

weil sich da nichts getan hat //// und habe dann auch ein Dreiergespräch mit dem Schul<strong>am</strong>t<br />

gewollt und so weiter und habe gesagt ok da mache ich nicht mehr mit, ... dass ich da jetzt<br />

irgendwie Grenzen setze und sage äh (Herr A holt tief Luft) irgendwo geht das so in der Art der<br />

Zus<strong>am</strong>menarbeit nicht mehr weiter ja? ... das hätte ich vorher auch nicht nicht so einfach<br />

gemacht, da habe ich halt einfach das Gefühl gehabt ich habe die Kraft gar nicht da nein! zu<br />

sagen, ... oder oder da irgendwie das ähm mal durchzustehen, ja? weil das ja auch teilweise ganz<br />

schön schwierig ist dann wenn man hier einen Kollegen aus dem Haus haben will ja? das ist gar<br />

nicht so leicht aber das war mir schon klar! das muss ich ändern ...“. 1276<br />

Was die Partnerschaft des Herrn A betrifft, kann festgehalten werden, dass er auch hier die<br />

Herzangst <strong>als</strong> Verwirklichung von ungelebtem Leben benutzt hat (von Weizsäcker), nun jedoch<br />

durch die Kurmaßnahme bedingt vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben Eigenständigkeit<br />

und Selbstbewusstsein entwickelt, Passivität und Anpassung werden demnach ersetzt. Die Bin-<br />

dung an und die Identifikation über den Partner ist charakteristisch für den klassischen<br />

Herzneurotiker, der seine Ich-Schwäche mittels anderer Menschen kompensiert. Insofern kann<br />

die Aussage von Herrn A, er konnte irgendwann die angstbesetzte Strecke zur Schule alleine<br />

fahren und dann habe sich das irgendwie wieder beruhigt, 1277 <strong>als</strong> Metapher auf seine Partner-<br />

schaft übertragen werden, denn er sagt zum Beispiel, dass er sich nach der Kur innerhalb der<br />

Ehe einen gewissen Freiraum geschaffen hat: 1278 „so wie das mit Berlin oder mit rund um das<br />

*Taubertal das waren waren <strong>als</strong>o wirklich wunderschöne Tage wo ich gemerkt habe Mensch! äh<br />

das geht ja alleine! ich ich ich kann alleine! leben ich könnte alleine auch meinen eigenen Weg<br />

gehen und ähm bräuchte keine Angst jetzt auch vor Partnerverlust oder so was zu haben ja?“ 1279<br />

Dem Patienten ist <strong>als</strong>o bewusst, dass er zwar in einer Partnerschaft lebt, dass er andererseits<br />

aber auch ein eigenständiges Leben führt und nicht nur an seine Ehefrau denken darf. 1280<br />

Das Selbstbewusstsein des Herrn A lässt ihn sogar zu seiner Ehefrau sagen, dass er von dieser<br />

Autonomie auch nicht mehr ablassen möchte und dass sie diesen Umstand akzeptieren<br />

müsse. 1281<br />

1276 Interview 1, S. 15<br />

1277 vgl. Interview 1, S. 4<br />

1278 vgl. Interview 1, S. 15<br />

1279 Interview 1, S. 16<br />

1280 vgl. Interview 1, S. 16

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