Psychosomatische Erkrankung als biographisches Ereignis am ...

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296 Interpretationen des gewonnenen Datenmaterials – Ergebnisse des Forschungsprojekts… Interview 1 mit Herrn A Zwar ist die Entdeckung weiterer Krankheiten sicher als positiv zu bewerten, eine zusätzliche psychische Belastung entsteht aber dennoch. Neben den genannten agoraphobischen Tendenzen zeigt Herr A auch Kombinationen mit klaustrophobischen und sozialen Ängsten, wenn er sagt, er habe beispielsweise Angst, mit der Straßenbahn zu fahren, weil sich dort viele Menschen befinden und er nicht aussteigen könne, wenn sich die Bahn auf der Fahrt zwischen zwei Stationen befinde; außerdem habe er hier die generelle Angst, einfach umzukippen. 1242 Diese massive Behinderung im Vollzug alltäglicher Handlungen zeigt sich auch dann, als der Patient eine psychosomatische Kur antreten soll und seine Beförderung zum Kurort mit dem Auto – sein Sohn hätte ihn eigentlich gefahren – wegen der winterlichen Witterung zum damaligen Zeitpunkt nicht möglich ist. Herr A ist daraufhin gezwungen, mit dem Zug zu fahren, was ihn viel Überwindung kostet – er denkt, er schaffe diese für ihn schier nicht zu bewältigende Aufgabe nie und werde verrückt. 1243 Dieses Gefühl bessert sich auch nicht gleich zu Beginn der Kur – Herr A traut sich kaum, die Klinik zu verlassen, weil er Angst hat, in den Schnee zu fallen. 1244 Diese massive Einschränkung im Alltag – man bedenke, dass es sich hierbei um einen Spaziergang handelt – verbessert sich erst all- mählich im Laufe der Kur, indem sich der Patient gesagt hat, er werde im Falle einer Ohnmacht bestimmt vom Klinikpersonal oder von Mitpatienten gefunden. 1245 Zu Beginn der Kur zeigen sich weitere negative Auswirkungen der Herzneurose auf das alltägliche Leben des Herrn A, indem er große Probleme damit hat, in Großgruppen mit knapp 100 Personen öffentlich zu sprechen: „wo man dann halt einfach auch mal sich vorstellen musste und so weiter ja? und da habe ich obwohl ich ja eigentlich hier! immer mit Leuten zu tun habe aber das war unheimlich! schwierig - wo ich mir gedacht habe oh Gott ich habe ja richtig gezittert da vorher und dann habe ich mir überlegt jetzt musst du da vor gehen und musst mal ein bisschen was sagen oder so habe aber immer das dann auch von meiner Seite dann /// jetzt mache ich das, ich war da unten in *Bad Mergentheim und jetzt sage ich mal wie ich das erlebt habe ja?“ 1246 1242 vgl. Interview 1, S. 11 1243 vgl. Interview 1, S. 12 1244 vgl. Interview 1, S. 12 1245 vgl. Interview 1, S. 12 1246 Interview 1, S. 18

Interpretationen des gewonnenen Datenmaterials – Ergebnisse des Forschungsprojekts… Interview 1 mit Herrn A Das informationsreiche Erzählen des Patienten zeigt insgesamt sehr deutlich, wie stark sich die Herzneurose auf das Leben des Herrn A im negativen Sinne auswirkt. Generell kann festgehalten werden, dass die Herzneurose im vorliegenden Fall zu einem immensen Leidensdruck im alltäglichen Leben führt. Auch im beruflichen Kontext, dies kann bereits erahnt werden, äußert sich die Herzangst des Patienten zunächst negativ. 1998 fährt Herr A mit einer Schulklasse und einer Erzieherin ins Schullandheim. Während des Aufenthalts erlebt er nachts einen sympathikovasalen Anfall, der dazu führt, dass er den nächs- ten Tag, der im Schwimmbad verbracht wird, nicht entspannt erleben kann, weil der Patient permanent auf seinen Herzschlag achtet und entsprechend verspannt ist. 1247 Dass die Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit mit derartigen Konzentrationen auf den eigenen Körper mit Sicher- heit stark beeinträchtigt ist, lässt sich unschwer erahnen. In der Schule selbst macht er im November 2002 an einem Morgen einen ähnlichen Anfall durch, bei dem er unter Schwindel, Schwäche, Luftnot und stark erhöhten Blutdruckwerten leidet und der dazu führt, dass er mit dem Notarzt unter Herzinfarktverdacht, der sich aber nicht bestätigt, in ein Krankenhaus gebracht wird. 1248 Massive Beeinträchtigungen im Beruf erlebt Herr A jedoch besonders in den anfallsfreien aber stark symptombehafteten Intervallen – diese Beeinträchtigungen ähneln denen, die er auch im alltäglichen Leben unter dem Überbegriff der sozialen und agoraphobischen Angst erlebt: „ähm oder ja überhaupt vor Menschen - grundsätzlich, äh auch hier! hier natürlich auch! in der Schule war es ja auch so dass ich dann immer wenn so Konferenzen oder so was waren, oder ich musste jetzt irgendwie so - ähm - ja - ähm meinen Mann sozusagen, äh dass ich da einfach gemerkt habe also irgendwie hoffentlich hälst du das durch ja? also die ganze Litanei! vom von Gedanken die da kommen, hoffentlich kippst du nicht um und so, ...“. 1249 Diese Angst vor Menschen und Situationen, vor beziehungsweise aus denen Herr A nicht fliehen kann führt dazu, dass er versucht, diese so schnell wie möglich hinter sich zu lassen: „und habe halt einfach 1247 vgl. Interview 1, S. 4 1248 vgl. Interview 1, S. 6 1249 Interview 1, S. 10 297

Interpretationen des gewonnenen Datenmateri<strong>als</strong> – Ergebnisse des Forschungsprojekts…<br />

Interview 1 mit Herrn A<br />

Das informationsreiche Erzählen des Patienten zeigt insges<strong>am</strong>t sehr deutlich, wie stark sich die<br />

Herzneurose auf das Leben des Herrn A im negativen Sinne auswirkt. Generell kann festgehalten<br />

werden, dass die Herzneurose im vorliegenden Fall zu einem immensen Leidensdruck im<br />

alltäglichen Leben führt.<br />

Auch im beruflichen Kontext, dies kann bereits erahnt werden, äußert sich die Herzangst des<br />

Patienten zunächst negativ.<br />

1998 fährt Herr A mit einer Schulklasse und einer Erzieherin ins Schullandheim. Während des<br />

Aufenthalts erlebt er nachts einen sympathikovasalen Anfall, der dazu führt, dass er den nächs-<br />

ten Tag, der im Schwimmbad verbracht wird, nicht entspannt erleben kann, weil der Patient<br />

permanent auf seinen Herzschlag achtet und entsprechend verspannt ist. 1247 Dass die Ausübung<br />

seiner beruflichen Tätigkeit mit derartigen Konzentrationen auf den eigenen Körper mit Sicher-<br />

heit stark beeinträchtigt ist, lässt sich unschwer erahnen.<br />

In der Schule selbst macht er im November 2002 an einem Morgen einen ähnlichen Anfall<br />

durch, bei dem er unter Schwindel, Schwäche, Luftnot und stark erhöhten Blutdruckwerten<br />

leidet und der dazu führt, dass er mit dem Notarzt unter Herzinfarktverdacht, der sich aber nicht<br />

bestätigt, in ein Krankenhaus gebracht wird. 1248<br />

Massive Beeinträchtigungen im Beruf erlebt Herr A jedoch besonders in den anfallsfreien aber<br />

stark symptombehafteten Intervallen – diese Beeinträchtigungen ähneln denen, die er auch im<br />

alltäglichen Leben unter dem Überbegriff der sozialen und agoraphobischen Angst erlebt: „ähm<br />

oder ja überhaupt vor Menschen - grundsätzlich, äh auch hier! hier natürlich auch! in der Schule<br />

war es ja auch so dass ich dann immer wenn so Konferenzen oder so was waren, oder ich<br />

musste jetzt irgendwie so - ähm - ja - ähm meinen Mann sozusagen, äh dass ich da einfach<br />

gemerkt habe <strong>als</strong>o irgendwie hoffentlich hälst du das durch ja? <strong>als</strong>o die ganze Litanei! vom von<br />

Gedanken die da kommen, hoffentlich kippst du nicht um und so, ...“. 1249 Diese Angst vor<br />

Menschen und Situationen, vor beziehungsweise aus denen Herr A nicht fliehen kann führt<br />

dazu, dass er versucht, diese so schnell wie möglich hinter sich zu lassen: „und habe halt einfach<br />

1247 vgl. Interview 1, S. 4<br />

1248 vgl. Interview 1, S. 6<br />

1249 Interview 1, S. 10<br />

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