Psychosomatische Erkrankung als biographisches Ereignis am ...

Psychosomatische Erkrankung als biographisches Ereignis am ... Psychosomatische Erkrankung als biographisches Ereignis am ...

opus.bibliothek.uni.wuerzburg.de
von opus.bibliothek.uni.wuerzburg.de Mehr von diesem Publisher
10.12.2012 Aufrufe

128 Die ‚Herzenurose’ – Annährung an ein vielfach diskutiertes Störungsbild Zur Diskussion um die Ätiologie und Pathogenese der Erkrankung Eindruck ihrer Herzsymptome zu hilflosen Jammerbündeln werden, so ist die Parallele zu einem Kind unverkennbar, das sich ganz klein und demütig benimmt, um die strafende Mutter wieder zu versöhnen.’" 507 Auch in der aktuellen Literatur zu psychosomatischen Erkrankungen findet sich immer wieder dieser Bezug auf unbewältigte Trennungskonflikte gegenüber stark ambivalent besetzten Personen als Charakteristikum für die herzneurotische Psychodynamik. Dieser Trennungskonflikt, der unbewältigt ist, aktualisiert sich meist in ganz bestimmten Auslösesituationen, wobei für die Emotionsambivalenz der Konflikt zwischen Abhängigkeitserleben und Autonomiestreben verant- wortlich ist. 508 Es gibt also spezifische Situationen des Auslösens herzneurotischer Anfälle: „Nur ausnahms- weise kommt der erste herzneurotische Anfall anscheinend ‚aus heiterem Himmel‘. Aber selbst in diesen Fällen ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass verborgene lebensgeschichtliche Zusammenhänge bestehen, die bei der Untersuchung nur unentdeckt geblieben sind (...).“ 509 Nach Richter und Beckmann sind solche spezifischen Situationen des Auslösens herz- neurotischer Symptomatiken folgende: 1. Todesfall, Krankheit oder Unfall bei einer nahe stehenden Bezugsperson. 510 2. Herzinfarkt oder plötzlicher Herztod im Umfeld. 511 Das bedeutet, dass der Patient sowohl die Symptome nachahmt als auch der Meinung ist, an derselben Krankheit zu leiden. 512 „Die Herzattacke oder der Herztod einer prominenten Persönlichkeit, in Zeitung, Radio oder Fernsehen beschrieben, vermag bei dem einen oder anderen bereits ein herz- neurotisches Geschehen in Gang zu setzen.“ 513 3. Allgemein beunruhigende, speziell auf das Herz bezogene Beobachtungen am eigenen Körper. 514 Hier ist auf den Umstand hinzuweisen, dass Patienten mit Herzphobie tat- 507 Richter & Beckmann 1964, zitiert nach Richter & Beckmann 1973, S. 95 508 vgl. Bräutigam 1956, 1964, Richter & Beckmann 1986, zitiert nach Csef in Nissen 2002, S. 119 509 vgl. Kulenkampff & Bauer 1960, zitiert nach Richter & Beckmann 1973, S. 37 f 510 vgl. Richter & Beckmann 1986, zitiert nach Csef in Nissen 2002, S. 119 511 vgl. Richter & Beckmann 1986, zitiert nach Csef in Nissen 2002, S. 119 512 vgl. Richter & Beckmann 1973, S. 38 513 Richter & Beckmann 1973, S. 39 514 vgl. Richter & Beckmann 1986, zitiert nach Csef in Nissen 2002, S. 119

Die ‚Herzenurose’ – Annährung an ein vielfach diskutiertes Störungsbild Zur Diskussion um die Ätiologie und Pathogenese der Erkrankung sächlich selbst geringe Abweichungen im Herzrhythmus sehr gut wahrnehmen. 515 „Auffällig ist hierbei, daß jede subjektive Wahrnehmung mit emotionalem Angstgefühl einhergeht. ... . Dieser Befund läßt sich dahingehend interpretieren, daß Patienten mit Herzphobie im Vergleich zu anderen Gruppen eine erhöhte Sensitivität für Arrhythmien haben. Bei subjektiver Wahrnehmung von Herzschlagveränderungen wird Angst erlebt. Dieses Angstgefühl wird mit diesen Herzschlagveränderungen kognitiv verknüpft und gewinnt so einen pathologisierenden Charakter.“ 516 4. Diagnosen des Arztes (z.B. Verdacht auf Herzkrankheiten). 5. Erleben von Trennung – etwa Scheidung, Umzug, Verlassenwerden. 6. Streit mit nahe stehenden Bezugspersonen, der zu Distanz oder Abbruch der Beziehung führt. 517 Psychoanalytisch kommt neben der ambivalenten Mutter-Kind-Bindung aber noch eine weitere Komponente hinzu, nämlich eine Ich-Schwäche, die mit der Mutter-Kind-Beziehung zusam- menhängt: „Die Neigung der Patienten zu sozialer Abhängigkeit (...) und dazu, in Streß- oder Konfliktsituationen nach sozialer Unterstützung zu suchen (...), spiegelt ihre Selbstunsicherheit. Auffällig ist hier weiter die Streßintoleranz der ... Herzneurotiker, und ihre Unfähigkeit, mit Streßsituationen umzugehen, indem sie sich entweder trotzig zurückziehen und damit jeglicher Konfrontation mit der Situation ausweichen, vor ihr sogar flüchten, oder sie bemitleiden sich und reagieren depressiv (...).“ 518 Schonecke spricht in diesem Zusammenhang von einer mangelnden Ich-Entwicklung bzw. mangelnder Desomatisierung, ein wichtiger Aspekt innerhalb der menschlichen Entwicklung nämlich besteht in einem Wechsel vom primärprozesshaften Reagieren in Richtung eines sekundärprozesshaften Handelns, indem das zunächst körperliche Reagieren in bedachtes Han- deln wechselt. 519 „Gelingt diese Entwicklung zumindest nur eingeschränkt, so bleibt eine Tendenz bestehen, Erregung hauptsächlich körperlich zu erleben und weniger psychisch oder inhaltlich. Als eine Bedingung dieser Art unvollkommener Entwicklung wurden übermäßig schützende und ver- 515 vgl. Harbauer-Raum in Nutzinger und andere 1987, S. 89 516 Harbauer-Raum in Nutzinger und andere 1987, S. 89 517 vgl. Richter & Beckmann 1986, zitiert nach Csef in Nissen 2002, S. 119 518 Bohrn in Nutzinger und andere 1987, S. 163 519 vgl. Schonecke 1998, S. 114 129

Die ‚Herzenurose’ – Annährung an ein vielfach diskutiertes Störungsbild<br />

Zur Diskussion um die Ätiologie und Pathogenese der <strong>Erkrankung</strong><br />

sächlich selbst geringe Abweichungen im Herzrhythmus sehr gut wahrnehmen. 515<br />

„Auffällig ist hierbei, daß jede subjektive Wahrnehmung mit emotionalem Angstgefühl<br />

einhergeht. ... . Dieser Befund läßt sich dahingehend interpretieren, daß Patienten mit<br />

Herzphobie im Vergleich zu anderen Gruppen eine erhöhte Sensitivität für Arrhythmien<br />

haben. Bei subjektiver Wahrnehmung von Herzschlagveränderungen wird Angst erlebt.<br />

Dieses Angstgefühl wird mit diesen Herzschlagveränderungen kognitiv verknüpft und<br />

gewinnt so einen pathologisierenden Charakter.“ 516<br />

4. Diagnosen des Arztes (z.B. Verdacht auf Herzkrankheiten).<br />

5. Erleben von Trennung – etwa Scheidung, Umzug, Verlassenwerden.<br />

6. Streit mit nahe stehenden Bezugspersonen, der zu Distanz oder Abbruch der Beziehung<br />

führt. 517<br />

Psychoanalytisch kommt neben der <strong>am</strong>bivalenten Mutter-Kind-Bindung aber noch eine weitere<br />

Komponente hinzu, nämlich eine Ich-Schwäche, die mit der Mutter-Kind-Beziehung zus<strong>am</strong>-<br />

menhängt: „Die Neigung der Patienten zu sozialer Abhängigkeit (...) und dazu, in Streß- oder<br />

Konfliktsituationen nach sozialer Unterstützung zu suchen (...), spiegelt ihre Selbstunsicherheit.<br />

Auffällig ist hier weiter die Streßintoleranz der ... Herzneurotiker, und ihre Unfähigkeit, mit<br />

Streßsituationen umzugehen, indem sie sich entweder trotzig zurückziehen und d<strong>am</strong>it jeglicher<br />

Konfrontation mit der Situation ausweichen, vor ihr sogar flüchten, oder sie bemitleiden sich<br />

und reagieren depressiv (...).“ 518<br />

Schonecke spricht in diesem Zus<strong>am</strong>menhang von einer mangelnden Ich-Entwicklung bzw.<br />

mangelnder Desomatisierung, ein wichtiger Aspekt innerhalb der menschlichen Entwicklung<br />

nämlich besteht in einem Wechsel vom primärprozesshaften Reagieren in Richtung eines<br />

sekundärprozesshaften Handelns, indem das zunächst körperliche Reagieren in bedachtes Han-<br />

deln wechselt. 519<br />

„Gelingt diese Entwicklung zumindest nur eingeschränkt, so bleibt eine Tendenz bestehen,<br />

Erregung hauptsächlich körperlich zu erleben und weniger psychisch oder inhaltlich. Als eine<br />

Bedingung dieser Art unvollkommener Entwicklung wurden übermäßig schützende und ver-<br />

515 vgl. Harbauer-Raum in Nutzinger und andere 1987, S. 89<br />

516 Harbauer-Raum in Nutzinger und andere 1987, S. 89<br />

517 vgl. Richter & Beckmann 1986, zitiert nach Csef in Nissen 2002, S. 119<br />

518 Bohrn in Nutzinger und andere 1987, S. 163<br />

519 vgl. Schonecke 1998, S. 114<br />

129

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!