Psychosomatische Erkrankung als biographisches Ereignis am ...
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98 Die ‚Herzenurose’ – Annährung an ein vielfach diskutiertes Störungsbild Ein kurzer geschichtlicher Rückblick „In der darauffolgenden Zeit folgten eine Reihe von Veröffentlichungen, die sich mit dieser Krankheit vom klinischen Gesichtspunkt aus deskriptiv auseinandersetzten und Bezeichnungen einführten, wie »Effort Syndrom«, »neurozirkulatorische Asthenie«, »Herzneurose«, »Herz- phobie«, »Neurasthenie« »Angstneurose«, »vasomotorische Neurose«, »funktionelle Herz-Kreis- laufstörungen«, »vegetative Dystonie« usw.“ 396 1895 beschreibt Freud mit der Angstneurose exakt das Symptombild der Herzneurose, wobei ihn hierbei die psychosomatische Hypothese geleitet hat, dass alle die Beschwerden im Zusammen- hang mit der Angstneurose Äußerungen oder Äquivalente der Angst sind. 397 Nach dem Zweiten Weltkrieg rückte das Störungsbild ins Visier der deutschen Psychiatrie: „Zum Unterschied von der englischsprachigen Literatur beschäftigen sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Reihe von namhaften deutschen Psychiatern mit dem Herzphobiesyndrom – so etwa Bräutigam, Cremerius, Ernst, Kulenkampff und Bauer, Hahn, Michaelis, Richter sowie von Uexküll; in diesen Veröffentlichungen wurde das Krankheitsbild zwar mit unterschiedlichen Termini versehen und hinsichtlich der Abgrenzung von anderen funktionellen Herz-Kreislauf-Beschwer- den unterschiedlich weit definiert, es wurde aber von allen Autoren als ein eigenständiges Syn- drom aufgefaßt.“ 398 Auffällig ist bereits im geschichtlichen Rückblick die Heterogenität in der Begriffswahl für das vorliegende Störungsbild und die unterschiedliche Akzentsetzung in der Verortung, die bis heute nicht ausdiskutiert ist und im weiteren Verlauf des Kapitels vertieft dargestellt wird. „Immer wieder gab und gibt es Versuche, den herzneurotischen Symptomen- komplex in enger umgrenzte Einzelformen aufzuspalten, wobei mal dieses, mal jenes Krank- heitszeichen als Leitsymptom deklariert wurde.“ 399 Richter und Beckmann haben wohl (noch immer) Recht, wenn sie sagen, „... daß die Herzneurose als Grenzthema zwischen innerer Medizin und Psychiatrie bisher weniger synoptisch ‚psycho- somatisch‘ als dualistisch bearbeitet worden ist, nämlich einerseits als Herz-Kreislauf-Krankheit – ohne eigentlich ihrem Wesen nach eine solche zu sein -, andererseits als psychische Krankheit, aber auch als solche in einer Sonderstellung gegenüber den klassischen Neurosen.“ 400 396 Schonecke & Herrmann in v. Uexküll 1981, S. 464 397 vgl. Freud 1895, zitiert nach Richter & Beckmann 1973, S. 4 f 398 Nutzinger in Nutzinger und andere 1987, S. 23 399 Richter & Beckmann 1973, S. 5 400 Richter & Beckmann 1973, S. 13
Die ‚Herzenurose’ – Annährung an ein vielfach diskutiertes Störungsbild Symptombeschreibung und Patientenverhlaten einer hier noch nicht näher verorteten Störung 2.2 Symptombeschreibung und Patientenverhalten einer hier noch nicht näher verorteten Störung Absicht dieses Abschnitts ist die Darstellung der Symptome sowie des Verhaltens der Patienten, die an einer Herzneurose leiden. Die Überschrift macht deutlich, dass es an dieser Stelle auch wirklich nur auf die Symptomatik ankommt – die Verortung und Benennung der Störung, die hier als Herzneurose betitelt wird, soll an dieser Stelle noch nicht diskutiert werden. Einführend bietet sich hier die Schilderung eines Falles an, der so oder ähnlich immer wieder in der Literatur zu finden ist und bereits in der Einleitung geschildert wurde: „Ein 36-jähriger Patient leidet seit ca. 1 Jahr unter anfallsweise auftretenden Herz-Kreislauf- Beschwerden, bei denen im Mittelpunkt Herzjagen, Schwächegefühle und Schweißausbrüche stehen. Begleitet werden diese Beschwerden von einem intensiven Gefühl der Todesangst. Der Patient, er ist von Beruf Bankkaufmann, schildert seine Lebenssituation, vor allem seine be- rufliche Situation als außerordentlich belastend. Er sei aus beruflichen Gründen häufig ge- zwungen, Überstunden zu machen und dann noch Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Seine Frau, die zwar sehr verständnisvoll sei, habe ihm des öfteren Vorwürfe gemacht. Durch die Über- lastung sei er insgesamt sehr reizbar, wenn seine Kinder nicht sofort gehorchten oder in der Schule Schwierigkeiten hätten. Zu einem ersten »Herzanfall«, der zu seiner Einweisung in das örtliche Kreiskrankenhaus führte, kam es, nachdem er nach einem intensiven Arbeitstag abends auf einer Veranstaltung eine Rede habe halten müssen. Als er anschließend in der Nacht nach Hause gekommen sei, habe ihm seine Frau Vorhaltungen gemacht. Etwas später sei er dann im Badezimmer zusammengebrochen, ohne jedoch bewußtlos zu sein, er habe intensive Todesangst verspürt, Herzjagen, Schwäche, Schweißausbrüche usw. Der von der Ehefrau herbeigerufene Hausarzt veranlaßte die sofortige Einweisung in das örtliche Kreiskrankenhaus, wo die Diagnose eines Herzinfarktes gestellt wurde. Bemerkenswert dabei ist, daß der genannte Hausarzt, mit dem der Patient befreundet ist, ihm wenige Tage vorher in bezug auf sein berufliches Verhalten Vorwürfe gemacht und geäußert hatte, wenn er so weitermache, würde es zwangsläufig zu einem Herzinfarkt kommen. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus konnte er sich in seinem beruflichen Verhalten nicht ändern, er habe voll wieder einsteigen müssen, vor allem, nachdem durch seine Krankheit größere Mengen von Arbeit liegengeblieben seien. Nachdem es etwa ein halbes Jahr später zu einem erneuten »Herzanfall« gekommen war, wurden erneut extensive kardiologische Untersuchungen vorgenommen. Diese erbrachten keinen Anhaltspunkt für das 99
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Die ‚Herzenurose’ – Annährung an ein vielfach diskutiertes Störungsbild<br />
Symptombeschreibung und Patientenverhlaten einer hier noch nicht näher verorteten Störung<br />
2.2 Symptombeschreibung und Patientenverhalten einer hier noch nicht näher verorteten<br />
Störung<br />
Absicht dieses Abschnitts ist die Darstellung der Symptome sowie des Verhaltens der Patienten,<br />
die an einer Herzneurose leiden. Die Überschrift macht deutlich, dass es an dieser Stelle auch<br />
wirklich nur auf die Symptomatik ankommt – die Verortung und Benennung der Störung, die<br />
hier <strong>als</strong> Herzneurose betitelt wird, soll an dieser Stelle noch nicht diskutiert werden.<br />
Einführend bietet sich hier die Schilderung eines Falles an, der so oder ähnlich immer wieder in<br />
der Literatur zu finden ist und bereits in der Einleitung geschildert wurde:<br />
„Ein 36-jähriger Patient leidet seit ca. 1 Jahr unter anfallsweise auftretenden Herz-Kreislauf-<br />
Beschwerden, bei denen im Mittelpunkt Herzjagen, Schwächegefühle und Schweißausbrüche<br />
stehen. Begleitet werden diese Beschwerden von einem intensiven Gefühl der Todesangst. Der<br />
Patient, er ist von Beruf Bankkaufmann, schildert seine Lebenssituation, vor allem seine be-<br />
rufliche Situation <strong>als</strong> außerordentlich belastend. Er sei aus beruflichen Gründen häufig ge-<br />
zwungen, Überstunden zu machen und dann noch Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Seine<br />
Frau, die zwar sehr verständnisvoll sei, habe ihm des öfteren Vorwürfe gemacht. Durch die Über-<br />
lastung sei er insges<strong>am</strong>t sehr reizbar, wenn seine Kinder nicht sofort gehorchten oder in der<br />
Schule Schwierigkeiten hätten. Zu einem ersten »Herzanfall«, der zu seiner Einweisung in das<br />
örtliche Kreiskrankenhaus führte, k<strong>am</strong> es, nachdem er nach einem intensiven Arbeitstag abends<br />
auf einer Veranstaltung eine Rede habe halten müssen. Als er anschließend in der Nacht nach<br />
Hause gekommen sei, habe ihm seine Frau Vorhaltungen gemacht. Etwas später sei er dann im<br />
Badezimmer zus<strong>am</strong>mengebrochen, ohne jedoch bewußtlos zu sein, er habe intensive Todesangst<br />
verspürt, Herzjagen, Schwäche, Schweißausbrüche usw. Der von der Ehefrau herbeigerufene<br />
Hausarzt veranlaßte die sofortige Einweisung in das örtliche Kreiskrankenhaus, wo die Diagnose<br />
eines Herzinfarktes gestellt wurde. Bemerkenswert dabei ist, daß der genannte Hausarzt, mit<br />
dem der Patient befreundet ist, ihm wenige Tage vorher in bezug auf sein berufliches Verhalten<br />
Vorwürfe gemacht und geäußert hatte, wenn er so weitermache, würde es zwangsläufig zu<br />
einem Herzinfarkt kommen. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus konnte er sich in seinem<br />
beruflichen Verhalten nicht ändern, er habe voll wieder einsteigen müssen, vor allem, nachdem<br />
durch seine Krankheit größere Mengen von Arbeit liegengeblieben seien. Nachdem es etwa ein<br />
halbes Jahr später zu einem erneuten »Herzanfall« gekommen war, wurden erneut extensive<br />
kardiologische Untersuchungen vorgenommen. Diese erbrachten keinen Anhaltspunkt für das<br />
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