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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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zu bitten… Salahuddin jedoch ließ die Lampe stehen, wo sie war. Hier<br />

war nicht der Ort für Dschinns oder Ghuls oder Afrits; weder Gespenster<br />

noch Einbildungen waren gestattet.<br />

Keine Zauberformeln, nur die Ohnmacht der Pillen. »Der Medizinmann<br />

ist da«, tönte Salahuddin, klapperte mit den kleinen Flaschen und weckte<br />

seinen Vater aus dem Schlaf.<br />

»Medizin«, grinste Changez kindisch. »liee, bah, urgh.«<br />

In jener Nacht nötigte Salahuddin Nasreen und Kasturba, bequem in<br />

ihren Betten zu schlafen, während er auf einer Matratze auf dem Boden<br />

über Changez wachte. Nach seiner Mitternachtsdosis Isosorbid schlief<br />

der Sterbende drei Stunden und musste dann auf die Toilette. Salahuddin<br />

hob ihn auf die Beine und war erstaunt, wie leicht Changez war. Er war<br />

immer ein schwergewichtiger Mann gewesen, doch jetzt war er eine<br />

lebende Mahlzeit für die sich ausbreitenden Krebszellen… Auf der<br />

Toilette lehnte Changez jegliche Hilfe ab. »Er lässt einen nichts<br />

machen«, hatte sich Kasturba liebevoll beschwert. »Er ist ja so genannt.«<br />

Auf dem Weg zum Bett stützte er sich leicht auf Salahuddins Arm und<br />

schlurfte plattfüßig neben ihm in alten, abgetragenen Hauslatschen. <strong>Die</strong><br />

wenigen verbliebenen Haare standen in komischen Winkeln ab, der Kopf<br />

reckte sich auf dem dürren, zerbrechlichen Hals vogelgleich nach vorn.<br />

Salahuddin sehnte sich plötzlich danach, den alten Mann aufzuheben, ihn<br />

in den Armen zu wiegen und ihm leise, tröstende Weisen zu singen.<br />

Stattdessen platzte er in diesem völlig ungeeigneten Moment mit einem<br />

Versöhnungsappell heraus: »Abba, ich bin gekommen, weil ich nicht<br />

wollte, dass es zwischen uns noch Ärger gibt…« Blöder Idiot. Der<br />

Teufel brenn’ dich schwarz, milchbleich er Lump! Und das mitten in der<br />

Nacht. Wenn er bis jetzt nicht dahintergekommen ist, dass er im Sterben<br />

liegt, dann hat es ihm diese kleine Totenbettrede geflüstert. Changez<br />

schlurfte weiter; sein Griff um den Arm des Sohns wurde unmerklich<br />

fester. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagte er.<br />

»Es ist vergessen, was es auch war.«<br />

Am Morgen erschienen Nasreen und Kasturba in sauberen Saris, wirkten<br />

ausgeruht und mäkelten: »Es war so schrecklich, so weit weg von ihm zu<br />

schlafen, wir haben kein Auge zugemacht.« Sie fielen über Changez her,

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