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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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Vögel (Wiedehopfe und seltene Papageien unter Glasglocken, ein<br />

ausgewachsener Königspinguin in der Marmor-und-Mosaik-Halle, um<br />

dessen Schnabel winzige rote Ameisen wimmelten) und ihren Kästen mit<br />

aufgespießten Schmetterlingen eingezogen war. Saladin ging vorbei an<br />

dieser farbenprächtigen Galerie toter Flügel zum Arbeitszimmer seines<br />

Vaters - Chamgez hatte darauf bestanden, sein Schlafzimmer zu räumen,<br />

und sich ein Bett in das holzgetäfelte Refugium voll vermodernder<br />

Bücher stellen lassen, damit man nicht den ganzen Tag hinauf und<br />

wieder herunter rennen musste, um nach ihm zu sehen - und stand<br />

endlich vor der Tür des Todes.<br />

Schon früh in seinem Leben hatte Changez Chamchawala die<br />

beunruhigende Fähigkeit erworben, mit offenen Augen zu schlafen, »auf<br />

der Hut zu sein«, wie er es nannte. Als Saladin jetzt leise das Zimmer<br />

betrat, war die Wirkung dieser offenen grauen Augen, die blind an die<br />

Decke starrten, absolut enervierend. Einen Augenblick lang glaubte<br />

Saladin, er sei zu spät gekommen, Changez sei gestorben, während sie<br />

sich im Garten unterhalten hatten. Doch dann hüstelte der Mann auf dem<br />

Bett ein paarmal, drehte den Kopf und streckte unsicher seinen Arm aus.<br />

Saladin Chamcha trat zu seinem Vater und neigte den Kopf unter die<br />

zärtliche Hand des alten Mannes.<br />

Sich nach den langen, zornigen Dekaden in den Vater zu verlieben, war<br />

ein heiteres und schönes Gefühl; etwas Erneuerndes, Lebensspendendes,<br />

wollte Saladin sagen, tat es aber nicht, da es vampirhaft klang; als<br />

schaffte er in Changez’ Körper Platz für den Tod, indem er dieses neue<br />

Leben aus seinem Vater saugte. Obwohl er es für sich behielt, fühlte<br />

Saladin sich stündlich vielen alten zurückgewiesenen Ichs näher, vielen<br />

Alternativ-Saladins -oder besser Salahuddins -, die sich von ihm<br />

abgespalten hatten, als er seine verschiedenen Lebenswahlen traf, die<br />

anscheinend aber dennoch weiterexistierten, vielleicht in den<br />

Paralleluniversa der Quantentheorie. Der Krebs hatte Changez<br />

Chamchawala buchstäblich bis auf die Knochen ausgelaugt; die Wangen<br />

waren in die Schädelhöhlen eingefallen, und des Muskelschwunds<br />

wegen lag ein Schaumstoffkissen unter seinen Gesäßbacken. Aber er<br />

hatte auch seine Fehler getilgt, all das, was dominant, tyrannisch und<br />

grausam an ihm war, so dass der verschmitzte, liebevolle und brillante<br />

Mann wieder offen dalag, für alle sichtbar. Wenn er nur sein ganzes

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