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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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und Schlingpflanzen hatten sich um die vier Pfosten des Himmelbetts<br />

gewunden, in dem einst Vizekönige schliefen. Es war, als hätte sich<br />

während seiner Abwesenheit die Zeit beschleunigt und als wären<br />

Jahrhunderte vergangen statt Monate, so dass der riesige Perserteppich,<br />

der im Ballsaal aufgerollt lag, unter seiner Berührung zerfiel, und die<br />

Bäder waren voller Frösche mit scharlachroten Augen.<br />

Nachts heulten Schakale in den Wind. Der große Baum war tot oder dem<br />

Tod nah, und die Felder waren öde wie die Wüste; die Gärten Peristans,<br />

in welchen er, vor langer Zeit, zum ersten Mal ein schönes junges<br />

Mädchen gesehen hatte, waren vor langer Zeit zu Hässlichkeit vergilbt.<br />

Geier waren die einzigen Vögel am Himmel.<br />

Er zog einen Schaukelstuhl auf die Veranda, setzte sich hinein und<br />

schaukelte sich sanft in den Schlaf.<br />

Einmal, nur einmal, besuchte er den Baum. Das Dorf war zu Staub<br />

zerfallen; landlose Bauern und Plünderer hatten versucht, sich des<br />

verlassenen Lands zu bemächtigen, aber die Dürre hatte sie vertrieben.<br />

Hier war kein Regen gefallen. Mirza Said kehrte nach Peristan zurück<br />

und verriegelte die rostigen Tore. Er hatte kein Interesse am Schicksal<br />

seiner Mitüberlebenden; er ging zum Telefon und riss es aus der Wand.<br />

Nach ungezählten Tagen fiel ihm auf, dass er verhungerte, weil er roch,<br />

dass sein Körper nach Nagellackentferner stank; aber da er weder<br />

Hunger noch Durst verspürte, beschloss er, dass es keinen Sinn hatte,<br />

nach Nahrung zu suchen. Wozu?<br />

Viel besser, in diesem Stuhl zu schaukeln und nicht zu denken, nicht zu<br />

denken, nicht zu denken.<br />

In der letzten Nacht seines Lebens hörte er ein Geräusch wie von einem<br />

Riesen, der einen Wald unter seinen Füßen zertrat, und roch einen<br />

Gestank wie vom Furz des Riesen, und er bemerkte, dass der Baum<br />

brannte. Er erhob sich aus seinem Stuhl und taumelte unsicher durch den<br />

Garten, um das Feuer zu beobachten, dessen Flammen Geschichten,<br />

Erinnerungen, Genealogien verzehrten, die Erde reinigten und zu ihm<br />

kamen, um ihn zu befreien, denn der Wind trieb das Feuer auf das<br />

Grundstück des Herrenhauses zu, so dass sehr bald, sehr bald, die Reihe<br />

an ihm sein würde. Er sah den Baum in tausend Stücke bersten und den<br />

Stamm brechen, wie ein Herz, dann wandte er sich ab und wankte zu der<br />

Stelle im Garten, wo Aischa gesessen hatte, als er sie zum ersten Mal

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