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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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junger Männer, deren Muskeln so trainiert waren, dass sie wie<br />

missgebildet aussahen, und die im Gleichtakt gymnastische<br />

Verrenkungen aller Art vollführten, gleich einer mordlüsternen Armee<br />

Balletttänzer, und an Strandgutsammlern, Clubvolk und Familien vorbei,<br />

die zum Luftschnappen gekommen waren, wegen Geschäftskontakten<br />

oder um ihren Lebensunterhalt aus dem Sand aufzulesen, und zum ersten<br />

Mal in ihrem Leben das Arabische Meer erblickten.<br />

Mirza Said sah Mishal, die von zwei Dörflern gestützt wurde, da sie<br />

nicht mehr kräftig genug war, um allein zu stehen. Aischa war neben ihr,<br />

und Said kam der Gedanke, dass die Prophetin irgendwie aus der<br />

sterbenden Frau herausgetreten war, dass all der Glanz Mishals aus<br />

ihrem Körper gesprungen war, diese mythologische Gestalt<br />

angenommen und eine Hülle zum Sterben zurückgelassen hatte. Dann<br />

war er wütend auf sich, weil er zugelassen hatte, dass Aischas<br />

Wunderglaube auch ihn ansteckte.<br />

<strong>Die</strong> Leute aus Titlipur hatten sich nach einer langen Diskussion, an der<br />

nicht teilzunehmen sie Aischa gebeten hatten, entschieden, ihr zu folgen.<br />

Der gesunde Menschenverstand sagte ihnen, dass es töricht wäre, jetzt,<br />

da sie so weit gekommen waren und ihr erstes Ziel in Sicht war,<br />

umzukehren; aber der neue Zweifel in ihren Köpfen entzog ihnen die<br />

Kraft. Es war, als tauchten sie aus einem Shangri-La Aischas auf, denn<br />

jetzt liefen sie einfach hinter ihr her, statt ihr im eigentlichen Sinn zu<br />

folgen; mit jedem Schritt, den sie taten, schienen sie älter und kränker zu<br />

werden. Als sie dann das Meer sahen, waren sie ein lahmer, wackliger,<br />

rheumatischer, fiebriger, rotäugiger Haufen, und Mirza Said fragte sich,<br />

wie viele von ihnen die letzten Meter zum Wasser schaffen würden.<br />

<strong>Die</strong> Schmetterlinge waren bei ihnen, hoch über ihren Köpfen.<br />

»Was jetzt, Aischa?« rief Said ihr zu, von der entsetzlichen Vorstellung<br />

erfüllt, seine geliebte Frau könnte hier unter den Hufen gemieteter Ponys<br />

und den Augen von Zuckerrohrsaftverkäufern sterben. »Du hast uns alle<br />

bis an den Rand des Untergangs gebracht, hier aber ist eine<br />

unzweifelhafte Tatsache: das Meer. Wo ist jetzt dein Engel?«<br />

Mit Hilfe der Dörfler kletterte sie auf einen ungenutzten Thela, der neben<br />

einem Limonadenstand lag, und antwortete Said erst, als sie von ihrem<br />

neuen »Thron« auf ihn herabblicken konnte. »Gibril sagt, das Meer ist<br />

wie unsere Seele. Öffnen wir sie, können wir zur Weisheit

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