10.12.2012 Aufrufe

Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

zwängte; dann sah er den Korb auf der untersten Stufe stehen. Und hörte<br />

aus dem Korb das Weinen des Babys.<br />

Der Findling war vielleicht zwei Wochen alt, offensichtlich unehelich,<br />

und ebenso klar war, dass seine Lebensaussichten begrenzt waren. <strong>Die</strong><br />

Menge befand sich in einer zweifelnden, verwirrten Stimmung. Dann<br />

erschien der Imam der Moschee oben auf der Treppe, und bei ihm war<br />

Aischa die Seherin, deren Ruhm die ganze Stadt durchdrungen hatte.<br />

<strong>Die</strong> Menge teilte sich wie das Meer, und Aischa und der Imam schritten<br />

zum Korb hinunter. Der Imam untersuchte das Baby kurz, richtete sich<br />

auf und wandte sich der Menge zu.<br />

»<strong>Die</strong>ses Kind wurde in teuflischer Ruchlosigkeit gezeugt«, sagte er. »Es<br />

ist das Kind des Teufels.« Er war ein junger Mann.<br />

<strong>Die</strong> Stimmung der Menge schwang in Wut um. Mirza Said rief laut:<br />

»Du, Aischa, Kahin. Was sagst du?«<br />

»Von uns wird alles verlangt werden«, antwortete sie.<br />

<strong>Die</strong> Menge, die keine deutlichere Einladung brauchte, steinigte das Kind<br />

zu Tode.<br />

Daraufhin weigerten sich die Aischa-Pilger weiterzugehen.<br />

Der Tod des Findlings hatte unter den müden Dörflern, von denen keiner<br />

einen Stein aufgehoben oder geworfen hatte, eine Atmosphäre der<br />

Meuterei geschaffen. Mishal, mittlerweile schneeweiß geworden, war<br />

durch ihre Krankheit zu geschwächt, um die Dörfler zusammenzutreiben.<br />

Aischa verweigerte wie immer jede Diskussion. »Wenn ihr Gott den<br />

Rücken kehrt«, warnte sie die Dörfler, »braucht ihr euch nicht zu<br />

wundern, wenn Gott dasselbe mit euch macht.«<br />

<strong>Die</strong> Pilger hockten in einer Gruppe zusammen in einer Ecke der großen<br />

Moschee, die außen limonengrün und innen hellblau gestrichen war und,<br />

wenn nötig, von vielfarbigen Neon-<br />

»Röhrenleuchten« erhellt werden konnte. Auf Aischas Warnung hin<br />

kehrten sie ihr den Rücken zu und drängten sich dicht aneinander,<br />

obwohl es ziemlich warm und schwül war. Mirza Said erkannte seine<br />

Chance und beschloss, Aischa einmal mehr direkt anzugehen. »Sag«,<br />

fragte er zuckersüß, »wie genau gibt dir der Engel all diese Information?<br />

Nie sagst du uns seine genauen Worte, immer nur deine Interpretation.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!