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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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oberste Platzhalterin und hingebungsvollste Jüngerin geworden. <strong>Die</strong><br />

Zweifel anderer Marschierer hatten sie in ihrem Glauben nur bestärkt,<br />

und die Schuld an diesen Zweifeln gab sie unmissverständlich ihrem<br />

Mann.<br />

»Auch ist keine Wärme mehr in dir«, hatte sie ihn in ihrem letzten<br />

Gespräch gerüffelt. »Ich habe Angst, mich dir zu nähern.«<br />

»Keine Wärme?« brüllte er. »Wie kannst du so etwas sagen?<br />

Kein Wärme? Für wen bin ich denn auf diese blödsinnige Pilgerfahrt<br />

gegangen? Um mich um wen zu kümmern? Weil ich wen liebe? Weil ich<br />

mir um wen so Sorgen mache, wegen wem so traurig bin, so voll<br />

Kummer bin? Keine Wärme? Bist du eine Fremde? Wie kannst du nur so<br />

etwas sagen?«<br />

»Hör dich doch selber an«, sagte sie mit einer Stimme, die sich bereits in<br />

einer Art Rauchigkeit, einer Wolkigkeit verlor.<br />

»Immer nur Wut. Kalte Wut, eisig, wie eine Festung.«<br />

»Das ist keine Wut«, schnauzte er. »Das ist Sorge, Unglück,<br />

Erbärmlichkeit, Verletztheit, Schmerz. Wo hörst du da nur Wut?« »Ich<br />

höre sie«, sagte sie. »Jeder hört sie, meilenweit.«<br />

»Komm mit mir«, flehte er sie an. »Ich bringe dich zu den besten<br />

Kliniken in Europa, Kanada, den USA. Hab Vertrauen in die westliche<br />

Technologie. <strong>Die</strong> können Wunder vollbringen.<br />

Und für Apparaturen hast du doch auch immer etwas übrig gehabt.« »Ich<br />

pilgere nach Mekka«, sagte sie und wandte sich ab. »Du scheißblöde<br />

Kuh«, brüllte er ihren Rücken an. »Nur weil du sterben wirst, heißt das<br />

noch lange nicht, dass du die ganzen Leute da mitnehmen musst.« Sie<br />

aber ging von ihm, durch das Lager an der Straße, ohne sich<br />

umzublicken; und da er ihre Haltung bestätigt hatte, indem er die<br />

Beherrschung verloren und das Unaussprechliche ausgesprochen hatte,<br />

fiel er auf die Knie und weinte. Nach diesem Streit weigerte sich Mishal,<br />

weiterhin neben ihm zu schlafen. Sie und ihre Mutter entrollten ihr<br />

Bettzeug neben der in Schmetterlinge gehüllten Prophetin ihrer<br />

Pilgerreise nach Mekka.<br />

Tagsüber arbeitete Mishal unermüdlich unter den Pilgern, richtete sie<br />

auf, bestärkte sie in ihrem Glauben, versammelte sie unter den Fittichen<br />

ihrer Sanftheit. Aischa zog sich mehr und mehr in Schweigen zurück,<br />

und Mishal Akhtar wurde praktisch die Führerin der Pilger. Eine Pilgerin

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