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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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Dame, die seit einem halben Jahrhundert die zufriedene und<br />

zufriedenstellende Gattin des Sarpanch Muhammad Din war, sah im<br />

Traum einen Erzengel. »Gibril«, flüsterte sie, »bist du das?«<br />

»Nein«, erwiderte die Erscheinung. »Ich bin es, Asrael, der mit dem<br />

Scheißjob. Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen.«<br />

Am nächsten Morgen setzte sie die Pilgerreise fort, ohne ihrem Mann<br />

etwas von der Vision zu sagen. Nach zwei Stunden näherten sie sich der<br />

Ruine einer jener Herbergen aus der Zeit der Moguln, die an den<br />

Fernstraßen im Fünf-Meilen-Abstand errichtet worden waren. Als<br />

Khadija die Ruine sah, wusste sie nichts von ihrer Vergangenheit, von<br />

den Wandersleuten, die im Schlaf beraubt worden waren und so weiter,<br />

aber ihre Gegenwart verstand sie gut. »Ich muss dort hinein und mich<br />

hinlegen«, sagte sie zum Sarpanch, der protestierte: »Aber der Marsch!«<br />

- »Lasse gut sein«, sagte sie leise. »Den kannst du später einholen.«<br />

Sie legte sich in den Schutt der alten Ruine, bettete den Kopf auf einen<br />

glatten Stein, den der Sarpanch ihr holte. Der alte Mann weinte, aber das<br />

half nichts, und eine Minute später war sie tot. Er rannte dem Marsch<br />

nach und redete wütend auf Aischa ein. »Ich hätte nie auf dich hören<br />

sollen«, sagte er zu ihr. »Und jetzt hast du meine Frau getötet.«<br />

Der Marsch hielt an. Mirza Said Akhtar witterte Morgenluft und forderte<br />

lautstark, dass Khadija zu einem ordentlichen moslemischen Friedhof<br />

gebracht werden müsste. Doch Aischa widersprach. »Wir haben den<br />

Befehl des Erzengels, auf direktem Weg zum Meer zu gehen, ohne<br />

Rückzüge und Umwege.« Mirza Said appellierte an die Pilger. »Sie ist<br />

die geliebte Frau eures Sarpanch«, schrie er. »Wollt ihr sie etwa in ein<br />

Loch an der Straße kippen?«<br />

Als sich die Leute aus Titlipur einigten, dass Khadija sofort beerdigt<br />

werden sollte, traute Said seinen Ohren nicht. Er erkannte, dass ihre<br />

Entschlossenheit noch größer war, als er geargwöhnt hatte: sogar der<br />

trauernde Sarpanch fügte sich.<br />

Khadija wurde am Rand eines Brachfelds hinter der Ruine der Herberge<br />

aus der Vergangenheit begraben.<br />

Am nächsten Tag jedoch sah Mirza Said, dass der Sarpanch sich von<br />

dem Pilgerzug abgesondert hatte und etwas abseits von den anderen<br />

niedergeschlagen dahintigerte und an den Bougainvilleasträuchern<br />

schnupperte. Said sprang aus seinem Mercedes und rannte zu Aischa, um

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