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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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an ihrem Totenbett zu besuchen und ihrem Begräbnis beizuwohnen,<br />

obwohl ihm durch Boten überbracht wurde, dass dieses ihre sehnlichsten<br />

Wünsche seien. »Sagt ihr«, beschied er die Emissäre, »dass sie keine<br />

Ahnung hatte, wie sehr ich schätzte, was sie zerbrach.« <strong>Die</strong> Emissäre<br />

stritten, bettelten, tobten. Wenn sie nicht gewusst habe, wie groß die<br />

Bedeutung war, die er dieser Nichtigkeit beigelegt habe, wie könne sie<br />

da schuldig sein, bei allem was Recht ist? Und habe sie nicht über die<br />

Jahre zahllose Versuche unternommen, sich zu entschuldigen und zu<br />

sühnen? Und jetzt liege sie, Herrgott noch mal, im Sterben; ob da dieser<br />

alte, kindische Riss nicht endlich gekittet sei? Sie hätten die<br />

Freundschaft eines ganzen Lebens verloren, könnten sie sich denn da<br />

nicht einmal verabschieden? »Nein«, sagte der Unversöhnliche. - »Und<br />

das alles wegen der Vase? Oder steckt da eine andere, dunklere Sache<br />

dahinter?« - »Es war die Vase«, antwortete er. »<strong>Die</strong> Vase und nichts<br />

anderes.« Pamela fand den Mann kleinlich und grausam, aber Chamcha<br />

hatte schon damals die eigentümliche Privatheit, die unerklärliche<br />

Innerlichkeit des Themas gefallen.<br />

»Niemand kann eine innere Verletzung«, hatte er gesagt, »nach der<br />

Größe der oberflächlichen Wunde, des Lochs, beurteilen.«<br />

Sunt lacrimae rerum, wie der Ex-Lehrer Sufyan gesagt hätte, und Saladin<br />

hatte während der nächsten Tage reichlich Gelegenheit, über die Tränen<br />

in den Dingen nachzudenken.<br />

Anfangs verharrte er praktisch reglos in seiner Höhle, ließ sich von ihr in<br />

ihrem Tempo wieder überwuchern, wartete darauf, dass sie wieder etwas<br />

von der soliden, tröstlichen Eigenart ihres früheren Selbst erlangte, so<br />

wie es war, bevor sich das Universum verändert hatte. Er sah viel fern,<br />

mit halbem Auge, hüpfte zwanghaft von Kanal zu Kanal, denn er gehörte<br />

nicht weniger zur Fernbedienungskultur als der Schweinchenjunge unten<br />

an der Ecke; auch er konnte das zusammengesetzte Videomonster, das<br />

sein Knöpfedrücken zum Leben erweckte, verstehen, oder sich<br />

wenigstens in der Illusion wiegen, es zu verstehen… welch ein<br />

Gleichmacher dieses Fernbedienungsdingsbums war, ein Prokrustesbett<br />

des zwanzigsten Jahrhunderts; es hackte das Schwergewichtige ab und<br />

streckte das Seichte, bis alle Emissionen des Kastens, Werbung, Mord,<br />

Quizsendungen, die tausendundeins Freuden und Schrecken des<br />

Wirklichen und des Imaginierten gleich viel wogen; und während der

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