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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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Dichter Baal nicht seine Gedichte an die Mauern des Stadtgefängnisses<br />

angeschlagen hätte.<br />

Zwei Tage nach Beginn der Verhaftungsaktion war das Gefängnis<br />

überfüllt mit Prostituierten und Zuhältern, deren Zahl während der zwei<br />

Jahre, in denen die UNTERWERFUNG Geschlechtertrennung in Jahilia<br />

durchgesetzt hatte, sprunghaft angestiegen war. Es sickerte durch, dass<br />

mancher Jahilier bereit war, den Spott des Pöbels zu unterstützen, ja<br />

sogar eine mögliche Verurteilung nach den neuen Moralgesetzen in Kauf<br />

zu nehmen, bloß um unter den Fenstern des Gefängnisses stehen zu<br />

können und jenen geschminkten Damen ein Ständchen zu bringen, die<br />

sie ins Herz geschlossen hatten. <strong>Die</strong> Damen drinnen zeigten sich von<br />

diesen Loyalitätsbekundungen wenig beeindruckt und gaben den Freiern<br />

vor den vergitterten Toren keinerlei Zeichen der Ermutigung. Am dritten<br />

Tag aber erschien unter diesen liebeshungrigen Narren ein besonders<br />

jämmerlicher Bursche mit Turban und in Pluderhose, dessen dunkle Haut<br />

unübersehbar helle Flecken aufwies. Viele Passanten kicherten bei<br />

seinem Anblick, aber als er begann, seine Gedichte zu singen, brach das<br />

Gekicher ab. <strong>Die</strong> Jahilier waren seit alters her große Freunde der<br />

Dichtkunst, und die Schönheit dieser Oden, welche dieser seltsame Herr<br />

vortrug, brachte sie zum Schweigen. Baal sang seine Liebesgedichte, und<br />

der Schmerz, den sie zum Ausdruck brachten, ließ alle anderen<br />

<strong>Verse</strong>schmiede verstummen, und Baal sprach für sie alle. An den<br />

Fenstern des Gefängnisses erschienen zum ersten Mal die Gesichter der<br />

verhafteten Huren, die vom Zauber der Lieder angelockt wurden. Als<br />

Baal seinen Vortrag beendet hatte, trat er nach vorn, um seine <strong>Verse</strong> an<br />

die Mauer zu schlagen. <strong>Die</strong> Wachtposten vor den Toren hatten Tränen in<br />

den Augen und machten keinerlei Anstalten, ihn davon abzuhalten.<br />

Jeden Abend kam dieser seltsame Bursche wieder und trug ein neues<br />

Gedicht vor, und jedes Mal klangen seine <strong>Verse</strong> lieblicher als beim<br />

letzten Mal. Vielleicht lag es an diesem Übermaß an Lieblichkeit, dass<br />

bis zum zwölften Abend, als er das zwölfte und letzte seiner jeweils<br />

einer anderen Frau gewidmeten Gedichte vortrug, niemand bemerkte,<br />

dass die Namen seiner zwölf »Frauen« identisch waren mit den Namen<br />

einer anderen Zwölfergruppe.<br />

Am zwölften Abend fiel es auf, und die Stimmung der Menge, die<br />

allabendlich zusammengeströmt war, um Baal zuzuhören, schlug sofort

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