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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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Herrsche, Jahilia, Zierde der Welt.<br />

Natürlich nicht alle. Zum Beispiel Baal. Der seinen Blick von<br />

öffentlichen Angelegenheiten abwandte und Gedichte über unerwiderte<br />

Liebe schrieb.<br />

Er kaute an einem weißen Rettich, als er bei seinem Haus anlangte und<br />

durch einen dunklen Torbogen in der zerfallenen Mauer trat. Er stand in<br />

einem kleinen, nach Urin stinkenden Hof voller Federn, Gemüseresten,<br />

Blut. Kein Zeichen menschlichen Lebens: nur Fliegen, Schatten, Angst.<br />

Man musste auf der Hut sein, heutzutage. Eine Sekte mörderischer<br />

Haschaschine machte die Stadt unsicher. Wohlhabenden Leuten wurde<br />

empfohlen, sich ihren Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite<br />

zu nähern und sich zu vergewissern, dass ihr Haus nicht beobachtet<br />

wurde; wenn die Luft rein war, liefen sie rasch zur Tür und verriegelten<br />

sie hinter sich, ehe irgendein lauernder Verbrecher sich hereindrängen<br />

konnte. Baal ließ solche Vorsichtsmaßnahmen außer Acht. Früher war er<br />

reich gewesen, aber das war schon ein Vierteljahrhundert her. Jetzt<br />

bestand kein Bedarf mehr an Satiren; die allgemeine Furcht vor<br />

Mahound hatte den Markt für Unverschämtheiten und Witziges ruiniert.<br />

Und mit dem Niedergang des Totenkults war das Interesse an<br />

Totengedichten und triumphalen Racheoden deutlich zurückgegangen.<br />

Es waren schwere Zeiten.<br />

Von weit zurückliegenden Gastmählern träumend, stieg Baal die<br />

wacklige Holztreppe zu seinem kleinen Zimmer im oberen Geschoß<br />

hinauf. Was gab es bei ihm schon zu stehlen. Er war das Messer nicht<br />

wert. Er öffnete die Tür, trat ein, als ihn ein Stoß zum Stolpern brachte<br />

und er sich die Nase an der Wand blutig schlug. »Töte mich nicht!«<br />

kreischte er wie ein Wahnsinniger. »O Gott, bring mich nicht um! Hab<br />

Erbarmen!«<br />

<strong>Die</strong> andere Hand schloss die Tür. Baal wusste, dass sie, so laut er auch<br />

rufen mochte, allein bleiben würden in diesem mitleidlosen Raum,<br />

abgeschirmt von aller Welt. Niemand würde ihm zu Hilfe kommen. Er<br />

selbst hätte, wenn sein Nachbar geschrien hätte, sein Bett vor die Tür<br />

gerückt.<br />

Das Gesicht des Eindringlings war von der Kapuze seines Gewands<br />

verdeckt. Baal wischte sich die blutende Nase ab, kniete nieder, zitterte<br />

hilflos. »Ich habe kein Geld«, wimmerte er. »Ich habe nichts.« Jetzt

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