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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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jämmerliches Bild, das weiße Haupthaar ebenso lückenhaft wie die<br />

Zähne. Seine Konkubinen starben an Altersschwäche, und ihm fehlte die<br />

Energie -oder, wie es die Gerüchte in den verwinkelten Gassen der Stadt<br />

wollten: der Wunsch -, sie zu ersetzen. An manchen Tagen vergaß er,<br />

sich zu rasieren, was den Eindruck von Verfall und Niederlage noch<br />

verstärkte. Einzig Hind war noch dieselbe.<br />

Sie war seit jeher im Ruf einer Hexe gestanden, die demjenigen, der es<br />

unterlassen hatte, sich vor ihrer Sänfte zu verneigen, Krankheiten<br />

anhexen konnte, eine Magierin, die imstande war, Männer in<br />

Wüstenschlangen zu verwandeln, wenn sie genug von ihnen hatte, und<br />

sie beim Schwanz zu packen und ungehäutet zu kochen, um sie zum<br />

Abendessen zu verspeisen. <strong>Die</strong> Legenden, die sich um ihre Nekromantie<br />

rankten, erhielten jetzt, da sie sechzig war, neue Nahrung aufgrund ihrer<br />

außergewöhnlichen und unnatürlichen Fähigkeit, nicht zu altern.<br />

Während alles um sie herum in Stagnation verfiel, während aus den<br />

Banden der Schark ältere Männer geworden waren, die bei Karten-und<br />

Würfelspiel an den Straßenecken hockten, während die alten<br />

Zauberinnen mit den Knotenschnüren und die Schlangenmenschen in der<br />

Gosse verhungerten, während eine neue Generation heranwuchs, deren<br />

konservative Haltung und unkritische Anbetung alles Materiellen ihrem<br />

Wissen entsprang, dass mit Arbeitslosigkeit und Entbehrung jederzeit zu<br />

rechnen war, während die große Stadt das Gefühl für sich selbst verlor<br />

und sogar der Totenkult zunehmend unbeliebter wurde, zur großen<br />

Erleichterung der Kamele von Jahilia, deren Abneigung dagegen, mit<br />

durchgeschnittenen Kniesehnen auf den Gräbern der Menschen sitzen<br />

gelassen zu werden, durchaus verständlich war… kurzum: während<br />

Jahilia verfiel, blieb Hind unverändert, faltenlos, der Körper straff wie<br />

der einer jungen Frau, das Haar schwarz wie Krähenfedern, die Augen<br />

funkelnd wie Messer, die Haltung noch immer hochmütig, die Stimme<br />

noch immer keinerlei Widerspruch duldend. Hind, nicht Simbel,<br />

herrschte mittlerweile über die Stadt, das jedenfalls war unbestreitbar<br />

ihre Überzeugung.<br />

Während aus dem Granden ein schlaffer, kurzatmiger Greis wurde, ging<br />

Hind dazu über, Episteln oder Bullen zu verfassen, die zwecks<br />

Ermahnung der Stadtbevölkerung in allen Straßen angeschlagen wurden.<br />

So kam es, dass Hind und nicht Abu Simbel von den Jahiliern als

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