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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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Als Baal, der Dichter, eine blutrote Träne aus dem linken Auge der<br />

Statue Al-Lats im Haus des Schwarzen Steins treten sah, wusste er, dass<br />

der Prophet Mahound nach fünfundzwanzig Jahren Exil auf dem<br />

Heimweg nach Jahilia war. Er rülpste lang und laut - eine Beschwerde<br />

des Alters, deren Derbheit der im Lauf der Zeit eingetretenen<br />

allgemeinen Verfettung zu entsprechen schien, einer Verfettung von<br />

Zunge und Körper, einem allmählichen Gerinnen des Blutes, das aus<br />

dem Fünfzigjährigen eine Figur gemacht hatte, die mit dem jungen<br />

flinken Baal nicht mehr viel Ähnlichkeit besaß. Manchmal war ihm, als<br />

wäre sogar die Luft dicker geworden, als setzte sie ihm Widerstand<br />

entgegen, so dass er selbst bei kürzeren Spaziergängen außer Atem<br />

geriet, Schmerzen im Arm und eine Unregelmäßigkeit in der Brust<br />

verspürte… und auch Mahound musste sich verändert haben, wenn er in<br />

Glanz und Gloria an einen Ort zurückkehrte, aus dem er mit leeren<br />

Händen geflohen war, nicht einmal mit einer Frau. Mahound war<br />

fünfundsechzig.<br />

Unsere Namen begegnen sich, trennen sich, begegnen sich wieder,<br />

dachte Baal, aber die, die diese Namen tragen, sind nicht mehr dieselben.<br />

Er verließ Al-Lat, trat hinaus in das grelle Sonnenlicht und hörte hinter<br />

seinem Rücken ein leises Kichern.<br />

Schwerfällig drehte er sich um; niemand war zu sehen. Ein<br />

Gewandzipfel verschwand hinter einer Ecke. Heutzutage kam es oft vor,<br />

dass Fremde auf der Straße über den heruntergekommenen Baal lachten.<br />

»Dreckskerl!« schrie er so laut er konnte, sehr zum Verdruss der anderen<br />

Besucher des Hauses. Baal, der altersschwache Dichter, benahm sich mal<br />

wieder daneben. Er zuckte die Schultern und ging nach Hause.<br />

<strong>Die</strong> Stadt Jahilia war nicht mehr aus Sand gebaut. Das heißt, die Jahre,<br />

die Zauberei der Wüstenwinde, der Mond, der versteinerte, die<br />

Vergesslichkeit der Menschen und die Unvermeidlichkeit des<br />

Fortschritts hatten die Stadt gehärtet, so dass sie ihren früheren, unsteten,<br />

einstweiligen Charakter einer Fata Morgana, in der Menschen leben<br />

konnte, verloren hatte und ein prosaischer Ort geworden war, alltäglich<br />

und (wie seine Dichter) mittellos. Mahounds Arm war lang geworden;<br />

seine Macht hatte Jahilia eingekreist, ihre Lebensadern abgeschnitten,<br />

die Pilger und Karawanen. <strong>Die</strong> Jahrmärkte von Jahilia waren heutzutage<br />

ein erbärmlicher Anblick. Selbst der Grande bot inzwischen ein

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