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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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in der systematischen Weise, die er bevorzugt hätte, an die Arbeit<br />

machen konnte. An manchen Tagen geschah es, dass er am Ende einer<br />

imposanten Kolonnade aus Menschenfleisch und Haut, die sofort blutete,<br />

wenn man an ihr kratzte, um die Ecke bog und sich auf einem nicht<br />

verzeichneten Ödland wiederfand, an dessen fernem Rand er hohe,<br />

bekannte Bauwerke sah, die Wrensche Kathedrale oder die lange,<br />

metallische Zündkerze des Fernsehturms, die im Wind abbröckelten wie<br />

Sandburgen. Er stolperte durch irreführende und unbekannte Parks, um<br />

auf den belebten Straßen des Westends zu landen, auf die, zur<br />

Bestürzung der Autofahrer, Säure vom Himmel regnete, die große<br />

Löcher in die Asphaltdecke brannte. In diesem Pandämonium von<br />

Trugbildern vernahm er oft Gelächter: die Stadt machte sich lustig über<br />

seine Ohnmacht, wartete auf seine Kapitulation, auf sein Eingeständnis,<br />

nicht zu verstehen, was hier existierte, geschweige denn, es verändern zu<br />

können.<br />

Er verfluchte seinen noch immer gesichtslosen Widersacher, flehte Gott<br />

um ein weiteres Zeichen an, befürchtete, dass seine Kräfte in Wahrheit<br />

der Aufgabe nicht gewachsen waren. Kurz, er wurde zum<br />

bedauernswertesten und heruntergekommensten Erzengel, seine<br />

Kleidung verdreckt, sein Haar strähnig und fettig, an seinem Kinn<br />

sprossen Haare in widerspenstigen Büscheln. In dieser jämmerlichen<br />

Verfassung traf er am U-Bahnhof Angel ein.<br />

Es muss frühmorgens gewesen sein, denn das Bahnhofspersonal schloss<br />

gerade das nächtliche Eisengatter auf und schob es zurück. Er folgte<br />

ihnen hinein, schlurfend, den Kopf gesenkt, die Hände tief in den<br />

Taschen (der Stadtplan war schon lange ausrangiert), und als er<br />

schließlich aufblickte, sah er in ein Gesicht, das kurz davor war, in<br />

Tränen auszubrechen.<br />

»Guten Morgen«, wagte er sich vor, und die junge Frau hinter dem<br />

Fahrkartenschalter antwortete bitter: »Was soll daran schon gut sein,<br />

möchte ich wissen«, und jetzt kamen ihr die Tränen, dick, kugelrund und<br />

reichlich. »Na, na, mein Kind«, sagte er, und sie sah ihn ungläubig an.<br />

»Sie sind kein Priester«, hielt sie dafür. Er entgegnete, ein wenig zaghaft:<br />

»Ich bin Gibril, der Engel.« So abrupt, wie sie in Tränen ausgebrochen<br />

war, fing sie jetzt zu lachen an. »<strong>Die</strong> einzigen Engel, die es hier gibt,<br />

hängen zu Weihnachten an den Straßenlaternen.

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