10.12.2012 Aufrufe

Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

angesichts der Schwäche seines Fleisches, zu widerstehen… verstrickt<br />

von ihr im Netz einer Liebe, die so kompliziert war, dass sie sich jedem<br />

Verständnis entzog, hatte er am Rande des Sündenfalls gestanden. Wie<br />

großherzig war das Höchste Wesen doch zu ihm gewesen!<br />

Jetzt erkannte er, dass er vor einer einfachen Wahl stand: die teuflische<br />

Liebe der Menschentöchter oder die himmlische Gottesverehrung. Er<br />

hatte, im allerletzten Augenblick, zu der Möglichkeit gefunden, sich für<br />

letzteres zu entscheiden.<br />

Aus der rechten Manteltasche zog er das Buch, das dort steckte, seit er<br />

vor einem Jahrtausend Rosas Haus verlassen hatte: das Buch der Stadt,<br />

die zu retten er gekommen war, das Große London, Hauptstadt von<br />

Vilayet, für ihn aufgezeichnet, bis ins kleinste Detail, einfach alles. Er<br />

würde diese Stadt erlöschen: Geographer’s London, von A bis Z.<br />

An einer Straßenecke in einem Viertel, das einst bekannt war für seine<br />

Künstler, Radikalen und für Männer auf der Suche nach Prostituierten<br />

und jetzt von Werbeleuten und kleinen Filmproduzenten in Beschlag<br />

genommen war, stieß der Erzengel Gibril zufällig auf eine verlorene<br />

Seele. Sie war jung, männlich, groß und von außerordentlicher<br />

Schönheit, mit einer auffälligen Adlernase und langem, schwarzem,<br />

pomadisierten Haar, das in der Mitte gescheitelt war; ihre Zähne waren<br />

aus Gold. <strong>Die</strong> verlorene Seele stand am Rand des Bürgersteigs, mit dem<br />

Rücken zur Straße, leicht vorgebeugt, und umklammerte mit der rechten<br />

Hand etwas, an dem ihr offenbar viel lag. Ihr Verhalten war auffällig:<br />

zuerst starrte sie wild auf das Ding in ihrer Hand, dann sah sie sich um,<br />

wandte den Kopf von rechts nach links, blickte den Passanten prüfend<br />

und mit lodernder Konzentration ins Gesicht. Gibril, der nicht zu schnell<br />

nähertreten wollte, sah, als er das erste Mal an ihr vorbeiging, dass der<br />

Gegenstand, den die verlorene Seele festhielt, ein kleines Passfoto war.<br />

Bei seinem zweiten Annäherungsversuch steuerte er direkt auf den<br />

Unbekannten zu und bot seine Hilfe an. Der andere musterte ihn<br />

misstrauisch, hielt ihm dann das Foto unter die Nase. »<strong>Die</strong>ser Mann«<br />

sagte er und tippte mit einem langen Zeigefinger auf das Foto, »kennen<br />

Sie diesen Mann?«<br />

Als Gibril erkannte, dass ein junger Mann von außerordentlicher

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!