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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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»Stehen Berge, deiner Meinung nach, jenseits jeglicher Moral?« fragte er<br />

ernst. »Das habe ich während der Revolution gelernt«, fuhr sie fort.<br />

»Folgendes: irgendwann im zwanzigsten Jahrhundert wurde die<br />

Information abgeschafft. Weiß nicht genau, wann; ist klar, das gehört ja<br />

zu der Information, die abgeschafft wurde, ab-ge-schafft. Seitdem leben<br />

wir in einem Märchen. Kapiert? Alles geschieht durch Zauberhand. Wir<br />

Märchenfiguren haben keinen Schimmer, was vorgeht. Woher sollen wir<br />

also wissen, ob es gut oder schlecht ist. Wir wissen ja nicht mal, was es<br />

ist. Ich hab’ mir also gedacht, entweder rackert man sich ab, um es<br />

herauszukriegen, oder man hockt sich auf einen Berg, weil alle Wahrheit<br />

dorthin gegangen ist, ob du’s glaubst oder nicht, sie ist einfach<br />

weggelaufen aus diesen Städten, in denen sogar das Zeug unter unseren<br />

Füßen künstlich ist, eine Lüge, und hat sich dort oben in der dünnen,<br />

dünnen Luft versteckt, wohin die Lügner sich nicht trauen, aus Angst, ihr<br />

Gehirn explodiert. Sie hockt wirklich da oben. Ich bin dort gewesen. Ich<br />

weiß es.« Sie schlief ein, er trug sie ins Bett.<br />

Nachdem sie erfahren hatte, dass er bei dem Flugzeugunglück ums<br />

Leben gekommen war, hatte sie sich damit gequält, ihn zu erfinden, das<br />

heißt, sich in Spekulationen über ihren verlorenen Liebhaber ergangen.<br />

Er war der erste Mann gewesen, mit dem sie seit über fünf Jahren<br />

geschlafen hatte, keine unbedeutende Zahl in ihrem Leben. Sie hatte sich<br />

von ihrer Sexualität abgewandt, denn ihre Instinkte warnten sie, dass sie<br />

andernfalls von ihr aufgefressen würde, dass sie ein großes Thema für sie<br />

war, immer sein würde, ein großer, dunkler, unerforschter Kontinent,<br />

und dass sie nicht darauf vorbereitet war, sein Erforscher zu sein, seine<br />

Gestade abzustecken: nicht mehr oder, vielleicht, noch nicht. Aber nie<br />

hatte sie das Gefühl abgeschüttelt, dass diese Unkenntnis in Sachen<br />

Liebe ihr schadete, dass es ihr schadete, nicht zu wissen, wie es war,<br />

völlig besessen zu sein von diesem archetypischen DSCHINN, dieses<br />

Empfinden für nicht zu kennen, das Verschwimmen der eigenen<br />

Grenzen, dieses Freilegen, bis man, vom Adamsapfel bis zum Schritt,<br />

offen war: bloße Worte, weil sie von der Sache selbst nichts wusste.<br />

Angenommen, er wäre zu mir gekommen, träumte sie. Ich hätte ihn<br />

kennenlernen können, ganz allmählich, hätte ihn bis zum Gipfel<br />

besteigen können. Da mir meine schwachen Füße die Berge verweigern,<br />

hätte ich den Berg in ihm gesucht: das Basislager aufgeschlagen, Routen

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