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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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viele?<br />

Weil - eine andere Antwort gab es nicht - sie da waren. »Schau mal«,<br />

sagte sie und streckte, ohne aufzustehen, die Hand zum Nachttisch aus,<br />

auf dem ihre neueste Erwerbung stand, ein schlichter Everest aus<br />

verwittertem Pinienholz. »Ein Geschenk von den Sherpas aus Namche<br />

Bazar.« Gibril nahm ihn in die Hand, betrachtete ihn von allen Seiten.<br />

Pemba hatte ihn ihr beim Abschied schüchtern überreicht, hatte darauf<br />

hingewiesen, dass er ein Geschenk aller Sherpas sei, obgleich sonnenklar<br />

war, dass er ihn selbst geschnitzt hatte. Es war ein Modell mit allen<br />

Details, einschließlich Eisfall und Hillary-Step, dem letzten großen<br />

Hindernis vor dem Gipfel, und die Route, die sie Zum Gipfel genommen<br />

hatten, war tief in das Holz eingekerbt.<br />

Als Gibril ihn umdrehte, entdeckte er auf der Unterseite des Sockels eine<br />

Mitteilung: Für Ali Bibi. Wir hatten Glück. Keine weiteren Versuche.<br />

Allie erzählte Gibril nicht, dass die Warnung des Sherpas sie erschreckt,<br />

ihr klargemacht hatte, dass sie, falls sie je wieder ihren Fuß auf den<br />

Göttinnenberg setzen sollte, gewiss umkommen würde, da es Sterblichen<br />

nicht erlaubt ist, mehr als einmal das Gesicht der Götter zu schauen. Der<br />

Berg aber war sowohl diabolisch als auch transzendent, vielmehr:<br />

diabolisch und transzendent in einem, so dass sie, während sie über<br />

Pembas Warnung nachdachte, einen schmerzhaften Wunsch verspürte,<br />

der sie laut aufstöhnen ließ, als wäre es Lust oder Verzweiflung. »Der<br />

Himalaja«, sagte sie zu Gibril, um nicht zu sagen, woran sie wirklich<br />

dachte, »das sind emotionale und physische Höhepunkte: wie eine Oper.<br />

Das macht ihn so ehrfurchtgebietend. Nichts als schwindelerregende<br />

Höhen. Ist nicht leicht, so eine Nummer durchzuhalten.« Allie hatte eine<br />

Art, vom Konkreten zum Abstrakten zu springen, so beiläufig bildliche<br />

Ausdrücke einzuflechten, dass der Zuhörer sich fragte, ob sie den<br />

Unterschied zwischen den beiden kannte, oder (sehr oft) unsicher war,<br />

ob am Ende ein solcher Unterschied überhaupt existierte.<br />

Allie behielt für sich, dass sie den Berg versöhnlich stimmen musste oder<br />

sterben würde, dass sie trotz ihrer Plattfüße, die jede ernsthafte<br />

Bergsteigerei indiskutabel machten, noch immer Everest-infiziert war,<br />

und dass sie tief in ihrem Herzen einen unmöglichen Plan versteckte, die<br />

fatale Vision des Maurice Wilson, die bis auf den heutigen Tag nicht<br />

verwirklicht worden ist, nämlich: den Alleinaufstieg.

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