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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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gerast war, um sie zu überraschen, dass er sein bisheriges Leben<br />

aufgegeben hatte, um mit ihr ein neues anzufangen; andererseits war da<br />

der dumpfe Schmerz darüber, ihn genau in dem Augenblick verloren zu<br />

haben, da sie mit Sicherheit wusste, dass sie wirklich geliebt worden<br />

war. Später machte sich noch eine andere, weniger großzügige Reaktion<br />

in ihr bemerkbar. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht, ohne ein<br />

Wort der Ankündigung vor ihrer Tür stehen zu wollen, in der Annahme,<br />

sie werde ihn mit offenen Armen erwarten, ihm ein sorgenfreies Leben<br />

bieten und eine Wohnung, die zweifellos für sie beide groß genug war?<br />

Das war die Art Verhalten, das man von einem verwöhnten<br />

Filmschauspieler erwartet, der glaubt, dass ihm die Objekte seiner<br />

Begierden einfach wie reife Früchte in den Schoß fallen… kurz, sie hatte<br />

sich überfallen gefühlt, zumindest potentiell. Doch dann hatte sie sich<br />

scharf zurechtgewiesen, derartige Gedanken in das dunkle Loch<br />

zurückverbannt, in das sie gehörten, denn Gibril hatte für seine<br />

Vermessenheit teuer bezahlt, wenn es denn Vermessenheit war. Ein toter<br />

Liebhaber verdient, dass im Zweifelsfall zu seinen Gunsten entschieden<br />

wird.<br />

Dann lag er zu ihren Füßen, bewusstlos im Schnee, und so abwegig<br />

erschien ihr dieser Anblick, dass es ihr den Atem verschlug, und sie<br />

fragte sich kurz, ob es sich nicht um eine jener visuellen Anomalien<br />

handelte - der neutrale Ausdruck war ihr lieber als das gewichtigere<br />

Visionen -, die ihr zu schaffen machten, seit sie beschlossen hatte, den<br />

Chomolungma ohne Sauerstoffgeräte, allein mit Lungenkraft zu<br />

besteigen. <strong>Die</strong> Anstrengung, ihn aufzuheben, sich den einen Arm um die<br />

Schulter zu legen und ihn in ihre Wohnung zu schleppen - mehr tragen<br />

als schleppen, ehrlich gesagt - überzeugte sie restlos, dass er keine<br />

Chimäre war, sondern schweres Fleisch und Blut.<br />

Ihre Füße peinigten sie den ganzen Heimweg über, und der Schmerz ließ<br />

in ihr all den Groll wieder aufsteigen, den sie unterdrückt hatte, als sie<br />

ihn für tot gehalten hatte. Was sollte sie jetzt mit ihm anfangen, mit<br />

diesem Tollpatsch, der da ausgestreckt auf ihrem Bett lag? Gott, sie hatte<br />

vergessen, wie sehr dieser Mann sich breitmachen konnte, wie er nachts<br />

das ganze Bett okkupierte und einem alle Bettdecken wegzog. Aber auch<br />

andere Gefühle meldeten sich erneut, und sie gewannen die Oberhand;<br />

denn hier schlief er, von ihr behütet, die aufgegebene Hoffnung: endlich

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