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Salman Rushdie – Die Satanischen Verse

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Alleluja Cone sah während ihres Abstiegs vom Everest, westlich von<br />

Camp Sechs, hinter dem Rock Band, unterhalb des Cho-Oyu-Massivs,<br />

eine Stadt aus Eis in der Sonne glitzern.<br />

Shangri-La, dachte sie kurz; doch dies war kein grünes Tal der<br />

Unsterblichkeit, sondern eine Metropolis aus gigantischen Eiszapfen,<br />

dünn, spitz und kalt. Ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt vom Sherpa<br />

Pemba, der sie bat, in ihrer Konzentration nicht nachzulassen, und als sie<br />

wieder hinsah, war die Stadt verschwunden. Sie befand sich noch immer<br />

in einer Höhe von gut achttausend Metern, doch die Erscheinung der<br />

unmöglichen Stadt warf sie zurück, quer durch Raum und Zeit, nach<br />

Bayswater, in das Arbeitszimmer mit den alten, dunklen Holzmöbeln<br />

und den schweren Samtvorhängen, in dem ihr Vater, der Kunsthistoriker<br />

und Picabia-Biograph Otto Cone, in ihrem vierzehnten und seinem<br />

letzten Lebensjahr zu ihr gesprochen hatte von der »gefährlichsten aller<br />

Lügen, die wir uns im Laufe unseres Lebens anhören müssen«, die seiner<br />

Meinung nach die Idee des Kontinuums war. »Wenn jemand versuchen<br />

sollte, dir einzureden, dass dieser schönste und schrecklichste aller<br />

Planeten irgendwie homogen ist, dass er nur aus miteinander vereinbaren<br />

Elementen besteht, dass alles einen Sinn ergibt, dann lauf zum Telefon<br />

und lasse den Zwangsjackenschneider kommen«, riet er ihr, wobei er den<br />

Eindruck zu erzeugen vermochte, als habe er, bevor er zu seiner<br />

Schlussfolgerung gelangte, mehr als nur einen Planeten bereist. »<strong>Die</strong><br />

Welt ist ein einziger Widerspruch, vergiss das niemals. Gaga.<br />

Gespenster, Nazis, Heilige, alle leben zur gleichen Zeit; an einem Ort<br />

Glückseligkeit, und nur ein Stück weiter das Inferno. Einen<br />

unzivilisierteren Ort kann man sich nicht vorstellen.« Städte aus Eis auf<br />

dem Dach der Welt hätten Otto nicht durcheinandergebracht. Er war, wie<br />

seine Frau Alicja, Allies Mutter, aus Polen emigriert, Überlebender eines<br />

Lagers, dessen Name während Allies Kindheit kein einziges Mal<br />

erwähnt wurde. »Er wollte so tun, als hätte es nie existiert«, erzählte<br />

Alicja später ihrer Tochter. »Er war in vielerlei Hinsicht unrealistisch.<br />

Aber ein guter Mensch, der beste, den ich kannte.« Sie lächelte dabei in<br />

sich hinein, erinnerte sich seiner mit einer Nachsicht, die sie ihm zu

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